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Addison lebt in den Tunneln unter der Stadt, weil die Leute bei seinem Anblick durchdrehen. Wenn du ihn ansiehst, verlierst du die Kontrolle und du willst ihn töten, vernichten. Gwyneth ist schön, aber sie kann es nicht ertragen, dass jemand sie berührt. Beide streifen nur im Schutz der Nacht durch die Stadt, und so kreuzen sich ihre Wege … Reiner Zufall? Nein, etwas viel Mächtigeres bringt sie zusammen. Doch weshalb? Zusätzlich in dieser Ausgabe ist die Vorgeschichte von Addison enthalten, die schildert, wie ihn seine Mutter abwies, weil er als Freak geboren wurde. Kirkus Reviews: » Koontz' Vorstellungskraft hat diesmal etwas ganz Besonderes geschaffen.« New York Journal of Books: »Die Kombination aus Mystery, übernatürlichem Horror und Romantik macht diesen Roman zu einem beispiellosen Erlebnis.« RT Book Reviews: »Vielleicht der unheimlichste und ungewöhnlichste Roman des großen Erzählers. Eine überraschende, erschreckende und spannende Geschichte, die der Leser so schnell nicht vergessen wird.«
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Seitenzahl: 513
Veröffentlichungsjahr: 2024
Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner
Impressum
Die amerikanische Originalausgaben Innocence und Wilderness
erschienen 2013 im Verlag Bantam Books.
INNOCENCE © 2013 by The Koontz Living Trust
WILDERNESS © 2013 by The Koontz Living Trust
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: Umair/99designs
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-145-5
www.Festa-Verlag.de
WILDNIS
»Die Welt ist eine Maschine,
die endlose Überraschungen produziert
und einander überlagernde Geheimnisse.«
1
Mutter behauptete, sie könne in jedem Spiegel, den ich benutzt hatte, mein Gesicht statt ihres eigenen sehen, mein Gesicht und meine einzigartigen Augen, und den Spiegel danach nicht mehr in ihrem Haus dulden. Sie zerschlug ihn und kehrte die Splitter auf, ohne einen Blick auf sie zu wagen, weil irgendwie auf jedem – so sagte sie – mein ganzes Gesicht abgebildet war, nicht nur ein Teil davon. Sie konnte es kaum ertragen mich auch nur gelegentlich anzusehen und sah meistens an mir vorbei oder betrachtete etwas ganz anderes, wenn wir miteinander sprachen. Als sie nun mein Gesicht auf einer Vielzahl von mit Silber beschichteten gezackten Glasscherben sah, rastete sie beinahe aus.
Obwohl Mutter trank und manchmal auch Drogen nahm, glaube ich, dass sie die Wahrheit sagte, was Spiegel betraf. Sie belog mich nie und liebte mich auf ihre verquere Art. Wegen ihrer Schönheit, sagte ich mir, müsse sie mehr als andere Frauen darunter leiden, dass sie jemanden mit meinem Aussehen zur Welt gebracht hatte.
Von weiten Wäldern umgeben lebten wir in einem behaglichen Haus am Ende einer langen unbefestigten Zufahrt, Meilen von den nächsten Nachbarn entfernt. Auf irgendeine Weise, über die sie nie sprach, war sie zu allem Geld gekommen, das sie ihr Leben lang brauchen würde, dabei hatte sie sich jedoch auch Feinde gemacht, die sie aufgespürt hätten, wenn sie an einem weniger abgelegenen Ort Zuflucht gesucht hätte.
Vater war ein Romantiker gewesen, der seine Vorstellung von Liebe mehr liebte als sie. Ruhelos und davon überzeugt, das ersehnte Ideal anderswo finden zu können, hatte er uns vor meiner Geburt verlassen. Mutter nannte mich Addison, und ich trage ihren Familiennamen Goodheart.
In der Nacht meiner Geburt, der schwere Wehen vorangingen, holte eine Hebamme namens Adelaide mich in Mutters Schlafzimmer auf die Welt. Sie war eine gottesfürchtige brave Frau vom Lande, aber bei meinem Anblick hätte sie mich erstickt oder mir das Genick gebrochen, wenn es Mutter nicht gelungen wäre, ihre Pistole aus der Nachttischschublade zu holen. Vielleicht aus Furcht vor einer Anzeige wegen versuchten Mordes oder weil Angst sie dazu motivierte, dieses Haus um jeden Preis zu verlassen, versprach die Hebamme hoch und heilig, niemals von mir zu sprechen und nie wieder zurückzukommen. Was die Welt betraf, war ich eine Totgeburt gewesen.
Ich konnte nur den Spiegel in meinem kleinen Zimmer benutzen: einen Ganzkörperspiegel auf der Innenseite meiner Kleiderschranktür. Manchmal stand ich davor, um mich selbst zu begutachten, im Lauf der Jahre allerdings weniger oft. Ich konnte mein Aussehen nicht ändern oder auch nur andeutungsweise begreifen, wer ich sein könnte, und die mit Selbstbetrachtung vertane Zeit brachte mir nichts.
Als ich älter wurde, fand Mutter es zunehmend schwieriger, meine Anwesenheit zu ertragen, und ich durfte oft tagelang nicht ins Haus kommen. Sie war eine Frau mit schlimmen Erfahrungen, ebenso taff wie schön, und bis ich aufkreuzte, war sie so furchtlos gewesen, wie man nur sein konnte, ohne töricht oder leichtsinnig zu sein. Sie verabscheute ihre Unfähigkeit, sich ganz mit meiner Gegenwart abzufinden, und dass es ihr nicht gelang, die Beklemmung zu verbergen, die sie nur mildern konnte, indem sie mich gelegentlich aus dem Haus verbannte.
Kurz nach Sonnenaufgang an einem Oktobertag, ein paar Wochen nach meinem achten Geburtstag, sagte sie: »Dies ist so unrecht, Addison, und ich verabscheue mich dafür, aber du musst aus dem Haus, sonst weiß ich nicht, was ich tue. Vielleicht nur für einen Tag, vielleicht für zwei, ich weiß es nicht, ich hänge die Fahne auf, wenn du wieder ins Haus kommen darfst. Aber im Augenblick will ich dich nicht in meiner Nähe haben!«
Als Fahne benutzte sie ein Geschirrtuch, das sie an einen Haken an einem Pfosten der Veranda hängte. Wurde ich aus dem Haus verbannt, kontrollierte ich jeden Morgen und nochmals am Spätnachmittag, ob die Flagge aufgehängt war, und war jedes Mal entzückt, wenn sie dort hing. Zumindest für mich war Einsamkeit eine schlimme Härte, auch wenn sie die Grundvoraussetzung meiner Existenz war.
Hatte ich Hausverbot – das auch für die Veranda galt –, schlief ich im Garten, wenn das Wetter warm war. Im Winter schlief ich in der baufälligen Garage auf dem Rücksitz ihres Ford Explorer oder in einem bequemen Schlafsack auf dem Betonboden. Sie stellte mir jeden Tag einen Picknickkorb mit Essen hin, sodass mir nichts fehlte außer dem, was am meisten zählt – Gesellschaft.
Bis zu meinem achten Geburtstag war ich so häufig durch den Wald gestreift, dass er ebenso mein Heim war wie das Haus. Nichts im grünen Dom von Mutter Natur fürchtete mich oder erschrak auch nur vor meinem Anblick. Weil ich mich nicht an die Hebamme erinnern konnte, hatte ich außer Mutter nie einen Menschen gesehen, und sie hatte mir eingeschärft, eine solche Begegnung werde bestimmt mit meinem Tod enden. Aber was sich mit Flügeln oder auf vier Beinen fortbewegte, verurteilte mich nicht. Außerdem war ich für mein Alter beachtlich stark und schnell und besaß jederzeit einen intuitiven Sinn dafür, wo ich im Wald war und wie ich mich dort am besten bewegen konnte. Ich trug Trekkingstiefel und Jeans und ein Flanellhemd; in einer Tasche hatte ich ein Schweizer Armeemesser mit zahlreichen Werkzeugen. Ich war acht, aber in mancher Beziehung älter als ein Achtjähriger, ein Junge, aber doch kein Junge wie jeder andere.
Die schönsten Werke der Menschen, die ich in Fotobänden gesehen hatte, waren nicht so bezaubernd wie mein gemischter Laubwald – Eichen und Ahorne, Birken und Wildkirschen. Und es gab Erlen, den bescheidenen Baum, den selbst erfahrene Waldläufer oft nicht wahrnehmen und der so haltbar ist, dass die halbe Stadt Venedig noch heute auf Erlenpfählen steht, die dem unaufhörlichen Ansturm des Meeres jahrhundertelang widerstanden haben. Wilde Akazien, die im Sommer rot blühen. Waldlilien mit ihren riesigen weißen Blütenblättern. Und all die eleganten Farne, Lanzenschildfarn und Farnspargel, und zierlich ausgestanztes Ptilidium pulcherrimum und Straußenfarn mit seinen Wedeln wie Federbälle. Weil Mutter als Naturliebhaberin eine Bibliothek von Nachschlagewerken hatte, wusste ich die Namen aller Dinge. Ich liebte den Wald, und als ich an jenem Tag Anfang Oktober aus dem Haus verbannt wurde, flüchtete ich in die Wildnis, die in jenem Jahr in bunten Herbstfarben leuchtete.
Über eine Meile vom Haus entfernt erreichte ich einen meiner Lieblingsplätze, eine vom Wetter in Jahrtausenden gestaltete Kalksteinformation, deren sanft fließende Formen aussahen, als schmelze sie dahin. Die Formation mit etwa zwölf Metern Durchmesser wies hier und dort röhrenförmige Schlunde auf, die mit Hohlräumen in ihrem Inneren – von denen einige durch Öffnungen am Fuß der Felsmasse zugänglich waren – in Verbindung standen. Wehte der Wind stark genug aus Norden, nutzte er den Kalkfelsen als natürliches Instrument, dem er die wehmütigsten Töne entlockte.
Ich saß auf dem höchsten Punkt, gut zwei Meter über dem Waldboden, und genoss die Sonne, die in warmen goldenen Strahlen durch die überhängenden Bäume fiel. Der prangende Wald war mit so vielen Vogelstimmen angefüllt wie Farben, vor allem Winterammern und Pirole, aber die Zipfelfalter, die mich mit ihren blauen Flügeln begeistert hatten, waren wie der Sommer verschwunden. Ich trauerte dem Sommer nach, den der Herbst vor Kurzem abgelöst hatte, denn bald würde der Wald weniger einladend sein, und viele Tiere würden weniger aktiv sein oder nach Süden ziehen … oder sterben.
Als der Wolf erschien, war ich nicht überrascht, denn ich hatte schon früher einige gesehen, die sich so lautlos zwischen den Bäumen bewegten, als wären sie die Geister längst toter Wölfe. Seit Jahren waren die Wölfe in diesen Bergen von Leuten ausgerottet worden, die sie falsch verstanden und irrtümlich für eine Gefahr für Menschen hielten. Aber jetzt kehrten sie zurück, ebenso scheu wie prachtvoll.
Wölfe suchen selten Blickkontakt, denn als stark sozial geprägte Tiere wissen sie, dass ein Anstarren herausfordernd sein kann. Ihre Neigung, andere Lebewesen indirekt zu beobachten, ist fälschlich als listige Verschlagenheit gedeutet worden. Dieser, ein großes Männchen, tauchte aus einer Masse elegant gewölbter Farnwedel auf, fast als ob er inmitten grüner Schals, die ein Zauberer ausgebreitet hatte, Gestalt annehme. Er stand vor der Felsformation, auf der ich saß, starrte zu mir herauf und stellte kurz Blickkontakt her, bevor er demütig zu Boden sah.
Wir hatten keine Angst voreinander. Und wie ich in den folgenden Jahren erfahren sollte, würde ich in Gegenwart von Menschen weit gefährdeter sein als allein mit einem Wolf im Wald.
Ich stand auf und blickte auf ihn hinab. Er sah mich noch einmal direkt an, dann wieder weg. Weil ich niemanden hatte, mit dem ich hätte reden können, sprach ich ihn an. Und warum auch nicht? Das am wenigsten Seltsame an mir war vielleicht, dass ich mit Tieren sprach, wenn ich keine menschliche Gesellschaft hatte. »Was willst du?«
Er umkreiste die Felsformation, schnüffelte in die Luft, stellte die Lauscher auf und starrte in den Wald. Als er nach Osten sah, sträubte sich plötzlich sein Nackenfell. Er winselte ängstlich, klemmte den Schwanz zwischen die Beine, starrte mich an, winselte nochmals, trabte nach Westen ins Unterholz davon und war fort. Hätte er reden können, hätte er nicht deutlicher ausdrücken können, dass von Osten eine Gefahr nahte. Er schien mich eigens aufgesucht zu haben, nur um mich zu warnen.
Vergleichbares hatte ich noch nie erlebt. Außer dem, was die Natur mir im Mutterleib angetan hatte, außer dass sie mich zu einem Ausgestoßenen und zur Zielscheibe von Angst und Hass gemacht hatte, hatte sie mir nie irgendwie zugesetzt. Ich war nie von einem ihrer Lebewesen gebissen, nicht mal von einer Biene gestochen worden, hatte nie mit Gift-Efeu, allergischem Ausschlag oder auch nur einfachem Heufieber zu tun gehabt. Nachdem sie mir das Schlimmste angetan hatte, war die Natur mit der von ihr erzeugten Missgeburt vielleicht so zufrieden, dass sie das Gefühl hatte, jedes weitere Leid, selbst wenn’s nur ein Mückenstich war, wäre übertrieben und würde mich irgendwie herabsetzen. Stolz darauf, was sie aus einer dunklen Laune heraus geschaffen hatte, widerstand sie der Versuchung, die Vollkommenheit meiner Unvollkommenheit zu verbessern.
Weil ich mir sicher war, dass der Wolf mich vor einer Gefahr hatte warnen wollen, war ich im Begriff, von meinem Hochsitz hinabzuklettern, als ich unter den Bäumen einen Mann entdeckte, der eine leuchtend rote Jacke trug und ein Gewehr hatte. Ich wusste sofort, dass er ein Jäger sein musste, obwohl die Jagdsaison noch nicht begonnen hatte, was bedeutete, dass er kein Mann war, der sich an Regeln hielt, was ihn vermutlich noch gefährlicher machte als andere Männer, wenn er mich zu Gesicht bekam.
Und dann entdeckte er mich aus einer Entfernung von 30 bis 40 Metern. Er rief mir freundlich etwas zu, was bedeutete, dass er mich nicht genau gesehen hatte. Bevor er sehen konnte, was er vor sich hatte, glitt ich von der amorphen Felsmasse. Ich wollte in Panik in Richtung Haus flüchten, aber dann rief er etwas, und ich glaubte, er würde durchs Unterholz brechen, um mich zu verfolgen. Das Haus war über eine Meile weit entfernt. Statt loszurennen, hastete ich geduckt um die Felsformation herum, brachte sie zwischen ihn und mich, und sobald ich eine der Öffnungen erreichte, kroch ich blitzschnell auf allen vieren hinein.
2
Für mich war dieser von Wind und Wetter geformte Fels auch ein vertrautes Labyrinth, weil ich seine beschränkte innere Architektur erforscht hatte, soweit ich in sie eindringen konnte. Der Gang war niedrig und eng und machte eine Rechtskurve, und als ich ins stockfinstere Dunkel hineinkroch, hatte ich nicht nur Angst vor dem Jäger, sondern fürchtete auch, was heute vielleicht in der Felskammer am Ende des Tunnels hauste. Bei meinen früheren Expeditionen in diese Höhlen hatte ich eine Taschenlampe gehabt, aber heute hatte ich keine mitgenommen.
Das Labyrinth bildete auch einen Rückzugsort für alle möglichen Tierarten, wenn sie einen suchten – übrigens auch für Klapperschlangen. Anfang Oktober würden Schlangen bei kühlen Temperaturen lethargisch und daher vielleicht nicht allzu gefährlich sein, aber obwohl die Kinder von Mutter Natur mich in all den Jahren verschont hatten, konnte ein Wiesel, ein Dachs oder ein anderes größeres Raubtier sich aufgeschreckt in die Enge getrieben fühlen, wenn ich hereingepoltert kam. Mit dem Gesicht voraus war ich verwundbar, also kniff ich die Augen fest zusammen, um gegen einen plötzlichen Krallenhieb gefeit zu sein.
Die unterirdische Passage führte mich um eine Ecke und in die Höhle, die bei ungefähr zwei Metern Durchmesser bis zu eineinhalb Meter hoch war. Als mich nichts angriff, öffnete ich die Augen. Ein Silberdollar aus Sonnenlicht, das durch einen der Schlunde fiel, lag in einer Ecke des Raums, und unter einem weiteren Schlund war ein etwas größerer unregelmäßiger Lichtfleck zu sehen. An diesem windlosen Tag war die Luft in der Höhle still, und ich sah erleichtert, dass ich hier allein war.
Hier drinnen wollte ich bleiben, bis ich annehmen konnte, der Jäger sei ein gutes Stück weitergewandert. Die Luft roch schwach nach Kalk und verrottendem Laub, das der Wind durch das größere Loch in der Decke hereingeblasen hatte. Hätte ich an Platzangst gelitten, hätte ich’s in dieser Enge nicht ausgehalten.
In diesem Augenblick hätte ich nicht voraussagen können, dass mir schon bald nichts anderes übrig bleiben würde, als einen Weg aus diesen Bergen zu finden. Oder dass ich bei Nacht und durch mühsame Fortbewegung, bei der ich zahlreiche Anschläge auf mich überlebte, in eine Großstadt gelangen würde. Oder dass ich viele Jahre lang tief unter ihren belebten Straßen in Abwasserkanälen, U-Bahn-Tunnels und all den seltsamen Winkeln, die unter einer Metropole existieren, versteckt leben würde. Oder dass ich in einem Winter, als ich die riesige Zentralbibliothek nach Mitternacht besuchte, als sie menschenleer hätte sein sollen, im Lampenlicht bei Charles Dickens ein Mädchen kennenlernte, wodurch sich sein Leben ebenso veränderte wie meines.
Während ich im Halbdunkel zwischen den Lichtflecken kauerte, hörte ich nach einigen Minuten Geräusche. Ich fürchtete, der bisher nur in meiner Fantasie existierende Dachs könnte Realität geworden und durch den Kriechtunnel zu mir unterwegs sein. Die langen Krallen an seinen Vorderpfoten hätten ihn zu einem gefährlichen Gegner gemacht. Aber dann merkte ich, dass die Geräusche wie der Sonnenschein von oben kamen. Stiefel auf Fels, ein Klappern und Scharren. Ein Mann hustete, dann räusperte er sich. Das klang sehr nahe.
Hätte er mich nicht nur flüchtig, sondern etwas genauer gesehen, hätte er mich jetzt aggressiv gesucht oder beschlossen, diesen Wald zu verlassen, der so seltsam war, dass er etwas wie mich beherbergen konnte. Stattdessen schien er sich zu einer kurzen Rast niedergelassen zu haben, was darauf schließen ließ, dass er mich nicht deutlich gesehen hatte.
Was ich sein könnte, wie ich als Produkt menschlicher Eltern auf die Welt gekommen sein konnte, wusste ich nicht – und würde es vielleicht nie erfahren. Vieles an der Welt ist schön, und noch viel mehr erscheint dem Auge wenigstens als hübsch, und das Hässliche besteht aus denselben Elementen wie alles andere und gehört eindeutig mit zum Gesamtbild. Tatsächlich ist eine hässliche Spinne bei näherer Betrachtung auf ihre Weise ein komplexes Kunstwerk, das Respekt oder sogar Bewunderung verdient, und der Geier hat seine glänzend schwarzen Federn und die Giftschlange ihre Schuppen wie Pailletten.
Etwas schien anzudeuten, dass ich der Welt vielleicht doch einen Hauch von Schönheit würde darbieten können: das Wesen meines Herzens, das frei von Bitterkeit und Zorn blieb. Ich fürchtete, aber ich hasste nicht. Ich kannte Angst, aber ich verdammte nicht. Ich liebte und wünschte mir, geliebt zu werden. Und obwohl mein Leben eingeschränkt gewesen war, obwohl meine Erfahrung auf mir drohende Gefahren begrenzt war, war ich meistens glücklich. Auf dieser Welt, auf der Sorge und Elend allgemein waren, wo die Zivilisation manchmal in Gefahr zu sein schien, in Dunkelheit zu versinken, war die Fähigkeit, Glück und Hoffnung zu empfinden, vielleicht eine Art Schönheit, ein willkommenes kleines Licht im Dunkel.
In der dunklen Höhle kauernd dachte ich über den Jäger nach, der durch kaum mehr als einen Meter Fels von mir getrennt war. Sein Leben war für mich unvorstellbar, viel rätselhafter als das eines Löwen in der Savanne oder eines Eisbären in der Arktis. Die kleine Lichtung, auf der unser Haus stand, war so weit von dem nächsten Nachbarn entfernt, so abgelegen, dass sich bisher noch kein Jäger bis zu uns verirrt hatte. Mir kam es unwahrscheinlich vor, dass dieser Mann einen Hirsch erlegen und ihn dann meilenweit zu seinem Auto schleppen oder schleifen wollte. Mir fiel eine beunruhigende Möglichkeit ein. Vielleicht jagte er um des Tötens willen und hatte keine Verwendung für Wildfleisch. Erlegte er einen Hirsch, nahm er vielleicht nur das Geweih mit, war es eine Hirschkuh, genügten Lauscher und Schwanz. Oder vielleicht tötete er und nahm nichts mit außer der Erinnerung an einen Blattschuss. War das der Fall, schien ich mich erstmals im Leben in der Nähe des wahrhaft Bösen zu befinden.
Ich erkannte den Geruch seiner Zigarette, weil Mutter süchtig nach ihren Marlboros war. Im nächsten Augenblick wirbelte ein schwacher Luftzug Rauchfäden durch den größeren der beiden Schlunde nach unten, als säße der Jäger neben ihm. Die blassen Fäden drehten und wanden sich wie die Geister von Toten, die einen Weg ins Reich der Lebenden zurück suchten. Er pfiff eine Melodie, die ich nicht kannte, und machte ab und zu eine Pause, um wieder an seiner Zigarette zu ziehen.
Außer Mutter war er der erste Mensch, den ich bewusst gesehen hatte. Ich hockte fasziniert im Dunkeln: ängstlich, aber neugierig, nicht anders als ein Astronaut, der auf einem anderen Planeten erstmals Außerirdischen begegnet. Sein manchmal unterbrochenes Pfeifen, sein gelegentliches Räuspern, ein paar gemurmelte Wörter, die Geräusche, wenn er seine Sitzposition wechselte – dies alles machte mich umso ungeduldiger, noch einen Blick auf den Mann zu erhaschen, wenigstens ein kleines Stück seiner Hand oder seiner roten Jacke zu sehen, denn obwohl er nur ein Mensch war, erschien er mir wie eine magische Gestalt. Im Lauf der Zeit gelangte ich zu der Überzeugung, er sitze so dicht neben dem Schlund, dass irgendetwas von ihm sichtbar sein würde, selbst wenn es nur ein Schuh war.
Ich schob mich lautlos unter die größere Röhre, starrte nach oben ins Licht und wurde durch den Anblick seiner Hand kaum einen Meter über mir belohnt. Sie lag mit der Zigarette zwischen zwei Fingern auf dem Fels neben dem Schlund. Die Hand war groß und schwielig; sie ließ vermuten, ihr Besitzer sei kräftig, und auf ihrem Rücken leuchteten rotblonde Haare wie dünner Kupferdraht.
Die vom Luftzug mitgerissenen Rauchfäden waberten über mein Gesicht, aber ich fürchtete nicht, husten oder niesen zu müssen. Ich hatte langjährige Erfahrung mit Mutters Rauchen, wenn wir lesend im Wohnzimmer saßen, sie mit ihrem Buch, ich mit meinem. Seit dem sechsten Lebensjahr las ich auf dem Niveau eines Erwachsenen, und Bücher waren eine Leidenschaft, die wir teilten. Ihr Rücken blieb mir fast ständig zugewandt, damit sie sich den Anblick meines Gesichts ersparen konnte, der sie in Verzweiflung stürzen und roten Zorn auslösen konnte, der unendlich schlimmer als ihre gelegentlichen Depressionen war. Aber die eleganten Rauchfäden fanden irgendwie mein Gesicht und tasteten es ab, als hinterfragten sie die Realität meiner Züge.
Auf dem Fels über mir veränderte der Jäger seine Sitzhaltung. Seine Hand verschwand, aber wie er jetzt dasaß und eine Melodie summte, statt sie zu pfeifen, konnte ich einen Teil seines Gesichts in einem so steilen Winkel sehen, dass es den Präsidenten am Mount Rushmore glich: das energische Kinn, einen Mundwinkel, seine Nasenspitze. Ein Teil der Zigarette erschien, aber nicht die Hand, die sie hielt, und er inhalierte und blies einen Rauchring, der mich erstaunte. Der bläuliche Ring hing einen Augenblick zitternd in der Luft, als würde er ewig so bleiben, aber dann löste der leise Luftzug ihn auf, sog ihn in den Schlund und verteilte ihn auf meinem emporgewandten Gesicht.
Er blies einen weiteren Rauchring. Dieses zweite Mal verriet Absicht, was die Wiederholung umso reizvoller machte. Obwohl dieser Trick mich bezauberte, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich keinen Laut von mir gab.
Aber trotzdem bewegte er plötzlich den Kopf, um nach unten zu sehen, und weil er die Sonne nicht blockierte, sah er einen Meter unter sich mein Auge, eines meiner einzigartigen Augen, das ihn durch die Röhre beobachtete. Seine Augen waren blau, und das auf mich gerichtete ließ nach dem ersten Schock solch wilde Bösartigkeit, solchen Hass und solches Entsetzen erkennen, dass ich wusste – falls ich je daran gezweifelt hatte –, dass Mutters Geschichte von der Hebamme wahr sein musste.
Am ganzen Leib zitternd und verängstigt wie nie zuvor wich ich aus dem Licht ins Dunkel zurück, presste meinen Rücken an die Höhlenwand und war dankbar dafür, dass der Kriechtunnel in mein Versteck für ihn viel zu klein war.
Der Knall seines Gewehrs hallte durch den Schlund und echote so unerwartet durch die Höhle, dass ich überrascht und erschrocken aufschrie. Ich hörte das Geschoss als Querschläger von den Wänden abprallen – ping, ping, ping – und wusste, dass ich hier unten sterben würde, aber es verbrauchte seine Energie, ohne mich zu finden. Der Jäger schob den Gewehrlauf tiefer in den Schlund und drückte erneut ab, und meine Ohren summten von dem Schussknall und zersplitterndem Fels und dem Surren des Querschlägers.
3
Erneut verschont wusste ich, dass ich nicht ewig unbeschadet davonkommen würde. Auf allen vieren durchs Dunkel kriechend fand ich den Weg ins Freie. Seit ich ihn vorhin benutzt hatte, schien der unterirdische Gang viel kleiner geworden zu sein, und der Fels drückte mich erbarmungslos nieder, als sollte ich zwischen zwei Schichten eingeschlossen und versteinert werden, um Archäologen viele Jahrtausende später Rätsel aufzugeben.
Obwohl ich von den beiden Schussknallen halb taub war, hörte ich den verängstigten Jäger über mir herumschreien. Seine Stimme erreichte mich durch die Schlunde, durch die an anderen Tagen der Wind heulte. Sie klang wütend und ängstlich zugleich.
Wieder fiel ein Schuss, aber sein Knall war gedämpfter und schien aus anderer Richtung als zuvor zu kommen. Vibrationen pflanzten sich in dem Fels fort, durch den ich mich schlängelte. Dann noch ein Schuss und noch einer.
Mir wurde klar, was er tat. Er war von der Felsformation geklettert und war dabei, um sie herumzugehen und das Loch zu suchen, das in die Höhle führte, aus der ich zu ihm aufgeblickt hatte. Es gab nur fünf, die einen Jungen von meiner Größe aufnehmen konnten, nur drei davon führten etwas weiter in den Fels hinein, nur eins führte zu einer Höhle, die groß genug war, um als Versteck dienen zu können. Schoss er blindlings in eines dieser Löcher, riskierte er, durch einen Querschläger verletzt zu werden, aber meine Intuition sagte mir, dass ich nicht darauf hoffen durfte, auf diese Weise gerettet zu werden.
Auf allen vieren weiterhastend umrundete ich die Biegung und sah kostbares Tageslicht vor mir. Ich hätte fast gezögert, aber meine einzige Hoffnung lag darin, ins Freie zu gelangen, bevor er auftauchte und zu schießen begann. Als ich mich aus dem Tunnel schob, erwartete ich einen Tritt ins Gesicht oder eine Kugel in den Kopf, aber sein nächster Schuss fiel auf der anderen Seite der Felsformation.
Ich richtete mich in die Hocke auf und überlegte, welche Möglichkeiten ich hatte. Ich befand mich auf der Westseite des Felsens, sodass ich sehen konnte, wo der Wolf im Unterholz verschwunden war. Aber in dieser Richtung lag auch unser Haus, und es wäre gefährlich gewesen, den Jäger dorthin zu locken. Im Norden bot ein Wildwechsel einen schmalen, aber deutlich erkennbaren Weg in einen höhergelegenen Wald. Gelang es mir, ihn zu erreichen und auf diese Weise zu verschwinden, bevor er den Felsen umrundete, war ich vielleicht außer Gefahr.
Als ich auf diese beste Fluchtmöglichkeit zurannte, hörte ich ihn wie einen biblischen Rächer schreien, der wegen eines eklatanten Verstoßes gegen alles, was gut und anständig ist, empört ist – »Scheusal!« –, und wusste, dass er mich gesehen hatte. Das Gewehr knallte und die Kugel riss dicht neben meinem Kopf ein Stück Holz aus einem Baumstamm. Über die Kraft meines hämmernden Herzens fast erschrocken rannte ich angestrengt keuchend weiter, wie ich noch nie gerannt war, und folgte dem mit Sonnenflecken gesprenkelten Wildwechsel, der größtenteils im Schatten lag.
Diesen Teil der Wildnis kannte ich besser als mein Verfolger. Schaffte ich es nur eine Minute länger, keinen Schuss in den Rücken zu bekommen, würde ich ihn vielleicht abschütteln können. Dieser Wald war fast ein Urwald, und obwohl der Mann längere Beine hatte und alle Feuerkraft besaß, konnte jemand, der nicht meinen speziellen intuitiven Orientierungssinn besaß, sich hier sehr leicht hoffnungslos verirren.
Als ich die erste Biegung des Wildwechsels erreichte, ohne einen weiteren Schuss zu hören, nahm ich an, er rannte weiter hinter mir her. Ich sah mich nicht um, sondern strengte mich umso mehr an.
Rotwild wählt den Weg des geringsten Widerstands, und weil sein Zeitgefühl das Leben statt in Stunden und Minuten in vier Jahreszeiten einteilt, lebt es ohne Zeitdruck. Deshalb mäandern seine aus Hufspuren entstandenen Trampelpfade und verzweigen sich gelegentlich. Ich nahm die erste Abzweigung, und als der Pfad sich nochmals teilte, nahm ich den neuen, weil ich hoffte, der Jäger würde irgendwo die falsche Richtung nehmen. Durch diese Taktik überschritt ich einen Hügelrücken, stieg in ein weites, nicht sehr tiefes Tal ab und erkletterte am Gegenhang einen felsigen Grat. Als ich dort haltmachte, um mich umzusehen, konnte ich niemanden entdecken.
Ich setzte mich auf einen Felsblock, um wieder zu Atem zu kommen, und sah den Wald unter mir in Flammen stehen, die ihn nicht verzehrten, jeder Baum eine rote, orangerote oder gelbe Fackel wie auf einem Riesengemälde eines Impressionisten, den dieser gewaltige Überfluss inspiriert und begeistert hatte.
Unterdessen begriff ich, weshalb er mich nicht auf dem ersten ansteigenden Wegstück in den Rücken geschossen hatte – weil er danebengeschossen hatte und erst nachladen musste, was mir die Minute verschafft hatte, die ich brauchte, um ihn abzuhängen. Nachdem ich die Strecke von der Felsformation bis zu diesem Grat wie eine Laborratte auf verschlungenen Wegen zurückgelegt hatte, war ich mir ziemlich sicher, dass er bei dem Versuch, mir zu folgen, mehrmals falsch abbiegen würde.
Sobald ich wieder zu Atem gekommen war, brauchte ich auf dem Heimweg nur so weit auszuholen, dass ich nicht riskierte, ihm über den Weg zu laufen, während er mich weiterhin suchte. Zumindest glaubte ich das. Die wilde Bösartigkeit seiner Reaktion hatte Mutters Warnungen bestätigt, aber ich begriff noch nicht, wie heftig die Abscheu war, die ich ausgelöst hatte, oder wie unerbittlich er sein Ziel, mich zu töten, verfolgen würde.
Als ich dasaß und auf die dichten Reihen der Bäume in ihrem Festgewand hinabsah, wurde mir bewusst, dass ich den Jäger – falls er im Wald aufstieg – vielleicht erst entdecken würde, wenn er schon dicht herangekommen war. In dieser Farbenpracht definierten die vielen Ahornbäume mit rotem Laub seine rote Jägerjacke als eine Art Tarnung.
Gleichzeitig mit dem Schussknall überschütteten mich Steinsplitter des von einer Kugel getroffenen Felsblocks. Ich ließ mich rückwärts über den schmalen Grat fallen, rollte hangabwärts, kroch ein kurzes Stück auf allen vieren, rappelte mich auf und stürmte durch schwankendes hohes Federgras davon, weil es hier keinen Wildwechsel gab. Ich schaffte es bis zu den Bäumen, in deren Schatten Farne wuchsen, und brach durchs Unterholz. Der Jäger war offenbar ein erfahrener Fährtenleser, und ich hinterließ eine Spur aus geknickter oder niedergetrampelter Vegetation, der jeder Amateur hätte folgen können.
4
Aus dem Unterholz heraus, wieder auf einem Wildwechsel, trabte ich durch einen mit einer Million Amaranthen geschmückten Wald und umging die Stellen, wo das abgefallene Laub feucht war. Ich vertraute nicht mehr darauf, dass häufige Abzweigungen meinen Verfolger täuschen würden, sondern suchte die kürzeste Route durch die nächste Senke.
Bei früheren Ausflügen war ich nie weiter als bis hierher gekommen, aber ich wusste, dass sich durch diese Senke ein Bach windet, der mir vielleicht eine Chance verschaffen konnte, den Jäger aufzuhalten oder ganz irrezuleiten. Ich brach durch plötzlich üppig wachsende farbige Farne mit purpurrot angehauchten graugrünen Wedeln und erreichte einen träge fließenden seichten Wasserlauf.
Auf ihren Trips in die Kleinstadt kaufte Mutter mir Kleidung und immer die besten wasserdichten Trekkingstiefel, wenn ich aus dem vorigen Paar herausgewachsen war. Obwohl ich sie nie so kühn auf die Probe gestellt hatte, watete ich in das ungefähr zehn Zentimeter tiefe Wasser und stapfte stromaufwärts. Nachdem ich ungefähr 20 Meter weit geplatscht war, sah ich mich um. Durch das klare Quellwasser waren meine Spuren im feinen Sand des Bachbetts deutlich zu sehen. Das Wasser floss so langsam, dass es Stunden brauchen würde, um meine Spuren zu verwischen, aber mein Verfolger war nur wenige Minuten hinter mir.
Ich hastete erschrocken weiter und erreichte einen Abschnitt des Bachlaufs, dessen Boden mit glatten Kieseln bedeckt war, auf denen meine Stiefel keine sichtbaren Abdrücke hinterließen. Am Ufer gab es hier und da felsige Stellen, wo ich den Bach ohne Fußabdrücke verlassen konnte. Ich nutzte die dritte Gelegenheit, verschwand unter den Bäumen und nahm den Gegenhang in Angriff.
Damit wagte ich mich auf neues Gebiet vor, wusste nicht, was mich erwartete, und hatte große Angst. Während des Aufstiegs sagte ich mir, ich sei nicht erst acht, sondern schon fast neun Jahre alt, noch ein Junge, gewiss, aber kein gewöhnlicher Junge, sondern stärker und schneller, als es meinem Alter entsprach. Und ich konnte schon auf dem Niveau eines 16-Jährigen lesen, was mich in diesem Fall nicht retten würde, aber immerhin suggerierte, dass meine Chancen, den Jäger zu überlisten, weit größer waren als die anderer Jungen in meinem Alter.
Und vielleicht ließ meine Erscheinung sich zu meinem Vorteil nutzen. Der Jäger hatte seine Abscheu ausgedrückt – »Scheusal!« –, aber ich hatte in dem blauen Auge, das mich durch den Schlund im Kalkstein betrachtete, auch Entsetzen gesehen. Vielleicht würde seine Angst irgendwann so übermächtig werden, dass er umkehrte.
Als ich den bewaldeten Hang hinauflief, verloren die herbstlichen Bäume etwas von ihrer bunten Farbenpracht, während die Sonnenkringel auf dem Waldboden verschwanden. Ich sah durchs Geäst hoch zum Himmel und stellte fest, dass aus Osten aufgezogene graue Wolken die Morgensonne verdeckten. Auch das konnte zu meinem Vorteil sein, denn für den Jäger wurde es bestimmt schwieriger, meiner Fährte zu folgen, wenn der Waldboden im Schatten lag.
Der Wald endete kurz nach dem nächsten Hügelrücken. Vor mir lag eine große Viehweide, an deren rückwärtigem Rand mehrere baufällige Gebäude standen: ein altes ebenerdiges Wohnhaus mit längst abgeblätterter Farbe und eingeworfenen Fenstern, daneben ein ehemaliger Stall, dessen Dachfirst wie das Rückgrat eines Pferdes mit Senkrücken durchhing. Einige wenige Pfosten des alten Weidezauns standen noch, aber die meisten waren im Lauf der Jahre in das kniehohe weizengelbe Gras gesunken, durch das leichte Wellen liefen, als würde Seegras von tiefen Meeresströmungen bewegt. Mein Weg durchs Gras hätte sich so deutlich abgezeichnet, als hätte ich ihn mit einer Sprühdose Day-Glo markiert.
Im Wald bleibend umging ich die Weide, schlängelte mich so rasch wie möglich zwischen den Bäumen hindurch und war mir bewusst, dass der Jäger jeden Augenblick auftauchen konnte. Meine Absicht war, in einem weiten Halbkreis zu dem Waldrand hinter dem Haus zu gelangen. Als ich dort ankam, entdeckte ich jedoch, dass das hohe Gras irgendeiner Binsenart gewichen war, was darauf schließen ließ, dass die Fläche hinter dem Haus einmal viel feuchter gewesen, aber später ausgetrocknet war. Auf dieser Oberfläche, die an eine japanische Reisstrohmatte erinnerte, würde ich vermutlich keine Spuren hinterlassen. Weil meine Kräfte schwanden und ich nicht wusste, wie lange ich noch durch den hügeligen Wald würde flüchten können, stapfte ich einem Impuls folgend zu dem baufälligen Haus hinüber.
Die abgetretenen Stufen der Verandatreppe protestierten knarrend, und ein halbes Dutzend Rauchschwalben verließ fluchtartig seine Lehmnester unter dem Dachüberhang und ließ sich vorübergehend auf dem First des rostigen Blechdachs nieder. Eine Hintertür gab es nicht mehr. Ich trat ins Halbdunkel ein, weil ich hoffte, dort ein gutes Versteck finden zu können.
Auch neu gebaut, frisch gestrichen und von jemandem bewohnt war das Haus bescheiden gewesen. Nach langem Leerstand ächzte und knarrte es bei jedem meiner Schritte, und selbst wenn es nicht über mir einstürzte, konnte es dem Jäger meine Position verraten, wenn ich auch nur von einem Fuß auf den anderen trat.
Vorn im Wohnzimmer fiel das graue Licht des sich eintrübenden Tages aschfahl durch die glaslosen Fenster und eine weitere Öffnung, die früher durch die Haustür verschlossen gewesen war. Dort wäre ich beinahe in ein Loch getreten, weil ein breites Fußbodenbrett unmittelbar vor der Tür fehlte. Vermutlich weil die Weide früher oft überflutet gewesen war, stand das Haus auf Pfählen über einem umschlossenen Kriechraum von nicht mal einem halben Meter Höhe.
Das Haus bot weniger Verstecke, als ich gehofft hatte, und ich wollte schon den Rückzug antreten, als ich im Schatten am Waldrand den Jäger entdeckte, der auf meiner Fährte zur Rückseite des Hauses unterwegs war. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich hier zu verstecken, und meine einzige Option war der Kriechraum.
Weil sie locker waren, knarrten manche der 30 Zentimeter breiten Dielen lauter als andere. Die Nägel, mit denen sie fixiert gewesen waren, waren weggerostet. Ich hob erst eins, dann ein zweites Fußbodenbrett an der Wohnzimmerrückwand auf und zwängte mich durch die Tragebalken ins Reich von Spinnen, Tausendfüßlern und dergleichen. Die erste Planke ließ sich ohne große Mühe wieder an ihren Platz ziehen. Bei der zweiten war es schwieriger, sie durch den schmalen Schlitz zurechtzurücken, aber zuletzt lag sie doch wieder an ihrem Platz. Als ich mich in der Dunkelheit ausstreckte, kam mir plötzlich der Gedanke, eben meinen eigenen Sarg gebaut zu haben.
5
Eine Wildnis kann ein weites Wald- oder Dschungelgebiet ohne irgendwelche menschlichen Artefakte sein. Oder eine Wüste, die so trocken ist, dass dort nicht einmal Kakteen gedeihen. Oder ein Kontinent aus Schnee und Eis. Ein Kriechraum unter einem kleinen Haus war nicht groß genug, um eine Wildnis zu sein, aber ich fand ihn so abweisend und trostlos wie die Antarktis.
Durch die Lücke, wo an der Haustür ein Fußbodenbrett fehlte, fiel nur trübes graues Licht herein, und als ich den Kopf zur Seite drehte, um zwischen den Tragbalken zu ihm hinüberzusehen, schien der blasse Lichtschein einen Kokon in Menschengröße zu bilden. Ich wusste, dass es nichts dergleichen geben konnte, aber als ich die Augen zusammenkniff, um besser sehen zu können, konnte ich die Spinnfäden erkennen, die wie kreuz und quer verwoben ein dichtes Gewebe aus Seidenfäden zu bilden schienen, und in diesem schwach leuchtenden, fast durchsichtigen Kokon lag ein Schattenwesen, das seine Metamorphose abschloss und seiner Geburt entgegenschlief. Auch die Fantasie kann eine Art Wildnis sein, sogar ein Ödland, wenn man ihr gestattet, einen von einem unwirtlichen, grotesken Ort zum nächsten mitzunehmen, denn man kann sich in alle möglichen paranoiden Sinnestäuschungen bis hin zum Wahnsinn hineinfantasieren.
Ich wandte mich von dem Lichtstreifen ab und starrte die ungehobelte Planke eine Handbreit über meinem Gesicht an, obwohl ich sie in der Düsternis kaum sehen konnte. Ich wartete und hoffte, der Jäger würde die beiden verlassenen Gebäude zu klein und offensichtlich finden, um mir als Versteck zu dienen.
Auf der Rückseite des Hauses knarrte ein Brett, als er die Veranda betrat. Er bewegte sich vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, wurde aber immer wieder durch morsches und verwittertes Holz verraten. Als er das Wohnzimmer betrat, ächzten die Dielen, statt nur zu knarren – ein weiterer Beweis dafür, dass er ein großer, schwerer Mann war –, und die losen Bretter klapperten auf den Tragbalken.
Etwa in der Mitte des Raums machte er halt und blieb bewegungslos stehen. Weil er nicht mal sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, war die Stille absolut. Ich rechnete mir aus, dass er nach mir horchte, und atmete nur flach und mit offenem Mund, und die feuchte Luft schmeckte nach Moder und Holzfäule, und ich hätte am liebsten gewürgt, was ich aber nicht tat.
Nach einer Minute überraschte er mich zweifach: indem er sprach und durch das, was er sagte. »Mit 15 hab ich schon Meth und PCB und härteren Stoff auf der Straße verkauft, hab den Scheiß für einen schlimmen Hundesohn namens Delehanty vertickt. Damals hat’s Revierkämpfe gegeben, in diesem Geschäft gibt’s immer Revierkämpfe. Diese beiden Kerle lauern mir in einem Hinterhof auf, wollen mich zusammenschlagen und mir den Stoff abnehmen, um Delehanty eine Botschaft zu schicken. Ich lege sie beide um. Ich lege sie um, schneide ihnen die Ohren ab, bringe sie Delehanty. Er hat mich befördert. Die Morde haben mir nichts ausgemacht, außer dass ich ihretwegen in der Organisation aufgestiegen bin und viel besser gelebt habe.«
Dies war kein Selbstgespräch. Was er sagte, war für mich bestimmt; er wusste, dass ich in der Nähe versteckt war, und weil es kein anderes mögliches Versteck gab, nahm er an, ich sei unter dem Fußboden versteckt.
Meines Wissens boten nur lose Fußbodenbretter einen Ausweg aus dem Gefängnis, in das ich mich freiwillig begeben hatte. Falls es irgendwo eine ins Freie hinausführende Klappe oder Schiebetür gab, würde ich sie im Dunkeln niemals finden, weil die Tragbalken mir die Sicht versperrten. Und der Kriechraum war so niedrig, dass selbst ein Junge wie ich sich darin nicht auf allen vieren bewegen konnte, sodass ich auf dem Bauch liegend hätte robben müssen. An ein Entkommen war jedenfalls nicht zu denken, denn sobald der Jäger hörte, wie ich mich bewegte, konnte er sich über mich stellen, durch den Fußboden schießen und mich tödlich treffen.
»Ich hab lange aufgehört, die Leute zu zählen, die ich umgelegt hab«, sagte er. »Manche sollte ich abmurksen, bei anderen ist vorgeschlagen worden, ich könnte sie aus Prinzip kaltmachen wollen, wieder andere hab ich auf eigene Rechnung gekillt. So oder so geht’s immer um Geld. Man nimmt es anderen ab oder stellt sicher, dass es einem nicht abgenommen wird. Ich versuche gar nicht, das zu rechtfertigen. Das ist nicht nötig. Ich hab die Welt nicht so gemacht, wie sie ist. Sie ist brutal, und man tut, was nötig ist, um zurechtzukommen.«
Auch während er sprach, bewegte er sich nicht im Geringsten, was mich vermuten ließ, dass er horchte, selbst während er redete. Und wenn er zwischen einzelnen Sätzen seines Monologs eine Pause machte, schien er umso aufmerksamer auf das kleinste verräterische Geräusch zu horchen. Ich fragte mich, weshalb er nicht einfach durch den Raum ging und willkürlich durch den Fußboden schoss, bis meine Schreie ihm zeigten, dass er getroffen hatte.
»Einmal hab ich ein Paar in den Siebzigern umgelegt. Das war in Florida, ich mache dort Urlaub, aber ich mache niemals Urlaub, wenn ich eine Gelegenheit sehe. Sie fahren diesen Cadillac, einen echten Straßenkreuzer, und sie ist mit teurem Schmuck behängt. Ich sehe sie in einem Restaurant und weiß, dass bei diesen beiden was zu holen ist. Manchmal muss man seinem Instinkt folgen. Also gehe ich vor ihnen und fahre ihnen dann nach, und sie haben diese protzige Strandvilla, aber es ist noch hell, und ich brauche Dunkelheit.«
An meinem modrigen, übel riechenden Zufluchtsort setzte sich eine Spinne oder ein Insekt auf meine Stirn und verharrte dort einen Augenblick zitternd, als spürte es Gefahr. Aber dann begann es, seine Umgebung zu erforschen, und kroch über meine Stirn zur linken Schläfe.
»Also komme ich abends zurück und rechne mir aus, dass ich einfach an der Haustür klingeln und sie irgendwie beschwatzen werde, mich einzulassen. Du würdest staunen, welchen Blödsinn durchschnittliche Trottel glauben, glauben wollen, selbst wenn ihn ein völlig Fremder an ihrer Haustür erzählt. Aber das Gartentor ist unversperrt, also gehe ich nach hinten ums Haus, nur um mich umzusehen. Und da sind sie, sitzen nur bei Kerzenschein auf der Veranda, beobachten die Lichter auf dem Wasser und trinken Martinis. Meine Kanone hat einen Schalldämpfer, also hört niemand was, als ich ihn in seinem Liegestuhl erschieße. Bevor die Alte ein Wort rausbringt, schlage ich ihr die Pistole über den Kopf und schleife sie durch die Schiebetür ins Haus.«
Während die Spinne meine linke Schläfe und dann die Wange erforschte, wurde mir klar, dass der Jäger nicht mehr viel Munition haben konnte. Besaß er nur noch wenige Patronen, konnte er mich nicht auf einfachste Weise aufspüren, indem er durch den Fußboden schoss. Er musste mich durch seine Mordgeschichten aus der Fassung bringen und mich nervös machen, bis ich mich unabsichtlich verriet. Dabei schien die Spinne ihm helfen zu wollen, denn sie krabbelte jetzt zum linken Winkel meines offenen Mundes, durch den ich lautlos atmete. Als ich die Lippen zusammenpresste, kroch sie zum Kinn weiter.
»Die Alte und ich sind Zimmer für Zimmer durchs Haus gegangen, damit sie mir zeigen konnte, wo ihr bestes Zeug versteckt war. Sie hat behauptet, arm zu sein, und ich hab sie ziemlich zugerichtet, um sie zum Reden zu bringen. Das hat spaßig geendet, aber der Witz ist auf meine Kosten gegangen. Ihr Schmuck war nur Tand, die Antiquitäten waren miese Kopien, weil sie seit dem letzten Börsenkrach abgebrannt waren und bloß noch eine kümmerliche Pension und diese Scheißvilla hatten, in der sie weiterhin wohnen durften, weil sie sie gegen Leibrente verkauft hatten. Also lege ich die beiden um und vergeude einen Abend meines Urlaubs für lausige 612 Dollar in bar und einen gläsernen Briefbeschwerer vom Schreibtisch des Alten, der mir irgendwie gefallen hat, obwohl ich jetzt nicht mal mehr weiß, wo er zum Teufel hingekommen ist.«
Während die Spinne meine rechte Wange hinaufkroch, als wäre sie entschlossen, mein Gesicht zu umrunden, horchte ich auf das Schweigen des Jägers, der geduldig nach mir horchte. Der achtbeinige Forscher machte einen Umweg über meine Nase, und ich fürchtete schon, er würde sich für ein Nasenloch interessieren, was nicht auszuhalten gewesen wäre. Aber als die Stille andauerte, bewegte die Spinne sich auf mein rechtes Auge zu, als hielte sie meine Wimpern versehentlich für eine Artgenossin.
Als ich das Geräusch von Schritten und knarrendem Holz hörte, glaubte ich zunächst, der Jäger wäre in Bewegung, weil ich mich verraten hatte. Aber dann sagte ein anderer Mann »Oh, hey«, und mein Verfolger schien sich von der Stimme überrascht herumzuwerfen. Er schoss sofort, drückte dreimal ab. Der Schrei dauerte nur einen Augenblick, war aber trotz seiner Kürze grässlich. Eine schwere Masse ging zu Boden und ließ die Dielen erzittern.
»Scheiße, wer bist du?«, fragte der Jäger, und ich erriet, dass er mit dem Mann sprach, den er erschossen hatte. Verwünschungen quollen aus ihm hervor, ein Strom von Obszönitäten, der in meinen Ohren wie das panikartige Fluchen eines verängstigten Mannes klang.
Als die Spinne zu meinem Ohr krabbelte, wagte ich es, eine Hand ans Gesicht zu heben, um ihr eine andere Möglichkeit anzubieten. Mein langbeiniger Besucher schrak nicht zurück, sondern glitt zitternd von einer Fingerspitze zur nächsten und zuletzt auf meine Handfläche.
»Wo immer du bist«, sagte der Jäger, der nun mich ansprach, »ich erledige dich, ich bring dich um, ich komme zurück und mach Hackfleisch aus dir.«
Seine flüchtigen Blicke, die mich gestreift hatten, hatten Wut und Hass, auch Gewalttätigkeit provoziert, ihm aber offenbar auch den Mut geraubt, mir ohne reichlich Munition gegenüberzutreten. Er flüchtete aus dem baufälligen Haus, seine Schritte polterten über den Fußboden und das Holz ächzte unter seinem stampfenden Gewicht. Anscheinend stolperte er, und ich war mir sicher, dass er gegen eine Wand gerannt war, weil das ganze Haus erzitterte und er wie ein verängstigtes Kind schrie. Mit einem weiteren Fluch rappelte er sich wieder auf, fand die Haustür und stürmte hinaus.
In der nun folgenden Stille ließ ich meine Hand auf den aus festgestampfter Erde bestehenden Boden des Kriechraums sinken. Nach kurzem Interesse für meinen Daumen fand die Spinne mich langweilig und krabbelte in die Dunkelheit davon.
6
Weil ich nicht risikofreudig bin, blieb ich vorerst auf dem Rücken in dem Kriechraum liegen, horchte, wartete, dachte nach.
An jenem lange zurückliegenden Tag, als ich erst acht war, gelangte ich noch nicht zu dieser Einsicht, aber im Lauf der Zeit erkannte ich, dass von den vielen Wildnisarten das menschliche Herz die schwärzeste und feindseligste sein kann. Viele Herzen enthalten große Schönheit und nur ein Quäntchen Dunkelheit. In vielen anderen Herzen erhellt Schönheit nur abgelegene Winkel, während allgemein Dunkelheit herrscht. Es gibt welche ganz ohne Dunkelheit, die aber selten sind. Und andere haben alles Licht aus ihrem Inneren verbannt und dafür eine große Leere eingelassen; diese Art ist überall anzutreffen, aber oft schwierig zu erkennen, weil sie listig ist.
In den Jahren nachdem ich dem Jäger entkommen war, sollte ich den Besten und Schlimmsten der Menschheit begegnen. An Tagen mit großen Gefahren, aber auch Tagen des Triumphs, über Jahre hinweg, die mit viel Kummer gesalzen, aber auch durch Freuden versüßt waren. Mein Leben sollte durch das Entsetzen und den wilden Zorn beschränkt sein, die mein Aussehen hervorrief, aber ich würde Frieden ebenso wie Angst, Zärtlichkeit ebenso wie Brutalität, sogar Liebe in Zeiten der Grausamkeit erleben. Ich will nicht behaupten, mein Leben hätte sich in einer Welt voller Seltsamkeiten als das eigenartigste erwiesen, aber ich hatte nie Grund, darüber zu klagen, mein Leben sei gewöhnlich.
Als ich schließlich davon überzeugt war, der Jäger sei verschwunden, hob ich die beiden losen Bretter an und stemmte mich aus dem Kriechraum. Ich klopfte meine Kleidung ab und fuhr mir mit beiden Händen übers Gesicht, um die Spinnweben zu entfernen, die in meiner Einbildung an meinen Zügen hafteten.
Ich sah den Leichnam auf der Schwelle der Haustür liegen – in einer Blutlache, die in dem schwachen Licht eher schwarz als rot war. Obwohl ich den Toten lieber meiden und durch die Hintertür verschwinden wollte, fühlte ich mich dazu verpflichtet, ihm ins Gesicht zu sehen, um Zeugnis ablegen zu können.
Offenbar war er ein Wanderer gewesen, der die Natur und die Berge liebte. Er war entsprechend gekleidet und hatte einen großen Rucksack getragen. Er schien Ende 20 zu sein: ein Mann mit lockigem Haar und gepflegtem Bart. Seine Augen standen weit offen, aber so grotesk ich auch aussah, einen Toten konnte ich nicht erschrecken.
In meinen acht Jahren hatte ich nur zwei lebendige Menschen gesehen, und dies war der erste Tote, den ich sah. Er hatte sich nicht willentlich für mich geopfert, aber das Schicksal hatte mich verschont, indem es ihn dahingerafft hatte. Vielleicht hatte er die Stimme des Jägers, aber nicht dessen letzte Worte gehört, oder vielleicht hatte er nichts gehört und war aus reiner Neugier in das alte Haus gekommen. Jedes Leben gleicht einer Garnrolle, die im Lauf der Jahre abgespult wird, und es ist ein seidener Faden, an dem wir so gefahrvoll hängen.
Ich dankte ihm und schloss ihm die Augen und konnte nichts weiter für ihn tun, als ihn dort liegend der Sorge der Natur zu überlassen, die ihn in sich aufnehmen und wieder mit sich vereinigen würde, wie es der Weg allen Fleisches ist.
Wäre der Jäger in der Nähe geblieben, hätte er mich längst erneut angegriffen. Trotzdem ging ich nicht unerschrocken über die Weide davon, sondern kehrte in den Wald zurück und umging sie vorsichtig. Wolken bedeckten den ganzen Himmel, und in dem trüben Licht leuchteten die Bäume nicht mehr so farbig, sondern wirkten farbloser braun, als ich sie gesehen hatte, als ich morgens aufgebrochen war. Die Bergahorne, die ihr Laub früher abwarfen als die meisten anderen Bäume, waren schon fast kahl und ragten holzschnittartig schwarz in den Himmel auf.
Während ich auf einem etwas anderen Weg heimkehrte, fragte ich mich, ob der Jäger wirklich zurückkommen und mir den Wald wegnehmen würde, sodass ich weder in Mutters Haus noch in die Wildnis gehören würde. Ich beschloss, mich nicht selbst traurig zu machen, indem ich über diese Möglichkeit nachdachte, und fühlte mich im Wald bald wieder so willkommen wie früher.
Als mich der Wolf auf dem Felsgrat des letzten Hügelrückens erwartete, wusste ich mit Gewissheit, dass er es gewesen war, der mich vor dem Jäger gewarnt hatte.
Wir starrten einander endlos lange Sekunden an, dann sagte ich: »Wenn du etwas Huhn möchtest, kannst du mitkommen, ich habe ein gutes Abendessen für dich.«
Er neigte den Kopf nach links, dann nach rechts, als wäre ich ihm ein Rätsel.
»Wollen wir Freunde sein?«, fragte ich, ging in die Hocke und streckte ihm eine Hand hin.
Vielleicht weil er ein echtes Wildtier war und ich zwei Welten angehörte, kam er nicht näher. Aber als ich mich wieder aufrichtete und hangabwärts weiterging, folgte er mir. Nach einiger Zeit erreichten wir einen anderen Bach als den, durch den ich gewatet war, einen lebhaft über glatte Kiesel plätschernden Wasserlauf. Ich kniete nieder und trank direkt aus dem Bach, bis mein Durst gelöscht war.
Der Wolf machte halt, um mich zu beobachten. Erst als ich getrunken hatte und wieder aufgestanden war, ging er ans Wasser, streckte die Schnauze hinein und trank stromaufwärts von mir, als beachtete er die Hygieneregeln fürs Trinken in der Wildnis.
Wir zogen weiter. Obwohl der Tag kühler und düsterer wurde, begleitete uns Vogelgezwitscher auf dem ganzen Heimweg. Nach einiger Zeit sah ich mich um, ob ich noch einen Begleiter hatte. Dabei stellte ich fest, dass sich ein weiterer Wolf zu ihm gesellt hatte. Sie trugen die Köpfe hoch, sie wedelten mit den Schwänzen und ihr angedeutetes Grinsen bewies, dass sie keine bösen Absichten hegten wie der Wolf im Märchen dem Rotkäppchen gegenüber. Ich hatte keine Angst vor ihnen, sondern ging weiter, und als ich mich erneut umsah, waren es drei.
Als wir den Waldrand erreichten, vor dem die Lichtung mit Mutters Haus lag, war das Rudel auf fünf Tiere angewachsen. Nun trabten sie an mir vorbei aufs Gras. Einer von ihnen deutete spielerisch eine Verbeugung an, die von einem anderen erwidert wurde, und bald rangelten sie miteinander, gaben vor, sich zu beißen, jagten sich im Kreis. Einer warf sich auf einem Hinterlauf herum, sodass der Verfolgte jäh zum Verfolger wurde, und sie zeigten bei jeder Bewegung eine natürliche Eleganz, die mich bezauberte.
Ich hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen und hatte den Eindruck, diese Vorführung finde speziell für mich statt. Ich beobachtete sie entzückt, wusste aber intuitiv, dass ich nicht zum Mitmachen eingeladen war. Als sie nach einiger Zeit müde wurden, zogen sie sich an den Waldrand zurück und starrten mich von dort aus mit ihren an diesem trüben Tag leuchtend gelben Augen an. Obwohl ich vermutete, ihr Herumtollen war nicht nur scherzhaft gemeint gewesen, konnte ich mir seinen eigentlichen Zweck nicht erklären.
Mit heraushängenden Zungen und bebenden Flanken hechelnd wandten sie sich nacheinander von mir ab und verschwanden unter den Bäumen – nicht viel anders als Schlafwölfe, die sich in den Dunstschleiern eines Traums auflösen. Ich blieb allein zurück.
Ich wollte direkt in das als Garage dienende verwitterte Häuschen gehen, um zu sehen, was Mutter mir in den Picknickkorb gelegt hatte, aber dann sah ich die Flagge – das Geschirrtuch – an ihren Haken am Verandapfosten hängen. Meine Verbannung war viel rascher zu Ende, als ich zu hoffen gewagt hätte.
Trotz der Schrecken dieses Tages und meiner Trauer darüber, dass der Wanderer hatte sterben müssen, damit ich weiterleben konnte, fühlte ich Jubel in mir aufsteigen. Mutter litt in meiner Gegenwart unter Angstgefühlen und war manchmal so verzweifelt, dass selbst Alkohol und Drogen sie nur langsam aus ihren Depressionen holen konnten. Letztlich war ich jedoch ihr Kind, und sie liebte mich auf ihre Weise. Auch wenn sie sich selten dazu überwinden konnte, mich zu berühren, und noch seltener, mich anzusehen, gab es für mich trotzdem einen Platz in ihrem Leben.
In dieser Beziehung war es immer meine größte Angst, Mutter könnte krank werden oder durch einen Unfall sterben und mich allein zurücklassen. Selbst eine Missgeburt wie ich konnte Einsamkeit in einer fürs Teilen eingerichteten Welt der Wunder fürchten. Als ich zu unserem kleinen, aber geliebten Haus weiterging, sollte ich bald zu lernen beginnen, dass unsere größten Ängste sich selten bewahrheiten, weil die Welt eine Maschine ist, die endlose Überraschungen produziert und einander überlagernde Geheimnisse – und Schocks, die den Geist widerstandsfähiger machen oder zerbrechen. Mein Leben sollte sich nicht in diesem Haus oder diesem Wald abspielen, sondern in der Wildnis, die jede City und die Welt unter jeder City ist, in der wir wenigen, wir Verborgenen heimlich hausen.
SÜNDENLOS
Dieses Buch ist Harry Recard dafür gewidmet, dass er mir im College Binokel beigebracht und dadurch meine akademische Karriere fast ruiniert hat. Und Diane Recard dafür, dass sie sich all die Jahre so gut um Harry gekümmert hat, eine anstrengende Aufgabe.
Nichts gefällt einem Autor besser als Post von Lesern, die behaupten, eines seiner Bücher sei lebensrettend gewesen oder habe sie zum Durchhalten in schwierigen Situationen angeregt. Aber als ich Innocence beendete, bewegte mich ein Brief von Elizabeth Waters aus dem Bundesstaat Washington zu meinem Roman From the Corner of His Eye mehr als die meisten. Beth, Ihr Mut macht mich demütig. Die Hoffnung, die Sie in meinem Buch gefunden haben, entspricht der, die Sie mir durch Ihre freundlichen Zeilen gegeben haben. Sie leuchten.
Selten geht große Schönheit mit großer Tugend einher.
Petrarca,
TEIL EINS
Das Mädchen, das ich im Lampenlicht bei Charles Dickens traf
1
Nachdem ich einem Brand entronnen war, rechnete ich mit einem weiteren. Ich erwartete die kommenden Flammen nicht ängstlich. Feuer war nur Licht und Hitze. Unser ganzes Leben lang braucht jeder von uns Wärme und sucht Licht. Ich konnte nicht fürchten, was ich brauchte und suchte. In Brand gesetzt zu werden war für mich nur die Erfüllung einer unausweichlichen Schlussfolgerung. Diese herrliche Welt mit ungezählten Schönheiten, Zaubern und Liebreizen rief in mir nur eine beherrschende Angst hervor: dass ich zu lange in ihr leben könnte.
2
Ich konnte lieben, aber nach Vaters Tod lebte ich in Einsamkeit. Deshalb liebte ich nur die teuren Verstorbenen und Bücher und die Augenblicke von großer Schönheit, mit denen die City mich gelegentlich überraschte, während ich sie mit aller Vorsicht und Heimlichkeit durchstreifte.
Zum Beispiel kommen in klaren Nächten, in der feierlichen Stunde, in der die meisten Einwohner schlafen, die Putzkolonnen fertig sind und die Hochhäuser bis Tagesanbruch dunkel bleiben, manchmal die Sterne heraus. Über dieser Metropole sind sie nicht so hell wie über der Prärie in Kansas oder den Bergen in Colorado, aber sie leuchten trotzdem, als gäbe es eine Stadt am Himmel, einen Sehnsuchtsort, an dem ich ohne Angst vor Feuer durch die Straßen gehen könnte, an dem ich jemanden finden könnte, den ich lieben könnte, der mich lieben würde.
Wurde ich hier gesehen, brachte meine Fähigkeit zu lieben mir keine Nachsicht ein. Eher das Gegenteil. Sahen sie mich, reagierten Männer wie Frauen gleichermaßen erschrocken, aber ihre Angst wich rasch blinder Wut. Ich wollte sie nicht verletzen, indem ich mich verteidigte, und blieb daher hilflos.
3
In bestimmten Nächten fand schöne, aber traurige Musik ihren Weg in meine tiefen, fensterlosen Räume. Ich wusste nicht, woher sie kam, konnte auch die Melodie nicht identifizieren. Dies war ein Lied ohne Worte, aber ich war der Überzeugung, den Text schon einmal von einer Diseuse mit rauchiger Stimme gehört zu haben. Immer wenn ich den Song hörte, bewegten sich meine Lippen, als wollten sie die Worte formen, aber sie fielen mir nicht mehr ein.
Obwohl das Stück kein Blues war, lastete es wie ein Blues auf meinem Herzen. Ich hätte es als Nocturne bezeichnen können, glaube aber, dass Nocturnes immer Instrumentalmusik sind. Zu dieser Melodie gab es einen Text, das wusste ich bestimmt.
Ich hätte imstande sein müssen, diese schmeichelnd weichen Klänge zu einem Lüftungsgitter, einem Gully oder irgendeinem anderen Übertragungsweg zurückzuverfolgen, aber jeder Versuch, ihre Quelle zu identifizieren, endete mit einem Fehlschlag. Die Musik schien aus der Luft zu kommen, als gelänge sie durch eine Membran aus einer anderen, unsichtbaren Parallelwelt zu uns.
Alle, die in der oberirdischen Welt leben, hätten die Idee einer unsichtbaren Welt vielleicht für zu ausgefallen gehalten und diese Vorstellung abgelehnt.
Aber wir anderen, die vor jedermann verborgen bleiben, wissen recht gut, dass diese Welt voller Rätsel und Wunder ist. Dabei besitzen wir keinen magischen Gesichtssinn, keine hellseherischen Fähigkeiten. Ich glaube, dass unsere Kenntnis der komplexen Dimensionen der Realität unserer Einsamkeit geschuldet ist.
In der City mit ihren Menschenmassen, dem Verkehr und ihrem Dauerlärm zu leben, ständig Leistung erbringen zu müssen, in unaufhörlichem Konkurrenzkampf um Geld, Status und Macht zu stehen hat den Verstand vielleicht abgelenkt, bis er das große Ganze nicht länger sehen – und vergessen – konnte. Oder vielleicht konnte man in der Hetze und dem Druck des Alltags nur bei Verstand bleiben, indem man die zahllosen Mirakel, Überraschungen, Wunder und Rätsel ignorierte, die die wahre Welt ausmachen.
Als ich »die vor jedermann verborgen bleiben« gesagt habe, hätte ich stattdessen »ich, der versteckt bleibt« sagen sollen. Meines Wissens gab es in dieser City kein weiteres Wesen wie mich, und ich hatte dort schon lange gelebt.
Zwölf Jahre lang habe ich mir diesen unterirdischen Bunker mit Vater geteilt. Er war vor sechs Jahren gestorben. Ich habe ihn geliebt. Ich vermisste ihn jeden Tag. Ich war jetzt 26, hatte vielleicht ein langes, einsames Leben vor mir.
Vor meiner Ankunft hatte Vater hier unten mit seinem Vater gelebt, den kennenzulernen ich nie die Ehre gehabt hatte. Die meisten Möbel und Bücher hatte ich von diesen beiden geerbt.
Eines Tages würde ich meine Habseligkeiten vielleicht jemandem vererben, der mich Vater nennen würde. Wir waren eine unausrottbare Dynastie von Enteigneten, die in der geheimen Unterwelt lebte, welche Einwohner der City nie zu sehen bekamen.
Mein Name ist Addison. Aber damals brauchten wir keine Namen, weil wir nur miteinander sprachen.
Mit einem Lächeln nannte Vater sich manchmal Es. Aber das war kein richtiger Name. Mich nannte er Es von Es oder Sohn von Es, was unser kleiner Scherz war.
Nach menschlichen Begriffen waren wir auf eine Weise äußerst hässlich, die bei ihnen Abscheu und erschreckend wilden Zorn hervorrief. Obwohl wir ebenso Menschen waren wie alle, die oberirdisch lebten, wollten wir niemanden kränken und hielten uns deswegen versteckt.
Vater lehrte mich, dass wir auf andere Männer und Frauen wegen der Art und Weise, wie sie uns behandelten, nicht zornig sein durften. Sie litten unter Ängsten, die wir nie verstehen konnten. Wir im Verborgenen hätten unsere Last zu tragen, sagte er, aber die der Oberirdischen sei viel schwerer als unsere, was auch stimmte.
Ich hegte keinen Zorn gegen sie. Sie taten mir leid, und ich liebte sie, so gut ich konnte. Wir sind alle aus irgendeinem Grund auf diese Welt gekommen; wir müssen uns nach dem Grund dafür fragen und hoffen, ihn zu erfahren.
Unsere fensterlose kleine Wohnung diente auch als meine Schule, in der ich mich zu lernen bemühte, und der wichtigste der drei kleinen Räume war der mit Regalen aus Mahagoni, die der Vater meines Vaters gebaut hatte. Die Regale standen voller Bücher, die oberirdisch lebende Menschen ausgesondert hatten.
Jeder der tiefen, bequemen Sessel hatte eine gepolsterte Fußbank. Daneben standen ein schlichter Holzwürfel, auf dem man ein Getränk abstellen konnte, und eine bronzene Stehlampe mit einem Plisseeschirm aus pfirsichfarbener Seide.
Ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen bildete eine Essecke. Als wir noch zu zweit waren, spielten wir an diesem Tisch auch Schach oder Karten.
Heutzutage lege ich manchmal Patiencen. Andere Kartenspiele mochte ich nicht besonders, aber wenn ich die Karten mischte oder ausgab, sah ich manchmal nicht die eigenen Finger, sondern die meines Vaters. Seine Finger waren deformiert, weil sie auf selbst improvisierten Schienen schief zusammengeheilt waren, nachdem ein Geistlicher sie ihm an einem Sonntagabend gebrochen hatte, als Vater noch ein Junge gewesen war.
Ich liebte diese Hände, die niemals einem Lebewesen etwas angetan hatten. Die verblassten Narben und arthritischen Knöchel waren schön, weil sie seinen Mut symbolisierten und mich daran erinnerten, dass ich auf die Grausamkeiten, die uns zugefügt wurden, nie mit Verbitterung reagieren durfte. Obwohl er mehr erlitten hatte als ich, liebte er die Welt und das Leben.
Der Tisch und die meisten anderen Möbelstücke waren mühevoll hergeschafft oder von früheren Bewohnern an Ort und Stelle gebaut worden.
Sechs Jahre lang hatte ich keine zwei Sessel mehr gebraucht. Wenn ich las, saß ich meistens in dem Sessel, der seit meiner Ankunft meiner gewesen war. Manchmal setzte ich mich jedoch in Vaters Sessel, um mich besser an ihn zu erinnern und mich weniger einsam zu fühlen.
Wie alle anderen Räume war das zweite Zimmer zweieinhalb Meter hoch. Fußboden, Decke und die dicken Wände bestanden aus Stahlbeton, durch den manchmal Vibrationen drangen, aber nie erkennbare Geräusche – von der zuvor erwähnten Musik abgesehen.
Auf beiden Seiten des Durchgangs ohne Tür war von Wand zu Wand eine Hängematte gespannt. Das Segeltuch ließ sich leicht mit einem Schwamm reinigen, und meine Wolldecke war das einzige Bettzeug, das gewaschen werden musste.