Stromboli - Wolf Buchinger - E-Book

Stromboli E-Book

Wolf Buchinger

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Beschreibung

Bella Italia soll einem fünfzigjährigen Deutschen als Ziel dienen, sich definitiv aus unserer Welt herauszuschleichen. Geht das heute in unserer überwachten Gesellschaft? Es geht. Er muss dafür durch das Paradies und die Hölle. Der Stromboli spielt dabei eine überragende Rolle und überrascht schlussendlich alle.

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Seitenzahl: 180

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Wolf Buchinger

Stromboli

Er kam, sah und blieb

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Oh Bella Italia, was ist aus dir geworden?!

Nix Capri: Stromboli!

Beginn des Abenteuers

Blut, Schweiß und Tränen

Batschnass für die Worscht

Saugutt wie die Wutz im Pferch

Das große Los

Tag 2

Wunder mit Maria

La vita: nix capito

Gassenhauer

Deutscher Italiener

Pizza und Schianti

Italia wie es lebt und klaut

Mut machen für den Stromboli

Erster Aufstieg - unklassisch

Gehen oder nicht?

Cara mia, Pia

Denksport

Schwedentrunk

Kinderpiele

Messerscharf

Der entscheidende Aufstieg

Herzlichen Dank an

Impressum neobooks

Oh Bella Italia, was ist aus dir geworden?!

Stromboli

Er kam, sah und blieb

Dolcefarniente realisieren! Ich erwarte im Süden des Stiefels, weitab von zuhause, das unverfälschte Italien, ich bin die tausend Kilometer extra schon in der Vorsaison gefahren, um möglichst alleine die kleine Insel zu erobern. Endlich, endlich will ich Ruhe vor mir selbst finden, raus und weg aus allen kaputtmachenden Beziehungen, Verpflichtungen und durchgetakteten Tagesabläufen. Ich habe mir überlegt, ob ich mir einen Fußball kaufe und mit den Kindern am Hafenbecken spiele, um voll abzuschalten und an nichts Anderes mehr zu denken als essen, trinken, genießen und zu sehen, was die Insel zu bieten hat. Der Ätna war mir zu groß und zu touristisiert, ich habe mich gegen mein bisheriges Entscheidungsmodell gestellt, das immer nur das Größte und Beste wollte, und mich für den kleinen und bescheidenen Stromboli entschieden. Hier gibt es auch nicht die üblichen Fünfsternehotels, die mich immer genervt haben mit ihrem gekünstelten Service, ich wohne in einer einfachen Pension, die zehn Mal günstiger ist, Familienanschluss verspricht und garantiert authentisch sein soll, eben Bella Italia pur.

Oh Madonna! Was höre ich als erstes italienisches Wort, als ich die Fähre besteige? „Tach“ sagt der Kassierer, ja „tach“, nicht mit einem gestellten, nachgemachten italienischen Sprachsound, er sagt es klar und authentisch in breitestem Pälzisch, das „t“ halb wie ein „d“, das „a“ mit leichtem „o“-Einschlag und das „ch“ ganz vorne im Gaumen gehaucht. Ich forsche in meinen zehn Wörtern Italienisch nach, ob da etwas Ähnliches dabei ist, erkenne aber sofort, dass es bedingungslos nach meiner Heimat klingt. Ich glaube nicht daran, weil es einfach nicht sein soll und versuche hoffnungsvoll im hoffnungslos deutsch betonten ‚Bonn tschornio!‘ das Italienische aus ihm herauszulocken. Er lacht mit breitem Grinsen und einer sichtbaren Gutmütigkeit, die ein Pälzer nie zustande bringen könnte, also ist er tatsächlich einer von hier:

„Wenn schon in fremder Sprache, dann bitte ‚buon giorno!‘“

„Oh sorry: bonn tschorno!“

„Na ja.“

„Wieso sprichst du so gut Deutsch, dazu in meinem heimatlichen Dialekt?“

„BASF.“

„Mein Gott, das ist zwanzig Kilometer von dehemm.“

„Gut möglich, dass wir uns im ‚Kaufland‘ schon mal begegnet sind.“

„Nö, nädd möglich, die Einkäufe hat meine Frau gemacht.“

„… und die ist dir gerade weggelaufen und deswegen bist du hier …“

„Sieht man mir es an?“

„Dir nädd, aber deinem Hemd, ungebügelt und die Hosen nädd ganz sauber, das is nädd typisch pälzisch und schon gar nädd deutsch. Am Anfang vom Urlaub ist noch alles picobello sauber und aprilfrisch, erscht bei uns lernen sie dann bald, dass das Leben auch ein paar Flecken verträgt, bei Männern vor allem vorne auf der Hose … ich lach‘ mich kaputt, bei dir ist das wohl schon vorbei.“

Nein, auch wenn ich gleich „du“ zu ihm gesagt habe, ich lasse mich nicht auf diese billige Stufe von Konversation herab, selbst wenn dies schon zur ursprünglichen Form des hiesigen Lebens gehört. Was macht er da? Er fummelt an seinem urtümlichen Fahrscheinautomaten herum:

„Also bist du allein, das macht hin und zurück acht …“

„Stopp, stopp! Ich brauche nur die Hinfahrt. Erst einmal.“

Was macht er denn jetzt? Er kommt mir ganz nahe, ich sehe seine riesigen schwarzweißen Stoppeln im Gesicht, er riecht nach starkem Tabak und billigem Alkohol, er nimmt mich fest am Arm, bekommt große Glubschaugen und diktiert mir unwiderruflich autoritär seine Meinung:

„Mir Pälzer halte zusamme! Du farscht mer nädd mit der Konkurrenz zurigg! Baschta! Du zahlscht jetzt bei mir hin und zurigg!“

„Ja, selbstverständlich. Gerne.“

Jetzt könnte ich mir mal wieder selbst in den Arsch beißen, wie man bei uns zuhause in Arbeiterkreisen zu sagen pflegt, wenn man sicher ist, dass man gerade etwas getan hat, was man eigentlich hasst und es trotzdem gemacht hat. Untertänigkeit schon auf geringen Druck von außen. Ja, so bin ich. Wenn Gaby jetzt hier wäre, hätte ich sofort und vor den Augen aller eine ihrer ekligen Kurzstandpauken über mich ergehen lassen müssen, etwa: ‚Du bist und bleibst eine Memme! Sag endlich mal NEIN und setz dich durch, man meint ja, dass du die Frau in unserer Ehe bist. Sag mal laut NEIN, NEIN, NEIN!‘ Da dieser Anlass nicht wichtig ist, hätte sie wahrscheinlich auf ihre sonst viel zu oft zitierte Erkenntnis verzichtet: „Anpasser, Anpasser wie dein Vater! Familienerbe!“ Doch nun stehe ich hier ohne sie und finde es nicht einmal schlimm, nicht ‚nein‘ zu sagen, die paar Kröten für die Rückfahrt tun mir nicht weh und die Situation ist nun friedlich und sicher viel angenehmer als mit ihrem potentiellen Gemotze.

„Träumst du?“

„Eh … nein …, ich bin nur etwas müde von der Fahrt, italienische Züge rattern wie in Urzeiten, am Anfang fand ich das nostalgisch, aber auf die Dauer nervt es ganz schön.“

„Ich bin noch nie Zug gefahren, wir machen hier alles mit dem Boot, ab Windstärke vier würdest du sicher Sehn-sucht nach unseren Zügen bekommen. Hast du für eine Woche über Booking gebucht?“

„Ja, in der Casa Bella.“

„Na, dann herzlich willkommen! Sie gehört meiner Schwester, ich wohne direkt daneben. Gleich vorweg: Lass die Finger von Pia! Sie ist liiert mit einem Schweden, Geschäftsmann, immer unterwegs, bringt immer viel Geld mit …“

„Mafia?“

„Schwede, blond und kann so viel Italienisch wie du! Die Heimat teilen wir untereinander auf, das ist kompliziert genug. Solange er gutes Geld bringt, gaukeln wir ihm vor, dass er einer von uns ist. Unsere Gegenleistung ist bescheiden, wir tun so, als ob er zur Familie gehöre, besaufen uns einen Abend mit ihm und dann ist er glücklich.

Du hast also über Booking gebucht?“

„Ja.“

„Nächstes Mal bitte direkt über unsere Telefonnummer, die sind Halsabschneider, zwanzig Prozent kassieren sie hemmungslos ein, etwas weniger als die Cosa Nostra, das ist schon ziemlich ruinös. Seitdem ich weiß, dass Booking holländischen Junkies gehört, bin ich Rassist geworden und habe Pia empfohlen, bei deren Anfragen ‚leider besetzt‘ zu mailen. Funktioniert. Und wir fühlen uns besser.“

„Ehrensache, aber es ist halt am einfachsten über sie zu buchen, wenn man sich nicht auskennt.“

„Das hat sich ja jetzt geändert. Du merkst, dass du bei uns schon zuhause bist, bevor du überhaupt da bist, auf einen solchen Moment haben wir in Ludwigshafen dreißig Jahre gewartet, noch nicht einmal beim Fußball habt ihr uns näher an euch rangelassen. Pälzische Sturköpp! Als Beweis für unsere Gastfreundschaft erzähl ich dir ein Familiengeheimnis. Der Schwede weiß nix davon, also Schnauze! Wir haben ein System entwickelt, das automatisch alle Anmeldungen und Buchungen um ein Drittel reduziert und unsere trägen Fis … also Finanzbeamten merken nichts, schon seit sieben Jahren nicht. So holen wir die Prozente für Booking wieder rein. Und wenn du das nächste Mal kommst, gibst du uns die Miete in bar, wir rechnen sie nicht ab, da du doch ein Cousin bist … und Familie muss ja nix zahlen. Clever, gell?“

„So etwas wäre bei uns nicht möglich.“

„Eben, das ist der Unterschied, ihr werdet glücklich, weil ihr jeden Euro vor- und nachkalkuliert, zehn Mal in Computerlisten eingeben müsst und am Schluss bleibt vielleicht noch die Hälfte übrig. Wir behalten halt gerne alles.“

„Und die Casa Nostra?“

„Cosa, bitte ja nicht beleidigen! Oh ja, riskant, aber was die Cosa nicht weiß, macht sie nicht heiß. Überlebenstechnik. Da staunste, gell? Und da du jetzt zur Familie gehörst, sollten wir Duzis machen.“

„Wir sagen doch schon ‚du‘ zueinander.“

„Das ist das Umgangsduzi, hier gibt es kein ‚Sie‘. Erst wenn man den Vornamen weiß, ist man richtig miteinander bekannt.

„Logisch. Ich bin der Markus.“

„Nö, das geht nicht. Im Vatikan heißen sie so, hier ist das Volk, du bist der Marco, basta! Ich bin Mario, ganz einfach: Mario und Pia und meine sieben Geschwister fangen alle mit ‚M‘ an: Matteo, Michele, Marina, Mia und Lorenzo – okay, der ist von jemand anders. Mama heißt Maria, Papa gibt’s nicht mehr. Lern die Namen schon mal auswendig, heute Abend wirst du sie alle kennenlernen, wir feiern den Namenstag von Mia.“

„Fehlt da nicht noch ein Name?“

„Ja, okay, verstorben, interner Betriebsunfall. Unsere Freunde von der Co …“

Oh Bella Italia, du bist doch noch die Alte! Kaum bin ich da, kenne ich schon eine ganze Familie und ein schnell gewonnener Freund weint hemmungslos über seinen umgebrachten Bruder, ich nehme an, dass sie keine Frauen erschießen.

Toll. Das habe ich mir schon lange gewünscht, endlich eine richtige Familie zu haben. Schön. Kein Vergleich zum eiskalten Dauerchaos bei uns zuhause. Das konnte ja nicht gutgehen: Ein Pälzer Schmuse-Teddybär heiratet eine gefühlskalte Hannoveranerin, Süden contra Norden, na ja, Gegensätze ziehen sich halt an. Was war ich lange begeistert von ihrer schlanken Figur, großgewachsen, lange Beine, makellose Haut, eine Traumfrau. Äußerlich. Warum sie mich attraktiv gefunden hatte, weiß ich immer noch nicht. Mich überkommt immer wieder eine unkontrollierbare Wut, die schnell zur Verzweiflung wird, weil ich sicher bin, dass sie mich eiskalt benutzt und ausgenutzt hat.

„Scusi, aber hier dürfen Männer weinen …“

„… bei uns mittlerweile auch.“

„Das kann ich ja kaum glauben! Wenn eure Fußball-mannschaft verloren hatte, habt ihr als einzige sichtbare Reaktion einen glasigen Fernblick aufgesetzt, ihr seid ein wenig erstarrt, aber echte und tiefe Emotionen habt ihr nie gezeigt. Wenn wir euch zum Trost in den Arm nehmen wollten, habt ihr uns abrupt weggeschoben, dann seid ihr zügig zum nächsten Bierstand gelaufen und habt euch reichlich eingedeckt, die Gefühle quasi runtergespült. Tja, wir zeigen sie halt gerne, das verbindet mehr und ist auch echter und menschlicher. Claro?“

„Claro. Fahren wir jetzt los?“

„Sieht man doch. Halt dich fest, du kannst jetzt zwanzig Minuten deinen Gedanken nachhängen, denn irgendetwas Größeres bedrückt dich, ich sehe es. Du wirst es mir aber nicht anvertrauen, auch nicht am letzten Abend, wenn wir uns gemeinsam besaufen und verabschieden.“

Nix Capri: Stromboli!

Eigentlich sollte ich mich jetzt über das kitschig-blaue Meer freuen und innerlich den alten Schnulzenschinken ‚Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt‘ singen, meine Blicke sind aber magisch angezogen von der schwarzen Fahne, die der Stromboli aussendet. Welch ein Symbol! Mitten in die Idylle hineinknallt ein grauer Riese aus dem Meer und zeigt allen, dass sie winzig und ständig gefährdet durch ihn und seine Launen sind. Die grau-schwarzen Lavaflüsse durch das spärliche Grün bis runter an die Dörfer sprechen Bände, niemand sieht mehr die Häuser, die er gefressen hat. Niemand weiß, wie oft dies geschehen ist, ich muss Mario danach fragen, aber wahrscheinlich wird er das Problem herunterspielen. Marco und Mario. Wie nahe wir uns sind! Man verschiebt einen einzigen Buchstaben und schon ist jeder ein anderer. Ja, ich würde hier von der Figur und dem Bauch her nicht auffallen, in drei Tagen wird mein käsiges Gesicht etwas brauner sein, dann bin ich als ‚Marco‘ vielleicht schon Cosa Nostra gefährdet, weil ich irgendwelche Gebühren nicht bezahlt habe. Huch, geht’s mir jetzt plötzlich gut, ich fange seit Monaten zum ersten Mal an zu phantasieren – oder besser zu spinnen, ich bilde mir ein, dass ein solch unwichtiges Wesen wie ich von einer nationalen Institution überhaupt beachtet wird. Ich bin ein x-beliebiger Tourist, ein unangenehmer Tedesco, von dem man Abstand hält. Sie würden wahrscheinlich selbst vor einer Entführung gegen Lösegeld zurückschrecken, weil sie deswegen wochenlang den für ihre Nasen stinkenden „Weißkohl“ zu nahe ertragen müssten.

Die Häuser kommen näher, hier scheint die sichere Seite zu sein, mehr Grün bergauf, aber auch Narben von Magmaflüssen. Man muss die Insel wohl über alles lieben, um hier zu wohnen, immer bereit, nur mit dem Notwendigsten aufs Festland zu flüchten und zuschauen zu müssen, wie die geliebte Heimat in Minuten zugeschüttet wird und verbrennt.

Oh, jetzt wird es kitschig: Mario singt irgendetwas in einer anderen Sprache mit arabischen Vierteltönen dazwischen, es muss etwas Trauriges sein, er schluchzt zwischendrin und findet immer wieder zu seinen sauber intonierten Tönen zurück. Schade, dass über die Deckenlautsprecher eine quäkende Frauenpopstimme stört und sich auf den Plätzen gegenüber drei Junioren einen basslastigen Rap vorspielen, ich versuche mich auf Mario zu konzentrieren, es gelingt nicht und der Musikmix geht mir ziemlich auf die Nerven. Ich rege mich wieder mal auf über diese eiskalte, offensichtlich in Mode gekommene, mit halber Kraft gesungene Mädchenstimme, die ihren sich ständig wiederholenden kurzen, uninspirierten Refrain mit unnötig gurrenden Zwischentönen versieht und im harten Gegensatz zu Marios emotionalem Heimatlied steht. Er leidet offensichtlich dabei, schlägt hart den Takt auf das Steuerrad, reckt den Hals zum Himmel, wenn eine Passage mit Gott und der Ewigkeit vorkommt und krümmt sich zusammen, wenn das Leiden groß wird. Man muss keinen Text verstehen, er inszeniert die Geschichte mit seinem agilen Körper.

Er hupt bei der Hafeneinfahrt dreimal im Rhythmus seines Liedes:

„Mia erwartet dich schon!“

Das dort am Kai soll Marios Schwester sein? Er ist halbwegs schlank und drahtig, sie gleicht der Urfrau mit ausladendem Becken, Riesenbrüsten und gebeugtem Gang. Ob da nochmals was schiefgegangen ist in der Zeugungsfolge? Hoffentlich ist Pia aus einer anderen Linie. Immerhin, ich werde von einer Frau erwartet. Das bin ich nicht

gewohnt, meine Gaby hätte gemailt oder gesimst: ‚Erwarte dich im Zimmer oder im Café am Hafen, bitte sei pünktlich!‘ Als hätte ich Einfluss auf ein Boot oder einen Zug. Immer dieser Leistungsdruck, immer diese latente Unzufriedenheit, immer diese vorgeschobenen Negativemotionen, um sich nicht nahe kommen zu müssen. Wenn ich Freude gezeigt habe oder sie in den Arm nehmen wollte, hat sie sich verschanzt hinter Mails, die ich dringend lesen müsse oder irgendeiner banalen Aufgabe, die sofort erledigt werden musste. Streicheln ohne Proteste gab es vielleicht mal auf dem Rücken, wenn ich freie Haut erwischte, doch dann zog sie sofort ihre Kleidung darüber. Sieht man von den ersten Wochen ab, wo sie wahrscheinlich heiße Sexualität vortäuschte, um ans Ziel zu kommen, blieben ihre Haare tabu, beim Autofahren setzte sie sich so, dass ich ihre Knie nicht erreichen konnte, ihren Busen sah ich nur zufällig im Spiegel und nackt nur, wenn ich ihr versprach ‚brav‘ zu bleiben, denn ihre Malaisen waren allgegenwärtig, sie hatte eine reiche Palette an Ausreden: von Migräne über Weichteilrheuma bis hin zu Dauerblutungen.

Alle drei Monate und nach vorheriger Absprache mit genauer Angabe der Urzeit, trank sie vorweg wahrscheinlich mehrere Aprikosenlikörchen und erduldete das, was man zwischen Eheleuten als normal bezeichnet. Sie selbst litt mehr, als dass sie irgendwelche positiven Gefühle hatte. All dies muss ich mir immer bewusst machen, zu tief sitzt ihr bitteres Geifern über die Schuldfrage des Scheiterns unserer Ehe, ich hätte sie nie so behandelt, wie sie sich gefühlt hat und ich hätte nie ihre ureigenen Bedürfnisse erkannt. Offensichtlich können das alle Japaner, sie sei dort endlich glücklich, schreibt sie. Glaube ich ihr nicht, sie muss so etwas vorgaukeln. Und nachdem ich nachgefragt habe, wie dieses Glück im Detail aussieht, hat sie den Kontakt abgebrochen und sogar ihre Mailadresse geändert. Ich habe es noch nicht ganz verkraftet, sechs Jahre gemeinsamen Lebens mit dem erfolgreichen Aufbau eines mittelständischen Betriebes verbinden doch miteinander. Nicht so bei ihr! Neues Glück, totale Trennung, offensichtlich hat ihr die Abfindungssumme genügt oder vielleicht hatte sie es von Anfang an nur darauf abgesehen. Sie ist total weg aus meinem Leben, ich konnte ihr noch nicht einmal eine zusätzliche Zurückzahlung von Gerichtskosten überweisen, ich habe den Betrag dem Roten Kreuz gespendet.

„Herzlich willkommen, Marco!“

Und jetzt knuddelt mich eine unbekannte schwergewichtige Frau so, wie ich es mit meiner Ehefrau nie erlebt hatte. Wozu sich wehren? Ich mache mit, krabbele zurück, Mia freut sich und wagt einen hemmungslosen Kuss, der leicht nach rechts abrutscht, weil ihr voluminöser Busen sich zwischen unsere Arme gequetscht hat.

„Freu dich auf diese Woche bei uns! Deine Probleme lösen sich hier von selbst.“

Welch eine andere Mentalität! Bei uns hätten wir den Neuen beschrieben: ‚untersetzter, etwa Fünfzigjähriger mit grauem Anorak, Schlabberhose und Rollkoffer.‘ Hier hat Mario wahrscheinlich gefunkt: ‚typischer Pälzer, etwas verklemmt, mit persönlichen Problemen, die ihn gewaltig beschäftigen.‘

„Komm, ich nehm‘ deinen Koffer!“

„Danke, der ist nicht schwer, außerdem geht’s jetzt berghoch.“

„Bei uns ist das anners, da machen die Frauen die schwere Arbeit …“

„…und die Männer hocken rum und trinken Bier?“

„Rotwein.“

„Claro.“

„Du kommst heute Abend?“

Mein Gott, sie weiß wirklich alles.

„Gerne. Muss man bei euch ein Geschenk mitbringen?“

„Geht auch ohne, neben der Maria steht die Kass.“

„Deine Mutter bewacht die Spendenkasse?“

Was ist jetzt mit ihr los? Sie schreit laut auf, streckt die Hände gegen den Himmel, bebt mit dem ganzen Körper und lacht mich von unten an:

„Mama mia, bist du naiv, die Maria ist eine Heiligenfigur aus Holz oder Gips, die hier in jedem Haus steht, sie ist der Mittelpunkt …“

„… und bewacht auch das Geld …“

„Und bring mir ja keine Blumen mit wie es bei Euch üblich ist. Unsere Blumen wachsen gratis im Garten oder wenn es sein muss, wild am Hügel. Du kannst mir aber als Geschenk auch bei den Vorbereitungen helfen.“

„Ich und helfen? Gerne, aber ich kann nicht viel.“

„Man kann alles lernen, wenn man will. Wir bringen jetzt dein Minigepäck ins Zimmer, dann gehst du noch schnell mal pinkeln, in der Zwischenzeit besorge ich die Utensilien und eine Schürze für dich und hole dich hier ab. Einverstanden?“

„Claro.“

Beginn des Abenteuers

Nun bin ich wohl ganz angekommen und werde schon wie ein Cousin behandelt. Tut gut, hatte ich ja auch insgeheim gehofft, aber nie erwartet, dass es so schnell so perfekt und intensiv läuft. Wenn Mia mich anschaut, ist es ein Blick zwischen Misstrauen und Wollust, manchmal rollt sie die großen Augen, dann wagt man keinen Widerspruch.

Ihr ‚einverstanden?‘ ging durch den ganzen Körper, außer den Augen hob sie den Kopf, zog die Stirn empor, so dass viele Falten entstanden, wo kurz zuvor straffe Haut war, ihr Hals drehte sich abrupt zu mir und der kleine Körper wuchs ein paar Zentimeter, wahrscheinlich hatte sie sich dafür auf die Fußspitzen gestellt. Beeindruckend, wirkungsvoll, Machtspiele einer Frau.

Das Zimmer entspricht meinem Traum, den ich zuhause

nicht einmal annähernd umsetzen konnte: Anstatt großer englischer Möbel herrscht hier spartanische Einfachheit wie in einer Klosterzelle. Bett, Tisch, Stuhl, Ikea-Einfach-schrank, Kofferablage aus einer alten Weinkiste. Kein Teppich, dafür grobe Feldsteine, denen man die wahrscheinlich jahrhundertelange Benutzung ansieht; das war früher sicher ein Stall, den sie selbst umgebaut haben. Ich schnuppere. Nein, kein Ziegengeruch mehr, dafür aus der Toilette irgendein Billigraumspray, der nach Wiesenblumen und Weihrauch, Rasierwasser und Eau de Javel riecht, nein stinkt, Was zu viel ist, ist zu viel, also das Fenster auf in der Hoffnung, dass am Abend diese südliche Duftmischung durch Frischluft abgelöst worden ist. Shorts, Sandalen, Kurzärmelhemd, mein Gott, fühle ich mich wohl, so einfach und so wirkungsvoll bei diesen Temperaturen. Zuhause musste ich bei jeder Temperatur immer würdig herumlaufen: schwarze Hose, weißes Langärmlerdesignerhemd, Krawatte und in Griffnähe das Jackett. ‚Man weiß ja nie, ob nicht ein wichtiger Kunde kommt!‘ Ich habe mich diesem Diktat gebeugt, widerwillig und aus der Erfahrung, dass so lange gemotzt wird, bis ich mich ihrer Kleidervorschrift gebeugt hatte.

„Du wirst bald gut aussehen! Käsekuchenbeine und fast keine Haare, in drei Tagen wird die Sonne aus dir einen richtigen Mann gemacht haben.“

Tja, so sieht das Gegenteil aus. Eine Mia ist so selbstbewusst, dass sie keine falschen Komplimente macht und nur ihre Wahrheiten von sich gibt, die man gerne ohne Wider-spruch oder Negativgefühle akzeptiert.

„Danke für das Kompliment! Was machen wir jetzt?“

„Du musst jetzt stark sein. Du bist doch hierher gekommen, um Abenteuer zu erleben. Nun kriegst du eines, das du nie vergessen wirst. Komm, wir gehen ums Haus herum!“

Ja, Abenteuer, warum nicht. Mein Ziel ist hier ein ganz anderes, aber bis dahin kann man ja alles mitnehmen, was emotional und besonders ist. Ich vermute mal, dass wir in einen riesigen alten Weinkeller mit Spinnweben und Ratten gehen und den Wein für heute Abend aussuchen, den ich ihr dann als Geschenk abkaufen soll. Oh, ein wunder-schöner Gemüsegarten mit all dem, was das Mittelmeer-klima so hergibt.

„Macht ihr daraus Minestrone?“

„Ja, die echte. Mit viel mehr Gemüse und Gewürzen als es die Touristen hier im Ristorante bekommen und vor allem unglaublich frisch. Gibt’s heute Abend nach dem Aperitif, ich ernte nachher, kannste auch mitmachen, wir haben sogar echte Pälzer Krummbeere mitgebracht und immer weiter vermehrt, dahinten links stehen sie, sehr gut im Kraut. So, und hier ist unsere Arbeit.“

Arbeit? Womit? Ich erkenne keine Anzeichen von irgend-etwas, was man hier machen könnte. Hier stehen nur ein paar dreckige Schafe rum, die sich überhaupt nicht um uns kümmern, sie schauen sogar in eine andere Richtung, als wollten sie uns sagen: `Lasst uns in Ruhe!`

„Such dir eins aus!“

„Was?“