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Vsevolod Michajlovič Garšin (1855-1888) zählt zu den vielleicht am meisten unterschätzten russischen Schriftstellern, was auch mit damit zu tun hat, dass seine Schaffenszeit in jene Zwischenperiode am Übergang vom Realismus zur Moderne fällt, die oft als Phase künstlerischen Rückschritts charakterisiert wurde. Dabei ist jedoch unbestritten, dass Garšin mit seiner psychologischen Kurzprosa, in der er neue narrative Verfahren erprobte, zu den wichtigsten Mitbegründern einer modernen russischen Erzählkunst gezählt werden muss. Dieser künstlerisch-literarische Aspekt ist es auch, der in der bisherigen Forschungsliteratur zu Garšin vornehmlich untersucht wurde, wohingegen andere Perspektiven bislang eher unterbelichtet blieben. Alexander Lell stößt mit seiner innovativen Studie in eben diese Lücke, indem er sich Garšin von einer neuen Seite nähert, die vor allem die geistig-moralische Dimension seines Schaffens berührt. Lell erkennt in den Werken Garšins deutliche Anklänge an die Philosophie Arthur Schopenhauers, was er schwerpunktmäßig an der – auch bei Schopenhauer zentralen – Kategorie des Unrechts demonstriert.
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Seitenzahl: 135
ibidem-Verlag, Stuttgart
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitende Bemerkungen
1.1 Methode
1.2 Relevanz der vorliegenden Untersuchung
1.3 Vereinzeltes zum Forschungsstand
I. Arthur Schopenhauer und Vsevolod M. Garšin
2. Über die gemeinsame Wurzel der Philosophie und der Dichtung
2.1 Der philosophische Wert Arthur Schopenhauers
2.2 Der dichterische Wert Vsevolod M. Garšins
II. Philosophische Abhandlung
3. Das Hauptwerk – Die Welt als Wille und Vorstellung
3.1 Arthur Schopenhauer – Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde
3.2 Die Welt als Vorstellung
3.3 Die Welt als Wille
3.4 Die platonische Idee in der Kunst
4. Ethische Abhandlung
4.1 Gesetz der Motivation
4.2 Die Haupttriebfedern des Menschen
4.2.1 Egoismus und Bosheit
4.2.2 Mitleid
4.3 Unrecht
III. Philosophisch-literarische Abhandlung
5. Die Selbstentzweiung des Willens als Wurzel der Ungerechtigkeit und Widersprüchlichkeit des Krieges – Четыре дня (1877)
6. (Selbst)Mord als Resultat des übersteigerten Willens zum Leben im einzelnen Individuum – Происшествие (1878) und Надежда Николаевна (1885)
7. Vergeltung des Bösen mit Bösem – Сигнал (1887)
8. Das Unrecht als Motiv in der bildenden Kunst – Художники (1879)
9. Die Selbsterkenntnis des egoistischen Willens oder die Aufhebung des principium individuationis – Ночь (1880) und Красный цветок (1883)
10. Aufhebung der Ungerechtigkeit durch die Verneinung des Willens zum Leben – Сказание о гордом Аггее (1886)
11. Die Frage nach der Ungerechtigkeit des Daseins im Allgemeinen – Attalea princeps (1879)
12. Schlussbemerkungen
IV. Literaturverzeichnis
13. Primärliteratur
13.1 Sekundärliteratur
13.2 Online-Quellen
Impressum
Die vorliegende Untersuchung ist aus der im Wintersemester 2015/16 an der Universität Gießen zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (M.A.) im Studiengang: Interdisziplinäre Studien zum Östlichen Europa vorgelegten Masterarbeit hervorgegangen. Mein Dank gilt Herrn Professor Dr. Reinhard Ibler für die Betreuung und für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Literatur und Kultur im mittleren und östlichen Europa«. Ebenso danke ich meinen Eltern, ohne deren Unterstützung und Vertrauen diese Arbeit niemals in Erscheinung getreten wäre. Ein besonderer Dank gebührt an dieser Stelle außerdem Yeonjin Cho, die mich durch den gesamten Schaffensprozess begleitet hat.
Linden, September 2016 Alexander Lell
Die Welt liegt im Argen, die Menschen sind nicht, wie sie seyn sollten; aber laß es Dich nicht irren und sei Du besser.1
[Arthur Schopenhauer]
Diese der vorliegenden Arbeit vorangestellte so mächtige Anempfehlung Arthur Schopenhauers beinhaltet eine Problematik, welche – allen staatlichen Einrichtungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz – einen eben so mächtigen Schatten auf das menschliche Dasein wirft – das Unrecht. Die ersten erwähnenswerten Betrachtungen über das Wesen desselben und sein Verhältnis zum Gerechten wurden bereits von Platon2 und Aristoteles3 vorgenommen. Den beiden ungleichen Köpfen der Antike folgten unzählige weitere Ethiken, denen entweder der Eudämonismus (Platon und Aristoteles) oder ein theologisches Fundament (Immanuel Kant) zugrunde liegt. Arthur Schopenhauer – der sich selbst als Schüler Platons und Kants bezeichnete – schlug mit dem subjektivistischen Idealismus einen ganz eigenen Weg ein, indem er eine Mitleidsethik aufstellt, die sich vor allem eines metaphysischen Fundaments bedient – des Willens. Neben diesen philosophischen Betrachtungen des Unrechts in abstracto setzten sich auch viele Dichter mit ethischen Fragen auseinander, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit – denn dies lässt die fiktionale Literatur nicht zu – zu erheben. Diese uns im fiktiven Gewand erscheinenden ethischen Standpunkte sind zwar zahlreich in der Literatur vertreten, doch muss der subtilen Tiefgründigkeit – und gerade dies geht den meisten Werken ab; denn sie gehen in die Breite – immer ein Vorzug eingeräumt werden. Diesen ethischen Tiefgang in der Literatur finden wir beispielsweise bei Goethe wieder, wenn er in Wilhelm Meisters Lehrjahre sagt: „Niemand weiß, was er tut, wenn er recht handelt; aber des Unrechten sind wir uns immer bewußt.“4 Dass die Werke Goethes einen nur schwer zu erreichenden Tiefgang besitzen; dies ist ein Faktum, doch lässt sich dies auch von den Werken des russischen Schriftstellers Vsevolod M. Garšin (1855-1888) behaupten? Stender-Petersen äußert sich in seiner Geschichte der russischen Literatur folgendermaßen: „Garšin wählte gern Stoffe, die ihm Gelegenheit gaben, Menschen in seelischer Not zu schildern. Es gelang ihm, in jeden menschlichen Schmerz einzudringen und ihn mit einfachen und erlesenen Mitteln zu vergegenwärtigen.“5 Diese überaus treffliche Charakterisierung macht deutlich, dass Garšins literarische Werke das Potential besitzen, uns eine Problematik vor Augen zu führen, die sich – und zwar allen optimistischen Denkweisen zum Trotz – jeder staatlichen und moralischen Einschränkung widersetzt – das Unrecht. Eine Empfänglichkeit für dasselbe – denn genau diese Fähigkeit weist Stender-Petersen Garšin zu – setzt eine zutiefst melancholische Sichtweise voraus; denn nur dann eröffnet sich dem Betrachter eine Welt, in der ein empfundenes Unrecht, welches dem einzelnen Individuum widerfährt, jedes vorhandene Recht aufheben lässt. Dem Unrecht ist die Unmittelbarkeit gewiss, wohingegen das Recht nur dann vom Individuum wahrgenommen wird, wenn es abhanden gekommen ist – also dem Unrecht weichen muss. Genau dies hat auch Voltaire zur folgenden Frage veranlasst: „Wenn dies hier die beste aller möglichen Welten ist, wie mögen dann erst die anderen sein?“6 Da uns fremde Welten nicht zugänglich sind, richten wir unseren Fokus in der vorliegenden Arbeit auf die uns bekannte Welt; denn diese liefert uns genug Stoff. Mit der Betrachtung des Unrechts in den Werken Vsevolod M. Garšins aus der Willensperspektive Arthur Schopenhauers soll ein durchaus pessimistischer Weg bestritten werden, der Philosophie und Dichtung vereint; denn nur dann erhalten wir ein vollständiges Bild vom Unrecht.
Wenn sich die vorliegende Arbeit das Ziel gesetzt hat, das Unrecht in den Werken Vsevolod M. Garšins zu betrachten, dann lässt sich dies nur durch die Heranziehung der Philosophie bewerkstelligen; denn nur diese Wissenschaft (wenn sie überhaupt als eine zu bezeichnen ist) hat sich zur Aufgabe gemacht, das Wesen dieser Welt – und damit auch das Unrecht als Teil desselben – in abstracto zu ergründen. Demnach betrachte ich die Philosophie als ein Instrumentarium, welches mir die Mittel an die Hand gibt, um das Unrecht – diese spezifisch menschliche Problematik – nicht nur zu betrachten, sondern auch zu erklären. Dies soll auf theoretischer Ebene (Philosophie) und auf praktischer Ebene (Literatur) vollzogen werden. An die theoretische Betrachtung des Unrechts im philosophischen Teil knüpft der literarische Teil an, um die theoretische Argumentation entweder zu bestätigen oder auch nicht. Nur in der Vereinigung des Allgemeinen (Philosophie) mit dem Einzelnen, welches die Literatur betrachtet, lässt sich dem Unrecht näher kommen. Eine adäquate Betrachtung dieser Problematik bedarf allerdings einer ebensolchen adäquaten Ausweitung der Perspektive, welche sich dem Unrecht nicht nur aus der ethischen Perspektive nähert, sondern dieselbe (Ethik) nach dessen Fundament befragt. Die Beschaffenheit desselben kann dabei nur von metaphysischer Art7 sein, da sie nicht nur das Handeln als solches, sondern gerade den Handelnden und seinen innersten Kern zum Gegenstand hat. Dieser innerste Kern des Menschen bleibt den empirischen Wissenschaft verborgen, da sie weder die Mittel noch das Vorgehen kennt, um sich demselben zu nähern. Wenn an dieser Stelle von einem metaphysischen Fundament als Ausgangspunkt für alle weiteren Betrachtungen gesprochen wird, dann beziehe ich mich in der vorliegenden Arbeit ausschließlich auf Schopenhauers metaphysisches System, an dessen Methodik in der vorliegenden Arbeit angeknüpft werden soll; dies heißt: 1) Metaphysik, 2) Ethik, 3) empirische Realität. Ein solches Vorgehen schließt allerdings alle anderen metaphysischen und ethischen Systeme aus; denn es kann – um sich Schopenhauers Denkweise an dieser Stelle zu bedienen – nur eine Wahrheit geben, demnach auch nur ein System, welches uns die Problematik des Unrechts vor Augen führt. Daraus folgt, dass der allgemeinen Metaphysik (Resultat des Nachdenkens) vor allem ein System diametral gegenübersteht – die Religion (Resultat der Überzeugung). Eine Vermischung beider Metaphysiken – wie dies gerade bei der wissenschaftlichen Betrachtung der Werke Garšins in der Vergangenheit geschehen ist8 – führt nicht zur Vermischung von zwei unterschiedlichen Lehren, sondern – und gerade liegt hierin das große Problem – einer Vermischung von Begrifflichkeiten. Der redliche Forscher verleiht seiner Betrachtung entweder ein metaphysisches Fundament oder ein theologisches – tritt beides in einem Werk auf, so liegt diesem von vornherein ein Widerspruch zugrunde, der sich auf die ganze Arbeit ausbreitet. Wenn Garšin in seinen einzelnen Werken Philosophie und Religion nebeneinander stellt, dann macht er vor allem von seiner Freiheit als Dichter Gebrauch, unterschiedliche – auch gegensätzliche – Anschauungen miteinander zu verknüpfen, um die dualistischen Positionen (die womöglich auch Garšin selbst in sich vereint) seiner Protagonisten hervorzuheben. Wenn dieser Dualismus – worunter ich vor allem die Vermischung von zwei Lehren verstehe – in einer wissenschaftlichen Arbeit fortgesetzt wird, oder gar als Fundament für dieselbe fungiert, dann führt dies keinesfalls zur angestrebten Klarheit; denn – um die rationelle Theologie an dieser Stelle zu entwerten – Gott ist ein X, eine unbekannte Größe, mit dem wir uns vom Bekannteren entfernen, d.h. dem Unrecht. Wenn ich in der vorliegenden Arbeit von einer metaphysischen Grundannahme ausgehe, dann liegt diesem Vorgehen bereits ein gewisser Tiefgang in der Betrachtung zugrunde, welches mir erlaubt, jeglichen Bezug zu historischen Ereignissen zu vernachlässigen; will sich doch gerade die Metaphysik von allem Zeitlichen lösen und vor allem das betrachten, was nicht der Vergänglichkeit unterliegt.
Diese ist überaus hoch; denn allen ethischen Schriften und allen staatlichen Rechtsordnungen in Zeit und Raum zum Trotz, ist das Unrecht weiterhin existent. Dieser Umstand zeigt, dass die Problematik des Unrechts nur durch eine tiefe Betrachtung des Protagonisten – also des Menschen selbst – zu lösen ist. Die Lösung selbst bezieht sich ausschließlich auf die vorliegende Arbeit und Garšins Werke; denn das Unrecht als solches ist dem Menschen so inhärent, wie sein Wille zum Leben, also ein durchaus unlösbares Problem, welches eine über die Forderung hinausgehende und nicht zu erfüllende Leistung darstellt. Eine vertiefte Darstellung des Menschen in der Literatur setzt zunächst einmal eine ebensolche vertiefte Betrachtung des Menschen voraus; dies kann nur der Schriftsteller leisten, der eine besondere Empfänglichkeit für das menschliche Leid hat. Dass gerade Garšin für das menschliche Elend und Leid empfänglich war; dies geht nicht nur aus seinen Werken hervor (wie noch nachzuweisen ist), sondern auch und vor allem aus den persönlichen Briefen, die Garšin in regelmäßigen Abständen an Freunde und Familienmitglieder schrieb. Dies sei allerdings an dieser Stelle nur beiläufig erwähnt; denn die vorliegende Arbeit verzichtet auf Erzeugnisse mit biographischem Inhalt, um Aussagen zu belegen oder zu entkräften; sollen doch vor allem die literarischen Werke zu Wort kommen; denn liegt diesen oftmals viel mehr intuitive Einsicht zugrunde, dessen Inhalt der Autor selbst in abstracto nicht ohne weiteres wiedergeben kann. Nachdem ich dies vorausgeschickt habe, möchte ich an dieser Stelle noch eine Problematik in den Raum werfen, die – meiner Meinung nach – zu häufig zum Anlass genommen wird, um Garšins kleines Gesamtwerk zu entwerten: sein melancholischer Charakter und der Selbstmord. Abgesehen davon, dass erst durch die melancholische Neigung eine tiefe Einsicht in die Beschaffenheit der Welt und seiner Hauptprotagonisten (den Menschen) ermöglicht wird, gehört dies bereits zur Person Garšin und nicht zu den Werken, die – trotz subjektiver Färbung – für sich stehen, d.h. universell, von Zeit und Raum losgelöst. Sollte mir zu zeigen gelingen, dass Garšins Werke vor allem das menschliche Leid zum Inhalt haben, welches ich unter dem Begriff „Unrecht“ zusammenfasse, dann setzt dies – wie bereits erwähnt – eine tiefe und vor allem intuitive Erkenntnis des Menschen voraus, die vor allem mehr Objektivität als Subjektivität in der Darstellung erfordert.
Die bisherige Forschungsliteratur, die sich mit den Werken Garšins auseinandergesetzt hat, lässt sich zunächst einmal in drei Gruppen einteilen, denen – trotz der hier vorgenommen Einteilung – ein gemeinsamer Standpunkt zugrunde liegt, auf welchen am Ende dieses Kapitels näher eingegangen wird. In die erste Gruppe lassen sich diejenigen Untersuchungen einordnen, welche sich vor allem mit der Person Garšin auseinandersetzen. In erster Linie wäre an dieser Stelle die deutschsprachige Untersuchung von Ellinor Zelm Studien über Vsevolod Garšin (1935) zu nennen. Zu der zweiten Gruppe gehört die sowjetische Forschungsliteratur, die – und dies ist bei Garšin durchaus angebracht – einen sozialpolitischen Ausgangspunkt wählt, um dessen Werke zu betrachten. Trotz der einschränkenden Perspektive, welche die sowjetischen Literaturkritiker – ob nun freiwillig oder unfreiwillig – in ihren Untersuchungen einnehmen, lässt sich nicht leugnen, dass die wesentlichen sozialen Komponenten, die immer wieder in den Werken Garšins zum Vorschein kommen, von denselben ausführlich herausgearbeitet wurden. An dieser Stelle sei vor allem G. A. Bjalyjs V. M. Garšin. Kritiko-biografičeskij očerk (1955) zu erwähnen, dessen Aussagen – wie dies noch gezeigt wird – sich mit denen in der vorliegenden Arbeit aufgestellten durchaus übereinstimmen. Zu der dritten Gruppe gehören vor allem diejenigen wissenschaftlichen Untersuchungen, die Garšins Werke aus spezifischen Einzelperspektiven beleuchten. An dieser Stelle seien vor allem die folgenden Arbeiten zu erwähnen: Lennart Stenborg Die Zeit als strukturelles Element im literarischen Werk (mit Illustrationen aus der Novellistik V. M. Garšins) (1975), Luise Schön Die dichterische Symbolik V. M. Garšins (1978), Stephanie Lempa Vsevolod Michajlovič Garšin (1855-1888). Leben und Werk im Kontext philosophischer und religiöser Strömungen in Rußland (2003). Die Arbeit von Joachim T. Baer Arthur Schopenhauer und die russische Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (1980) enthält eine dem Umfang nach knappe, aber durchaus kompetente Untersuchung, in der einige ausgewählte Werke Garšins mit der Philosophie Schopenhauers in Verbindung gebracht werden. Im Gegensatz zu Ivan S. Turgenev, der sich bekanntermaßen mit Schopenhauers Philosophie auseinandergesetzt hat,9 besteht – in Anbetracht der bisherigen Ergebnisse – zwischen Garšin und Schopenhauer keine direkte Verbindung. Baers vermutet, dass eine indirekte Verbindung – also entweder durch Turgenevs Aussagen über Schopenhauer selbst oder durch seine literarischen Werke – am wahrscheinlichsten sei.10 In Anbetracht der Korrespondenz, die zwischen Turgenev und Garšin stattfand, ist diese Vermutung durchaus berechtigt. Ohne dies an dieser Stelle weiter zu vertiefen, sei vor allem darauf hingewiesen, dass die vorliegende Arbeit zu Baers Untersuchung eine zweifache Beziehung hat, welche uns zu dem eingangs erwähnten gemeinsamen Standpunkt führt, der allen Arbeiten (Baers Arbeit ausgenommen) über Garšin zugrunde liegt: jedes einzelne Schicksal, jedes Beispiel, welches Garšin uns in seinen Werken vor Augen führt, wird in der Forschungsliteratur als ein ebensolches aufgefasst, ohne vom Einzelnen zum Allgemeinen zu schreiten. Dieser Übergang ist aber notwendig; denn das individuelle Schicksal in der Literatur beinhaltet etwas Allgemeines, welches allen Individuen zugrunde liegt. Dass dies notwendig ist, erkennt Baer in seiner Arbeit an, indem er beide – den Schriftsteller Garšin und den Philosophen Schopenhauer – gegenüberstellt. Wir wollen den Grundstein, den Baer in seiner Arbeit gelegt hat, aufgreifen, indem auch wir – Schopenhauers Philosophie benutzend – einen Schriftsteller betrachten, der uns einen – wie wir hoffen – tiefen Einblick in das menschliche Sein verschafft und damit Baers überschaubaren Ansatz durch eine ethische Perspektive erweitern.
1Zit. nach: Schopenhauer, Arthur: Über die Freiheit des menschlichen Willens. Über die Grundlage der Moral. Kleinere Schriften II. Bd. VI. Zürich 1977, S. 233.
2Platon: Der Staat. (Die Übersetzung folgt der Ausg. Platons Staat. Aus dem Griech. von Otto Apelt. 5. Aufl. Leipzig 1920. Der philosophischen Bibliothek Bd. 80), Köln 2010.
3Aristoteles: Nikomachische Ethik. (Die Übersetzung folgt der Ausg. Aristoteles' Nikomachische Ethik. Aus dem Griech. von Dr. theol. Eug. Rolfes. Leipzig 1911), Köln 2009.
4Zit. nach: Goethe, Johann Wolfgang v.: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Husum 2011, S. 408.
5Zit. nach: Stender-Petersen, Adolf: Geschichte der russischen Literatur. 5. Aufl. München 1993, S. 445.
6Zit. nach: Voltaire: Candide oder der Optimismus. 2. Aufl. Wiesbaden 2014, S. 29.
7Eine einführende und in hohem Maße verständliche Definition über das Wesen derselben liefert uns Schopenhauer in seinen Ergänzungen zu dem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Siehe dazu: Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung II. Erster Teilband. Bd. III. Zürich 1977., S. 186-223.
8Siehe dazu: Lempa, Stephanie: Vsevolod Michajlovič Garšin (1855-1888). Leben und Werk im Kontext philosophischer und religiöser Strömungen in Rußland. Frankfurt am Main 2003.
9Siehe dazu: MacLaughlin, Sigrid: Schopenhauer in Russland. Zur literarischen Rezeption bei Turgenev. (= Opera Slavica, Bd. 3), Wiesbaden 1984.
10Siehe dazu: Baer, Joachim T.: Arthur Schopenhauer und die russische Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. München 1980, S. 48.
Der Begriff „Philosophie“ leitet sich vom griechischen φιλοσοφία (philosophia) ab und bedeutet wörtlich übersetzt „Lebensweisheit“ bzw. „Liebe zur Weisheit“.1