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Corina Bomann

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Beschreibung

Alexa Petri hat schon seit vielen Jahren ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter Cornelia. Doch nun liegt Cornelia im Koma, und Alexa muss ihre Vormundschaft übernehmen. Sie findet einen Brief, der Cornelia in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt: als leidenschaftliche junge Frau im Hamburg der frühen sechziger Jahre. Und als Opfer der schweren Sturmflutkatastrophe. Alexa beginnt zu ahnen, wer ihre Mutter wirklich ist. Als ein alter Freund von Cornelia auftaucht, ergreift Alexa die Chance, sich von der Frau erzählen zu lassen, die sie schließlich auch verstehen und lieben lernt.

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Das Buch

Alexa Petri ist Ende dreißig und erfolgreiche Literaturagentin. Sie lebt ein sehr unabhängiges Leben mit wenig Kontakt zu ihrer Mutter. Das Verhältnis zwischen den beiden ist schon lange schlecht. Alexa hat nie verstanden, warum ihre Mutter so herzlos zu ihr ist. Nun liegt Cornelia Petri im Koma, und ihre Tochter muss sich gezwungenermaßen um sie kümmern. Dabei kommt sie der Mutter, deren Anerkennung sie bis heute sucht, endlich wieder näher: Sie findet Hinweise auf einen Mann, den Cornelia im Hamburg der sechziger Jahre geliebt haben muss und der nicht Alexas Vater war. Und dieser Mann findet Alexa. Offenbar wurden die beiden Liebenden damals durch die große Sturmflutkatastrophe getrennt. Wird Cornelia ihre große Liebe noch einmal sehen können? Und bekommen Alexa und Cornelia eine zweite Chance?

Die Autorin

Corina Bomann ist in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen und lebt mittlerweile in Berlin. Sie schreibt seit Jahren Romane, mit denen sie immer auf der Bestsellerliste landet. Das Schreiben und ihre Figuren sind ihre große Leidenschaft.

Von Corina Bomann sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Schmetterlingsinsel ·Der Mondscheingarten·Die Jasminschwestern·Die Sturmrose· Das Mohnblütenjahr ·Eine wundersame Weihnachtsreise·Ein zauberhafter Sommer·Winterblüte· Ein Zimmer über dem Meer (unter dem Pseu­donym Dana Paul)

Corina Bomann

Sturmherz

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1395-5

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Februar 2017

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: © Mauritius Images/Mike Hughes/Alamy

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Prolog

1962

Ein heftiger Windstoß traf das Fenster und übertönte die Musik aus dem Küchenradio.

Die junge Frau sah erschrocken von ihrem Koffer auf. Das Knarren klang warnend.

Vom Unwetter war in der Dunkelheit sonst nichts zu erkennen. Die Fensterscheibe zeigte lediglich ihr Spiegelbild: eine Achtzehnjährige mit rotblondem Haar und grünen Augen.

Angst lag auf ihren Zügen und wühlte in ihrem Innern. Wenn ihr Vorhaben misslang, würde sie niemals aus diesem von Schicksalsschlägen und Ungerechtigkeiten geprägten Leben herauskommen.

Noch vor Monaten hätte sie nicht erwartet, dass sich jemals etwas ändern würde. Dann war ein Hoffnungsschimmer erschienen, ein Mann, der das Tor zu einer anderen Welt geöffnet hatte. Einer Welt, in die sie heute Abend fliehen wollte.

Allerdings hätte sie sich besseres Wetter für ihren Ausbruch aus der elterlichen Wohnung gewünscht.

Schon seit Wochen war der graue Wolkenteppich über Hamburg nicht mehr aufgerissen. Heftige Regenschauer prasselten auf die Häuser, Windböen zerrten an den Passanten. Noch vor wenigen Tagen hatten die Meteorologen von einem leichten Tief gesprochen, doch mittlerweile glaubte ihnen niemand mehr.

Ein Schauer lief über ihren Nacken, als der Sturm das Fenster weiter attackierte. Dann rang sie ihre Angst nieder.

Es ist nur noch ein Gang durch die Straßen, sagte sie sich. Zur S-Bahn-Station und dann weiter nach St. Georg. Wenn ich erst mal bei ihm bin, brauche ich mich nicht mehr zu fürchten.

Sie wandte sich wieder ihrem Koffer zu. Viel hatte sie nicht eingepackt. Lediglich ein paar Kleidungsstücke, ein wenig Kosmetik und ihre beiden liebsten Bücher: Onkel Toms Hütte und Sturmhöhe.

In ihrem Elternhaus waren Bücher nicht gern gesehen. Ihr Vater hielt es für Geldverschwendung, welche anzuschaffen. Die beiden, die sie besaß, hatte sie sorgfältig vor ihm versteckt, denn er hatte sie ihr geschenkt.

Ein liebevolles Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich sein Bild vor Augen rief: blondes Haar, leuchtend blaue Augen, athletisch trotz seiner Liebe zu Büchern und zum Studieren. Rick. Der Name brachte ihre Sinne zum Klingen.

Noch einmal strich sie über die beiden Buchdeckel, dann breitete sie ein Tuch über sie und schloss den Koffer. Sie hob ihn vom Bett und lauschte. Die Musik dudelte. Von ihrem Vater war nichts zu hören. Wahrscheinlich schlief er noch immer auf dem Sofa. Es war Zeit zu gehen.

Sie zog ihren Wollmantel über, das beste Stück, das sie ­besaß. Um ihren Kopf band sie ein dunkles Tuch, das auch einen Teil ihres Gesichts verhüllte. So würden die Nachbarn hoffentlich nicht merken, wer da mit einem Koffer in der Hand die Straße hinunterging.

Auf Zehenspitzen verließ sie ihr Zimmer. Auf dem Weg zur Haustür musste sie an ihrem Vater vorbei. Wenn sie ihn dabei weckte, war ihr Fluchtplan passé.

Glücklicherweise dämpfte der alte Teppich ihre Schritte. Sie hatte das Muster immer gehasst, doch er war billig gewesen, und nachdem ihre Mutter gestorben war, hatte auch der Sinn für Schönes die Wohnung verlassen.

Die junge Frau warf einen Blick auf ihren Vater, der etwas verdreht auf dem Sofa lag und schnarchte. Die Schnapsflasche neben ihm war umgefallen, doch sie war ohnehin leer gewesen und hatte keinen Schaden angerichtet.

Unter der Woche hielt er sich zurück, aber am Freitag kam er immer schon betrunken nach Hause – und trank weiter, nachdem er sich lautstark über seine Kollegen und manchmal auch über die Fehler seiner Tochter beschwert hatte. Mittlerweile hatte er noch viel mehr an ihr auszusetzen als früher. Manchmal verprügelte er sie.

Doch damit war nun Schluss.

Sie hatte überlegt, ob sie ihm eine Nachricht hinterlassen sollte, sich dann aber dagegen entschieden. Ihr Vater brauchte nicht zu wissen, wo sie steckte. Sie wurde zwar erst in drei Jahren volljährig und damit offiziell unabhängig von ihm, aber so lange wollte sie nicht warten.

Ihre Hand, die den Koffer hielt, war schweißnass. Sie sollte gehen, doch sie konnte sich nicht vom Anblick ihres Vaters lösen.

Der Schlafende gab einen Grunzlaut von sich und wälzte sich herum.

Seine Tochter zuckte zusammen. Bitte nicht, flehte sie still. Schlaf weiter. Schlaf weiter.

Kurz stockte sein Atem, dann schnarchte er wieder.

Die junge Frau unterdrückte ein erleichtertes Aufseufzen.

Im Flur warf sie noch einen Blick auf das Bild ihrer Mutter, das an der Wand hing. Hätte sie verstanden, was sie hier tat?

Sie hatte nie die Gelegenheit gehabt, mit ihr darüber zu sprechen, wie es war, eine erwachsene Frau zu sein, sich zu verlieben, sich für einen Mann zu entscheiden. Doch sie hörte auf ihr Herz, das ihr sagte, dass sie das Richtige tat.

Leise zog sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. Einen Schlüssel nahm sie nicht mit, denn sie hatte nicht vor ­zurückzukehren.

Als sie das Haus verließ, traf der Sturm ihr Gesicht. Die harten Regentropfen fühlten sich an wie Nadeln auf ihrer Haut. In den Wasserpfützen auf der Harburger Chaussee spiegelten sich die Straßenlampen. Der Deich zu ihrer Linken verschmolz ebenso wie der kleine Graben davor beinahe ganz mit der Dunkelheit.

Die junge Frau raffte den Kragen des Mantels zusammen und stemmte sich gegen den Wind. Es war Freitagabend, die meisten Leute waren bereits zu Hause. Ihre Wagen reihten sich vor den dunkelroten Wohnblöcken auf. In den Fenstern brannte Licht. Glücklicherweise war es ihren Nachbarn wohl zu ungemütlich, um noch mal rauszugehen.

Sie lief die Straße hinunter, an den Häusern vorbei in Richtung der S-Bahn-Station Veddel. Niemand kam ihr entgegen. Auch nicht, als sie die Treppe zum Bahnsteig hinaufging. Im Schein der Lampen sah sie einen Mann zusammengesunken auf einer der Wartebänke. Die Anzeigetafeln schaukelten im Wind.

Beklommen schritt die junge Frau den Bahnsteig entlang. Bis zum nächsten Zug dauerte es noch gut zwanzig Minuten. Wenn ihr Vater aufwachte, würde er sicher hier zuerst ­suchen. Damit war angesichts seiner Trunkenheit nicht zu rechnen, aber sie wollte es nicht ausschließen.

»Absaufen werden sie«, brummte es neben ihr.

Die junge Frau zuckte zusammen. Die Worte kamen von dem Mann auf der Bank. Er hatte das Gesicht tief in seinen Mantel vergraben und schien zu träumen.

Sollte sie ihn ansprechen?

»Die Ratten sind schon lange wech«, fuhr der Mann fort. »Wir hätten auch gehen sollen … Aber nein, wir bleiben. Wir bleiben.«

So, wie er redete, klang ihr Vater manchmal auch, wenn der Schnaps ihn melancholisch machte. Der Mann schien stockbetrunken zu sein, vielleicht war es einer der Obdachlosen, die sich in der Gegend herumtrieben. Oder er lebte in einem Behelfsheim.

Die junge Frau kannte die Behausungen am Vogelhüttendeich nur zu gut. Sie hatte sich mit einer Familie dort angefreundet, die aus Ostdeutschland geflohen war, um in Hamburg ein neues Leben anzufangen. Anna Berger, die Mutter zweier Kinder, war ihr in den vergangenen Monaten eine Freundin, ja beinahe Ersatzmutter geworden. Die junge Frau wagte nicht, mit ihr über die Probleme mit ihrem Vater zu sprechen, aber ansonsten schätzte sie ihren Rat. Sie war ­sicher, dass Anna verstehen würde, was sie hier tat. Wenn die Umstände zu schlimm wurden, war manchmal Flucht das einzige Mittel.

Doch neben den Bergers, die sich eine neue Existenz aufbauen wollten, lebten auch andere dort am Deich. Menschen, die aufgegeben hatten. Menschen, denen es nicht gelang, ihr Leben neu zu ordnen. Ihr Vater gehörte ebenfalls zu diesen Hoffnungslosen, nur dass er dank ihrer Mutter in ­einer guten Wohnung lebte. Sie wollte nicht dazugehören. Sie wollte ein Leben jenseits von Wilhelmsburg, wo das Elend so nahe war.

Vielleicht war es doch besser, ein Taxi zu nehmen?

Als der offensichtlich betrunkene Mann erneut etwas Unverständliches lallte, wurde es ihr zu viel. Sie umklammerte ihren Koffer fester, ging die Treppe hinunter und strebte dem Ausgang zu.

Der Taxistand vor dem Bahnhof war leer. Offenbar war es den Fahrern zu windig – oder sie waren alle unterwegs. Immerhin war es Freitagabend, die Leute wollten sich vergnügen nach der harten Arbeitswoche.

Sie wollte sich schon wieder der Treppe zum Bahnsteig zuwenden, als Motorengeräusch hinter ihr ertönte und Scheinwerferlicht sie streifte.

Instinktiv wirbelte sie herum und hob den Arm.

Der Fahrer machte neben ihr halt und kurbelte das Seitenfenster herunter.

»Guten Abend, junges Fräulein, wohin wollen Sie denn in dieser stürmischen Nacht?«

»Nach Sankt Georg bitte, in die Rautenbergstraße.«

»Dann steigen Sie mal ein.«

Die junge Frau ließ sich auf den Beifahrersitz sinken. Durch das Prasseln des Regens erkannte sie kaum die Straße vor sich. Ihre Wangen pulsierten, und nun spürte sie, wie die Kälte auch unter ihren Mantel kroch.

Sie würde das Geld fürs Taxi später sicher vermissen. Das war allerdings besser, als bei diesem Wetter auf einem Bahnhof zu stehen, mit einem unheimlichen betrunkenen Mann als Gesellschaft, der irgendwelchen Unsinn redete.

»Ist ziemlich gefährlich, jetzt unterwegs zu sein«, sagte der Fahrer, während er das Radio etwas leiser drehte. »Sie müssen einen wirklich guten Grund haben. Von überall regnet es Dachziegel, ich hätte vorhin beinahe auch einen abgekriegt.«

»Das tut mir leid«, gab sie zurück und legte die Arme über den Koffer. Sie hatte keine Lust, dem Taxifahrer alle Details ihrer Reise darzulegen. Doch der Mann war neugierig.

»Wollen Sie verreisen?«

»Ja.«

»Und wohin?«

»Ich fahre mit meinem Freund ins Wochenende«, entgegnete sie. »Nach Lüneburg.«

Das war die erste Stadt, die ihr einfiel. In Wirklichkeit sollte die Reise woanders hingehen. Doch das brauchte er nicht zu wissen. Wenn die Polizei nach ihr suchte und vielleicht ein Foto in den Zeitungen veröffentlichte, würde es gut sein, wenn niemand wusste, wohin sie wirklich unterwegs war.

Der Mann blickte sie kurz von der Seite an, als würde er ihre Schwindelei spüren. Dann wandte er sich wieder dem Verkehr zu und sagte lange nichts mehr.

Nach einer Weile wurde der Verkehr dichter. Taxis und andere Fahrzeuge kamen ihnen entgegen. Reklametafeln von nahegelegenen Lokalen blinkten durch die Scheiben. Trotz des schlechten Wetters waren noch immer zahlreiche Passanten unterwegs.

Plötzlich brach die Musik im Radio ab.

»Verehrte Hörer, wir unterbrechen unsere Sendung für eine Warnung des Deutschen Hydrographischen Instituts«, tönte eine Männerstimme aus dem Lautsprecher. Der Taxifahrer drehte die Lautstärke wieder hoch und lauschte. »Für die gesamte Nordseeküste besteht die Gefahr einer sehr schweren Sturmflut. Das Nachthochwasser wird etwa drei Meter höher als das mittlere Hochwasser eintreten.«

Der Sprecher wiederholte das Gesagte noch einmal, dann wurde wieder Musik eingespielt.

»Die armen Teufel«, brummte der Fahrer, während er das Radio leiser drehte. »Auf den Inseln vor der Küste wird es heute wohl richtig ungemütlich, so, wie der Wind bläst. Haben Sie gehört, wie sie den Sturm nennen?«

Die junge Frau schüttelte den Kopf. Sie hatte in den vergangenen Tagen anderes im Sinn gehabt, als sich um den Namen des Tiefs zu kümmern, das über Hamburg hinwegfegte.

»Sie nennen das Mädel Vincinette! Die Siegreiche! Ich frag mich ja nur, warum es ein Franzosenname sein musste. Als ob es nicht genug deutsche Namen für sie gäbe. Elfriede hätte gut zu ihr gepasst. Meine Schwiegermutter heißt so, müssen Sie wissen, und sie ist genauso biestig wie dieser Sturm! Aber wahrscheinlich geht’s nach dem Alphabet, und da war wohl das V dran.«

Die junge Frau hörte nur mit halbem Ohr hin. Ihr war es egal, wie der Sturm hieß, der den Wasserpegel zu einer Flut steigen ließ. Vielmehr trieb sie die Sorge um, ob sie ihren Plan in die Tat würde umsetzen können. Sie hatte gehört, dass bei Sturm die Flugzeuge nicht starten durften. Würden sie dazu verdammt sein, weitere Tage in der Stadt zu verharren?

»Na, wenigstens sind wir hier sicher«, redete der Taxifahrer weiter, ohne darauf zu achten, ob sein Passagier zuhörte. »Die Küste ist hundert Kilometer entfernt, das braucht uns nicht zu kratzen. Und nasse Füße kriegt man hier in Hamburg ja eigentlich jeden Winter.«

Die unheimliche Stimme des Mannes am Bahnhof drängte sich wieder in ihr Bewusstsein. Im Suff übertrieb er natürlich, aber der Taxifahrer hatte recht. Es war nichts Neues, dass im Winter öfter mal das Wasser über die Deiche schwappte. Vollgelaufene Keller sorgten kurz für Unruhe, doch die Feuerwehr war schnell zur Stelle. Seit gut hundert Jahren hatte es keine Sturmflut mehr gegeben. So hatte man es ihnen im Unterricht erzählt.

»Unsere Deiche werden halten«, versicherte sich der Fahrer selbst und sagte dann nichts mehr, während er seinen Wagen weiter in Richtung Innenstadt lenkte.

Die junge Frau starrte aus dem Fenster. Die Häuser, an ­denen sie vorüberfuhren, wurden von den Regentropfen ­verzerrt. Schwere machte sich in ihrem Körper breit. Die ­zunehmende Entfernung zu ihrem Elternhaus wirkte beruhigend. Beinahe war es, als würde sie in den Schlaf abdriften, als plötzlich eine Sirene ertönte.

Sie schreckte hoch und sah gerade noch, wie der Peterwagen mit Blaulicht an dem Taxi vorbeiraste. Erschrocken wandte sie sich um, sah noch kurz das blaue Blitzen in der Rückscheibe des Taxis, bevor es verschwand.

»Die haben es aber eilig«, brummte der Taxifahrer, und die junge Frau bemerkte einen beunruhigten Unterton in seiner Stimme. »Wahrscheinlich hat es hinter uns einen Unfall gegeben.«

Die junge Frau nickte, ließ sich dann wieder in den Sitz sinken. Wenig später tauchte St. Georg vor ihnen auf.

In der Rautenbergstraße hielt das Taxi am Bordstein. Die junge Frau bezahlte und stieg aus. Der Sturm traf sie wie ein Schlag von der Seite, und ein unheilvolles Raunen zog um die Hausecke. Sie blickte nach oben.

Die Wohnung der alten Dame, bei der Rick zur Untermiete wohnte, lag im zweiten Stockwerk. Wenn die Hausherrin nicht da war, hatte er manchmal auf dem hübschen kleinen Balkon gesessen, sich gesonnt und auf sie gewartet.

Ihr Blick schweifte weiter. Licht brannte in seinem Zimmer. Bestimmt packte auch er gerade seine Koffer.

»Dann lassen Sie sich mal keinen Ziegelstein auf den Kopf fallen, junge Frau!«, gab ihr der Fahrer auf den Weg.

Sie schreckte zusammen. Beinahe hätte sie vergessen, dass sie noch vor der offenen Beifahrertür stand.

»Danke und gute Nacht!«, gab sie zurück und schloss die Tür.

Kurz sah sie dem Taxi nach, dann strebte sie dem Hauseingang zu. Ricks Vermieterin würde sicher nicht begeistert sein, dass zu dieser späten Stunde noch Damenbesuch kam. Aber schon bald würde sie das nicht mehr kümmern müssen.

Erster Teil

Der Besucher

1. Kapitel

2014

Das leise Piepen der Monitore tönte mir entgegen, als ich die Neurologische Intensivstation betrat. An den Geruch nach Desinfektionsmitteln war ich mittlerweile gewöhnt.

Auffällig war die Ruhe, die von dieser Station ausging. Die Schwestern in ihrer blauen Klinikkleidung bewegten sich mit Bedacht, und obwohl die Patienten von ihnen nicht gestört werden konnten, unterhielten sie sich sehr leise.

Am frühen Freitagnachmittag gab es hier nur wenige Besucher. Wer nicht mehr in der Arbeit war, machte in der Stadt seine Besorgungen. Der große Besucherstrom würde erst morgen einsetzen. Wenn überhaupt auf dieser Station, wo es keine Gespräche gab und keinen Kaffee. Einer Station, wo nur Stille herrschte und die Anverwandten und Freunde schwiegen, während die Maschinen, an denen die Patienten hingen, ihr eigenes Lied sangen.

Meine Mutter Cornelia, zu der ich in den vergangenen Jahren kaum Kontakt gehabt hatte, lag seit zwei Wochen hier. Der Schlaganfall hatte sie glücklicherweise an einem Werktag getroffen. Die Kunden in ihrem Buchladen hatten dafür gesorgt, dass sie sofort in die Klinik gebracht wurde. An einem Wochenende, allein in ihrer Wohnung, wäre sie wahrscheinlich gestorben.

Die schnelle medizinische Hilfe hatte jedoch nicht verhindern können, dass sie schwerwiegende Schäden davongetragen hatte. Wegen epileptischer Anfälle, die ihr noch mehr zu schaden drohten, hatten sich die Ärzte entschlossen, sie ins künstliche Koma zu versetzen, bis es ihnen gelang, diese medikamentös einzudämmen.

Vor dem Zimmer meiner Mutter blieb ich stehen. Neben der Tür war ein kleines Regal mit mintgrünen Vlieskitteln, Überziehern für die Füße, Mundschutz, Handschuhen und Häubchen. Wenn man ins Zimmer wollte, musste man sich in ein Wesen vom Mars verwandeln.

Ich blickte durch den Türspalt.

Mutter lag reglos auf dem Bett, das ergraute Haar über dem Kissen ausgebreitet, die Arme auf Kissen neben ihrem Körper. In einer Hand steckte der Zugang, der sie mit Medikamenten und Nahrung versorgte.

Ich vermied es auch heute, ihren Hals zu betrachten, in dem die Beatmungskanüle steckte. Beim ersten Mal war mir schlecht geworden, als ich gesehen hatte, dass sich kleine Wassertröpfchen am Kunststoff sammelten. Stattdessen blickte ich in ihr Gesicht, das mich so oft abweisend angesehen hatte.

Es war schon seltsam, dass sich in meiner Brust trotzdem Gefühle regten. Sie war meine Mutter, trotz allem, also war das wohl ganz natürlich.

»Ah, Frau Petri, schön, dass Sie da sind!«

Ich wandte mich um.

Dr. Karsten, ein hochgewachsener Mann mit Brille und dichtem weißen Haarschopf, kam auf mich zu. Er trug wie die Schwestern blaue Arbeitskleidung, an seiner Brusttasche steckte ein Namensschild, und um seinen Hals hing ein Stethoskop.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte er und reichte mir die Hand zur Begrüßung.

»Gut«, antwortete ich, denn ich war sicher, dass er bei all den Patienten, die er zu versorgen hatte, nicht wirklich wissen wollte, wie es bei mir aussah.

»Das freut mich. Ich hätte da etwas mit Ihnen zu besprechen, bevor Sie Ihre Mutter besuchen. Wäre Ihnen das recht?«

»Natürlich.«

»Gut, dann lassen Sie uns doch in mein Büro gehen, ja?«

Er deutete auf eine Tür. Ich nickte und folgte ihm.

Das Büro, das eigentlich ein Sprechzimmer war, verströmte den sterilen Charme, der auch auf der Station vorherrschte. Hinter der Untersuchungsliege, die mit einem Papierüberzug versehen war, befanden sich ein Schreibtisch und zwei Stühle. In einem Regal türmten sich Plastikbehälter mit verschweißten Kanülen und schmalen Schläuchen. Auf dem Tisch lagen Patientenakten, die meiner Mutter obenauf.

Wir nahmen Platz, ich auf dem Stuhl, von dem aus ich in das Grau blicken konnte, das sich über Hamburg spannte. Es war seltsam. Die Meteorologen hatten eigentlich Sonnenschein angesagt. Vielleicht lag es an der Wolke über meinem Kopf, dass sie unrecht hatten.

Ich ahnte, warum der Arzt mich zu sich gerufen hatte.

Dr. Karsten musterte mich einen Moment lang, als könnte er durch meine Haut sehen, wie sich alles in angstvoller Erwartung zusammenzog. Dann seufzte er kurz, als müsste er Anlauf nehmen für das, was jetzt folgte.

»Der Zustand Ihrer Mutter ist leider so, dass wir sie auch in der kommenden Woche nicht aus dem Koma holen können. Die Epilepsien lassen sich nur schwerlich in den Griff bekommen.«

»Wie lange, glauben Sie, wird es dauern?« Meine Stimme klang wie eingefroren. All die Jahre hatte ich Probleme mit meiner Mutter gehabt. All die Jahre hatte ich es vermieden, ihr unter die Augen zu treten, weil ich ja doch wieder das Gefühl gehabt hätte, gegen eine Wand zu laufen.

Und jetzt saß ich hier und ein Fremder sagte mir, wie es ihr ging. Sie selbst hatte es nie getan.

»Nun, das lässt sich schwer sagen. Es ist natürlich immer möglich, dass es einen plötzlichen Durchbruch gibt. Ansonsten zwei Wochen, vielleicht drei. Man erkennt jedoch bereits, dass Ihre Mutter einige Schäden zurückbehalten wird, die einer Reha bedürfen. Ihr Sprachzentrum ist stark in Mitleidenschaft gezogen worden, und wir gehen von einer Lähmung der rechten Körperhälfte aus.«

Lähmung der rechten Körperhälfte. Schädigung des Sprachzentrums. Ich wusste nicht, was schlimmer war.

Kaum jemand liebte Worte so wie meine Mutter – auch wenn sie nur selten viele an mich verschwendet hatte. Besonders nicht nach dem Vorfall in meiner Kindheit.

Aber Fremden gegenüber war sie stets aufgeschlossen. Sie liebte es, mit Leuten über Bücher zu reden, zu diskutieren und manchmal auch zu streiten. Dass all das nicht mehr möglich sein würde, wenn sie die Augen aufschlug, konnte ich mir kaum vorstellen.

»Einen endgültigen Befund können wir natürlich erst stellen, wenn sie wieder wach ist. So lange müssen wir hoffen, dass keine Komplikationen eintreten.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, dann fügte er hinzu: »Weshalb ich Sie aber eigentlich hergebeten habe, ist Folgendes: Da Ihre Mutter momentan unfähig ist, Entscheidungen für sich zu treffen, wollten wir Sie fragen, ob sie eine Vorsorgevollmacht erstellt hat.«

»Vorsorgevollmacht?«

Offenbar hatte ich heute meinen begriffsstutzigen Tag, denn mit dem Wort konnte ich nichts anfangen.

»Eine Vollmacht, die regelt, wer im Falle schwerer Krankheit der gesetzliche Vertreter sein soll.«

»Sie meinen so was wie einen Vormund?«

Davon hatte ich mal im Zusammenhang mit Pflegekindern gehört oder mit alten Menschen, die entmündigt wurden. Meine Mutter war weder das eine noch das andere. Sie war doch nur krank!

»Von Vormundschaft wird seit einigen Jahren nicht mehr gesprochen, seit 1992 gilt das Betreuungsgesetz«, referierte Dr. Karsten. »Darin ist geregelt, dass man sich einen Betreuer wählen kann, der im Krankheitsfall wichtige Entscheidungen trifft, wenn man selbst dazu nicht mehr in der Lage ist. Gibt es so eine Verfügung nicht, setzt das zuständige Gericht eine Person ein. Das kann ein Familienangehöriger sein, aber auch ein Anwalt oder Sozialarbeiter.«

Meine Mutter brauchte einen Betreuer. Möglicherweise würde das ein fremder Mensch sein. Jemand, der sie nicht kannte.

Diese Information musste ich erst einmal verdauen.

Nie hatte ich daran gedacht, dass sie eines Tages so schwer krank werden würde. Nie hatten wir beide darüber geredet, was sein würde, wenn dieser Fall einträfe.

Zwischen meiner Mutter und mir hatte immer eine zornige Anspannung geherrscht, die kaum ein vernünftiges Gespräch möglich machte.

Solange wir uns nicht gegenüberstanden, war alles er­träglich gewesen. Meist vergaß ich, dass sie da war, weil wir so selten Kontakt hatten, und ihr schien es ähnlich zu gehen.

Doch seit Vater gestorben war, bestand sie darauf, dass wir uns hin und wieder sahen – auch wenn ich bei unseren Treffen kaum das Gefühl hatte, dass sie mich aus Zuneigung ­sehen wollte. Vielmehr hatte es den Anschein, dass sie mich brauchte, um ihre angestaute Wut abzulassen.

Nur wenige Minuten, nachdem ich ihre Wohnung oder ihren Laden betreten hatte, knallte es – und zwar gewaltig, so dass ich nach nicht mal einer halben Stunde wieder abreiste und mir vornahm, ihren nächsten Anruf zu ignorieren.

Und jetzt musste ich feststellen, dass wir aufgrund all unserer Streitereien nie über wirklich wichtige Dinge gesprochen hatten.

Ein gerichtlich bestellter Betreuer.

Die Worte allein lasteten wie ein Stein auf meiner Brust. Die Frage, ob vielleicht doch so ein Schriftstück existierte, wirbelte durch meinen Kopf.

»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es solch eine Verfügung gibt. Meine Mutter … Sie war immer gesund, wissen Sie? Sie hat sicher nie damit gerechnet, dass sie einen so schweren Schlaganfall erleiden wird.«

Der Arzt nickte. »Ja, das ist verständlich. Vielleicht können Sie in den Unterlagen Ihrer Mutter nachschauen. Es wäre sehr wichtig.«

»Und was, wenn ich nichts finde?« Ein schmerzhaftes Ziehen breitete sich in meiner Magengegend aus.

Dr. Karstens Miene wurde ernst. »Dann wird das Gericht einen Betreuer bestellen. Sie könnten natürlich einen Antrag stellen, aber nicht in jedem Fall wird das Gericht Sie berücksichtigen.«

»Aber ich bin ihre Tochter!«

Mein Herz wummerte gegen meinen Brustkorb. Das war seltsam, denn eigentlich war ich immer froh gewesen, nichts von meiner Mutter zu hören. Und es hatte sogar eine Zeit gegeben, in der sie mir egal gewesen war.

»Sicher sind Sie das. Doch das Gericht entscheidet danach, wer der beste Betreuer für Ihre Mutter ist. Sie werden die zuständigen Sachbearbeiter davon überzeugen müssen, dass Sie geeignet sind, die entsprechenden Entscheidungen zu treffen. Das betrifft nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Besitztümer Ihrer Mutter.«

Das klang beinahe so, als wüssten die Sachbearbeiter bereits, wie es zwischen mir und Mutter aussah. Und wenn nicht, brauchten sie sich nur ein wenig bei den Nachbarn oder Mutters Bekannten umhören.

Unter diesen Umständen würden sie mir nie die Pflegschaft übergeben.

»Frau Petri?«

Die Stimme des Arztes holte mich aus meinen Gedanken.

»Ja?«

»Schauen Sie doch bitte übers Wochenende nach, ob Sie eine Verfügung Ihrer Mutter finden. Rufen Sie Ihren Anwalt oder Notar an, falls es einen gibt. Manche Patienten hinterlegen ihre Verfügungen dort.«

Ich nickte, doch ein gutes Gefühl hatte ich nicht dabei. Welchen Grund sollte meine Mutter haben, mich zu ihrem Betreuer zu bestellen?

»In Ordnung«, hörte ich mich sagen. »Gibt es … Können Sie mir sonst noch irgendeinen Tipp dazu geben?«

»Nun ja, wenn Sie zur Betreuerin Ihrer Mutter bestellt werden wollen, würde ich Ihnen raten, einen Anwalt zu nehmen. Es gibt einige sehr gute in dem Bereich, die das Gericht eher von Ihren Qualitäten überzeugen können, als es bei Ihnen selbst der Fall wäre.«

Eigentlich hätte ich deswegen beleidigt sein müssen, denn ich konnte ziemlich überzeugend sein – doch ich verstand, was er meinte.

Dr. Karsten streckte seinen Arm nach dem Regal aus, durchsuchte einen Moment lang den Kleinkram, der dort lag, dann zog er eine kleine Karte hervor.

»Hier, dieser Anwalt ist auf Familienrecht spezialisiert. Er kann Ihnen sicher weiterhelfen.«

Martin Steyer stand auf der Karte. Darunter Adresse und Telefonnummer der Kanzlei.

»Aber möglicherweise werden Sie ja auch fündig. Ältere Leute tun gegenüber ihren Angehörigen oftmals so, als wären sie unverwundbar, doch im Stillen machen sie sich schon Gedanken über den Krankheitsfall. Als ich meiner Mutter eine Patientenverfügung ans Herz gelegt habe, sagte sie: ›Das hab ich doch schon längst, Jung!‹«

»Danke«, sagte ich und versuchte mich an einem Lächeln. »Ich werde ihre Wohnung und ihren Laden auf den Kopf stellen. Vielleicht gibt es ja wirklich eine Verfügung.«

Der Arzt nickte mir aufmunternd zu und reichte mir die Hand. Sein Blick wurde hektisch. Der nächste Patient wartete. Vielleicht auch wieder ein Angehöriger. Das Klinik­leben ging weiter.

»Geben Sie uns Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen. Unsere Sozialarbeiterin steht Ihnen mit Rat und Tat zur Seite.«

Damit war ich entlassen.

Wenig später fand ich mich erneut vor der Tür wieder, hinter der meine Mutter lag und von alldem nichts wusste. Wie mochte es sich anfühlen, im Koma zu liegen? Träumte man? War es so, wie manche behaupteten, dass man mitbekam, was ringsherum geschah? Schwebte ihre Seele durch die Gänge der Klinik?

Ich war nicht dazu erzogen worden, an Geister zu glauben. Ich hoffte nur, dass sie keine Schmerzen hatte. Und wenn sie träumte, dass der Traum ein guter war.

»Sie können gern zu ihr, wenn Sie möchten«, sagte die freundliche Stimme einer Schwester hinter mir. Ich hatte sie gar nicht bemerkt.

»Nein, heute nicht. Ich habe mit Dr. Karsten gesprochen und …« Ich schüttelte den Kopf. Das interessierte die Schwester sicher nicht, sie wusste, wie es um meine Mutter stand.

»Sollten Sie es sich noch einmal überlegen, denken Sie bitte an die Schutzkleidung.«

Ich schaute sie an. Sie war mir bei meinen Besuchen hier noch nicht begegnet und konnte nicht wissen, dass mir das alles bereits bekannt war.

»Danke«, sagte ich und wartete noch, bis sie im Zimmer nebenan verschwunden war. Dann verließ ich die Station.

2. Kapitel

Katja lebte in einem hübschen alten Haus in Stillhorn, unweit des Deichs. Die Gegend hier hatte kaum etwas mit dem restlichen Hamburg zu tun, sie war ländlich und durchzogen von schmalen Wasseradern, die zu dieser Zeit vollkommen begrünt und von Enten bevölkert waren. Nur die Nähe der Autobahn und die hellen Wohnblöcke von Wilhelmsburg, die man in der Ferne sehen konnte, erinnerten einen daran, dass es weiter nördlich noch eine Großstadt gab, zu der dieses Gebiet gehörte.

Ich parkte meinen Wagen halb auf dem Gehweg und stieg aus. Ein Bellen tönte mir entgegen. Der Hund der Nachbarin, eine Promenadenmischung namens Wölfi, über die Katja manchmal lästerte, wenn wir uns schrieben, war sehr gewissenhaft, was den Schutz seines Reviers anging. Und sorgte somit dafür, dass sein Frauchen nichts von dem verpasste, was sich in der Nachbarschaft ereignete.

Auf dem Weg zu Katjas Haustür checkte ich noch einmal mein Handy. Ich hatte ihr vorhin nur kurz geschrieben, dass ich vorbeikommen wollte. Eine Antwort hatte ich nicht abgewartet.

Ich fand zunächst nur die Mail eines Autors, der nachfragte, wie weit die Organisation seiner Lesetour gediehen war.

Dann las ich: Wenn du keine Angst vor dem Chaos hast, komm ruhig.

Ich lächelte in mich hinein.

Chaos herrschte bei Katja eigentlich nie. Sie glaubte das nur. Möglicherweise war ihr heute ein Blumentopf heruntergefallen.

An der Haustür klingelte ich.

»Moment!«, tönte es gedämpft aus dem Innern, gefolgt von Schritten und dem Zurückziehen einer Türkette. Keine Ahnung, warum Katja ihr Haus dermaßen sicherte.

»Hey, da bist du ja!« Sie strahlte mich an und umarmte mich, als hätten wir uns wochenlang nicht gesehen. »Komm rein, krieg aber keinen Schreck!«

Der Geruch von Essigreiniger stieg mir in die Nase, als ich durch den Flur ging. Durch die offenstehende Küchentür sah ich, dass Katja begonnen hatte, sämtliche Schränke auszuräumen. Meist tat sie das dann, wenn sie über etwas richtig verärgert war.

»Was ist los?«, fragte ich und riss mich vom Anblick der übereinandergestapelten Geschirrteile los.

»Oh, nichts, was ein gutes Donnerwetter nicht wieder geraderücken würde«, entgegnete sie ausweichend.

»Aha, also Ärger mit Toni.«

»Lass mich bloß in Ruhe mit dem!«

Volltreffer! Offenbar war ihre Fernbeziehung mit Antonio, dem Chef einer Kölner Werbefirma, wieder einmal in die Off-Phase getreten. Gerade frisch, vermutete ich, wenn man sich den Zustand der Küche ansah. Wenigstens hatte sie diesmal mit Chaos nicht übertrieben. Für ihre Verhältnisse war das schon ziemlich extrem.

»Erzähl mir lieber, wie es deiner Mutter geht.«

Sie bugsierte mich ins Wohnzimmer, zu dem riesigen rotgemusterten Sofa, auf dem man sich wie ein Kleinkind vorkam, wenn man darauf saß. Auf der Sitzfläche konnten zwei Leute bequem nebeneinanderliegen.

Ich verdrängte den Gedanken daran, dass Katja und Antonio das in guten Zeiten wahrscheinlich taten, und ließ mich auf das weiche Polster sinken. Erst jetzt bemerkte ich meine innere Anspannung. Sie fühlte sich an wie ein Knäuel Stacheldraht in meinem Bauch.

»Ich war gerade in der Klinik«, presste ich hervor.

»Und?«

Ich seufzte und berichtete, was ich über ihren Zustand und die Wahl eines Betreuers erfahren hatte.

»Vielleicht solltest du auch schon mal daran denken, so eine Patientenverfügung aufzusetzen«, schloss ich. »Sonst bekommst du noch einen Fremden vor die Nase gesetzt, der entscheidet, was mit dir und deinem schönen Haus passiert.«

»Eine gruselige Vorstellung!«, entgegnete Katja. »Ich glaube, ich mache uns beiden erst einmal einen Kaffee. Hast du Hunger?«

Ich wollte schon den Kopf schütteln, doch dann erinnerte mich mein Magen daran, dass meine letzte Mahlzeit das Frühstück im Hotel gewesen war – von dem ich kaum etwas herunterbekommen hatte. Das Knurren klang, als hätte sich ein hungriger Bär vor Katjas Tür verirrt.

»Ja, ein bisschen.«

»Okay, ich bin gleich wieder bei dir. Ruh dich aus, und sammle dich ein wenig. Und dann schauen wir mal, was wir in dieser Betreuer-Sache machen.«

Katja verschwand in der Küche.

Ich lehnte mich auf diesem überbequemen Sofa zurück und blickte aus dem Fenster.

Wie in Berlin die Nebelkrähen, so konnte man hier kleine Schwärme von Möwen sehen, die auf oder hinter den Grundstücken etwas Essbares suchten. Die Abendsonne zauberte einen milden rötlichen Schein auf das Gras. Das Rot der Rosen, die Katja gepflanzt hatte, schien regelrecht zu glühen.

Ich musste zugeben, dass ich in diesem Augenblick ein wenig neidisch auf sie war.

Doch andererseits fürchtete ich den leeren Raum um mich, den ich in solch einem großen Haus hätte. Sicher, ich könnte die Räume mit Möbeln vollstellen, doch in der Dunkelheit würde ich mir der Leere wieder bewusst werden.

In Berlin war ich ständig von Menschen umgeben. In dem Mehrfamilienhaus in Köpenick kannten sich die Nachbarn noch, und die ältere Dame von gegenüber versorgte mich hin und wieder mit Kuchen.

Doch wenn alles anders gekommen wäre, wenn meine Beziehungen länger gehalten hätten oder ich an den Richtigen geraten wäre, hätte ich vielleicht auch ein kleines Häuschen am Speckgürtel der Hauptstadt.

Unwillkürlich dachte ich zurück an die Zeit, in der Katja und ich uns kennengelernt hatten. Damals waren wir beide noch im Studium und wussten nicht so recht, was wir mit unseren Abschlüssen in Publizistik anfangen sollten.

Katja hatte sich schließlich entschieden, in einem Kinderbuchverlag ein Volontariat zu absolvieren – und war bei dem Verlag geblieben. Ich hingegen ging aus Hamburg fort. Nach einem Praktikum in einem Verlag und mehreren Jahren in einer Literaturagentur machte ich mich mit einer kleinen Eventagentur für Autoren selbständig.

Inzwischen vermittelte ich für einige namhafte Literaten Lesungen und andere Veranstaltungen. Es lief recht gut, und ich hoffte, dass ich schon bald ein zweites Büro eröffnen konnte.

Ich habe es gehofft, korrigierte ich mich selbst. Das war, bevor Mutter ins Krankenhaus kam.

Als Katja mit einem kleinen Tablett zurückkehrte, schob ich meine Gedanken beiseite.

»Ich wollte dir keine Umstände machen«, sagte ich peinlich berührt, als ich sah, dass sie Brötchen belegt und zusammen mit Früchten und Käse auf einen Teller gestapelt hatte. Der Kaffee, der in der Kanne dampfte, verströmte einen wunderbar belebenden Duft.

»Du machst mir keine Umstände. Es ist ohnehin Abendbrotzeit, nicht wahr?«

Wie sie unter der Unordnung in der Küche überhaupt noch Geschirr finden konnte, war mir ein Rätsel. Aber mein Magen knurrte erneut, also langte ich zu.

Schweigend aßen wir, und als wir fertig waren, sagte ich: »Du kennst ja das schwierige Verhältnis, das ich zu meiner Mutter habe. Ich habe mich in den vergangenen Stunden gefragt, warum ich mir eigentlich so einen Kopf über die Betreuung mache. Umgekehrt wäre es doch genauso. Meiner Mutter wäre es egal.«

»Du weißt, dass das nicht stimmt«, sagte Katja und legte die Hand auf meine Schulter. »Ja, ich kenne die Geschichten. Aber es ist gewiss nicht so, dass sich deine Mutter nicht um dich gesorgt hätte.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte ich und spürte, wie sich alter Ärger in meinem Innersten zusammenballte. All die Versuche, an die unnahbare Person heranzukommen, zu der meine Mutter geworden war, hatten nichts gebracht. Irgendwann hatte ich aufgegeben.

»Weil sich jede Mutter um ihr Kind sorgen würde. Selbst deine Mutter tut das sicher. Ich habe keine Ahnung, was in ihrem Leben vorgefallen ist, aber ich tippe ganz stark darauf, dass sie ausgeflippt wäre, wenn sie die Nachricht bekommen hätte, dass du im Krankenhaus bist.«

»Meine Mutter hat noch nie dazu geneigt auszuflippen«, gab ich mit einem schiefen Lächeln zurück und spürte, wie gut mir der Gedanke, dass meine Mutter sich um mich ängstigen würde, tat. Doch das Gefühl verflog sehr schnell wieder. Sie hatte sich nie wirklich um mich gekümmert.

Dennoch konnte ich nicht einfach über die Betreuersache hinweggehen.

»Nun ja, ich glaube jedenfalls nicht, dass ich ein Schriftstück finden werde, in dem mich meine Mutter zu irgendwas bevollmächtigt.«

»Sie wird wie alle anderen Menschen nicht daran gedacht haben, dass ihr etwas Derartiges zustoßen könnte.«

Ich zuckte mit den Schultern. Der Gedanke, dass ich nie wirklich gewusst hatte, was sie dachte, war wie ein bitterer Geschmack im Mund.

»Vielleicht. Möglich. Auf jeden Fall hat mir der Arzt die Adresse eines Anwalts gegeben, an den ich mich wegen der Betreuersache wenden könnte. Nur weiß ich nicht …« Ich stockte.

»Du weißt nicht, ob du ihn in Anspruch nehmen sollst?«

»Manchmal gehen die Dinge nach hinten los, das weißt du genauso gut wie ich«, sagte ich und rieb mir übers Gesicht. »Der Anwalt wird Fragen stellen. Er wird Dinge wissen wollen. Und ich weiß nicht, ob ich ihm dann eine heile Mutter-Tochter-Beziehung vorspielen kann.«

»Ist das denn von Bedeutung, dass die Beziehung heil ist?«

»Was weiß ich. Aber angesichts der Schwierigkeiten, die meine Mutter und ich hatten … Vielleicht glauben sie, dass ich nicht die Richtige bin, um für ihr Wohl zu sorgen. Dann habe ich einen Anwalt zu bezahlen und letztlich nichts erreicht.«

»Ich glaube, du machst dich verrückt. Rede erst einmal mit dem Mann. Und vorher schaust du, ob es nicht doch ein Schriftstück von deiner Mutter gibt. Vielleicht überrascht sie dich ja mal positiv. Und wenn du magst, helfe ich dir beim Suchen.«

»Danke, das ist lieb«, sagte ich. »Aber nicht nötig. Ich werde morgen nachsehen. Und dann mit dem Anwalt sprechen.«

Ich atmete tief durch und wünschte mich Wochen zurück, als ich noch glücklich durch Berlin radelte und mich all das hier nichts anging.

»Du weißt, dass du jederzeit bei mir einziehen kannst«, sagte Katja, die sich offenbar in den Kopf gesetzt hatte, mich zu unterstützen. »Du musst nicht im Hotel hocken und denen einen Haufen Geld in den Rachen werfen.«

»Ich weiß dieses Angebot sehr zu schätzen«, gab ich zurück. »Aber ich muss kommende Woche nach Berlin zurück. Die Agentur läuft nicht von allein, außerdem möchte ich dir nicht auf die Nerven gehen.«

»Als ob du das jemals getan hättest! Schon vergessen, dass wir in den letzten beiden Semestern Zimmergenossinnen waren?«

Wie hätte ich das je vergessen sollen?

Katja hakte mich unter und zog mich vom Sofa in die Höhe.

»Komm, lass uns ein wenig spazieren gehen. Du siehst aus, als könntest du frische Luft vertragen. Und einen Sonnenuntergang wie diesen bekommst du mitten in der Stadt bestimmt nicht.«

Erst als es dunkel wurde, kehrten wir ins Haus zurück. Inzwischen wusste ich alles über Antonio und die Frau, mit der er Katja betrogen hatte. Die Off-Phase würde wohl endgültig off bleiben. Vielleicht hatte sie mir deshalb angeboten, für eine Weile bei ihr einzuziehen.

Das Angebot, in ihrem Haus zu übernachten, nahm ich aufgrund der bleiernen Schwere meines Körpers gerne an und bezog das kleine Gästezimmer mit den Rosentapeten. Ich wusste, dass Katja daraus gern ein Kinderzimmer machen würde – aber mittlerweile fehlte ihr der Mann für dieses Vorhaben. Sie war nicht der Typ, der sich irgendwen in einer Bar aufgabelte und sich dann von ihm schwängern ließ.

Als ich unter die nach Weichspüler duftende Bettwäsche schlüpfte, fühlte ich mich für einen Moment in meine Kindheit versetzt. Die Zeit, in der Mutter mich noch liebevoll behandelt hatte. Glücklicherweise war ich zu kaputt, um mich wieder an das zu erinnern, was danach geschehen war. Die Wandlung. Die Kälte. Meine Augenlider wurden schwer, und das Letzte, woran ich denken konnte, war der Wunsch, nicht von irgendwelchen blöden Träumen heimgesucht zu werden.

3. Kapitel

Am Samstag fuhr ich bereits in aller Frühe aus Stillhorn los, denn ich wollte nicht in den Wochenendstau geraten. Außerdem musste ich mich noch umziehen, den Klinikgeruch loswerden. Natürlich war es Einbildung, dass er noch an mir haftete, aber für die Suche brauchte ich etwas Bequemeres.

Glücklicherweise war ich gestern noch gut bis zum UKE, dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, durchgekommen und hatte auch auf Anhieb einen Parkplatz gefunden. Heute würde das ganz anders aussehen.

Im Hotel in Harburg wechselte ich meine Sachen. Ich hatte noch Bluse, Blazer und Anzughose an, wie ich es auch in der Agentur trug. Dieser Kleidungsstücke entledigte ich mich nun und schlüpfte in Jeans und ein weites graues T-Shirt. Eine Strickjacke für alle Fälle komplettierte mein Outfit.

Eine seltsame Energie durchzog meinen Körper. Ich fühlte mich wie eine Jägerin. Die war ich gewissermaßen auch. Vielleicht eine, die auf verlorenem Posten stand. Aber bevor ich nicht jeden Zipfel von Mutters Wohnung nach diesem Zettel durchsucht hatte, wollte ich den Anwalt nicht anrufen.

Da die Parkplätze in der Innenstadt am Wochenende sehr knapp waren, entschied ich mich, mit dem Auto nur bis nach Veddel zu fahren. An der Harburger Chaussee war um diese Zeit noch genug frei, und zur S-Bahn-Station war es nicht weit.

Das Gespräch mit Dr. Karsten kehrte langsam, aber sicher zu mir zurück. Der nette Abend mit Katja hatte mich leider nur kurz abgelenkt. Während ich durch Wilhelmsburg fuhr, war plötzlich alles wieder da.

Es hatte in meinem Leben durchaus eine Zeit gegeben, in der es mir egal gewesen wäre, was mit meiner Mutter geschah. Ich hätte abgewunken und es dem fremden Betreuer überlassen, ihre Angelegenheiten zu regeln.

Doch jetzt hatte mich die Angst, dass ich die Kontrolle verlieren würde, voll im Griff. Wer wusste schon, was ein fremder Betreuer anstellte? Wer wusste, wie er mit ihrer Gesundheit umging?

Noch vor einigen Wochen hätte ich es nicht für möglich gehalten, wie viele Tochtergefühle ich doch hatte.

Ein lauer Wind wehte über den Deich, der sich neben mir auftürmte. Ein paar junge Leute mit Rastafrisuren saßen auf der Treppe und unterhielten sich leise. Die Häuser in der Harburger Chaussee wirkten ein wenig traurig, ihr roter Glanz war von der Zeit abgewaschen und durch dunkle Patina ersetzt worden.

Unweit der Häuserzeile gab es eine Tankstelle, einen Autohändler und ein Spielkasino. Ich hatte keine Ahnung, woher die Lautsprecherstimme kam, die über die Straße tönte. Da sie verkündete, jemand habe gewonnen, tippte ich auf das Kasino.

Ich ließ die Straße hinter mir und erklomm die Treppe zur S-Bahn-Station. Dort war um diese Zeit noch nicht viel los. Lediglich ein paar ältere Leute saßen auf den Wartebänken und ein junger, asiatisch aussehender Mann lehnte mit Kopfhörern auf den Ohren an einem Pfosten.

Einen Moment lang beobachtete ich, wie Busse und Taxen um den Platz vor dem Bahnhof kreisten, dann fuhr auch schon der Zug ein. Ich suchte mir einen Platz am Fenster, und da ich es mir abgewöhnt hatte, meine Mitreisenden zu mustern, konzentrierte ich mich voll und ganz auf die Aussicht.

Es war seltsam, aber auf einmal überfielen mich nostalgische Gefühle und Erinnerungen. Die Frustration über meine Mutter, die Rebellion gegen mein Elternhaus, aber auch die schönen Momente. Ausflüge an den Hafen mit meinem Vater – und schließlich gelangten meine Gedanken wieder zu dem Tag, an dem sich mein Leben abrupt geändert hatte.

Wie jeden Morgen riss mich der Wecker zu früh aus tiefstem Schlaf. Meine Arme waren zu schwer, um dem Störenfried auf Anhieb den Garaus zu machen, also blieb mir nichts anderes übrig, als mich aufzurichten.

Die Nacht war nicht besonders gut gewesen. Geplagt von diffusen Alpträumen, die mich immer wieder hochschrecken ließen, hätte ich schwören können, dass irgendwann am Morgen ein Auto vor unserem Haus gehalten hatte.

Aber wahrscheinlich hatte ich mir das nur eingebildet. Gähnend stieg ich aus dem Bett und trottete zum Schreibtisch, wo mein kleines Radio stand. Vermutlich war ich nicht die einzige Elfjährige, die ohne Musik einfach nicht wach werden konnte. Musik war für mich und meine Klassenkameradinnen alles.

Meine Mutter mochte das Plärren eines Radios nicht, deshalb hatten wir in den gemeinschaftlichen Räumen auch keines. Was meinen Vater nicht davon abhalten konnte, mir ein Radio zu schenken – dasselbe Modell, das er auch in seiner Werkstatt hatte.

Ich suchte meine Sachen für den Tag zusammen und packte meine Schultasche. Mama lag mir zwar ständig in den Ohren, dass ich meine Schulbücher schon eher einstecken sollte, aber irgendwie vergaß ich das am Abend zuvor immer.

Als der Song beendet war, verschwand ich im Bad. Dabei fiel mir auf, dass es nicht wie sonst in der Küche klapperte. War Mama schon mit dem Frühstück fertig?

Vorsichtshalber beeilte ich mich mit dem Duschen und schlüpfte wenig später in meine neue Jeans. Am liebsten hätte ich eine wie Carola gehabt, mit Löchern am Knie und vollkommen ausgewaschen. Doch ich durfte nicht, weil es unordentlich aussähe – darin waren sich Mama und Papa ausnahmsweise einig. Aber die neue Jeans war dennoch toll, und ich freute mich schon sehr, sie meinen Freundinnen zu zeigen.

Plötzlich stürzte Papa in mein Zimmer. Normalerweise klopfte er immer, doch jetzt war er kreidebleich und zitterte am ganzen Leib.

»Mama ist weg!«, platzte er heraus.

Ich starrte ihn an, unfähig zu begreifen, was er sagte. Mama war nicht da?

»Hast du deine Mutter heute Morgen gesehen?«

Ich schüttelte den Kopf. Noch immer weigerte sich mein Verstand zu realisieren, was er sagte. Mama weg? Natürlich verließ sie manchmal das Haus.

»Sie ist vielleicht draußen«, antwortete ich hilflos. »Bei der Nachbarin. Oder in ihrem Laden.«

»Ja … ja, vielleicht.« Der Gedanke schien meinem Vater offenbar noch nicht gekommen zu sein. Dabei war meine Mutter doch ganz verliebt in ihre kleine Buchhandlung.

»Ich versuche, sie dort zu erreichen.« Damit verließ er mein Zimmer wieder. Zurück blieb eine merkwürdig pulsierende Stille.

Es war noch nie vorgekommen, dass meine Mutter frühmorgens nicht da war. Stets bereitete sie für alle das Frühstück zu, bevor sie in ihr Geschäft fuhr. Ich kannte es gar nicht anders.

Hatte es vielleicht einen Notfall gegeben? Aber warum hatte sie Papa dann nicht Bescheid gesagt?

Schließlich trug ich meine Schultasche nach unten. Papa stand im Flur und telefonierte – oder besser gesagt, er versuchte es. Ich beobachtete, wie seine Stirnfalten mit jedem vergeblichen Klingeln tiefer wurden. Nach einer Weile gab er auf und legte den Hörer wieder auf die Gabel.

»Ich probiere es mal bei der Nachbarin«, sagte er – mehr zu sich selbst als zu mir. »Nimm dir irgendwas aus dem Schrank, egal, was. Du musst gleich zur Schule.«

Irgendwas aus dem Schrank zu nehmen – dem Kühlschrank, dem Vorratsschrank, mein Vater hatte es nicht genau benannt –, war einer meiner Kindheitsträume gewesen. Meine Mutter achtete immer darauf, dass ich in der Schule ein belegtes Brot dabeihatte, jetzt standen mir alle Möglichkeiten offen, einen Schokoriegel zu stibitzen oder was auch immer.

Doch seltsamerweise hatte ich jetzt keinen Spaß daran.

Ich spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, und als könnte es meine Mutter zurückbringen, holte ich eine Scheibe Brot aus dem Kasten und belegte sie mit Käse.

In der Schule konnte ich nur daran denken, ob meine Mutter wieder zu Hause oder zumindest in ihrem Buchladen war. Ich versuchte, mich damit zu beruhigen, dass sie einfach nur kurz unterwegs gewesen war. Es geschah nicht häufig, aber manchmal stritten sich meine Eltern. Ich hatte in der vergangenen Nacht nichts gehört, aber möglicherweise hatte mein Vater etwas zu ihr gesagt. Möglicherweise war sie seinetwegen abgehauen. Woher sollte ich das wissen?

Die Welt der Erwachsenen war ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Die wichtigsten Dinge wurden mit Kindern nie besprochen. Kam man zufällig dazu, wenn sie sich über etwas Bedeutsames unterhielten, verstummten sie und wechselten das Thema. Dann ging es nur noch darum, ob man seine Hausaufgaben gemacht hatte, wie groß man geworden war oder dass man irgendwo einen Fleck hatte.

Wurde einem das zu viel, verschwand man, und die Erwachsenen fuhren sogleich dort fort, wo sie aufgehört hatten.

Gern hätte ich mich Carola anvertraut, aber diese hatte damit zu tun, mit ihrem Depeche-Mode-Poster anzugeben. Ich fand das sonst auch cool, aber heute war alles, was sie tat, irgendwie albern.

Froh darüber, dass der Tag zu Ende war, verließ ich am Nachmittag das Schulgebäude. Um zum Buchladen meiner Mutter zu gelangen, musste ich ein paar Stationen mit der U-Bahn fahren. Ich war sicher, dass sie dort war. Wahrscheinlich würde sie dar­über lachen, wenn ich mit besorgtem Gesicht durch die Tür stürmte.

Als ich die U-Bahn-Station verließ, sprühte mir der Regen ins Gesicht. Das Wetter hatte sich in der Zeit, die ich in der Bahn verbracht hatte, schlagartig verändert. Frierend rettete ich mich in die Buchhandlung.

Ein paar Kunden vor den Büchertischen und dem großen Regal mit den älteren Büchern drehten sich verwundert um. Heidi, die Verkäuferin, beriet gerade einen alten Mann, der sich nicht zwischen zwei Bildbänden entscheiden konnte.

Von meiner Mutter keine Spur. Da Heidi beschäftigt war, beschloss ich, in die Küche zu gehen.

Mein Herz klopfte wie wild. Ich hoffte so sehr, dass ich, wenn ich den Vorhang hinter der Tür wegzog, meine Mutter sehen würde.

Doch die Küche war leer. Auf dem Tisch stand Heidis Brotdose, der Aschenbecher war voller als sonst. Der Geruch von kaltem Qualm hing in der Luft.

Heidi durfte nie rauchen, wenn ich da war. Wenn sie Pause hatte, verzog sie sich mit dem Aschenbecher in den Hinterhof.

Der Vorhang wurde hinter mir aufgezogen. Erschrocken wirbelte ich herum.

»Na, Deern, was machst du denn hier?«, fragte Heidi verwundert. Wahrscheinlich hatte sie mitbekommen, dass ich durch den Laden gelaufen war. »Solltest du nicht besser nach Hause gehen?«

Ich fand diese Frage merkwürdig, denn ich war öfter hier und machte meine Hausaufgaben manchmal im Hinterzimmer.

»Ist Mama hier?«

Heidis Blick verfinsterte sich. »Nein, deine Mutter ist nicht hier. Deshalb sollst du ja nach Hause gehen. Dein Vater hat mich angerufen, damit ich dir das sage, wenn du auftauchst.«

Mit schmerzendem Magen verließ ich die Buchhandlung wieder. Mama war nicht da. Vielleicht war sie daheim? Möglicherweise war sie krank.

Ich versuchte, mir einzureden, dass es noch irgendeine Hoffnung gab. Dass meine Mutter sich nur ein Bein gebrochen hätte.

Ich setzte mich in den Zug und tat etwas, das ich noch nie getan hatte – ich betete. Zwar war ich getauft, aber die Religion spielte bei uns keine große Rolle. Meine Eltern gingen mit mir zu Weihnachten und zu Ostern in die Kirche – damit hatte es sich aber schon. Ich wusste nicht einmal, wie ein richtiges Gebet aussah. Großeltern, die mir eines hätten beibringen können, hatte ich nicht wirklich. Mein Vater hatte zwar noch seine Mutter, doch die war geistig umnachtet, wie er immer sagte.

Ich flüsterte also wirr vor mich hin, versprach, mir immer die Zähne zu putzen und auch keine zerlöcherte Jeans mehr zu wollen, wenn nur meine Mutter wieder da wäre.

Als ich an unserem Haus ankam, erkannte ich, dass diese An­gebote wohl zu wenig für den lieben Gott gewesen waren. Beim Anblick des Polizeiautos, das vor unserem Wohnblock parkte und von den alten Leuten in der Gegend Peterwagen genannt wurde, begann ich zu zittern.

Ich konnte nicht einmal sagen, wieso, aber ich war ganz ­sicher, dass meine Mutter nicht da war.

Oben wurde ich von meinem Vater und zwei Polizisten erwartet. Mein Vater war blass, die Polizisten hatten beide rote Köpfe.

»Da bist du ja!«, sagte er und schloss mich mit einem erleichterten Seufzen in die Arme.

Hast du geglaubt, dass ich auch weglaufen würde?, hätte ich beinahe gefragt, doch ich schluckte die Worte runter.

»Die beiden Herren hier suchen nach Mama. Sie haben ein paar Fragen an dich.«

Vor lauter Herzklopfen bekam ich die Namen der beiden Männer gar nicht mit. Alles um mich herum rauschte.

Ich gab ihnen artig die Hand, und der Größere von beiden, der eine Halbglatze hatte, begann, mir Fragen zu stellen.

Wann ich meine Mutter zum letzten Mal gesehen hätte.

Ob sie sich seltsam verhalten hätte.

Ob es Streit zwischen meinen Eltern gegeben hätte.

Und so weiter. Ich konnte die meisten Fragen verneinen und hätte um ein Haar auch diese verneint: »Ist dir in der Nacht irgendwas Merkwürdiges aufgefallen?«

»Na ja … Ich bin mir nicht sicher, aber irgendwie war es, als würde ein Auto vor der Tür halten.«

»Ein Taxi vielleicht?«, fragte der Polizist.

Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Ich dachte, ich würde das nur träumen, also bin ich auch nicht aufgestanden, um nachzusehen. Danach bin ich gleich wieder eingeschlafen.«

Der Polizist seufzte. Die Antwort schien ihm nur teilweise zu gefallen. Wahrscheinlich wäre es ihm lieber gewesen, wenn ich das Auto hätte beschreiben können.

Nach weiteren Fragen, zu denen ich nichts sagen konnte, gab der Polizist auf. Ich kroch auf den Schoß meines Vaters. Die Angst um meine Mutter spürte ich nicht mehr so sehr, dafür eine durchdringende Müdigkeit.

Die Hand meines Vaters fuhr durch mein Haar.

Nur entfernt hörte ich, wie sich die Polizisten verabschiedeten und versprachen, sich wieder zu melden, wenn es Neuigkeiten gab.

Bange Wochen begannen. Mit Bauchkneifen vor Sorge wachte ich auf, mit Bauchkneifen ging ich zur Schule. Ich wurde das ätzende Gefühl in meinem Innern nicht mal dann los, wenn ich bei meinen Freundinnen war. Meine schulischen Leistungen gingen zurück. Einen Test und eine Klassenarbeit verhaute ich völlig. Noch nie zuvor hatte ich eine Zensur bekommen, die schlechter als eine Vier war. Als ich meinem Vater den Fünfer und die Sechs zeigte, reagierte er seltsam teilnahmslos.

Ich wusste, dass er nur darauf wartete, dass das Telefon klingelte. Oder dass die Polizei vorfuhr und berichtete, dass sie Mama gefunden hatten.

Doch nichts geschah.

Tagsüber gingen wir beide mehr schlecht als recht unseren Verrichtungen nach. Abends schwiegen wir uns an. Das kleine Radio war bis zum Schlafengehen meine einzige Gesellschaft. Ich hörte bis spät in die Nacht die Rolling Stones, die Pet Shop Boys oder David Bowie. Erst, wenn der nächtliche Seewetterbericht kam, schaltete ich ab und ließ mich in den Schlaf gleiten.

Tags darauf wiederholte sich das Spiel.

Mittlerweile hatte man eine Suchmeldung für meine Mutter sogar bei Aktenzeichen XY gesendet. Man ging davon aus, dass sie von einem unbekannten Mann verschleppt und ermordet worden sei.

Die meisten Hinweise, die daraufhin eintrafen, waren allerdings wertlos. Frauen in ihrem Alter, mit der gleichen Größe und Haarfarbe, gab es in Deutschland etliche.

Dass die Polizei spekulierte, meine Mutter könne ermordet worden sein, ging mir erheblich an die Nieren. Nächtelang weinte ich, und mein Vater, der mit seiner eigenen Trauer und seinem Unglauben zu kämpfen hatte, war nicht in der Lage, mich zu trösten.

Nach der Sendung begann für mich eine seltsame Zeit in der Schule. Meine Klassenkameraden schauten mich an, als wäre mir ein Horn auf dem Kopf gewachsen. Meine Freundinnen verstummten manchmal abrupt, wenn ich zu ihnen trat. Wahrscheinlich teilten sie die Mutmaßungen, die tags zuvor ihre Eltern abgegeben hatten. Einige meinten, meine Mutter sei ermordet worden. Andere dachten, sie sei rübergegangen in die Zone. Manche behaupteten sogar, dass meine Mutter eine sowjetische Agentin war, die man hier eingesetzt hatte, um zu spionieren.

Ich glaubte keiner dieser Behauptungen und entfernte mich immer mehr von meinen Freundinnen. Nach einer Weile verloren sie das Interesse an der Sache – und an mir. Ohnehin wollten sie, wenn sie zu mir kamen, nur wissen, was nun mit meiner Mutter sei. Aus diesem Grund nahmen mich auch öfter die Lehrer beiseite. Ob sie wohl Wetten abgeschlossen hatten, wer recht bekam?

Dann wurde ich eines Tages aus dem Unterricht geholt. Der Himmel hing schwer über Hamburg, und eine drückende Hitze schwebte in den Straßen. Die Sommerferien standen vor der Tür. Ich hatte es aufgegeben, an eine Urlaubsreise zu denken, denn Vater würde nirgends mit mir hinfahren. Wir waren dazu verdammt, auf Mutter zu warten.

Zu meiner großen Überraschung stand mein Vater im Lehrerzimmer. Er hatte geweint, das sah ich sofort. Sogleich überkam mich ein ungutes Gefühl. Hatten diejenigen recht, die behauptet hatten, meine Mutter sei umgebracht worden?

Meine Unterlippe begann zu zittern, bevor ich überhaupt spürte, dass ich gleich weinen würde.

Doch dann lächelte mein Vater. »Der Rektor erlaubt mir, dich vom Unterricht zu befreien. Stell dir vor, Mama ist wieder da!«

Ich starrte ihn an. In den vergangenen Wochen hatte ich nicht damit gerechnet, dass es diesen Tag jemals geben würde. Irgendwie kam es mir wie ein Traum vor. Sicher würde gleich der Wecker klingeln und mich aus dem Schlaf reißen.

Doch mein Vater fasste mich bei der Hand und führte mich tatsächlich nach draußen.

Wir schlängelten uns in seinem Polo durch den Stadtverkehr, wobei er tatsächlich anfing, ein Lied zu summen. Es musste wahr sein. Meine Mutter war wieder da!

Als unser Wohnblock auftauchte, klopfte mein Herz wie verrückt. Diesmal nicht aus Sorge. Ich war ungeduldig. Ich konnte es nicht abwarten, sie wiederzusehen! Obwohl meine Mutter kaum freie Zeit hatte, weil sie sich so intensiv um ihren Laden kümmerte, hatten wir doch oft schöne Nachmittage in der Stadt verbracht. Ich durfte stets bei ihr in der Buchhandlung sein, und wenn sie etwas Luft hatte, spielten wir irgendwas. Sie konnte natürlich auch streng sein, doch sie war meine Mutter, und ich liebte sie, das wusste ich nun. Mochten einige meiner Klassenkameraden ruhig davon träumen, dass ihre Eltern verschwanden: Ich wollte nur, dass weder meine Mutter noch mein Vater mich jemals wieder alleinließen.

Ich stürmte förmlich die Treppe hinauf und klingelte dann ungestüm an der Wohnungstür. Mein Vater kam gar nicht so schnell hinter mir her.

»Warte!«, rief er von unten. »Lass deine Mutter schlafen!«

Doch da öffnete sich die Tür vor mir schon.

Da war sie. Noch genau so hübsch wie vor drei Monaten. Sie wirkte ein wenig erschöpft, aber nach der langen Reise, die wohl hinter ihr lag, war das kein Wunder.

»Mama!«, rief ich, mit Tränen in den Augen. Doch in dem Augenblick, als ich sie umarmte, spürte ich bereits, dass etwas anders war. Meine Mutter fühlte sich kalt an, so kalt. Und sie zeigte nicht die geringste Spur von Wiedersehensfreude. Nachdem sie meine Umarmung einen Moment lang ertragen hatte, löste sie sich von mir.

»Ich bin müde«, sagte sie nur und ging dann nach oben.

Ich wusste es damals noch nicht, aber die Frau, die zurückgekehrt war und aussah wie meine Mutter, war eine andere ge­worden.

»Nächste Station Sternschanze.«

Die Durchsage schreckte mich aus meinen Gedanken.

Verdammt, jetzt war ich sogar schon eine Station zu weit!

Ich schnappte meine Tasche, erhob mich, und als die Bahn hielt, stieg ich aus. Wieder einmal zeigte sich, dass es nicht gut war, allzu weit in seine Erinnerungen abzudriften. Glücklicherweise fuhren die S-Bahnen auch in die entgegengesetzte Richtung. Während ich mich bemühte, die Bilder von damals beiseitezuschieben, wartete ich auf die nächste S 31 und stieg ein, sobald der Zug hielt.

4. Kapitel

Die Buchhandlung meiner Mutter befand sich in einer kleinen Seitenstraße in der Altstadt, nahe der Mönckebergstraße. Die Ladenmieten waren hier mittlerweile explodiert, doch meine Mutter brauchte sich davor nicht zu fürchten, denn das kleine Haus mit Laden gehörte ihr seit einigen Jahren. Der alte Mann, der es früher besessen hatte, war schon lange tot, und seine Tochter hatte damals eingesehen, dass sie mit einem Verkauf besser fahren würde.

Es war ein Geschäftsort wie aus dem Bilderbuch. Zwar gab es unweit von hier ein Einkaufszentrum, in dem sich auch eine riesige Buchhandlung befand. Aber Cornelia Petri hatte ihre Stammkunden.

Nachdem sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte ich nach dem Rechten geschaut. Da Mutter keine Angestellte mehr hatte, die sich um den Betrieb kümmern konnte, war mir nichts anderes übriggeblieben, als den Laden vorerst zu schließen.

Ich zog die Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür.

Da seit mittlerweile mehr als einer Woche nicht gelüftet worden war, schlug mir die abgestandene Ladenluft ziemlich deutlich entgegen. Als Kind hätte ich mir nichts Schöneres vorstellen können, als meine gesamte Zeit in diesen Räumen zu verbringen, wo immer wieder geheimnisvolle Kisten angeliefert wurden und neue Bücher erschienen.

Der Verkaufsraum wirkte ohne meine Mutter kalt und seelenlos. Auf dem Tresen lag eine feine Staubschicht. Auch die Bestseller, die auf dem großen Tisch in der Mitte aufgestapelt waren, wirkten ein wenig vergraut. Wenn der Laden wieder geöffnet wurde, musste erst einmal gründlich abgestaubt werden.

Ich schritt an den Kinderbuch-Regalen neben der Tür vorbei und strebte dem Tresen zu.

Hatte meine Mutter die Patientenverfügung in ihrer Buchhandlung liegen? Soweit ich wusste, hatte sie weder einen Anwalt noch einen Notar, bei dem ich hätte nachfragen können.

Vielleicht wäre es besser gewesen, mit ihrer Wohnung anzufangen, aber irgendwie sträubte ich mich, nach oben zu gehen. Meine Mutter hatte ihre kleine Wohnung ohnehin nur als Schlafplatz genutzt. Ihr Leben hatte sie in dieser Buchhandlung verbracht, solange ich denken konnte. Auch als Papa noch lebte und wir woanders wohnten.