Supposed to be Happiness - Madelaine Harder - E-Book

Supposed to be Happiness E-Book

Madelaine Harder

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Beschreibung

Wenn Du nur eine Marionette an fremden Fäden bist – woher weißt Du, welche Entscheidungen wirklich die Deinen sind? June ist mit Stefan aus den Flitterwochen heimgekehrt. Heim, das bedeutet für sie triste Realität inmitten der hell funkelnden Lichter der High Society, deren fragwürdigen Glanz sie verabscheut. Durch ihre Unterschrift auf einem kleinen Stück Papier mit riesigen Auswirkungen hängt sie in Stefans Fängen – doch Daniel, stets als Schatten an der Seite ihres Mannes, wirft loderndes Licht in ihr düsteres Dasein. Ist die flammende Leidenschaft zwischen ihnen eine gute Basis für das zarte Sprießen einer Zukunft oder wird der Sog aus düsteren Vergangenheiten, gepaart mit wahnwitziger Kontrolle und Eifersucht, alles zerstören? Mit der nexx edition bringen wir Bücher in die Welt – ohne Umwege, vom Autor direkt zum Leser. Erleben Sie diese besonderen Bücher und entdecken Sie ihre faszinierenden Geschichten für sich! nexx edition – WIR BRINGEN BÜCHER IN DIE WELT

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Madelaine Harder

Supposed to be Happiness

Roman

Madelaine Harder

Supposed to be Happiness

Roman

ISBN/EAN: 978-3-95870-698-9

1. Auflage

Umschlaggestaltung: Madelaine Harder,

Layout: nexx verlag

© nexx verlag gmbh, 2024

www.nexx-verlag.de

Für dich, lieber Leser.

Was immer du dir vornimmst, was immer du träumst zu tun, tu es. Lass dich nicht aufhalten, nicht einmal von dir selbst. Wenn du an dir zweifelst, dir sagst, du könntest das nicht – überrasche dich selbst doch einfach damit, dass du es tust.

Ich glaube an dich.

Stay safe und lies bitte die Triggerwarnung auf der letzten Seite.

Prolog

Wenn du in den Spiegel schaust – was siehst du?

Nimmst du deine Reflexion als das, was sie ist wahr, ein genaues Abbild deines Äußeren?

Oder ist es vielmehr so, dass deine Wahrnehmung das Bild verzerrt, beeinflusst von den Aussagen, die andere über dich tätigen? Von Werten, die von außen so oft auf dich eindringen, dass du sie als die eigenen manifestiert hast?

Dass du dich selbst anders wahrnimmst, basierend auf dem, was du dir jeden Tag ansiehst, was du konsumierst, immer wieder aufs Neue, Models, scheinbar perfekte Menschen in den sozialen Medien, Filmstars?

Neigst du nicht dazu, deine Normalität mit den perfekt in Szene gesetzten Inszenierungen von Instagram zu vergleichen? Siehst du plötzlich Mängel, wo eigentlich keine sind? Findest du dich zu dick oder zu dünn, obwohl du absolut in der Norm liegst?

Betrachtest du dich voller Zweifel, voller Verachtung, wo doch du gerade der Mensch sein solltest, der dich bedingungslos liebt? Wo gerade dieser Körper, dein Körper, jeden Tag für dich da ist, dich atmen, das Leben erleben lässt?

Wenn du in den Spiegel siehst, dann nimmst du nicht immer das wahr, was er dir wirklich zeigt.

Du siehst, was du sehen willst.

Siehst all deine Mängel, siehst deine Makel, vergisst, dass deine Imperfektionen dich perfekt, einzigartig machen.

Ich weiß das, bin mir dessen jedes Mal bewusst, wenn ich die Reflexion meines Gesichtes in einer spiegelnden Oberfläche sehe.

Nicht, dass ich davor gefeit wäre, solche Gedanken zu haben. Ich sehe auch nicht, was der Spiegel zeigt. Ich sehe nicht die fein lächelnde junge Frau, nicht die strahlenden Augen, die beschwingten Bewegungen.

Ich sehe eine Gefangene, grau und verhärmt.

Eine Marionette an Fäden, gespielt und manipuliert.

Ich sehe das, was andere aus mir machen. Ich sehe, wie andere mich biegen, wie nassen Ton in die richtige Form pressen.

Was ich sehe, bin nicht länger ich.

Und je länger ich in den Spiegel sehe, desto mehr verliere ich mich.

Bis nichts mehr von mir da ist.

Wer bin ich?

Kapitel 1

Die blonde Dame vor mir mit dem beinahe obszön tiefen Ausschnitt lachte ein wenig zu laut, zu schrill und winkte dann mit einer in einem samtigen weißen Handschuh steckenden Hand ab.

Unwillkürlich erwiderte ich ihren gekünstelten Lachanfall mit einem milden Lächeln, das garantiert etwas säuerlich pikiert angehaucht war.

Nichts von dem, was ich in den letzten Minuten geäußert hatte, war so amüsant gewesen, dass ein solches Spektakel gerechtfertigt schien. Ich war mir absolut sicher, dass sie mir noch nicht einmal zugehört hatte.

Aber Victoria stand unglaublich gerne im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit. Vermutlich hatte sie für ihren Geschmack ein paar beiläufige Blicke zu wenig von den anderen Anwesenden erhascht, war zu wenig von der männlichen Prominenz mit schmachtenden Blicken bedacht worden und hatte somit das unaufschiebbare Bedürfnis ein wenig nachzuhelfen.

„Meine Güte, was bist du nur witzig, June! Eine wahrhaftige Komödiantin“, verkündete sie lautstark, noch atemlos von ihrem hellen Glucksen. Mit der einen Hand griff sie nach meinem Unterarm, um ihn gönnerhaft zu streicheln, mit der anderen wischte sie sich scheinbar Lachtränen aus den faltenfreien Augenwinkeln und nutzte die Gelegenheit, um sich unauffällig umzusehen.

Ich seufzte lautlos und starrte auf meine Fußspitzen, gezwungen geduldig abwartend.

Mein Gegenüber schien mit ihren Beobachtungen zufrieden, denn sie ließ meinen Arm ruckartig wieder fahren, als sei es unaussprechlich, mich zu lange zu berühren und räusperte sich mädchenhaft, blinzelte mich lächelnd an.

„Nun, wo waren wir? Ach ja, ich erzählte soeben von Alessandro. Ach, was für ein Gott mit dem Pinsel!“

Ich verkniff mir die scherzhafte Frage, von welchem Pinsel sie angesichts ihrer Schwärmereien denn genau sprach, um nicht wieder einen hysterischen Kicheranfall hervorzurufen und wartete müßig auf eine Fortsetzung ihres Monologs.

Herrgott, wie lange konnte sich ein Abend ziehen?

Wieso glich die Zeit mit einem Mal einem endlosen schwarzen Loch?

„Unser Schlafzimmer glich einem Schlachtfeld, bevor er sich dessen annahm und nun ist es mein liebster Raum im ganzen Haus. Ich übertreibe absolut nicht, wenn ich behaupte, dass ich mich am liebsten den ganzen Tag darin aufhalten würde. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich sogar meine Gäste im Bett empfangen würde!“

Ob sie sich wohl selber zuhörte? Oder schaltete ihr Gehirn ab, sobald sie den Mund öffnete, wie ein Notausschalter quasi?

Ich starrte sie mit leicht zusammengekniffenen Augen an, versuchte ein weiteres Mal zu ergründen, was hinter den kornblumenblauen Augen lag, ob dort überhaupt etwas war. Aus Victoria Langley wurde man einfach nicht schlau. Entweder war sie dumm wie zwei Zentner Kieselsteine, oder aber – was unglaublich schockierend wäre – sie war intelligent genug, sich so dumm zu stellen, dass absolut niemand auch nur den Hauch einer Erwartung an sie hatte.

Das Outfit, welches sie für den heutigen Abend gewählt hatte, bestätigte auf jeden Fall, dass sie nur zu gerne Gäste in ihrem Bett empfing. Bei jedem tiefen Atemzug befürchtete ich, das korsettartige Oberteil ihres Kleides würde den Kampf mit der Schwerkraft verlieren und mir mit lautem Knall ihre ausladenden Brüste um die Ohren hauen.

Das wäre auf jeden Fall etwas Neues.

Und vermutlich wäre jeder Mann hier im Raum neidisch auf mich. Ich rückte unauffällig ein wenig von ihr weg.

Ihr Lobgesang auf ihren neuen Innenarchitekten schien kein Ende zu nehmen. Ich lächelte höflich und nickte ab und an, beantwortete etwaige Fragen schnell mit zurückhaltender Freundlichkeit, ohne meine wahren Gedanken preis zu geben (bei Frauen wusste man schließlich nie …). Dann und wann streute ich ein ‚Ah, interessant!‘ und ein ‚Oh, das klingt wundervoll, absolut bezaubernd!‘ ein, um ehrlich interessiert zu wirken.

In Wahrheit war ihr Monolog so einnehmend, als würde sie aus einem Wörterbuch vorlesen. Mit dem kleinen Unterschied, dass ich dabei mit Sicherheit etwas lernen würde.

Es erstaunte mich selbst, wie leicht es mir fiel, Neugierde zu heucheln, mein Gegenüber in vollkommenes Wohlwonnen zu tauchen, wie einfach es war, eine Fassade zu errichten, eine komplett andere Rolle zu spielen. War das tatsächlich eine Frage der Übung oder verwandelte ich mich langsam in eine andere, deutlich dunklere und lebensmüdere Version von mir selbst?

Andererseits war ich es seit frühester Kindheit gewohnt, dass ich – mein richtiges Ich – nicht angemessen, nicht erwünscht war. Ich versteckte mich doch schon immer hinter einer June, die gesellschaftlich akzeptabel war, was auch immer das bedeutete – war ich nicht genau deswegen in der Lage, in welcher ich mich nun wiederfand?

Wie ein Wasserfall perlte ihr Wortschwall an mir ab, ohne mich auch nur im Geringsten zu berühren, so versunken war ich in meinem eigenen Gedankensumpf, bis ein Satz mich wieder an die Oberfläche zog.

„Wirklich schade, dass sein Sexualleben so abstoßend ist“, die Blondine seufzte theatralisch tief auf – Vorsicht, die Brüste, Achtung, das Oberteil! – und ich verschluckte mich augenblicklich an dem tiefdunklen Wein, an welchem ich geistesabwesend genippt hatte.

Ich schaffte es geradeso, die brennende Flüssigkeit hinunter zu würgen, ehe ich husten musste. Prustend atmete ich aus, mitfühlend, aber federleicht, tätschelte Victoria meinen Rücken. Mit tränenden Augen räusperte ich mich ein letztes Mal.

Sexuell abnorm? Von wem genau sprachen wir mittlerweile?

„Ich muss dich wohl falsch verstanden haben, was sagtest du gerade?“, keuchte ich, als ich endlich wieder Luft bekam.

Verfluchter Wein. Verfluchter Tratsch.

Victoria musterte mich mit großen, runden Augen und nickte dann verschwörerisch, verzog ihre perfekt geschminkten vollen Lippen zu einem perfekten kleinen Schmollmund, ihre perfekt gezupften Augenbrauen verschmolzen beinahe mit ihrem perfekten Haaransatz. Überhaupt schien alles an ihr so perfekt und makellos, ob das wohl sehr teuer gewesen war?

„Aber ja, meine Liebe, der Gute ist vom anderen Ufer!“ Sie seufzte wieder.

Ach, wir redeten noch von dem guten Alessandro. Und die liebe Victoria hatte sich eben als gänzlich imperfekt homophob geoutet.

Beruhigte mich das etwa?

„Stell dir einmal vor, da bespreche ich gerade mit ihm die Farbauswahl für das Wohnzimmer, er sieht wie immer anbetungswürdig aus, mit seinem offenen Hemd, der bloßen Brust, den vollen Lippen, diesen halblangen, wilden Haaren und ich, ja auch ich sehe einfach bezaubernd aus mit meinen …“ Sie lächelte verschämt und verdrehte die Augen blinzelnd gen Decke „nun ja, ich bin einfach ich selbst mit all meiner überwältigenden Weiblichkeit, du weißt schon, und er scheint es gar nicht zu bemerken. Dann kommt mein Mann aus der Dusche und Alessandro, nun, er war gänzlich aus dem Häuschen, lief ihm direkt hinterher, wie so ein spitzer Hund, er müsse dringend mit ihm reden, ließ ihm nicht einmal Zeit, sein Handtuch gegen eine Hose zu tauschen!“

Sie schnaubte gänzlich undamenhaft und zog wieder diesen Schmollmund, ihre verrucht geschminkten Augen glänzten verräterisch. Garantiert bekam sie auf diese Weise immer, was sie begehrte, zumindest von der Männerwelt.

„Eine unglaubliche Schweinerei, ich musste ihn natürlich sofort entlassen! Ach, ich bin so unglücklich, nun werde ich nie erfahren, was er mit seinem Pinsel alles hätte vollbringen können …“

Okay, das konnte sie einfach nicht ernst meinen.

Doch sie belehrte mich auf der Stelle eines Besseren.

Sie errötete ganz entzückend und fächerte sich schniefend Luft zu, ihre Augenlider flatterten. Jetzt fehlte nur noch, dass sie sich eine Hand an die Stirn legte und ganz reizend in Ohnmacht fiel – was sich ein nicht unerheblicher Teil von mir tatsächlich wünschte, auf dass ich endlich von ihrem endlosen, nervtötenden Geplapper erlöst wäre.

Warum genau tat ich mir das hier überhaupt an? Warum ging ich nicht einfach weg, weit weg, ganz weg, ließ all diesen falschen Glanz, das affektierte Zurschaustellen, hinter mir?

Ich hatte die von ihr so bunt beschriebene Szene tatsächlich so lebhaft vor meinem inneren Auge, als sei ich selbst dabei gewesen. Die liebreizende Victoria in einem ihrer knappen Röcke, kaum breiter als ein Gürtel, die Bluse aus Versehen ein wenig zu weit aufgeknöpft – das konnte ja mal passieren – so weit über den Tisch gelehnt, dass ihr beinahe die mit ziemlicher Sicherheit falschen Brüste aus dem sündhaft teuren BH fielen, ganz entzückend an dem blondierten Haar zupfend – und ihr gegenüber ein stoisch dreinschauender Alessandro, den ihre Reize vollkommen kaltließen.

Was für ein Schock für das sanfte Gemüt der zartbesaiteten Victoria.

Fast, nur fast, empfand ich Mitleid für den wahrhaft tiefsitzenden Schock, dass nicht alle Männer ihr verfielen.

Dass nicht alle Männer triebgesteuerte Idioten waren.

Begütigend legte ich ihr nun meinerseits eine Hand auf den Arm und lächelte sie mitfühlend an. Es war vielleicht ein wenig herablassend von mir, aber irgendwie mochte ich ihre Gesellschaft doch ein wenig – sie war definitiv urkomisch und ich lachte gern, wenn sie ihre Geschichten erzählte.

Natürlich mehr über sie und auch eher still und heimlich in mich hinein, aber auch das war doch eine Basis für … wie auch immer man unsere Art der Bekanntschaft nennen mochte.

Sie war wie ein lebendiges Mahnmal für eine Person, zu der ich niemals werden wollte.

„Victoria, mein liebster Sahnepo, stimmt irgendetwas nicht mit dir?“

Nun kam der zweite Part des entzückenden Duos, ihr Mann, mit besorgtem Blick auf uns zugeeilt. Ich hatte seinen Namen nun bereits das dritte Mal vergessen, er langweilte mich über alle Maßen. Eigentlich war er recht ansprechend, groß und athletisch gebaut, mit kurzem, blondem Haar und stechend grünen Augen – wäre da nur nicht diese scheinbar bodenlose Dummheit gepaart mit einer allesübertreffenden Arroganz, was ihn unglaublich unattraktiv werden ließ.

Wie nur, wie hatte es dieser Mann zum Anwalt gebracht?

Nun gut, er hatte Geld wie Heu, was vermutlich auch die Ehe mit Victoria erklärte. Bestimmt hatte sie ihn hauptsächlich deswegen geheiratet, sie war auf ihre Art deutlich klüger als er.

Vielleicht hatte er sich Noten und Abschlüsse erkauft, wer wusste das schon.

Andere Vorzüge als seine Brieftasche und sein gutes Aussehen schien er nicht zu haben. Ganz im Vertrauen hatte Victoria mir – und den zehn anderen Frauen, die sich zufällig zu diesem Zeitpunkt auch im Zimmer aufgehalten hatten – lautstark erklärt, dass seine Fähigkeiten im Bett ebenso wie er selbst eher wenig interessant ausgebaut waren.

Auch eine vernünftige Unterhaltung auf Augenhöhe schien nicht möglich, da er Frauen generell als ihm nicht ebenbürtig ansah, ein ganz charmanter Zeitgenosse also.

Nicht, dass das zu den Dingen gehörte, die mich brennend interessierten, ohne deren Wissen ich nachts nicht schlafen konnte, aber Victorias Mitteilungsbedürfnis konnte man sich schwerlich entziehen.

Sie schaffte es immer, sich Zuhörer zu verschaffen, nicht immer ganz freiwillig.

Sein langweiliges Liebesspiel zusammen mit seiner plumpen Art und seiner langsamen Denkweise waren wohl auch der Grund für ihre ständig wechselnden Liebhaber, über die wahrhaft jeder Bescheid zu wissen schien, außer ihr Göttergatte selbst.

Vielleicht war es ihm auch bewusst – und die Dankbarkeit, sie und ihr Geplapper, ihre zudringliche Art nicht immer ertragen zu müssen, überwog seinen Zorn über die Demütigung.

Nicht nur einmal hatte sie mich auf eine unerhört intime Weise zu meinem eigenen Mann befragt, nicht nur einmal war ich Zeuge davon geworden, wie sie auch ihn versuchte zu bezirzen – und dabei nicht nur einmal auf Granit gebissen hatte.

Man konnte Stefan vieles vorwerfen, aber er hatte eine gewisse Klasse, eine gewisse Würde und auch wenn ich das natürlich nicht beurteilen konnte, war ich mir sicher, dass sie weit außerhalb seines Beuteschemas lag. Nicht, dass sich Victoria davon abschrecken ließ, vielmehr fürchtete ich, dass ihr Interesse damit erst geweckt worden war. Die Aussicht auf eine kleine Jagd ließ sie mit Sicherheit die schweren Geschütze auffahren, und wie diese aussahen, wollte ich nicht unbedingt herausfinden.

Victorias schwächliche, nasale Stimme riss mich erneut aus meinen Gedanken.

„Mein Liebster, wie unglaublich aufmerksam und süß von dir, dass du dich sorgst! Mir geht es gut, mir wurde lediglich etwas schwindlig, als mir June so wahnsinnig schnell von all ihren Neuigkeiten berichtete. Da hat sich mein Kopf etwas gedreht, ich hab mich ganz schwach gefühlt.“

Ich war mir sicher, dass mein Gesicht für einen Moment genauso verwirrt und abgestoßen dreinschaute, wie ich mich fühlte. Eine Prise von ‚Was zur Hölle?!‘ gepaart mit ganz viel ‚Hat diese verhurte Kuh das gerade wirklich gesagt?‘

Schnell hatte ich mich wieder unter Kontrolle.

Nicht aus der Rolle fallen.

Nicht die Augen verdrehen. Nicht kichern und dann schnell einen Hustenanfall vortäuschen.

Böse June.

Lass die Fassade oben.

Ich zwang mich zu einem mitfühlenden, zustimmenden Nicken und lächelte Mr. Soundso liebenswürdig an.

Lächeln, nicken, zustimmen, graziös den Kopf neigen, die Hände gefaltet.

My life in a nutshell.

Der Strohkopf ergriff die perfekt manikürte Hand seiner Frau und tätschelte sie eifrig, der gewaltige Diamantring an ihrem Finger blendete mich beinahe, garantiert absolut zufällig.

„Meine Liebe, dein Hang anderen zu helfen, sich gut zu fühlen in allen Ehren, du bist so ein liebevoller, großherziger Mensch. Gott weiß das! Aber deine eigene Gesundheit immer aufs Spiel zu setzen, ist es das wert? Du weißt doch um dein angeschlagenes, schwächliches Wesen, du darfst dich nicht immer so sehr anstrengen! Niemandes Klatsch kann so wichtig sein!“

Er schüttelte missbilligend den Kopf. „Ich weiß noch genau, wie lange du auf deinen letzten Pfleger angewiesen warst, wie hieß der Mann doch gleich? Ein Herz von einem Menschen und so bedacht, dich gesund zu pflegen!“

Hörte er sich selbst zu, war ihm bewusst, was er von sich gab? Was für eine schauerliche Komödie lief hier gerade? Und warum war ich Statist darin, hatte ich dafür unterschrieben?

Nun musste ich wirklich kämpfen um das Lachen wieder herunterzuschlucken, welches mit Nachdruck meine Kehle emporklettern wollte. Rasch wandte ich mich ab, damit das dubiose Pärchen nicht Zeuge meines breiten Grinsens wurde.

Natürlich wollen wir nicht, dass Victoria sich einen der falschen Nägel abbricht oder sich gar die aufgespritzten Lippen zerkaut! Es wäre unendlich tragisch, wenn sich nette junge Männer tagelang um sie und ihre falschen Brüste kümmern müssten, nur, weil sie etwas zu sehr zugehört hat!

Keines der falschen Haare darf sich angesichts von haltlosem Klatsch aus der perfekten Frisur lösen, alleine der Gedanke daran, wäre ein Frevel unmenschlichen Ausmaßes.

Für kurze Zeit erschien es mir nicht die schlechteste Wahl, selbst eine Ohnmacht vorzutäuschen, um dieser lachhaften Gesellschaft endlich entfliehen zu können.

Ein tiefes Seufzen entwich mir, welches Mr. "Ich-komme-einfach-nicht-auf-den-Namen" natürlich falsch auffasste in seiner grenzenlos scheinenden Dummheit.

„Oh, machen Sie sich keinen Kopf, June. Ich bin Ihnen absolut nicht böse. Nur bitte, denken Sie das nächste Mal an die kränkliche Natur meiner Frau und versuchen Sie, sie nicht zu sehr aufzuregen. Erzählen Sie das nächste Mal doch etwas von … von Blumen oder Tischdecken oder so, ja?“

Waren das die Themen, welche er der Frauenwelt zutraute? Stricken, kochen, putzen, ein wenig Shopping?

Ich biss mir auf die Lippe um ihm nicht laut ins Gesicht zu lachen und nickte mit gespielt bedrückter Miene. „Kommt garantiert nicht wieder vor, verzeihen Sie bitte mein unbedachtes Verhalten!“

Er lächelte breit und begütigend, strich mir für meinen Geschmack etwas zu lang, etwas zu intim über die Schulter, ließ seine Hand dann etwas zu tief über meinen Rücken wandern, als er sich suchend umsah und sich dabei ein wenig zu dicht neben mich stellte. „Sagen Sie June, haben Sie Ihren Mann gesehen? Ich müsste noch die eine oder andere Sache mit ihm besprechen, bevor sich der Abend dem Ende zuneigt.“

Ich rückte zwei Schritte von ihm ab, entzog mich seiner unangenehmen Berührung, während ich ihn mit distanziertem Lächeln ansah. „Er stand vor wenigen Minuten noch an der Marmorsäule dort drüben, rechts von Ihnen.“

Stirnrunzelnd beobachtete ich seinen suchenden Blick, fragte mich unwillkürlich, ob er mich eigentlich für dumm verkaufen wollte. „Das ist links. Rechts ist dort.“ Er folgte meiner ausgestreckten Hand, tippte sich verlegen mit der rechten Hand an die Stirn.

„Ach, wie peinlich, danke June. Ich hatte schon immer ein Problem mit den Richtungen, deswegen zieht Victoria auch jedes Navi mir vor.“ Verschwörerisch grinsend beugte er sich näher zu mir, wieder so nahe, dass ich den Alkohol aus seinem Atem, das Aftershave auf seinen Wangen riechen konnte. Warum musste er mir so auf die Pelle rücken? „Mein Glück, dass der Richter direkt vor mir sitzt, nicht wahr?“

Ich wusste, er wollte einen Scherz machen – mich verblüffte es aber durchaus, dass er noch nie aus Versehen versucht hatte, den Richter anzuklagen oder den tatsächlich Angeklagten mit ‚Euer Ehren’ und einer halben Verbeugung angesprochen hatte.

Andererseits war dies vielleicht nur noch eine Frage der Zeit. Er zwinkerte mir noch einmal verschwörerisch zu, dann ging er mit beschwingtem Schritt dahin, wo er Stefan vermutete, ließ mich erneut mit seiner gelangweilt dreinblickenden Frau alleine, die unserem Gespräch mit sichtlichem Desinteresse gelauscht hatte, ohne sich über seine halben Annäherungsversuche zu echauffieren. Ich war mir nicht ganz klar darüber, ob ich glücklich darüber war …

Während Victoria mich nahtlos in einen weiteren Schwall Erzählungen über ihren letzten öffentlich geheimen Liebhaber zu verwickeln versuchte, wanderte mein Blick durch den Raum, überflog dutzende Gesichter, ehe es an dem gesuchten Antlitz hängen blieb.

Sein Blick verweilte bereits auf mir, seine grünen Augen bohrten sich in meine und ein leichtes, schiefes Grinsen zog sich über seine schönen Züge.

Unwillkürlich und mit seltsam flatterndem Herzen erwiderte ich es.

Und wieder fragte ich mich, ob ich mich schon so gut in meine Rolle gefügt hatte, dass ich nur wegen eines Lächelns all den Zwist vergaß, der zwischen uns stand, uns nicht nur minimal trennte, sondern uns förmlich in unterschiedliche Galaxien beförderte, ohne Aussicht auf Zusammenkunft.

Sehnte ich mich so sehr nach Liebe, dass ich bereit war, über unüberbrückbare Differenzen hinwegzusehen?

Dass seine unverständliche Eifersucht, sein sprunghaftes, brutales Wesen, seine unvorhersehbar gewalttätige Seite vergleichbar gering erschienen, angesichts der Gefühle, die er vielleicht irgendwann einmal für mich hegen würde, der Gefühle, die eventuell immer noch tief in mir für ihn schlummerten?

Nachdenklich verweilte mein Blick auf seinem schönen Gesicht, dem man all die düsteren Seiten nicht im Geringsten ansah.

Vielleicht sollte ich mich um einen Termin bei einem Therapeuten bemühen. Das hier war kein einfaches Trauma mehr, welches ich aus meiner Kindheit bis hierher geschleppt hatte, das schien mir doch eine ausgewachsene Störung zu sein. Ein Stockholm-Syndrom? Verliebte ich mich in meinen Entführer?

Ich prustete innerlich ob meiner verwirrten Gedanken, was genau sollte ich einem Psychiater denn erzählen? ‚Ich habe Probleme.‘ – ‚Und welche?‘ – ‚Oh, das kann ich Ihnen leider nicht sagen.‘

Oder anders – das wäre doch eine großartige Idee für einen Actionthriller. ‚Oh, nur zu gerne erzähle ich Ihnen von all meinen Problemen – nur muss ich Sie leider nach Ihren Lösungsvorschlägen töten.‘

Oder würde Stefan das übernehmen?

Ich runzelte die Stirn. Nun, nach wie vor berief ich mich damit auf eine von Daniels Aussagen, ich selbst wusste nur, dass er zu Gewalt greifen wollte, mir gegenüber hatte er noch nichts bewiesen, mich nicht einmal angerührt.

Was man von Daniel nicht sagen konnte.

Ich atmete laut aus und schüttelte den Kopf, versuchte energisch all die Gedanken zu vertreiben – sie kreisten nicht das erste Mal durch meinen Verstand und auch dieses Mal würde ich zu keiner Lösung kommen. Warum also nicht einfach weitermachen, wie es von mir erwartet wurde?

Noch immer ruhte mein Blick auf meinem Ehemann.

Vor ihm stand der Dummkopf und erging sich in endlosem Palaver, was Stefan nur dann und wann mit einem halbherzigen Nicken quittierte, ohne dabei seinen intensiven Blick von mir zu nehmen. Das schien den blonden Hünen allerdings nicht zu stören, er redete unbekümmert weiter, ebenso, wie seine Frau es vor mir getan hatte.

Ich sandte Stefan ein kleines Augenverdrehen, woraufhin sein Lächeln sich noch vertiefte. Ohne ihn anzusehen legte er dem Idioten eine Hand auf die Schulter und sagte etwas, ehe er ihn ohne sichtliche Anstrengung zur Seite schob und in meine Richtung strebte.

Eine Hand hatte er locker in eine Tasche seiner Anzughose gesteckt, die andere schwang zwanglos in der Luft, der oberste Knopf seines blütenweißen Hemdes stand offen. Auf eine Krawatte hatte er heute gänzlich leger verzichtet, nur ein Knopf seines makellos sitzenden Sakkos war geschlossen.

Er sah so unglaublich schön aus, so unverschämt anziehend, während er sich mit graziös-raubtierhaftem Gang näherte, unbeteiligt und zielstrebig zugleich. Das perfekte Chaos der halblangen Haare auf seinem Kopf zusammen mit dem leichten Bartschatten auf seinem scharf geschnittenen Kiefer machten seine unbestreitbar männliche Anziehungskraft perfekt.

Es war so leicht, sich von all dem Glanz täuschen zu lassen, von all dem Schein und dem ‚Was wäre wenn …‘. Es war so leicht, in Schwärmerei zu verfallen und alles Negative für einen Moment hinter sich zu lassen, wenn man ihn so sah.

So unfassbar leicht, sich in ihn zu verlieben ...

Außerdem war es anstrengend, immer nachzudenken. Jeden Schritt zu hinterfragen. Müßig, immer auf den Verstand zu hören, ganz gleich, wie richtig dieser lag. Manchmal tat es gut, sich ganz in ein fernes ‚Vielleicht‘ fallen zu lassen, vollkommen egal, wie unrealistisch dieses war.

Ich schluckte unwillkürlich, als er schließlich vor mir stand und mir seine freie Hand entgegenstreckte. Ohne seine Augen von den meinen zu nehmen, unterbrach er Victorias wortreichen Wasserfall mit absoluter Bestimmtheit. „Seien Sie mir nicht böse, Victoria, aber ich muss meine Frau nun entführen.“

Schwungvoll wandte sie sich ihm zu, ihr permanent offenstehender Mund klappte endlich einmal zu. Ihre blauen Augen leuchteten auf, als er ihren Namen aussprach und beinahe automatisch leckte sie sich die rot geschminkten Lippen, als hätte sie soeben etwas besonders Leckeres erblickt.

Ich kannte diesen Blick – sie war auf der Jagd. Der Panther war im Begriff, sich an das wehrlose Beutetier anzuschleichen. Nun, an diesem würde sie sich zweifelsohne die gebleichten Zähne ausbeißen, nicht zuletzt, weil es sich bei der angeblichen Antilope vielmehr um einen verkleideten Löwen handelte.

Dieser ‚Leckerbissen‘ gehörte zudem mir, zumindest in dieser Gesellschaft, an diesem Abend.

„Oh, Stefan, ich könnte Ihnen doch niemals böse sein“, schnurrte sie mit samtiger Stimme und warf ihm einen verführerischen Wimpernaufschlag zu.

Pikiert rümpfte ich die Nase, weniger aufgrund der Tatsache, dass ich, seine Frau, verdammt nochmal direkt neben ihr stand, als vielmehr deswegen, dass ich selbst wirkte, als bekäme ich soeben einen Schlaganfall, wenn ich etwas in der Art versuchte. Meine Verführungskünste, so musste ich mir eingestehen, beliefen sich wohl auf einfaches Kleidungausziehen, ohne dabei im Hosenbein hängen zu bleiben und hinzufallen. Eventuell würde ich auch noch die Wollsocken weglassen, wenn es mir wirklich ernst war.

„Sie können auch mich entführen, zwei Frauen sind immer besser, für den Fall der Fälle, zur Sicherheit gewissermaßen“, fügte das Raubkätzchen unterdessen ganz ungeniert hinzu.

Stefan gönnte ihr nun doch einen Blick aus schmalen Augen, der vor Entrüstung nur so troff. Also ruderte sie schnell ein wenig zurück, doch empfahl sich nicht gänzlich aus diesen zwielichtigen Gewässern. So leicht gab ein passionierter Jäger wie sie nicht auf. „Ich gebe mich auch mit einem Tanz zufrieden. Sie treten mir mit Garantie nicht so oft auf die Zehen, wie mein Mann es immer tut.“ Nun wagte sie sich noch einen Schritt näher an ihn heran und zwinkerte verschwörerisch, während sie ihm eine Hand auf den Arm legte.

Ihre Unverfrorenheit nötigte mir einen gewissen Respekt ab, immerhin benötigte es einiges an Mut. Ihr war schon bewusst, dass ich sie sehen konnte, dass ich nicht blind und taub war?

Wäre ich nicht zu tausend Prozent sicher gewesen, dass Stefan sie nicht bis aufs Blut verachtete, wäre ich garantiert nicht so ruhig geblieben. So allerdings lehnte ich mich nur entspannt zurück und genoss die Show.

Mit einem unverbindlichen Lächeln schüttelte Stefan ihre zarte Hand wie eine penetrante Fliege ab und zog mich besitzergreifend an seine Seite. Sanft strich seine Handfläche über meine Flanke.

„Nun, das liegt nicht in meiner Hand, liebe Victoria. Da müssen Sie schon meine Frau fragen. Allerdings nicht jetzt, wenn Sie gestatten“, erwiderte er galant und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.

Irgendetwas in meinem Bauch flatterte wie verrückt und ich versuchte mir krampfhaft einzureden, dass es sicherlich keine Schmetterlinge waren, sondern uralte Tauben.

Da war es wieder, dieses verführerische Vielleicht …

Ohne Victorias Antwort abzuwarten, zog er mich mit sich.

„Dir ist bewusst, dass ich ihr keinen einzigen Tanz mit dir gönnen werde, jemals, in unserem ganzen Leben, auf keinem Planeten dieses Sonnensystems?“, fragte ich mit erhobener Augenbraue. „Mit keiner anderen Antwort hatte ich gerechnet, ich hatte sogar fest auf deine Abneigung gebaut. Ein Tanz mit ihr steht nun nicht wirklich auf der Liste der Dinge, die ich unbedingt in diesem Leben erledigt haben muss.“ Er schmunzelte. „Ich kenne dich mittlerweile ein wenig, weißt du? Dein hilfesuchender Blick vorhin hat dich verraten, fürchte ich.“

Mit einem amüsierten Grinsen führte er mich durch die Menschenmenge.

Alles schien so leicht und vollkommen an seiner Seite, während er mich ansah und ich in den Tiefen seiner Augen zu versinken drohte, ohne Rettungsring in den Strudel dieser unendlich weiten Waldseen gezogen wurde.

Aber war das wirklich noch ich?

Oder war ich längst zu einer Marionette in seinem Spiel geworden, so schleichend, dass mir der Prozess, die Verwandlung gar nicht aufgefallen war?

Zog er einfach an den richtigen Fäden und ließ mich in dem Glauben, dass ich mich von selbst bewegte, von selbst fühlte, dachte, atmete, lebte?

Es war so gefährlich geworden, einfach zu sein, niemals zu wissen, wer einem die Worte in den Mund legte.

Kapitel 2

Es war nun ein Monat her, dass wir aus den wohl seltsamsten Flitterwochen der Welt zurück waren.

Nach Stefans überraschender Ankunft hatten er und ich tatsächlich eine Woche so getan, als wären wir wie gute Freunde, die einen gemeinsamen Urlaub genossen.

Natürlich war der Anfang schwer gewesen – wie genau sollst du eine unbeschwerte Zeit mit jemandem haben, der dich emotional erpresst? Der seine wahren Gedanken vor dir verschlossen hält?

Mit jemandem, der dir in gewisser Hinsicht vertraut und dessen Vertrauen du schamlos ausgenutzt hast, ganz gleich, wie erzwungen und unfreiwillig du in dieser Situation bist?

Wie genießt du eine intime Zeit mit deinem Mann, der dich nicht anrührt, während zugleich das wahre Ziel deiner Begierde unter dem gleichen Dach wohnt, ständig um dich herum ist?

Ich erinnerte mich an einen Verteidigungsmechanismus aus meiner Kindheit – einfach so tun, als wärst du eine andere Person. Als spieltest du einen Avatar in einem Videospiel, ein komplett anderer Charakter. Als steuerst du einfach die Bewegungen, die Gedanken einer Person, ohne auf deren eigentliche Wünsche zu achten.

Und das half.

Ich war nicht die unglückliche June, die Gefangene, die Zerbrechliche, die sich nach einem anderen Mann verzehrte, der immer nur wenige Meter entfernt war …

Ich war June Volkan, Stefans Frau, eine Frau, zu der hunderte Menschen aufsahen, deren Leben tausende beneideten. Ich war glücklich verheiratet mit einem liebevollen, perfekten, aufmerksamen Mann.

Wir gingen am Strand spazieren, schwammen gemeinsam im Meer, kochten gemeinsam, tranken zusammen ein Glas Wein während die Sonne über den wogenden Wellen unterging.

Die Gespräche waren angenehm seicht, unaufdringlich, fast natürlich – ebenso natürlich, wie jeder des Abends in sein eigenes Schlafzimmer ging und die Tür hinter sich schloss, den anderen in stummer Einsamkeit zurückließ.

Es war fast schön zu nennen, wäre nicht der bohrende Schmerz in meinem Herzen allgegenwärtig gewesen. Die beinahe greifbare, dicke Atmosphäre, wann immer Daniel in der Nähe war – und durch seine Rolle in Stefans Leben war er quasi immer in der Nähe.

Das dumpfe Gefühl in Magen und Brust ließen mich morgens ewig lang im Bett liegen, es war ein körperlich anstrengender Kampf, überhaupt das Zimmer zu verlassen, mich in die Gefahr seiner Gegenwart zu begeben.

Meine Fassade war bröckelig, voller Risse und Löcher, ein einziger schräger Blick aus verletzten, tiefblauen Augen würde reichen, um alles zum Einsturz zu bringen.

Um mich Dinge fühlen zu lassen, die ich nicht fühlen wollte, nicht fühlen durfte, die ich tief in mir begrub und nur zuließ, wenn ich mich bei Nacht schlaflos im Bett herumwälzte.

‚Ich liebe dich, June.‘

‚Und ich liebe dich, Daniel.‘

Verflucht, ich gottverdammter Idiot.

Wie hatte ich es nur so weit kommen lassen können? Wie hatte ich zulassen können, dass er so fühlte, dass ich so fühlte? Wo doch so viel von mir, meiner Rolle an Stefans Seite abhing?

Ich war doch klüger als all das hier …

Es war endlos schwer, Daniel aus dem Weg zu gehen – dadurch, dass er genau dasselbe versuchte, stießen wir immer wieder unwillkürlich zusammen, zogen uns magisch an, fanden uns immer wieder in genau den Situationen wieder, die wir zu vermeiden versuchten.

Das Haus war einfach viel zu klein, zur Hölle nochmal.

So gerieten wir zwei Tage, nachdem Stefan sich wundersamer Weise entschieden hatte, unsere Flitterwochen gemeinsam zu verbringen, aneinander.

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„June, ich wünsche eine Weile lang nicht gestört zu werden. Ich muss einige wichtige Telefonate führen. Wenn ich fertig bin lasse ich es dich wissen!“ Halbherzig drückte Stefan mir von hinten einen Kuss auf den Scheitel, ehe er sich anschickte, in sein Zimmer zu gehen.

Er schien es recht eilig zu haben, nahm immer zwei Stufen auf einmal, ehe sich seine Zimmertür mit einem dumpfen Knall schloss und ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde.

Als ob ich seinen Worten nicht Folge leisten würde und er nur in einem verschlossenen Raum seine Ruhe vor mir hatte.

Und überhaupt – welchen Ton nahm er sich heraus, um mit mir zu sprechen? War ich nicht mehr als ein Dienstmädchen? ‚Ich lasse es dich wissen‘, als ob ich wie eine liebeskranke Katze vor seiner Tür sitzen und am Rahmen kratzen würde. Hoffentlich war er über die Realität nicht allzu enttäuscht, war ich doch über seine Distanz mehr als froh.

Lautlos seufzend wandte ich mich wieder meinem Kaffee zu, trank einen kleinen Schluck der noch dampfenden Flüssigkeit. Ich spürte seine Hitze kaum, versunken in Gedanken.

Es war bereits meine fünfte Tasse und doch vermisste ich den belebenden Effekt, fühlte mich ebenso zerschlagen wie vor drei Stunden, als ich nach einer weiteren schlaflosen Nacht voll Verwünschungen, Flüchen und endlosen Drehungen in meinem Bett endlich aufgestanden war.

Stefan hatte sich mit der einen Nacht an meiner Seite vorerst zufriedengegeben und war auf sein eigenes Zimmer umgestiegen. Seinen Umzug hatte er schief lächelnd damit begründet, dass er es nicht gewohnt war, ohne jede Intimität ein Bett zu teilen und er sich freuen würde, wenn wir in dieser Hinsicht bald miteinander sprechen könnten.

Um Himmels willen, wie sollte ein solches Gespräch denn aussehen? Ein Schauder lief mir trotz der schwülen Wärme über den Rücken. Die Freude war absolut nicht auf meiner Seite, aber natürlich hatte ich brav genickt und meine Zustimmung bekundet.

Ich war überhaupt nicht böse über die Aussicht, auch weiterhin alleine im Bett zu liegen, allein der Gedanke an Intimität mit ihm verursachte mir Bauchweh. Würde er von mir verlangen, was er von seinen anderen Gespielinnen verlangte? Herrgott, was genau trieben die eigentlich miteinander, vielmehr, wollte ich das wissen?

Es war alles andere als leicht, mit Stefan umzugehen. Jeden Moment konnte sich seine Laune ohne erkennbaren Triggerpunkt ändern, konnte aus dem charmanten, liebevollen Schönling ein wütender, gnadenlos brutale Worte nutzender Rohling werden, vor dem ich Angst hatte.

Riesige Angst.

Er schien unberechenbar.

Niemand konnte vorhersehen, was seinen nächsten Wutausbruch heraufbeschwören würde, das letzte Mal war es ein Mann auf der Straße gewesen, der mich für Stefans Geschmack einen Augenblick zu lange angesehen hatte. Seine Eifersucht nervte mich maßlos, vor allem, weil ich mir sicher war, dass der junge Mann an mir vorbei auf eine streunende Katze gestarrt hatte. Erst Stefans unterdrückt-wütende Aufforderung, er solle weitergehen, hatte ihn aufblicken lassen. Angesichts Stefans an seinen Seiten geballten Fäusten und seines schwarz-starrenden Blicks hatte er die Beine in die Hand genommen, ohne auch nur den Versuch einer Klärung zu unternehmen.

Natürlich wusste ich, dass Stefan nicht auf offener Straße die Hand gegen einen anderen Menschen erheben würde, schon allein seines Ansehens wegen, dennoch beunruhigte mich sein Verhalten zutiefst. Noch dazu war es einfach unglaublich anstrengend.

Doch ich versuchte ruhig zu bleiben.

Mir zu sagen, dass ich mich schon daran gewöhnen würde.

Lernen würde, mit der Situation mit ihm zu leben.

Lernen würde, in ihm wieder den Stefan zu sehen, in den ich mich so stürmisch verliebt hatte, den liebevollen, süßen, aufmerksamen Mann, der mir versprach, alle meine tiefsten Seelenwünsche zu erfüllen. Vielleicht, ganz vielleicht war er noch da?

Ich brauchte nur Zeit – und Zeit war mit ziemlicher Sicherheit eines der Dinge, die ich mehr als genug haben würde. Schließlich stürzte er sich selbst jetzt, wo er doch angeblich zurückgekommen war, um unser Eheleben gemeinsam anzugehen, um mehr Zeit mit mir zu verbringen, jeden Tag stundenlang auf seine Arbeit. Er vertiefte sich in Unterlagen oder führte endlose Gespräche, überließ mich mir selbst.

Nicht, dass ich viel mit mir anzufangen wusste, da er mir strengstens untersagt hatte, das Haus alleine zu verlassen, in Anbetracht vergangener Ereignisse – und auf Daniel als Begleitung konnte ich definitiv verzichten. Vermutlich war auch dieser nicht sonderlich wild darauf, mehr gemeinsame Zeit mit mir zu verbringen, nach meinen harten (und absolut gelogenen) Worten.

Außerdem würde das gegen unsere neue Abmachung verstoßen.

Ich presste die Lippen fest aufeinander um ein verächtliches Schnaufen zu unterdrücken – Abmachung konnte man es kaum nennen. Ich floh vor ihm, seinen Gefühlen, seinen Worten, versteckte mich, sowie er in der Nähe war.

Ein verdammter Feigling war ich, das war mir bewusst, mit allen Kräften bemüht, ihm aus dem Weg zu gehen. Und er war bestrebt, genau das gleiche zu tun, woraus ich ihm nun wirklich keinen Vorwurf machen konnte.

Seit der vorletzten Nacht hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt, was gab es denn noch zu sagen? Keines der ausgesprochenen Worte konnte zurückgenommen werden – und selbst wenn, was würde dies an unserer Situation ändern? Was könnte ich schon ändern?

Wenn ich die Zeit zurückdrehen, ihm sagen könnte, dass ich seine Gefühle nicht nur verstand, sondern sie auch erwiderte … was sollte denn dann aus uns werden? Es war ja schließlich nicht so, als ob diese Liebelei auch nur den Hauch einer Zukunft hatte … als ob es eine Möglichkeit gab, aus ihm und mir ein ‚wir‘ zu machen, zusammen …

Ich verbot mir jedes weitere Hirngespinst. Jedes weitere ‚Was wäre wenn?‘

Es führte zu nichts - noch dazu machte es mir Angst.

Mit einem Mal wünschte ich mir Daniels Gabe, Gefühle scheinbar vollkommen auszublenden, nur um mich nicht mit den Gedanken in meinem Kopf auseinander setzten zu müssen.

Waren meine zweifelhaften Gefühle für Stefan so stark, dass ich Daniel für immer aus dem Weg gehen konnte? Oder, andersherum, waren meine Gefühle für Daniel stark genug, um der Gefahr, die von Stefan ausging, zu trotzen?

Die Gesichter meiner Familie, meiner Freunde erschienen vor meinem inneren Auge.

Nein.

Niemals würde ich das Glück, das Leben anderer wegen meines eigenen aufs Spiel setzen.

Stefan war mit Sicherheit gefährlich und ich bezweifelte, dass er bezüglich seiner Absichten spaßte. Ich war mir absolut sicher, dass er sein Wort, meinen Liebsten in irgendeiner Hinsicht zu schaden, halten würde, wenn ich ihm nur die kleinste Angriffsfläche bot. Ganz zu schweigen davon, was er wohl mit Daniel tun würde …

„Er würde mich töten.“

Daniels klare Stimme geisterte durch meinen Kopf.

Ob er ihn wirklich umbringen würde, eiskalt, als wären sie wieder im Krieg?

Ich schüttelte mich, versuchte die Gänsehaut zu ignorieren, die sich auf meinem ganzen Körper ausbreitete. Andere Gedanken, ich musste mich schleunigst auf andere Gedanken bringen, um nicht doch noch das Weite zu suchen, während keiner der beiden ein Auge auf mich hatte.

Mit einem Mal erschien das Haus viel zu klein, viel zu eng, die Küche schien winzig, engte mich ein, nahm mir die Luft zum Atmen, wurde dunkel und erdrückend.

Keuchend sprang ich auf, der Rest meines Kaffees versickerte mit einem leisen Gurgeln in der Spüle, bevor ich förmlich aus dem Raum rannte.

Manchmal, denke ich, wäre es schon von Nutzen, wenn Menschen wie Autos ein Einparksystem verbaut hätten, ein schrilles Piepen, das vor einer bevorstehenden Kollision warnt.

Vielleicht wäre es mir dann möglich gewesen, Daniel auszuweichen, der soeben mit energischen Schritten den Flur durchquerte und auf die Küche zuhielt.

Doch natürlich war eine solche Vorstellung reines Wunschdenken und ich prallte ziemlich unsanft gegen seinen harten Oberkörper.

Der Stoß drückte mir sämtliche Luft aus der Lunge, mit einem dumpfen Keuchen taumelte ich zwei Schritte zurück. Bevor ich über meine eigenen Beine stolpern konnte, packten mich große Hände und nagelten mich ziemlich unsanft gegen die Wand.

Sein düsterer Blick suchte meinen und hielt ihn fest, ich war unfähig, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen, selbst wenn ich es gewollt hätte.

Aber ich wollte ohnehin nicht.

Zu gut, zu vertraut fühle sich seine Berührung an, auch wenn es nur seine festen Hände an meinen Schultern waren.

Wortlos starrten wir uns an, heftig hob und senkte sich meine Brust unter meinem schweren Atem, doch zeitgleich seltsam atemlos durchforstete ich seine Augen, seinen starren, undurchdringlichen Blick nach einem Funken der Gefühle, die er mir so freizügig offenbart hatte.

Doch nichts.

Klar und ausdruckslos musterte er mich, ebenso leidenschaftslos, als betrachte er ein seltsames Insekt.

Natürlich, was genau hatte ich erwartet?

Natürlich nutzte er seine seltsame Kraft, versteckte alles tief in seinem Innersten, vergrub seine Gefühle, nur nichts ans Tageslicht gelangen lassen, das verletzen konnte …

Ich schluckte hart und biss mir auf die Lippe, versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass mich seine Ausdruckslosigkeit verletzte. Dazu hatte ich kein Recht. Kein Recht, bei ihm Schuldgefühle auszulösen angesichts einer Situation, die ich heraufbeschworen hatte.

Der Druck seiner rechten Hand ließ nach, endlos zart griff er nach meinem Kinn und befreite mit dem Daumen meine Lippe von meinen Zähnen, strich kaum merklich über die empfindliche Haut.

Und sein Blick schmolz, das Eis darin wurde vor meinen Augen zu klaren Seen, endlos tief, anziehend, einnehmend, meine Seele tauchte ein und wurde hinab gezogen, tiefer, immer tiefer …

Wieder schluckte ich. Da waren sie, die Gefühle. In der Tiefe verborgen, am Grunde der Seen, da brannte das Feuer seiner Leidenschaft, seine Nähe wurde mir sengend heiß bewusst, ließ mich beinahe taumeln, hätte er mich nicht gehalten.

Mein Herz schlug wild vor unsinniger Freude, er wollte mich noch, er liebte mich noch!

Und mir war bewusst, dass er in meinen Augen das Gleiche lesen konnte. Unsicher blinzelte ich, senkte errötend den Blick, während ich die Wärme einer verräterischen Röte auf meinen Wangen, meinen Ohren spürte.

Sein Daumen strich über mein Kinn, wanderte über meinen Hals, streichelte sanft mein Schlüsselbein. Seine Lippen waren so nah … und doch so fern.

„Pass nächstes Mal besser auf, wo du hinläufst, June.“ Seine rauchige, belegte Stimme ganz nah an meinem Ohr zeugte von dem Orkan an Gefühlen in seinem Inneren, ein perfektes Spiegelbild meiner eigenen Gefühlswelt.

Sein Mund schwebte nur wenige Zentimeter vor dem meinen und seine vollen Lippen flehten mich förmlich an, sie endlich zu küssen …

Sein unwiderstehlicher Geruch umschmeichelte meine Nase, der verführerische Geruch seiner ganz eigenen, wilden, männlichen Note.

Ich schluckte wieder.

Und dann ließ er mich los, ließ mich stehen, ich blieb zurück mit zitternden Knien und dem unguten Gefühl, dass das alles hier ein furchtbares Ende nehmen würde.

Kapitel 3

Das war das letzte Mal gewesen, dass er mir so nahegekommen war, das letzte Mal, dass er mich hinter seine Mauern blicken ließ, mich nur im Ansatz fühlen ließ, was mir mit meiner Entscheidung, ihn nicht zu lieben, entging.

Hatte ich mich wirklich dafür entschieden? Konnte man sich gegen seine Gefühle entscheiden? Ich bezweifelte es ernsthaft, immerhin waren sie immer noch da, unangenehm stechend erinnerte mich mein Herz bei jedem Schlag daran.

Daniel achtete von da an stets darauf, einen Abstand von mehreren Metern zwischen uns zu wahren, wenn nicht gar mehreren Stockwerken.

Nun war das auf der einen Seite natürlich gut so, brachten mich mein Verlangen und meine Gefühle doch nicht mehr so in Versuchung, meine Lippen auf jeden Zentimeter seiner Haut zu pressen, auf der anderen Seite vermisste ich seine Nähe so schmerzlich, dass es beinahe körperlich weh tat.

Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt.

Das ganze Heiraten, Flitterwochen, jemandem so nahe sein, wie es näher kaum möglich war, körperlich, seelisch, auf jeder Ebene mit seinem Partner verbunden sein – das sollte doch die schönste Zeit in einer Beziehung sein, zumindest laut unzähligen Büchern und Filmen.

Warum war das Ganze so schwer? Vermutlich, weil jeder Film, jedes Buch nur die Geschichte bis zur Hochzeit selbst erzählte und nicht über die Arbeit sprach, die man danach in eine Beziehung stecken muss. Nicht, dass das hier eine filmreife Beziehung darstellte ...

Und Jordan war keine große Hilfe dabei, Ordnung in das Chaos zu bringen, welches mein Leben zu sein schien.

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„Herrgott, Frau, nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen! Erzähl doch endlich. Wie war deine Zeit? Nahtlos braun gebrannte Haut, sonnengebleichtes Haar – du siehst wunderschön aus!“ Sie lehnte sich zurück und wackelte grinsend mit den Augenbrauen. „Und ich muss absolut neidlos hinzufügen, dass du mit einem der schönsten Männer des Landes verheiratet bist, mit Ausnahme von Jeremy natürlich. Noch dazu trägt er dich auf Händen und überschüttet dich mit allem, was du begehrst, das tut er doch, oder? Warum also ziehst du einen derartigen Flunsch, als wärst du in einen dampfenden Haufen Scheiße getreten?“

Unwillkürlich musste ich lachen.

Das war Jordans Superkraft – genau zu wissen, was sie sagen muss, zu jeder Zeit. Mich aus jedem Trübsinn reißen, aus jedem Sumpf der Niedergeschlagenheit ziehen.

Es schien, als wäre nun der Damm gebrochen – einmal angefangen zu lachen, konnte ich nicht mehr an mich halten. Laut und ungestüm brach es aus meiner Kehle, ließ sich nicht unterdrücken, nicht einmal die Tränen, die mit einem Mal über meine Wangen rannen, konnten mich bremsen, war das nicht alles unglaublich lustig, urkomisch?

Erst Jordans geschocktes Gesicht sagte mir, dass ich nicht mehr wirklich lachte.

Ich stockte. Und aus dem schallenden, atemlosen Gelächter wurde ein hemmungsloses Schluchzen.

Das war nicht urkomisch, die ganze Situation nicht.

Sie war ein einziger Scherbenhaufen.

Es dauerte eine ganze Zeit, bis der Tränenstrom allmählich versiegte und meine Schultern nicht mehr von halbwegs unterdrückten Heulkrämpfen bebten. Und während all dieser Zeit hielt Jordan mich stumm im Arm und strich mir über den Rücken, langsam, beruhigend.

Einigermaßen gefasst setzte ich mich aufrecht hin, atmete tief durch und lächelte, versuchte das Gefühl von Beklemmung abzuschütteln, das mir nach wie vor fest auf der Brust saß.

„Ich habe wohl deine Bluse ruiniert, entschuldige.“ Der helle, cremefarbene Stoff war durchnässt und von dunklen Bahnen gezeichnet, die mein zerlaufener Mascara verursacht hatte. Mit gerunzelter Stirn sah Jordan an sich herab und wischte meine aufrichtige Zerknirschtheit mit einem lässigen Achselzucken beiseite. „Sei es drum, ist nicht das erste Stück Stoff, das nach einem Besuch bei dir untragbar geworden ist.“

Unwillkürlich musste ich lächeln.

Sie musterte mich mit wachsamem Blick, ich kannte sie gut genug um zu wissen, dass sie innerlich vor Neugierde beinahe umkam und sie nur meine Reaktion vorhin davon abhielt, mit Fragen auf mich einzudringen. Nicht, dass ihr stummer, aber stechender Blick so viel besser war. Sie wartete geduldig und sie würde nicht ohne Antworten gehen.

Ich seufzte also ergeben und strich eine unsichtbare Falte in meinem Shirt glatt.

„Es war schön, denke ich … also zum großen Teil war es das wirklich, irgendwie. Ein schönes, gemütliches Haus, direkt am Strand. Das Meer, das Wetter, alles hat gepasst und war unendlich schön, das Setting hätte nicht besser sein können.“

Ihre Augenbrauen wanderten immer höher in Richtung ihres Haaransatzes. Nervös sog ich meine Unterlippe zwischen die Zähne und kaute darauf herum. Dass sie das nicht zufrieden stellte war nur zu verständlich, doch was genau sollte ich erzählen, was genau DURFTE ich erzählen?

„… und weiter?“, bohrte sie bereits nach, kniff die Augen ein wenig zusammen.

„Ich, also, was genau willst du denn wissen?“ Innerlich verdrehte ich die Augen. Ihre nächsten Worte hatte ich so deutlich auf der Zunge, als hätte ich sie selbst gesagt.

„Verdammt June, manchmal bist du echt selten dämlich. Was ich wissen will, ehrlich, was für eine bescheuerte Frage. Wie war Stefan, wie war der Sex?“

Blut schoss in meine Wangen und Ohren, fühlte sich siedend heiß unter meiner Haut an. Hastig wandte ich den Blick ab, zog die Nase hoch.

Ihr Kichern klang irgendwie ziemlich schmutzig.

„Na also, es gibt also ein paar spannendere Details als ‚Das Wetter war soooo schön und das Meer soooo blau‘. Heraus damit!“ Sie stützte den Kopf auf den Händen ab und blinzelte mich unschuldig an. „Es waren immerhin deine Flitterwochen, Herrgott! Wenn ich da an meine eigenen zurückdenke … Erzähl mir alles, wag es nicht, ein einziges Detail auszulassen. Ich merke das. Du kannst nicht lügen.“

Ihre Augenbrauen wackelten auf und nieder.

„Ist er gut? Vielleicht sogar groß…artig? Wie oft habt ihr es getan und wo, oder wo nicht und warum da nicht? Und wie?“

Meine Hand machte sich selbstständig und legte sich auf ihren unanständigen Mund. Die Hitze in meinem Schädel machte unmissverständlich klar, dass mein Kopf hochrot glühen musste. „Na gut du unverschämte Klatschbase, der Sex war großartig und quasi überall, hab jetzt noch Schmerzen beim Hinsetzen, willst du lieber sowas hören?“

Jordan feixte kurz bevor sie mit der Zunge schnalzte.

„Nicht gerade die farbenfrohe Ausschmückung, wegen welcher ich dich zu mir eingeladen habe, aber der Abend ist ja noch jung und du noch ziemlich nüchtern. Ich werde dir die Details schon noch entlocken. Jetzt zu diesen absolut skandalösen Fotos von dir und diesem attraktiven Hünen – wie nur schaffst du es, dass dir all die heißen Typen zu Füßen liegen?! Ich bin neidisch, nicht zu knapp. Und dieses Bild von dem halbnackten Daniel, ein echtes Sahneschnittchen.“

Sie seufzte verträumt. „Stefan war mit Sicherheit nicht begeistert – wie hat er reagiert, als er die Fotos gesehen hat?“

Angesichts der Erinnerung an Stefans Reaktion ließ sich der kalte Schauder über meinem Rücken nicht vermeiden. Das durfte ich ihr mit Sicherheit doch erzählen, oder? Mein Mund war ohnehin schon drauf und dran ohne auf das Einverständnis meines Verstandes zu warten.

„Er war unglaublich, unfassbar scheißwütend. Um ehrlich zu sein, er hat mir tierische Angst gemacht. Ich habe ihn nie so eingeschätzt. Vermutlich war es mein Glück, dass er etliche hundert Meilen entfernt war – wäre er vor Ort gewesen, hätte ich vermutlich wochenlang nicht sitzen können … und das nicht auf die gute Art und Weise.“

Jordan runzelte die Stirn und kaute nun ihrerseits an ihrer Lippe, eine Eigenschaft, die sie sich zweifelsohne bei mir abgeschaut hatte. „Ich wusste, dass er etwas versteckt unter dieser stoisch-lächelnden Maske, er hat einfach einen zu perfekten Eindruck gemacht. Stefan ist also ein kleiner, fieser Choleriker …“ Sie stockte und starrte mich mit großen Augen an.

„Was genau soll das heißen, er war mehrere hundert Meilen entfernt? Wo genau war er denn bitte?!“

Ich zog unangenehm berührt die Schultern hoch. „Er wurde direkt am Tag nach unserer Ankunft wieder nach Hause in sein Büro zitiert, irgendein großer Fall, in welchem es einen Notfall gab. Er hat mich einige Tage allein gelassen. Und das in unseren Flitterwochen, ist das zu glauben?“

Ihre Augen quollen nun beinahe aus ihrem Schädel.

„Und wenn dein Mann gar nicht vor Ort war, mit wem zum Teufel hattest du dann großartigen Überall-Sex?!“

Oh Scheiße.

Wie hatte ich das nicht kommen sehen können?

Ich riesengroßer Dummkopf. Warum genau konnte ich nicht nachdenken, bevor ich meine große Klappe aufriss? Eine notdürftige Lüge einzuschieben war zu spät, ich sah förmlich die Rädchen in ihrem Kopf auf Hochtouren laufen, während ich sie nur betreten anstarren konnte – dann zeichnete sich mit einem beinahe hörbaren ‚Bing!‘ eine Glühbirne über ihrem Kopf ab.

„Duuuuu verdammtes Luder! Du hast es mit Daniel getan!“ – „Shhhht, sei doch leise!“, ermahnte ich sie hektisch und sah mich gehetzt um, obwohl mir klar war, dass hier niemand sein konnte, der uns hörte.

Und bemerkte so erst recht spät, dass ich nichts tat, um ihre Schlussfolgerung abzustreiten, vielmehr hatte ich sie quasi auf der Stelle bestätigt.

Großartig, ich Held.

„Ich fasse es nicht, meine brave June! Ich bin ja absolut kein Fan von Ehebruch und so, du weißt, meine Eltern haben eine hässliche Scheidung durch, aber wer lässt denn bitte seine Frau in den Flitterwochen sitzen? Noch dazu mit einem so heißen Typ im Haus? Da kann ich schwerlich Mitleid empfinden.“

Ich betrachtete sie aus verengten Augen – solche Worte von ihr? Sie, die vor mir mehrfach gedroht hatte, Jeremy beim kleinsten Verdacht des Ehebruchs aus dem Haus zu werfen und zu überfahren? „Ich bin verwundert – denkst du nicht, dass ich eine Schlampe bin?“

Sie tätschelte meine Hand und lächelte schief. „Meine Liebe, natürlich bist du keine Schlampe. Moralisch ist es natürlich fragwürdig, aber Stefans Verhalten ist ebenfalls alles andere als normal. Ich wusste, dass an der Sache was nicht stimmt. Ich wusste es schon immer. Deine Trauermiene, dein stoisches Schweigen, mein schlechtes Gefühl bei ihm …“ – „Ich dachte, du warst hin und weg von ihm? Selbst du hast dich förmlich überschlagen vor Begeisterung, hast dich so aufrichtig mit mir gefreut, fandest ihn so unglaublich heiß …“, unterbrach ich sie zweifelnd.

Sie schnalzte augenverdrehend mit der Zunge.

„Um dir einen Gefallen zu tun. Du warst aus irgendeinem Grund so tief in der ganzen Sache, bist es immer noch, dass ich felsenfest davon überzeugt war, dass kein Wort meinerseits dich von deinem Weg abbringen würde, beste Freunde hin oder her. Zu dem Zeitpunkt war ich mir sicher, dass du eine beste Freundin, die in allem hinter dir steht und dich unterstützt, viel mehr gebrauchen kannst, als eine zickige Diva, der du nichts rechtmachen kannst. Ich hab gewartet – dir zuliebe, und du weißt, wie verdammt schlecht ich im Warten bin.“

Oh meine liebe Jordan …

Ich gab dem Bedürfnis nach, diesen wundervollen Menschen in meine Arme zu schließen. Wie konnte ich nur den Fehler begehen, sie zu unterschätzen. Sie löste sich rasch und griff nach meinen Händen, sah mich ernst an.