Supposed to be Love - Madelaine Harder - E-Book

Supposed to be Love E-Book

Madelaine Harder

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Beschreibung

Shaded Hearts: Dark Romance im Slow Burn Style Wie weit würdest Du gehen, um zu retten, wen Du liebst? Würdest du diesen einen – dir im Grunde fremden – Mann heiraten? Und dir damit jede Chance auf eine ehrliche, gegenseitige Liebe nehmen? Zu einer Spielfigur in einem Spiel werden, das du nicht beherrschst? Immer hin- und hergerissen zwischen zwei Männern, zwischen Pflicht und Gefühl, zwischen Leben und Überleben – wie würdest du dich entscheiden? Fragen über Fragen, auf die June Warden keine Antwort weiß, bis sie sich einfach blindlings in das Abenteuer stürzt, das ihr Leben zu sein scheint. Und selbst dann sind da tausende Schattierungen zwischen Leiden und Leidenschaft, schwarz und weiß, richtig und falsch, gut und böse … Eine emotionale Achterbahn voller Intrigen inmitten der High Society, die Grenzen zwischen Liebe und Pflicht verschwimmen lässt. Mit der nexx edition bringen wir Bücher in die Welt – ohne Umwege, vom Autor direkt zum Leser. Erleben Sie diese besonderen Bücher und entdecken Sie ihre faszinierenden Geschichten für sich! nexx edition – WIR BRINGEN BÜCHER IN DIE WELT

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Madelaine Harder

Supposed to be Love

Roman

Madelaine Harder

Supposed to be Love

Roman

ISBN/EAN: 978-3-95870-691-0

1. Auflage

Umschlaggestaltung: nexx verlag, Bilder: Madelaine Harder

© nexx verlag gmbh, 2023

www.nexx-verlag.de

Liebe besitzt nicht. Ist es Besitz, ist es keine Liebe.

Prolog

W

as wäre die eine Sache, die du tun würdest, wenn du keine Konsequenzen zu fürchten hättest?

Was würdest du tun, wenn dir ein Mal, nur ein einziges Mal, die Meinung von anderen Personen absolut egal wäre?

Du auf die Missbilligung deiner Freunde, deiner Familie verzichten könntest?

Wenn du dir dieses eine Mal nicht selber im Weg stehen würdest, gebunden an gesellschaftliche Konventionen, an Werte, die dir förmlich schon in die Wiege gelegt wurden? Normen, die du dir nicht selbst ausgesucht hast?

Was würdest du ausprobieren, wenn du die Angst zu scheitern hinter dir lassen könntest, nur ein einziges, verdammtes Mal?

Ich für meinen Teil, ich weiß es ganz genau.

Nur kann ich genau diese eine Sache nicht tun.

Weil ich damit nicht nur mein Leben aufs Spiel setzen würde, sondern auch das des Mannes, den ich liebe.

Kapitel 1

I

ch ziehe die Nase hoch und versuche nicht zu weinen. Mami mag es nicht, wenn ich weine. Dann schreit sie. Manchmal muss ich dann noch mehr weinen.

Mami schreit sehr oft.

Ich habe Schokoeis gegessen, das mir Daddy gegeben hat. Es ist lecker. Ein Tropfen ist auf mein T-Shirt gefallen. Es ist ein weißes T-Shirt. Der Fleck ist braun und sehr groß.

Ich weine. Mama wird sehr böse sein. Sie wird mich anschreien. Das macht mir Angst.

Vielleicht sage ich es ihr nicht.

Vielleicht sage ich es nur Daddy.

Das ist gut.

Daddy schreit nie.

Ich laufe zu Daddy. Er sitzt auf dem Sofa und liest Zeitung.

„Daddy“, will ich sagen, aber plötzlich ist Mami da. Sie schaut sehr böse. Meine Lippe zittert. Gleich wird sie schreien.

„Es tut mir leid Mami“, will ich sagen. Aber ich kann nicht.

„Du unnützes Ding!“, schreit Mami.

Ich bin kein Ding.

Ich bin ein Mädchen.

Mami nennt mich oft Ding, das macht mich traurig.

„Verdammt, schon wieder ein T-Shirt ruiniert. Ich sollte dir einen Sack anziehen und mit einer Kordel festbinden! Ist es zu viel verlangt, auf deine Sachen aufzupassen, kannst du nicht einmal lieb sein?“

Sie ist laut.

Die Ohren tun mir weh.

Sie macht einen Schritt auf mich zu, hält die Hand hoch.

Ich mache einen Schritt zurück.

Bitte Mami, hau mich nicht. Es war keine Absicht.

Ich gucke zu Daddy.

Er schaut traurig, aber er sagt nichts.

Daddy sagt nie etwas. Daddy lässt Mami immer machen.

Und dann tut Mami mir weh.

Meine Backe brennt.

Ich weine.

Mami tut mir oft weh. Ich weiß nicht immer warum.

Ich bin vier Jahre alt.

♔♕♖♗♘♙

Franziska malt mit Wasserfarben. Sie streckt immer die Zunge raus, wenn sie sich anstrengt, das finde ich lustig. Mache ich das auch?

Franziska ist meine beste Freundin.

Sie malt Schmetterlinge auf viele Karten, es sind fünf. Nein, sechs. Ich kann schon bis zwanzig zählen, aber manchmal verrutschen die Zahlen in meinem Kopf.

Schmetterlinge sind Franziskas Lieblingstiere.

Vielleicht sind es auch meine Lieblingstiere.

Ich gehe zu ihr.

„Was machst du da?“

„Ich bastle Karten. Ich habe morgen Geburtstag und meine Mama sagt, ich darf meine Freundinnen einladen, damit sie bei uns schlafen.“

Oh, das klingt nett, denke ich, dann sage ich es auch laut.

Ich würde auch gerne bei Franziska übernachten.

Ob eine Karte wohl für mich ist?

Irgendwie traue ich mich nicht zu fragen.

Warum ist das so?

Das ist doch komisch.

Franziska ist meine Freundin. Vor ihr muss ich keine Angst haben.

„Darf ich auch kommen?“ Meine Stimme klingt ganz piepsig.

Franziska hört auf zu malen und guckt mich an.

Sie guckt ganz komisch.

„Mama sagt, ich soll dich nicht fragen.“

Das verstehe ich nicht. Es macht mich sehr traurig.

„Warum sollst du mich nicht fragen?“

„Mama sagt, deine Mama sagt sowieso nein.“

Daran habe ich gar nicht gedacht. Mama mag meine Freundinnen nicht. Ich darf nie bei ihnen übernachten.

Aber vielleicht darf Franziska ja zu mir?

„Magst du mal bei mir schlafen?“

Franziska hört wieder auf zu malen. Sie legt den Pinsel weg und steht auf. Sie schaut mich nicht an.

„Ich möchte nicht zu dir kommen. Deine Mama macht mir Angst. Sie guckt immer böse. Meine Mama sagt, dass deine Mama Kinder haut. Ich möchte nicht gehauen werden.“

Franziska läuft weg.

Ich glaube, sie ist nicht mehr meine Freundin.

Ich bin traurig.

Ich bin sechs Jahre alt.

♔♕♖♗♘♙

Mama guckt seltsam. Irgendwie zufrieden. Freut sie sich?

Sie sitzt auf dem Sofa, die Beine überschlagen. Sie sieht sehr schön aus. Sie sieht immer sehr schön aus. Auch wenn sie böse schaut. Und sie schaut immer böse.

Aber jetzt nicht.

Sie lächelt.

Mir wird kalt am Rücken, wenn Mama lächelt ist etwas faul.

„Ich habe mir etwas ganz Besonderes für diesen Tag überlegt“, sagt sie. Ihre Stimme ist anders, irgendwie weich. Sie redet sonst nie so nett mit mir.

Vielleicht hat sie ja mein gutes Zeugnis gesehen? Vielleicht bekomme ich eine Belohnung?

„Mir geht richtig das Herz auf. Ich wollte das schon viel früher tun, aber Ethan ist immer so zurückhaltend, so lästig. Aber das ist mir nun egal – ich habe auch eine kleine Aufheiterung verdient nach dieser Woche.“

Das klingt nicht so, als wäre sie stolz auf mich.

„June, ich freue mich außerordentlich, dir endlich sagen zu können, dass du nicht meine Tochter bist. Und auch nicht Ethans. Du bist adoptiert. Wir haben dich im Krankenhaus ausgesucht, nachdem deine richtige Mutter dich nicht wollte – sie hatte offenbar einen besseren Riecher als ich.“

Ich verstehe.

Ich verstehe nicht.

„Aber du bist doch meine Mama.“

Sie verdreht die Augen.

„Bist du dumm oder taub? Oder beides? Gott behüte. Ich bin nicht deine Mutter. Du bist nicht mir aus dem Bauch gekrochen, sondern aus dem irgendeiner Crackhure, die sich dann einen feuchten Dreck um dich geschert hat. Ich ziehe dich nur auf, warum auch immer ich mir diese Last aufgebürdet habe. Mütterliche Liebe – so ein Schwachsinn. Niemand hat dich lieb. Niemand. Wie kann man einen solchen Trampel auch liebhaben?“

Sie seufzt.

Ich verstehe.

Ich verstehe nicht.

Sie ist nicht meine Mama.

Daddy ist nicht mein Papa.

Wer bin ich dann?

Ich bin eine Belastung. Sie sagt oft, dass ich eine Last bin.

Sie sagt, sie wäre ohne mich besser dran.

Ich schäme mich. Ich will nicht, dass sie wegen mir wütend ist.

„Tut mir leid, dass ich geboren bin“, sage ich. Das meine ich wirklich. Wäre ich nicht da, würde es allen bessergehen.

Vielleicht heitert sie das auf, dass ich das sage.

Aber sie sagt nichts, guckt nicht mal.

Sie nickt nur.

Ich gehe in mein Zimmer. Der Kopf dreht sich mir. Ich bin oft in meinem Zimmer, die Nicht-Mama sperrt mich hier ein, wenn ich etwas Böses gemacht habe.

Ich mache oft etwas Böses.

Gestern bin ich hingefallen und habe dabei meine Hose kaputt gemacht.

Erst heute Morgen hat mich die Nicht-Mama wieder aus dem Zimmer gelassen.

Ich gucke mich um.

Ich fühle mich komisch.

Da stehen meine Seifenblasen.

Mama – die Nicht-Mama meine ich – hat gesagt, man darf kein Seifenblasenwasser trinken, weil man davon stirbt.

Ich nehme die Flasche.

Vielleicht will ich sterben.

Vielleicht will die Nicht-Mama, dass ich sterbe.

Vielleicht geht es ihr besser, wenn ich nicht da bin.

Ohne viel zu überlegen trinke ich das Wasser.

Es schmeckt sehr schlecht, viel schlimmer als kalter Tee.

Ich muss husten, trinke aber trotzdem alles.

Dann setze ich mich auf mein Bett.

Wie lange dauert sterben?

Es klopft an der Tür, Daddy – ich meine, der Nicht-Daddy – kommt rein.

Er sieht traurig aus.

Er sieht immer traurig aus.

Er setzt sich neben mich. Er weint. Warum weint der Nicht-Daddy?

„June, ich weiß, was deine Mutter zu dir gesagt hat. Und ich möchte, dass du weißt, dass sie nicht recht hat. Ich habe dich lieb, mein Kleines. Ich habe dich unendlich lieb, als wärst du meine eigene Tochter. Du bist meine eigene Tochter. Etwas Anderes darfst du nie denken.“

Er nimmt mich in den Arm.

Ich mag es sehr, wenn er das tut. Es fühlt sich so gut an. Ich kann sein Herz schlagen hören. Und ich weiß, dass er die Wahrheit sagt. Er ist mein Nicht-Daddy, aber er ist mein Daddy und ich hab ihn lieb. Und er hat mich lieb.

Ich denke, ich möchte nicht sterben.

Ich möchte bei Daddy bleiben.

Ich bin acht Jahre alt.

♔♕♖♗♘♙

Alison kommt in mein Zimmer.

Ich nenne sie jetzt nur noch Alison, aber nur, wenn ich alleine bin.

Zu ihr sage ich weiter Mama oder Mutter. Sie wird sonst wütend und beschimpft mich.

Beim ersten Mal hat sie mich geschlagen.

Ich hasse es, wenn sie mich schlägt. Es tut jetzt nicht mehr so weh wie früher, weil ich größer bin. Aber es tut weh.

Sie lächelt.

Nicht auf die gute Art. Es ist die Art, die mir Angst macht.

Ich kenne niemanden, der Angst vor seiner Mama hat. Aber ich habe Angst. Ich weiß, dass sie schlimme Dinge machen kann, schlimme Dinge schon gemacht hat.

Einmal hat sie mich mit einem Kochlöffel geschlagen, als sie gemerkt hat, dass mir ihre Hand nicht mehr so weh tut.

Dann hat sie mir den Kochlöffel auf das Kopfkissen gelegt, als ich geschlafen habe.

Sie wollte damit sagen, dass ich besser artig bin.

Ich bin artig. Ich kann gar nicht anders.

Aber es ist nie genug.

Ich bin nie genug.

Ich will nur einmal genug sein …

Sie hat ein Blatt in der Hand. Sie legt es neben mich auf den Schreibtisch.

„Was ist das?“, traue ich mich zu fragen. Ich mag es nicht, wie dünn und hoch meine Stimme ist, wenn ich mit Alison rede.

Aber das macht die Angst. Ich kann nicht anders.

„Das, das ist nur ein neues Spiel.“ Sie lächelt wieder.

Mir läuft es kalt den Rücken runter.

Ihre Spiele sind nicht lustig.

Ich werfe einen Blick auf das Blatt.

Es stehen Aufgaben darauf. Staubsaugen, Hausaufgaben machen, Toilette putzen, Staub wischen und so weiter. Es sind viele Aufgaben.

Dahinter stehen Zahlen.

Ich runzle die Stirn.

Alison seufzt. Sie hält mich für dumm. Sie sagt oft, dass ich ein sehr dummes, ungehorsames Kind wäre.

Bin ich das? Ich schreibe gute Noten, gehöre zu den Besten. Aber sie nennt mich dumm.

Ich verstehe das nicht.

Vielleicht bin ich deswegen dumm.

„Für jede Aufgabe, die du erledigst, erhältst du ein paar Punkte. Du musst jeden Tag 25 Punkte erreichen. Schaffst du das nicht …“

Sie lächelt und geht zur Tür.

Ein Frosch sitzt in meinem Hals.

„Was, wenn ich das nicht schaffe?“, meine Stimme klingt wie ein quengelndes Kind.

Sie dreht sich nochmal um. Ihr Blick ist so kalt und böse.

„Die fehlenden Punkte arbeiten wir dann auf deinem Hinterteil ab, wenn du mich verstehst. Vielleicht bringt dir das endlich den nötigen Gehorsam bei.“

Sie legt den Kopf schräg. „Nimm es nicht so schwer, wenn zu viele Punkte fehlen kannst du dich auch für die härteren Schläge entscheiden, dann machen wir nur die Hälfte.“

Sie geht.

Ich bin alleine.

Ich starre auf die Liste.

Das ist ein gemeines Spiel, das gemeinste, das sie je gemacht hat. Was, wenn ich das nicht schaffe?

Ich will keine Strafe, keine Schläge.

Ich bin gut.

Ich bin genug.

Nur nicht für Mama.

Ich bin zehn Jahre alt.

♔♕♖♗♘♙

Alison ist weg. Sie ist auf Kur – was immer das bedeutet. Von was auch immer sich diese Frau erholen muss – sie tut schließlich nichts.

Außer schreien und wüten und allen schlechte Laune bereiten.

Vielleicht ist das auch anstrengend und ich verstehe es nur nicht.

Ich muss kichern.

Ich habe schon lange nicht mehr gekichert, schließlich habe ich hier nicht viel zu lachen.

Es fühlt sich gut an.

Ethan, mein Dad, hebt den Kopf und schaut mich an, seine Augen funkeln vergnügt.

Er sieht so viel jünger aus, seit Alison weg ist.

„Was freut dich so, Kleines?“, fragt er, ich kann das Lachen in seiner Stimme hören.

Auch er hat schon lange nicht mehr gelacht.

Er ist immer unglücklich, wenn Alison in der Nähe ist.

Warum ist er noch hier?

Bevor ich darüber nachdenken kann, habe ich diese Frage laut gestellt.

Ich bereue es sofort, sein Lächeln verschwindet und seine Augen werden wieder so düster, wie sie es immer sind.

Es tut mir leid.

Ich wollte dich nicht verletzten, Daddy.

Ich will mich gerade entschuldigen, als er mich wieder anguckt, in seinen Augen schimmern Tränen.

„Liebe ist kompliziert, mein Kleines.“

Ich runzle die Stirn. Liebe ist doch einfach, entweder man fühlt etwas oder man fühlt nichts.

Aber ich sage nichts. Also redet er weiter.

„Deine Mutter war nicht immer so. Sie war einmal die schönste, liebste Frau der Welt, sie hat jeden verzaubert, wenn sie nur den Raum betreten hat. Ich habe mich sofort in sie verliebt, jeden Tag ein Stückchen mehr. Ich werde nicht weggehen von ihr. Ich kann nicht weggehen …“

Er sieht so niedergeschlagen aus, dass ich ihn einfach in den Arm nehmen muss.

Das ist normal.

Ich tröste ihn oft.

Er tröstet mich auch, wenn Alison nicht in der Nähe ist.

Wir geben uns gegenseitig Halt.

Ich bin froh, dass er noch da ist, mich nicht mit ihr alleine lässt.

„Aber du bist nicht glücklich“, sage ich.

Er lacht, aber es klingt nicht froh.

„Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass Liebe mit Glück nicht das Geringste zu tun hat. Sonst wäre ich tatsächlich nicht hier.“

Er streicht mir über den Kopf.

„Immerhin habe ich dich. Ich liebe dich. Und ich bin glücklich mit dir. Das heißt doch auch etwas, oder?“

Ich lächle. „Ich liebe dich auch, Daddy. Für immer.“

Das Lächeln erreicht seine Augen nicht, er schaut in die Ferne.

„Ein Glück, dass du da bist, Kleines. Sonst wäre ich es vielleicht nicht mehr.“

Er murmelt es, vielleicht weiß er gar nicht, dass er es laut gesagt hat. Und ich bin alt genug um zu verstehen, was er meint.

Ich packe seine Hand ganz fest und verspreche ihm lautlos, ihn nie alleine zu lassen. Immer für ihn da zu sein. Ich lasse nicht zu, dass er „geht“.

Mein Papa ist ein guter Mann. Der Beste, den ich kenne.

Er verdient Glück.

Ich war bis jetzt nie genug.

Nie gut genug.

Aber vielleicht kann ich für Daddy genug sein.

Vielleicht kann ich ein bisschen Glück für ihn sein.

Ich bin zwölf Jahre alt.

♔♕♖♗♘♙

– 13 Jahre später –

Es fiel mir überraschend leicht, einfach nur mit leicht erhobener Augenbraue zu lächeln, während Alison, meine Mutter, hinter mir stand und völlig entnervt versuchte, aus meinen Haaren etwas zu formen, das sie selbst als Frisur anerkennen konnte.

Sie hasste meine Haare.

Wie so ziemlich alles an mir.

Oft genug ertappte ich sie dabei, wie sie mein Gesicht, meinen Körper mit herablassend hochgezogener Augenbraue musterte und dann den Kopf schüttelte.

Meine Mutter empfand mein Erscheinungsbild als überaus durchschnittlich.

Nicht direkt abstoßend, aber auch nicht wirklich anziehend.

Während mich dieses Wissen früher mit Schmerz und Scham erfüllt hatte, so hätte ich jetzt am liebsten darüber gelacht – doch tatsächlich zog die Hexe hinter mir so fest an meinen Haaren, dass sämtliche meiner Gesichtsmuskeln bis zum Zerreißen gespannt waren.

Ich konnte es ihr nachsehen, schließlich fielen meine dunkelblonden Haare dicht und schwer bis zur Mitte meines Rückens und ließen sich selbst von mir nur selten in eine Frisur zwängen.

Ohne auf die wahrhaft abenteuerlichen Worte zu achten, die zwischen Alisons zusammengebissenen Zähnen hervorgestoßen wurden, betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel.

Es stimmte zwar, dass ich mich nicht durch eine großartige Schönheit auszeichnete und niemals vom Deckblatt einer Zeitschrift herunter lächeln würde, doch unangenehm anzusehen war ich definitiv auch nicht.

Mein Gesicht wies eine typische, wenn auch etwas aus der Mode gekommene, Südstaatenschönheit auf – die Züge waren ein wenig grob, die Lippen dafür gleichmäßig und relativ schmal, die Nase kurz und gerade, die Augen groß und hell. Einzig meine hochangesetzten Wangenknochen pflegte Alison lobend zu erwähnen, doch im Ernst – wer zur Hölle achtete im 21. Jahrhundert auf Wangenknochen?

Im Gegenzug schimpfte sie über meine kleinen Brüste, meine schmalen Hüften und meinen kaum vorhandenen Hintern – war es denn meine Schuld, dass sämtliche Social-Media-Kanäle mit derart abstrakten Schönheitsidealen zugepflastert waren, dass jedes normale Mädchen unwillkürlich Depressionen und mindestens eine Form der Essstörung bekam?

Ich wollte damit keinesfalls behaupten, dass ich von diesem medialen Druck verschont blieb, ganz im Gegenteil verzweifelte ich mit Regelmäßigkeit angesichts meines Spiegelbildes. Dennoch war mir klar, dass ich es in der genetischen Lotterie definitiv hätte schlechter treffen können.

Ein Hoch auf meine leiblichen Eltern, wer auch immer sie waren.

„Kannst du endlich stillsitzen?! So wird das hier nichts!“, unterbrach Alison meine Gedanken mit unglaublich greifbarer Gereiztheit in der Stimme.

Mit einem Anflug von Trotz kniff ich die Augen zusammen und funkelte sie über den Spiegel hinweg an.

„Ich habe nicht einen Muskel bewegt!“

Sie plusterte die Wangen auf und warf mir ihren berüchtigten Blick zu, bevor sie empört nach Luft schnappte, als ich es wagte, ihr das Wort abzuschneiden.

„Und überhaupt, was tun wir hier eigentlich? Denkst du nicht, dass ich durchaus alt genug bin, um mich selbst anzuziehen? Ich halte fünfundzwanzig für ein durchaus respektables Alter, um mir die Verantwortung für derlei Aufgaben zu übertragen.“

Ich wusste nicht, wer erstaunter dreinschaute, sie oder ich.

Zwar hatte ich durchaus ein gewisses Selbstvertrauen aufgebaut, dennoch vermied ich es, meiner Mutter zu widersprechen oder mich allzu ungehorsam zu zeigen.

Die zornig zuckende Augenbraue in Alisons Gesicht unterrichtete mich davon, dass sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte.

Betont langsam und mit überraschend beherrschtem Gesicht legte sie die Haarbürste beiseite und stand auf.

„Wir gehen in zwei Stunden. Wenn du bis dahin nicht fertig bist, dann Gnade dir Gott. Und mit fertig meine ich, dass du verdammt nochmal das Beste aus deinem mittelmäßigen Äußeren machen wirst, hast du das verstanden?“

Ausdruckslos starrte ich sie an, erwartete sie auf diese unverhohlenen Beleidigungen tatsächlich eine Antwort?

Ihr Knurren erinnerte mich bildhaft an eine große, sabbernde Dogge, der man den Knochen entwendet hatte.

„Ich habe gefragt ob du mich verstanden hast, June. Bist du taub?“

Ich kannte diesen Unterton in ihrer Stimme, diese mühsam unterdrückte Wut, die sich langsam brodelnd ihren Weg an die Oberfläche suchte.

Besser, der Mount Alison brach woanders aus und stürzte dort alle Anwohner ins Unglück.

Also schenkte ich ihr ein knappes Nicken, welches sie schnaubend zur Kenntnis nahm.

Bevor sie die Tür schloss, warf sie mir noch einen letzten Blick zu, der vor Gehässigkeit nur so triefte.

„Gib dir Mühe. Wenn alles glatt läuft, finden wir heute Abend endlich einen Dummkopf, der sich dazu herablässt, dich zu heiraten. Entweder das, oder ich setze dich eigenhändig auf die Straße. Ich werde dich definitiv nicht noch ein Jahr hier durchfüttern. Dass du dich nicht schämst, deinem Vater und mir immer noch auf der Tasche zu liegen.“

Der Knall der Tür ließ meine Fenster scheppern.

Hasserfüllt starrte ich die geschlossene Tür an und versuchte die Tränen zu unterdrücken.

Immer wenn ich dachte, mich gut unter Kontrolle zu haben, schaffte sie es, ein Loch in meine Mauer der Gleichgültigkeit zu reißen.

Als ob es meine Schuld war, dass ich immer noch in dieser Hölle feststeckte! Würde es nach mir gehen, wäre ich bereits seit Jahren nicht mehr Teil dieser fragwürdigen Familie.

Doch die Angst davor, dass mein Vater dieser Frau allein ausgeliefert war, hatte mich bisher zurückgehalten.

Nicht, dass es nicht genügend Möglichkeiten gegeben hätte.

Nachdem ich meinen High-School-Abschluss mit Bravour gemeistert hatte, bewarb ich mich umgehend an sämtlichen Universitäten des Landes, studierte Kunst an einer der renommiertesten Einrichtungen und war drauf und dran, nie mehr nach Hause zurück zu kehren, nie wieder auch nur einen Blick zurück zu werfen.

Und doch fand ich mich nahezu sofort nach meinem Studium wieder hier ein.

Nach dem Vorfall.

Mein Vater schwört mir bis heute Stein auf Bein, dass es ein Unfall war, dass er lediglich beim Kochen mit dem Messer unglücklich abgerutscht war, aber ich erkannte das Muster an seinem Handgelenk.

Körperlichen Schmerz erzeugen, ihm dem seelischen entgegenzusetzen, der Klassiker schlechthin.

Die Narben an meinen eigenen Gliedmaßen waren über die Jahre verblasst, doch ich wusste, dass sie noch da waren.

Ich wusste, wie nah der Abgrund war, wie verlockend die Aussicht war, einfach zu springen und sich um nichts mehr Gedanken machen zu müssen.

Und mir wurde klar, dass mein Vater mich noch brauchte. Dass ich für ihn stark sein musste.

Also nahm ich eine kleine Stelle in einem städtischen Museum an und blieb Zuhause wohnen, wo ich ein Auge auf ihn haben konnte – wenngleich dies bedeutete, weiterhin der Schikane meiner Mutter ausgesetzt zu sein.

Sie warf mir seither vor, sie müsse mich durchfüttern. Natürlich verdiente ich nicht das große Geld, da ich lediglich als Springer für die eigentlich angestellten Gruppenführer fungierte, doch gab ich davon stets meinen Teil zur Haushaltskasse dazu.

Was Alison nicht mit einem netten Wort würdigte, im Gegenteil.

Mit einem Anflug von Selbstmitleid verfluchte ich mein weiches Herz und schlang meine Haare zu einem extravaganten Knoten, den ich mit gefühlten dreihundertvierundzwanzig Spangen hochsteckte.

„Zeige deinen schönen Hals und deine Schlüsselbeine, Männer mögen so etwas“, hörte ich die nasale Stimme von Alison in meinem Kopf tönen.

Natürlich musste sie so etwas wissen, schließlich sonnte sie sich regelmäßig in der Anerkennung und Bewunderung von Männern, die nicht mein Vater waren.

Mit wenigen, geübten Bewegungen legte ich ein dezentes Make-Up auf, wie ich es jeden Tag trug und betrachtete mein Gesicht. Es unterstrich meine Vorzüge, doch herausstechen würde ich damit nicht.

Angesichts der Worte meiner Mutter entschied ich mich seufzend dagegen, obwohl ich mich so am wohlsten fühlte und griff zu einem dunkleren Lidschatten und einem auffälligeren Lippenstift.

Wenn meine Mutter wollte, dass ich auffiel, konnte sie das haben.

♔♕♖♗♘♙

Man konnte tatsächlich mit viel Fantasie so etwas wie Respekt in Alisons Augen erkennen, als sie elegant die Treppe heruntergeschwebt kam, ganz die Dame, die sie gern sein wollte, jedoch einfach nicht war.

„Du siehst mich beeindruckt June. Warum nicht gleich so. Muss man dir erst drohen, damit du von dir aus etwas unternimmst?“

Ich verzog halbherzig die Mundwinkel.

„Danke. Du siehst ebenfalls so einnehmend aus wie immer.“

Gerne würde ich behaupten, dass dies eine Lüge war – doch meine Mutter war eine unglaublich schöne Frau und pflegte dies auch immer richtig zu unterstreichen. Das helle, blonde Haar fiel ihr gelockt um das trügerisch-sanfte Gesicht, der mädchenhaft schlanke Körper wurde von einem knappgeschnittenen Kleid umhüllt, welches mehr zeigte als verdeckte.

Kopfschüttelnd drehte ich mich um und betrachtete mein eigenes Spiegelbild.

Gegen diese direkte Kampfansage an die städtischen Huren sah mein eigenes Kleid nahezu unscheinbar brav aus, dennoch wusste ich, dass ich mit dem dunkelblauen Samt, der mir bis zu den Knien fiel, die bessere Wahl getroffen hatte.

Bevor noch ein weiteres Wort fallen konnte, erschien mein Vater mit einem entschuldigenden Grinsen im Türrahmen.

„Wie könnt ihr nur stundenlang im Bad stehen und trotzdem vor mir fertig sein? Es ist mir ein Rätsel“, scherzte er, dann musterte er mich bewundernd. „Du siehst unglaublich schön aus, June.“

Ich strahlte ihn an und bedankte mich, meine Laune hob sich schlagartig.

Ein genervtes Seufzen unterbrach uns.

„Ihr seid zuckersüß. Und wir sind bald zu spät. Können wir endlich gehen?“

Mit der Kälte in ihrer Stimme hätte man Suppe schockfrosten können.

Das Lächeln meines Vaters verschwand und er nickte mit resigniertem Gesicht, bevor er Alison die Tür öffnete und sie die Stufen hinunter zum bereits wartenden Wagen geleitete.

♔♕♖♗♘♙

„Stefan Volkan wird heute Abend anwesend sein. Du hast sicher von ihm gehört?“, unterbrach Mutter die angespannte Stille im Auto und musterte mich mit undurchdringlicher Miene.

Ich konnte mir einen Hauch von Sarkasmus in meiner Antwort nicht verkneifen.

„Nun, wir fahren zu einer Veranstaltung, die quasi ihm zu Ehren veranstaltet wird, schließlich ist er der Staranwalt schlechthin und hat einen gewaltigen Fall gewonnen. Außerdem ist sein Gesicht nahezu ununterbrochen auf dem Cover von jedem Magazin, das im Handel erhältlich ist, jeder Schritt, den dieser Mann tut, wird dokumentiert und für die einfachen Massen aufbereitet. Gehst du also tatsächlich davon aus, seine Existenz wäre mir bisher verborgen geblieben?“

Ihr Blick wurde einen Tick giftiger.

„Ein einfaches ‚Ja‘ hätte gereicht, Kind. Hoffentlich ist dein heutiges Pensum an Widerspenstigkeit damit aufgebraucht und du begegnest ihm nachher mit dem gebührenden Respekt.“

Ich schnaubte.

„Natürlich Mutter, sollte sich der begehrteste Junggeselle des Staates, vermutlich des ganzen Landes, an den sabbernden, ihn vergötternden Gören, die ihn überallhin verfolgen, vorbei zu mir verirren, dann werde ich ihm mit ausgesuchter Höflichkeit, bestechendem Wortwitz und geistreichen Antworten betören, bis er nicht anders kann, als euch um meine Hand zu bitten.“

Zufrieden nickte Alison.

„So habe ich mir das vorgestellt. Etwas weniger Sarkasmus und trag nicht zu dick auf, aber gib dir Mühe. Wenn du ihn dir angeln kannst, werden dein Vater und ich ausgesprochen zufrieden mit dir sein.“

Konnte das die Möglichkeit sein? Hatte diese verrückte Frau vergessen, dass wir nicht mehr im finsteren Mittelalter lebten, ich mir keinen Mann angeln musste, wenn ich nicht wollte, und dieser auch nicht von hohem Stand sein musste, um meine Eltern zu beeindrucken?

Es fehlte nur noch eine dicke Katze auf ihrem Schoß und ein Mantel aus Dalmatiner-Fellen und sie war die perfekte Hexe für den nächsten Walt Disney-Film.

Ich warf meinem Dad einen ungläubigen Blick zu, doch er zuckte nur unbeholfen mit den Schultern.

Von ihm war in solchen Sachen niemals Hilfe zu erwarten, niemals würde er sich gegen seine Frau stellen.

Wunderbar.

Verschnupft drehte ich mich von meinen Eltern weg und starrte aus dem Fenster, versuchte, meinen wirbelnden Gedanken Einhalt zu gebieten.

Wie gern hätte ich die Worte meiner Mutter als bedeutungslosen Scherz abgetan, doch ich wusste, dass sie mit solchen Dingen niemals scherzte.

Das Ansehen meiner Familie floss hauptsächlich aus dem Vermögen, über welches wir verfügten – das waren die mittelalterlichen Zustände, die mich fast noch mehr entsetzten.

Alison lag unglaublich viel daran, zur gehobenen Gesellschaft zu gehören, nur Kleidung und Schmuck zu tragen, die sich eine hart arbeitende Mittelschicht niemals leisten konnte – natürlich ohne selbst einen Finger dafür zu rühren.

Dies ließ sie bislang schön meinen Vater erledigen.

Dessen Unternehmen war jedoch vor einigen Monaten von einem raffinierten Konkurrenten ausgebootet worden, der die gesamte Branche im Sturm erobert hatte und vor nichts zurückschreckte, um seinen Einfluss und seinen Gewinn zu vergrößern.

Noch ließ meine Familie sich das nicht anmerken, doch ich wusste, dass wir für viele unserer geschätzten Bekannten auf dem absteigenden Ast saßen.

Und hier kam ich ins Spiel, zumindest, wenn es nach dem Willen meiner Mutter ging.

Ganz wie in längst vergangenen Tagen plante sie, mich an einen wohlhabenden Mann zu verschachern und mit dessen Geld die eigenen Taschen zu füllen – und vielleicht meinen Vater zu unterstützen, auf dass dieser sein Geschäft wieder zum Laufen bringen konnte.

Da passte ein wohlhabender Anwalt natürlich perfekt in ihren Plan.

Ich grinste in mich hinein.

Nun, wenigstens hier würde ich ihr einen Strich durch die Rechnung machen können.

Ich hatte von Stefan gehört, natürlich – ein überaus attraktiver, kluger Mann, der dies stets zu seinem Vorteil einzusetzen wusste, vor allem, wenn es um das Betören schöner Frauen ging.

Andauernd war er in Begleitung der hübschesten Fräuleins, aber niemals öfter als einmal mit derselben Dame. Er wurde ihrer wohl recht schnell überdrüssig – vermutlich gab es für ihn zu viel zu entdecken, als dass er sich in so jungen Jahren schon festlegen wollte.

Ein Macho-Arschloch durch und durch.

Mein Glück war, dass ich definitiv nicht attraktiv genug war, um in sein Beuteschema zu passen. Er würde mich ansehen und innerhalb eines Sekundenbruchteils zu dem Schluss kommen, dass ich nicht einmal einen harmlosen Flirt wert war.

Auch wenn es seltsamerweise schmerzte, das zu wissen, entlockte der Gedanke mir doch auch ein leichtes Kichern – da konnte ich mich noch so sehr anstrengen und alles tun, was Alison von mir verlangte, doch am Ende würde es auf das Gleiche hinauslaufen und unser Geld und Ansehen weiter schwinden.

Nicht, dass ich darauf Wert legte.

Oder mein Vater.

Wir wussten, dass Geld nicht glücklich machte und es im Leben auf Werte ankam, die es nicht zu kaufen gab.

Aber meine Mutter in Klamotten von No-Name-Herstellern?

Unvorstellbar!

Skandalös!

Was sollten ihre Freunde dazu sagen?

Mein Freundeskreis ließ sich Gott sei Dank an einer Hand abzählen und bestand aus Menschen, denen ich am Herzen lag. Die zweifelhaften Vorteile, die es mit sich brachte, wenn man mit June Alice Warden befreundet war, spielten dabei eine recht geringe Rolle.

„So amüsiert, mein Kind? Willst du mich nicht an deiner Belustigung teilhaben lassen?“, hakte Alison mit einem Hauch von Neugier nach.

Mein Lächeln verschwand.

„Ach, ich denke nur darüber nach, was ich Stefan sagen werde, wenn er mich tatsächlich anspricht.“

Sie lächelte beinahe gütig.

„Wie eifrig du bist! Das ist schön. Endlich nimmst du deine Aufgabe ernst – ich hatte schon befürchtet, du stellst dich wieder wie der letzte Bauerntrampel an und verdirbst uns allen den Abend mit deinem peinlichen Auftritt.“ Sie erhob drohend einen Zeigefinger. „Ich habe dieses Mal keine Bedenken, dich an den Haaren aus dem Saal zu zerren, solltest du versuchen, diese Familie zum Gespött des Abends zu machen.“

„Wann habe ich jemals etwas getan, was zu einer Verunglimpfung unserer Familie geführt hätte?!“, begehrte ich auf, ballte die Hände halb zu Fäusten.

Alison lehnte sich in ihren Sitz zurück, verschränkte mit überheblichem Blick die Arme vor der Brust.

„Muss ich dich an den armen Alaric erinnern? Ein guter, treuer Mann, der ernsthaftes Interesse daran gezeigt hatte, zu dieser Familie zu gehören, dich zu heiraten! Den du in aller Öffentlichkeit blamiert hast und abwehrend kreischend Rotwein über sein teures Hemd geschüttet hast? Wir können uns so endlos glücklich schätzen, dass er ein so gutes Herz hat und uns diesen unerfreulichen Vorfall verziehen hat, zumal er uns das Hemd nicht einmal bezahlen lassen wollte! Aber sein Interesse an dir war damit erloschen. Ein solches Verhalten werde ich keinesfalls noch einmal dulden, davor kannst du dir ein neues Zuhause suchen!“

Beinahe ohnmächtig vor Wut funkelte ich sie an.

„Wie schön, dass dich nur die offizielle Seite der Geschichte interessiert! Du hast nicht einmal nachgefragt, was mich dazu bewogen hat, so zu handeln! Denkst du, ich wäre grundlos durchgedreht? Dein guter, treuer Alaric hat mich ununterbrochen betatscht als wäre ich ein Pferd und als ich mich geweigert habe, ihm alleine im Nebenzimmer Gesellschaft zu leisten, hat er mir einen Fünfzig-Dollar-Schein in den Ausschnitt gesteckt und gemeint, dafür würde er eine nette Gefälligkeit auf der Toilette erwarten! Denkst du ernsthaft, ich lasse mir das gefallen? Denkst du wirklich ...“

„Genug!“, brüllte Alison mich an. „Ich habe genug davon, dass du solche schändlichen Lügen über die Männer erzählst, die sich dazu herablassen würden, dich zu heiraten! Dir wäre jede Lüge recht, um mich zu demütigen und dein angenehmes Leben auf meine, unsere Kosten weiter auszureizen, nicht wahr? Du hältst auf der Stelle dein freches Maul, sonst stopfe ich es dir, so wahr mir Gott helfe!“

Bebend starrten wir uns an, bis mein Vater mit zusammengezogenen Augenbrauen in die Hände klatschte und zornig von einer Frau zur anderen sah.

„Aufhören ihr beiden! Herrgott, ihr hört euch an wie zwei vernachlässigte Schreckschrauben – haltet nun beide die Klappe und beruhigt euch! Wir sind gleich da! Wollt ihr vor allen Leuten wie die Furien aufeinander losgehen?“

Sofort setzte meine Mutter einen beherrschten Gesichtsausdruck auf und wandte sich betont gelangweilt von mir ab.

Natürlich.

Was sollten sonst die Leute von ihr denken.

Ich wünschte, ich wäre eine ebenso gute Schauspielerin wie sie. In mir kochte meine Wut heiß und brodelnd und ich hatte Mühe, dies zu verbergen, vor allem unter dem fordernden Blick meines Vaters.

Warum tat er das?

Warum stand er im Zweifelsfall immer hinter Satan persönlich?

Warum hielt er nie zu mir, seiner Tochter, die immer für ihn da war?

Unter meinem eindringlichen Starren schien es ihm doch unwohl zu werden und betreten wandte er den Blick ab.

Ich schnaubte tonlos.

Das versprach ein unvergesslicher Abend zu werden.

Kapitel 2

U

nwillkürlich musste ich an all die Teenager-Filme denken, die ich so gern angeschaut hatte, diese „Vom-hässlichen-Entlein-zur-begehrten-Ballkönigin“-Geschichten, in welchen sich am Ende alle nach der wunderschön erblühten Hauptdarstellerin umdrehten, wenn diese hoheitlich und doch mädchenhaft-schüchtern den Saal betrat.

Irgendwie fühlte ich mich ein bisschen so.

Nur ohne die neidischen

Blicke der anderen Frauen.

Und ohne das offensichtliche Begehren in den Augen der Männer.

Und ohne, dass die Band vor Staunen aufhörte zu spielen.

Und ohne das Tuscheln der Kellner, wenn sie erkannten, wer die zauberhafte Dame war.

Eigentlich bemerkte gar niemand, dass ich hinter meinen Eltern den Raum betrat.

So ganz eigentlich war es genau wie immer – niemand nahm großartig Notiz von mir. Nun, ich hatte auch nichts Anderes erwartet – oder vielleicht doch?

Kopfschüttelnd amüsierte ich mich über mein seltsames Kopfkino.

Ich nahm mir vor, diesen Abend nicht mit trübsinniger Grübelei zu verbringen, sondern mich dem ausgiebigen Buffet zu widmen, während ich darauf wartete, diese endlos anmutende Veranstaltung verlassen zu können.

Arm in Arm, als müssten sie irgendjemanden von ihrer tiefen Zuneigung zu einander überzeugen, schritten meine Eltern über das Parkett des festlich geschmückten Saales und strebten auf ihren Platz zu – und wie ein herrenloses Hündchen trottete ich ihnen hinterher. Mich hatte auf solchen Veranstaltungen bisher keine andere Person so angesprochen, dass ich mich um ihre Freundschaft bemüht hätte, weshalb ich keinen Grund sah, die Nähe anderer Menschen hier zu suchen.

Jordan, die einzige Person, die ich wirklich meine Freundin nennen konnte, war bereits verheiratet und legte zudem keinerlei Wert auf irgendwelche gesellschaftlichen Gepflogenheiten, weshalb man sie nur außerordentlich selten bei irgendwelchen Veranstaltungen antraf.

Sie vertrieb sich lieber die Zeit mit Dingen, die wirklich Spaß machten, was der Grund dafür war, dass meine Mutter sie recht schnell als schlechten Einfluss identifiziert hatte.

Nicht, dass Jordan sich daran stören würde.

Oder ich mich.

Doch ich hatte sie bereits zu den letzten beiden Veranstaltungen genötigt, sodass ich mich gezwungen sah, diese hier ohne sie durch zu stehen.

Möge man mir die dafür nötige Geduld geben.

Mit formvollendeter Eleganz setzte sich Alison auf den Stuhl, welchen mein Vater ihr höflich unterschob, bevor sie mich auffordernd ansah.

Ich überlegte kurz, ehe ich nach meinem Teller griff, um mich als eine der Ersten am Essen gütlich zu tun.

Wenn das Essen schon an einem Büfett dargeboten wurde, wollte ich schnell sein, ehe sich die gehobene Gesellschaft wie ein Rudel Höhlenmenschen darauf stürzte.

Auch wenn dies ein Anblick wäre, den ich nur zu gern sehen würde.

Doch so weit kam ich gar nicht.

Blitzschnell entwand Alison mir das Geschirr und bedeutete mir, mich auf meinen Allerwertesten zu setzen.

„Zügle dich, June. Wir sind nicht wegen dem Essen hier. Niemand will mit einer Frau tanzen, deren Bauch derart aufgequollen ist, als wäre sie im fünften Monat schwanger. Und wir wissen beide, dass du zu einer gewissen Aufgedunsenheit neigst. Reiß dich noch ein Weilchen zusammen, einverstanden?“

Ungläubig starrte ich sie an.

Verbot mir meine Mutter gerade wirklich das Essen?

Augenblicklich kehrte meine schlechte Laune zurück. Ich überlegte, ob mein Hunger groß genug war, um einen Aufstand vor aller Augen anzuzetteln, doch ein Blick von Alison ließ mich diesen Gedanken weit von mir schieben.

Stattdessen bestellte ich bei der eilfertigen Bedienung einen starken Cocktail und beschloss, für mich das Beste aus dieser grotesken Situation zu machen.

♔♕♖♗♘♙

Aus einem Cocktail waren rasch drei geworden.

Obgleich dies wohl kaum gesünder war, als etwas zu essen, hielt Alison ihren Mund, kniff nur etwas pikiert die Augen zusammen, als ich leicht unartikuliert nach einem vierten verlangte.

Ich kicherte in mich hinein und ignorierte gekonnt die tadelnden Blicke des Paares, mit welchem wir uns den Tisch teilten.

Wenigstens hatte ich etwas Spaß.

Mit einem strahlenden Lächeln entschuldigte sich meine Mutter, um die Toilette aufzusuchen – meinem leicht umwölkten Hirn wurde schlagartig klar, dass ich keine bessere Chance bekommen würde. Also unterdrückte ich ein gewiss gänzlich undamenhaftes Rülpsen und schnappte mir meinen Teller.

Mein Vater warf mir einen warnenden Blick zu, doch ich zuckte lediglich mit den Schultern und machte mich auf den Weg.

Unter Bündelung meiner gesamten Konzentration schaffte ich die Strecke, ohne jemanden anzurempeln oder gar umzuknicken – so schlimm konnte es um meine Trunkenheit also gar nicht stehen.

Neben der Pyramide aus Champagnergläsern blieb ich stehen und verzog das Gesicht.

Wie kam man auf die Idee, ein derart fragiles Konstrukt auf einer Festlichkeit zu errichten, auf welcher Alkohol ausgeschenkt wurde? Es war doch jedes Mal nur eine Frage der Zeit, bis ein betrunkener Tölpel in den einladenden Glasturm stolpern und ein riesiges Unheil anrichten würde.

Nun, mein Problem würde es ja nicht sein, das entstehende Chaos zu beseitigen.

Suchend ließ ich meinen Blick über die appetitlich angerichteten Speisen gleiten, überlegte, mit was ich Alison besonders gut auf die Nerven gehen konnte.

Nur nebensächlich nahm ich wahr, wie die Musik verstummte und jemand die Bühne betrat, damit begann, eine Rede zu halten.

Wohl unser geschätzter Gastgeber, wer auch immer sich diesmal damit brüsten wollte, das perfekte gesellschaftliche Event veranstaltet zu haben.

Eine Rede wie bereits tausend andere vor ihm.

Wie froh er doch war, dass so viele erschienen waren.

Dass er hoffte, dass sich alle prächtig amüsierten.

Ich schnaubte.

„Noch bin ich nicht sonderlich amüsiert, aber ich arbeite daran.“

Entschlossen griff ich nach einem besonders herrlichen Krabbencocktail, als das monotone Gerede auf der Bühne erstarb und von einer tiefen, rauchigen Stimme ersetzt wurde.

Meine Hand fror mitten in der Bewegung ein, sämtliche Haare stellten sich mir auf. Ein Schauder jagte über meinen Körper.

Es war nicht so, dass ich bisher keinen Sex gehabt hatte.

Es war eher so, dass ich nichts gehabt hatte, was ich persönlich als guten Sex bezeichnet hätte, als etwas, was sich lohnen würde, zu wiederholen.

Die Zahl der Männer, mit denen ich gern nackt und verschwitzt durch die Laken rollte, hielt sich sehr in Grenzen. Die Zahl der Männer, deren angestrengtes Geröchel ich ertragen konnte, war noch geringer.

Doch diese Stimme, dieser dunkle Unterton, nun, das war Sex pur.

Guter Sex.

Langsam drehte ich mich um und musterte den Mann auf der Bühne.

Natürlich hatte ich bereits Fotos von ihm gesehen, es war schwer, nicht mit seiner Existenz in Berührung zu kommen, wenn man in diesem Bundesstaat aufwuchs, doch tatsächlich schien er noch viel schöner, als die Bilder zeigten.

Wie war das überhaupt möglich?

Seine dunklen Haare waren ein perfektes Durcheinander, die Stirn hoch und ohne jeden Makel. Unter dichten, akkurat in Form gebrachten Augenbrauen starrte ein unglaublich anziehendes Paar Augen in die Menge und fesselte alle Aufmerksamkeit. Sie waren dunkel, fast schwarz und verlangten unbedingte Unterwerfung.

Die Nase war lang und gerade, aber nicht zu groß um deplatziert zu wirken. Und die Lippen … diese Lippen, Herrgott. Voll und rosig, perfekt, um jemanden besinnungslos zu küssen.

Lag es an meinem übermäßigen Alkoholkonsum oder an dem langen Zeitraum ohne sexuell gearteter Berührungen, dass ich diese Lippen spüren wollte?

Überall spüren wollte?

Überrascht von der Heftigkeit meiner Empfindungen trat ich einen Schritt zurück und berührte mit der Hüfte den Tisch hinter mir.

Nun, ich brauchte nicht das Klirren und Scheppern zerbrechender Gläser zu hören, um mir darüber klar zu werden, dass heute Abend ich der betrunkene Tölpel war, der für unglaubliches Chaos gesorgt hatte.

Sämtliches verfügbares Blut schien augenblicklich in mein Gesicht zu steigen, als ich die entsetzten Blicke gefühlt aller Anwesenden auf mich gerichtet sah.

Nicht nur den beinahe ohnmächtig vor Wut starrenden Blick meiner Mutter.

Sondern auch den überraschten Blick aus einem dunklen Paar Augen, das mich zu verschlingen schien.

So fühlte es sich also an, im absoluten Mittelpunkt zu stehen.

♔♕♖♗♘♙

Zeit ist relativ.

Zeit ist unbezahlbar.

Zeit kontrolliert alles.

So auch heute.

Die Massen an Dienstpersonal brauchten keine Viertelstunde um das Durcheinander zu beseitigen, welches ich in nicht einmal zehn Sekunden angerichtet hatte.

Der Gastgeber brauchte keine zwei Minuten, um sich davon zu überzeugen, dass niemand außer meinem Stolz zu Schaden gekommen war und sich wortreich für die Unterbrechung zu entschuldigen.

Meine in den Saal zurückkehrende Mutter brauchte keine zwei Sekunden um zu verstehen, was ich getan hatte und keine weiteren drei Sekunden um mir mit ihrem Blick zu verstehen zu geben, dass ich eine tote Frau war.

Dass man meine Leiche niemals finden würde.

Mein Schamgefühl hingegen würde etliche Jahre brauchen, um sich zu normalisieren.

Noch nie hatte ich es geschafft, mich derart zu blamieren.

Im Grunde war es gar nicht nötig, mich so schuldig zu fühlen – Stefan hatte seine Rede nach einem Räuspern zu Ende gebracht. Das Orchester spielte, einige Paare wiegten sich im Takt auf der Tanzfläche.

Ganz so, als sei nichts geschehen.

Ganz so, als hätte ich mich soeben nicht bis aufs Blut blamiert.

Alle schienen darüber hinwegzusehen – alle, bis auf Alison.

Ihr böser Blick haftete wie eine zweite Haut an mir und ließ mich immer wieder zusammenzuckten, wenn mein schüchterner Blick ihn kreuzte.

Immerhin schien diese Blamage sie von der Vorstellung, mich wie angekündigt an den Haaren aus dem Saal zu zerren, Abstand nehmen zu lassen. Sie saß einfach nur bolzengerade neben mir und unterhielt sich scheinbar angeregt mit unseren Tischnachbarn über irgendeine Banalität.

Und ich war mir nicht sicher, ob das die bessere Option zu einem Aufstand war.

Missmutig kaute ich auf meinen Garnelen herum, die mit einem Mal nach nichts mehr schmeckten.

Sollte ich mir etwas von diesem Abend versprochen haben, so hatte ich es mit meinem Missgeschick zunichtegemacht, bevor es beginnen konnte. Meine Mutter war ausnahmsweise zurecht enttäuscht.

Ich seufzte tief und versuchte die Tränen zu unterdrücken, spießte eine Garnele auf, um mit ihr den Kloß in meinem Hals hinunter zu schlucken.

Ein tiefes Räuspern erklang und meine Hand mit der vollen Gabel verharrte vor meinem bereits geöffneten Mund, während ich die vor mir stehende Person anstarrte, die mich mit einem halben Lächeln musterte, die Hand auffordernd ausgestreckt.

„June, richtig? Du hast nicht zufällig Lust zu tanzen?“

Bewegungslos starrte ich in Stefans verwirrend dunkelgrüne Augen.

Sein Lächeln verrutschte nicht einen einzigen Zentimeter, als die halbe Garnele von meiner Gabel zurück in den Teller fiel und Soße sich wild spritzend auf dem Tischtuch verteilte.

Sein Gesicht blieb die ganze Zeit gleich höflich, während seine Hand immer noch unbeachtet zwischen uns schwebte und er zweifellos den halb gekauten Salatblättern in meinem weit geöffneten Mund ein freundliches „Hallöchen!“ zuwerfen konnte.

Seine stoische Ruhe unterstrich seine vollendete Perfektion noch.

Ein stechender Schmerz in meinem Zeh ließ mich nach Luft schnappen und endlich den verdammten Mund schließen.

Es hätte vermutlich vollauf ausgereicht, wenn Alison mich kurz angetippt hätte, doch ein harter Tritt mit ihrem hohen Absatz hatte natürlich eine ebenso gute Wirkung.

Ich schluckte hastig und konnte schließlich die Willenskraft aufbringen, mich von Stefans verflucht tiefen Augen zu lösen, um meiner Mutter einen giftigen Blick zuzuwerfen.

Doch sie beachtete mich gar nicht, sondern bedachte Stefan mit einem strahlenden Lächeln.

„Nun, natürlich begleitet June Sie gerne.“

Ich verdrehte die Augen, wischte mir bemüht elegant den Mund ab – an einer Serviette, nicht an meinem Handrücken versteht sich – und erhob mich, riskierte einen weiteren Blick in diese hypnotischen Augen.

„Ich kann ausgesprochen gut für mich selbst reden. Aber ja, ich tanze gern mit dir.“

Ein wenig energischer als nötig schob ich meinen Stuhl an den Tisch zurück und funkelte meine Mutter warnend an, bevor ich die immer noch ausgestreckte Hand Stefans ergriff und mich von ihm zwischen den Tischen hindurch zur Tanzfläche navigieren ließ.

Verflucht hatte dieser Mann lange Finger.

Mein Magen kribbelte unwillkürlich – wie konnte man schon Finger derart attraktiv finden?

Ich versuchte mich von der Vorstellung abzulenken, was er wohl mit diesen Händen alles anstellen konnte.

„Entschuldige. Meine Mutter ist manchmal etwas vorschnell. Sie befürchtet, dass ich etwas Dummes von mir gebe, was mein Gegenüber an meiner Intelligenz zweifeln lässt, wann immer ich den Mund öffne“, stieß ich hervor, ohne einmal Luft zu holen.

Gleichmütig zuckte er mit den Achseln und ging weiter.

„Tun das nicht alle Eltern? Ich habe schon Schlimmeres erlebt. Und du scheinst mir nicht ganz auf den Kopf gefallen zu sein, oder täusche ich mich da?“

Ich runzelte die Stirn.

Erwartete er tatsächlich von mir, dass ich ihn darüber aufklären würde, ob ich dumm war oder nicht?

„Ich kann mich gut artikulieren, habe eine erfolgreiche Schulausbildung hinter mir und betrachte mich als halbwegs gebildet“ – warum verteidigte ich mich vor einem völlig Fremden? – „doch natürlich kann man behaupten, dass ein gewisser Unterschied zwischen Bildung und Intelligenz besteht. Ich traue dir zu, relativ schnell herauszufinden, ob ich dämlich bin oder nicht. Du kannst anschließend auch gern meine Mutter über dein Ergebnis instruieren, sie freut sich sicherlich maßlos darüber.“

Versuchte ich ihm gerade tatsächlich etwas zu beweisen?

Warum hielt ich nicht einfach meine Klappe?

Lag es an ihm oder dem Alkohol? Obwohl beide Varianten nicht sonderlich von meiner Intelligenz zeugten.

Doch Stefan schien sich an meinem satzzeichenlosen, wenn auch gewählten Gebrabbel nicht zu stören. Er gluckste nur leise.

„In meiner Eigenschaft als Anwalt habe ich schon beim ersten Blick erkannt, dass du kein verblödetes Girlie bist, mach dir keine Sorgen.“

Ich nickte nur, obwohl ich wusste, dass er es nicht sehen konnte.

Verdammt, war dieser Mann schön.

Auch wenn ich nur seinen Hinterkopf sehen konnte, mit dem glänzenden Haar, welches ganz klischeehaft aussah, als wäre er eben erst aus dem Bett gekrochen.

Und seine breiten Schultern, die in dem eng anliegenden, weißen Hemd unglaublich gut zur Geltung kamen.

Und seine sich nach unten verjüngende Taille.

Und seine schmalen Hüften.

Und dieser unglaubliche Hintern.

Wie er wohl ohne Hose aussah? Wie er sich wohl anfühlte? War er weich und nachgiebig, konnte ich meine Zähne darin vergraben?

Ich runzelte die Stirn angesichts der Richtung, die meine Gedanken beinahe unbemerkt eingeschlagen hatten.

Was war nur los mit mir? Ich hatte mich doch sonst so gut unter Kontrolle und verlor nicht direkt die Beherrschung?

Der Geist ist stärker als der Körper.

Ich versuchte mich auf etwas gänzlich Unverfängliches zu konzentrieren.

Doch das Pochen und Ziehen in den Bereichen unterhalb meiner Gürtellinie ließ sich nicht so leicht in die Schranken weisen.

Verfluchte Hormone.

Warum nur war der Weg zur Tanzfläche mit einem Mal so lang?

Um mich abzulenken ließ ich meinen Blick durch den Raum wandern und nahm mit einem Mal etwas wahr, dass meine ungeteilte Aufmerksamkeit beschlagnahmte.

Etwas, von dem ich in herzzerreißenden Liebesgeschichten gelesen hatte, das sonst nur in kitschigen Filmen passierte.

Etwas, was ich mir vorhin noch scherzhalber vorgestellt hatte.

Neidische Blicke.

Jedes junge Mädchen, jede Frau betrachtete mich mit einem Blick, der Wasser zum Gefrieren bringen konnte, der mich wohl dazu bringen sollte, in winzig kleine Staubkörner zu zerfallen.

Herausfordernd erwiderte ich die bösen Blicke mit einem strahlenden Lächeln.

Was für ein unglaublich machtvolles Gefühl!

Stefan blieb mitten auf der Tanzfläche stehen und drehte sich zu mir um.

„Was belustigt dich so?“

Seine Stimme trieb mir einen Schauder über den Rücken. Verlegen zeigte ich mit dem Kinn auf unser Publikum.

„Nichts Besonderes. Nur viele böse Blicke – ich bin es nicht gewohnt, derart im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.“

Er lachte kehlig und ich hatte Mühe, mir ein Seufzen zu verkneifen, als dieser Laut auf direktem Weg zwischen meine Beine fuhr.

Wie konnte er nur einen solchen Sexappeal ausstrahlen, ganz ohne etwas zu machen?

„Du stehst nicht gerne im Mittelpunkt? Nun, das fällt mir doch etwas schwer zu glauben, angesichts der Tatsache, dass du mir vorhin nach nur vier Sätzen die Show gestohlen hast. Ich war noch nicht einmal in der Mitte meiner Ansprache. Dabei hatte ich einen so guten Witz geplant, der Saal hätte vor Lachen gebebt – doch stattdessen ein ohrenbetäubendes Klirren. Das hat mich vollkommen aus der Bahn geworfen.“ Er grinste schief. „Das passiert nicht oft, wie du dir eventuell vorstellen kannst.“

Man musste mir keinen Spiegel vorhalten um mir zu beweisen, dass sich erneut eine dunkle Röte von meinem Dekolleté bis zur Stirn erstreckte.

Musste er mir diese Peinlichkeit derart unter die Nase reiben?

Selbst sein beiläufiges Kompliment machte die Situation nicht besser, konnte nichts gegen mein tiefes Schamgefühl ausrichten.

„Ich würde mich ja entschuldigen und behaupten, dass das überhaupt nicht meine Manier ist und ich sonst davon absehe, mich so zu blamieren, doch vermutlich wäre das gelogen. Ich habe ein Talent für solche Momente. Bin wohl einfach nicht gemacht für öffentliche Auftritte. Es ist nun wirklich nicht so, dass ich die Leute gerne mit meiner Ungeschicklichkeit erheitere.“, antwortete ich etwas kleinlaut.

Er legte den Kopf schief.

„Nun, ich werde darauf achten, dass dir nichts zu nahekommt, was dir zum Verhängnis werden könnte. Schon um meiner selbst willen.“

Er umfasste meine Hand fester, angelte nach meiner anderen Hand und legte sie auf seine Schulter. Sein Blick bohrte sich brennend in meinen Kopf, sodass ich den Blick senken musste, um nicht augenblicklich von innen heraus zu verglühen.

Seine Brust befand sich genau auf meiner Augenhöhe, seine Muskeln zeichneten sich schon beinahe unverschämt deutlich unter dem Hemd ab.

Unwillkürlich wanderten meine Augen tiefer.

Verdammt, ganz sicher hatte er ein Sixpack.

Wie fand er neben seiner vielen Arbeit und seiner Frauenjagd auch noch Zeit, um sich sportlich zu betätigen? Vielleicht jagte er gar nicht, sondern nahm sich einfach eine der Frauen, die zweifellos wie läufige Hündinnen an seiner Haustüre kratzten.

Bevor meine Augen noch tiefer wandern und damit alle Regeln des Anstandes brechen konnten, legte er seine Hand an meine Hüfte und begann wortlos zu führen.

Und natürlich, als hätte ich dies je angezweifelt, tanzte er unfassbar gut.

Mit unergründlichem Blick sah er mir in die Augen und ich drohte in dem tiefen Grün zu ertrinken.

Irgendwann sah er zur Seite, befeuchtete seine Lippen mit der Zunge.

„Du tanzt ausgesprochen gut, June. Nach deinem kleinen Gleichgewichtsverlust am Buffet vorhin und deinem Geständnis, dass es nicht gut um deine Geschicklichkeit bestellt ist, hatte ich das Schlimmste befürchtet und mich verwünscht, nicht meine Stahlkappen-Tanzschuhe für heute Abend gewählt zu haben.“

Warnend hob ich die Augenbrauen. „Lobe den Tag nicht vor dem Abend. Was nicht ist, kann ganz schnell noch werden.“

Er lachte leise und schickte mich mit diesem rauen Ton jenseits von Gut und Böse.

„Ist deine Mutter bei jedem Mann, der dich zum Tanzen auffordert, so überaus zuvorkommend, oder wurde mir damit eine besondere Ehre zuteil?“

Ich zog die Stirn kraus.

„Nun, es kommt nun nicht sonderlich oft vor, dass ich zum Tanzen oder zu einem Getränk eingeladen werde. Ich entspreche nicht ganz den gängigen Vorstellungen, nehme ich an. Aber tatsächlich zeigt sie sich bei jedem Mann, welchen sie als potentiellen Schwiegersohn in Betracht zieht, von ihrer besten Seite.“

Er holte tief Luft um zu einer Erwiderung anzusetzen, doch ich unterbrach ihn rasch.

„Oh, fühl dich nicht zu sehr geschmeichelt. Ich sollte wohl hinzufügen, dass sie jeden als potentiellen Ehemann betrachtet, der mindestens zwei Gliedmaßen besitzt und noch wenigstens bis zum Ende des Balles lebt, bevor er an Altersschwäche stirbt. Erst letztens war sie ganz wild darauf, mich wie ein gemeines Pferd an einen Mann zu verschachern, der für kleines Geld von mir verlangte, ihm auf der Toilette zu willen zu sein. Du siehst, sie hat es einfach nur überaus eilig, mich aus dem Haus zu bekommen.“

Er betrachtete mich mit einem gepeinigten Ausdruck.

„Du redest nicht zufällig von Alaric Jackson?“

Verblüfft legte ich den Kopf schief.

„Eben dieser. Woher kennst du ihn? Persönliche Erfahrungen?“

Er schnaubte.

„So in etwa. Ein ähnliches Gespräch hat sich erst neulich zwischen ihm und meiner Schwester abgespielt.“

„Du hast eine Schwester? Das wusste ich gar nicht.“ Innerlich verdrehte ich die Augen. Natürlich wusste ich das nicht. Ich kannte ihn schließlich nicht. Und er sollte nicht das Gefühl bekommen, dass ich nichts Besseres zu tun hatte, als in irgendwelchen Magazinen Klatsch und Tratsch über ihn zu verfolgen.

Doch er schien nichts dergleichen zu denken. Vielmehr kaute er sichtlich auf seinen nächsten Worten herum.

„Eine Halbschwester, ja. Ich versuche, meine Familie möglichst aus dem Rampenlicht herauszuhalten. Sie sollten sich nicht dauernd gegen Reporter und Fotografen wehren müssen, die ein ‚Nein’ nicht gelten lassen.“

Nun blinzelte er wieder belustigt und der harte Ausdruck verschwand aus seinen Augen.

„Nun, du liest also Artikel über mich?“

Verflucht. Unbehaglich zog ich die Schultern hoch.

„Nun, du musst zugeben, dass es äußerst schwierig ist, eine Zeitschrift zu finden, in welcher du nicht quer über zehn Seiten vertreten bist. Ich kann kaum noch meine Garfield Comics lesen, ohne dein Gesicht zu sehen.“

Er schmunzelte.

Ich nutzte die entstehende Pause, um mich suchend umzusehen.

„Ich sehe Alaric heute Abend gar nicht. Sonst treibt er sich doch auch auf jedem Event herum.“

Wieder wurde sein Blick für eine Sekunde hart, bevor er mich ausdruckslos anschaute.

„Er kann nicht hier sein, weil ich hier bin. Ich habe eine einstweilige Verfügung erwirkt – er kann sich mir nicht nähern.“

Ich beschloss nicht weiter nachzufragen, da er diesem Thema nicht sonderlich wohl gesonnen schien.

Anscheinend legte man sich nicht ungestraft mit ihm und seiner Familie an. Unwillkürlich lief mir ein kalter Schauder über den Rücken.

Ein beklemmendes Schweigen entstand.

Schließlich blieb er stehen und sah mich fragend an.

„Möchtest du weiter tanzen oder gehen wir etwas trinken?“

Seine Zähne waren unglaublich weiß und blitzten bei jedem Wort. Es war verdammt verwirrend.

„Ja?“, erwiderte ich flüsternd.

Natürlich war mir bewusst, dass man auf eine „Oder“-Frage nicht mit Ja oder Nein antwortete. Aber er schien auch so zu wissen, was ich sagen wollte, denn er griff wieder fester nach meiner Hüfte und wirbelte mich kraftvoll um sich herum.

„Um deine vorherige Aussage aufzugreifen – ich kann mir gar nicht vorstellen, wie man dich nicht zum Tanzen auffordern kann.“

Er sagte das mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass mir warm ums Herz wurde.

Das war kein beiläufiges Kompliment gewesen, sondern eine Feststellung.

„Und deine Eltern sähen mich gerne als deinen Ehemann?“

Ich grinste ihn offen an.

„Nun, seien wir ehrlich, da sind meine Eltern ja wohl kaum die Einzigen.“

Er lachte halblaut. „Nein, natürlich nicht. Ich habe aufgehört zu zählen. Doch bisher hege ich keine sonderlich großen Ambitionen.“ Fragend sah er mich an. „Wie steht es mit dir? Willst du deinen Eltern bald einen Mann vorstellen können?“

Seine Frage überraschte mich etwas und so musste ich einen Moment über meine Antwort nachdenken.

Vorsichtig wählte ich meine Worte.

„Ich muss gestehen, bisher habe ich niemanden getroffen, bei dem ich mir vorstellen könnte, meine persönliche Freiheit für ihn aufzugeben.“ Ich dachte an meine Mutter und verzog das Gesicht. Nun, noch mehr von meiner Freiheit. Doch das band ich ihm nicht auf die Nase. „Andererseits wäre es schön, meinem Elternhaus zu entkommen – ich denke, die Vor- und Nachteile wiegen sich in etwa auf.“

„Oh, ich verstehe zu gut, was du meinst. Es ist schwer, sich von irgendwem Fesseln anlegen zu lassen, seien es die Eltern oder die Gesellschaft – und glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Aber manchmal stelle ich mir vor, dass es ganz schön wäre, zu jemandem nach Hause zu kommen, der den ganzen Tag sehnsüchtig auf mich gewartet hat.“

Ich nickte stumm. Ein schöner Gedanke.

Daraufhin schwiegen wir wieder eine Weile – doch dieses Mal war das Schweigen nicht unangenehmer Natur. Im Gegenteil.

Stefan musterte mich mit einem derart glühenden Blick, dass ich befürchtete, er könnte mich ohne ein weiteres Wort verbrennen lassen. Seine Augen schienen sich zu verdunkeln, beinahe schwarz blickten sie mich an, als wollten sie meine Seele verschlingen. Die Lippen hatte er leicht geöffnet. Seine Hand an meiner Hüfte packte fester zu, wanderte kaum merklich ein wenig tiefer und hinterließ eine flammende Spur auf meinem Körper.

Atemlos verringerte ich den Abstand zwischen uns, drückte mich näher an ihn heran, bis ich seine harte Brust an meiner spüren konnte.

Ich merkte kaum, dass das Orchester aufhörte zu spielen, so laut pochte das Blut in meinen Ohren, so laut ging mein Atem.

Erst als Stefan stehen blieb und mir ein leichtes Lächeln schenkte, kam ich wieder zur Besinnung.

Erneut sah ich mich den Blicken sämtlicher Anwesenden ausgesetzt, was mir eine dezente Röte auf die Wangen trieb, schon wieder. Stefan dagegen lächelte nur höflich und beugte sich zu mir hinunter.

Ich verstand nicht, was er mir zuflüsterte, hatte zu sehr mit den Empfindungen zu kämpfen, die das Gefühl seines warmen Atems, seiner Lippen so dicht an meinem Ohr auslösten.

Verwirrt blinzelnd starrte ich ihn an.

„Wie bitte?“

Schmunzelnd wiederholte er seine Frage.

„Wollen wir ein wenig nach draußen an die frische Luft gehen?“

In Anbetracht der Tatsache, dass mir verflucht heiß war, erschien mir sein Vorschlag äußerst vernünftig. Dass ich mich damit den starrenden Blicken der Anderen entziehen konnte, war nur ein weiterer Vorteil.

Ich ließ also zu, dass er mich durch diverse Gänge führte, durch die ich niemals zurückfinden würde, bis wir schließlich auf einer kleinen wunderschönen, romantisch angehauchten Terrasse standen. Weißer Marmor wurde gesäumt von roten Rosen, die einen betörenden Duft verströmten.

Langsam drehte ich mich zu Stefan um, der mich mit unergründlichem Blick musterte.

Gemächlich kam er auf mich zu, bis er so dicht vor mir stand, dass ich seinen herben Duft riechen konnte. Er hob seine Hand und strich mir über die Wange, den Kiefer entlang, bevor er sacht seinen Daumen auf meine Lippe presste.

Ich schluckte angesichts des Feuers in seinen dunklen Augen.

„Ich werde dich jetzt küssen, June.“

Das war einfach zu viel.

Zu viel Alkohol, zu viel Drehen, zu viel Verlegenheit, zu viel Gefühlschaos.

Zu wenig Essen.

Ich bückte mich und erbrach mich geräuschvoll zu Stefans Füßen.

Eine Träne rann mir über die Wange, während ich atemlos würgte, wieder und wieder zog sich mein Magen zusammen.

Mein Gott. Ging es noch peinlicher, noch demütigender?

Sanft strichen mir seine kühlen Finger über die Stirn, seine langen Finger fingen einige Haarsträhnen ein, die sich aus meinem Knoten gelöst hatten, bevor diese ein Opfer eines weiteren Schwalles bitterer Galle wurden, der aus meinem Mund schoss.

Ich wollte sterben.

Auf der Stelle.

Doch mein Wunsch wurde nicht erfüllt, natürlich nicht.

Ich richtete mich zitternd auf und wankte zum Geländer, stützte mich kraftlos daran ab. Stefan folgte mir, beruhigend strich er mir über den Rücken, malte zarte Kreise.

Und es half, mich darauf zu konzentrieren.

Die Übelkeit schwand langsam, wich einem nicht unangenehmen Schauder, begleitet von einer leichten Gänsehaut.

Das Kribbeln in meinem Magen verstärkte sich wieder, als sich Stefan leicht gegen meinen Rücken drückte und einen Kuss auf meinen Nacken hauchte.

„Nun, du verstehst, dass ich dich nun nicht auf den Mund küssen möchte – aber ich meine, was ich sage. Ich will dich küssen. Du hast unglaublich schöne Haut.“

Was stimmte nicht mit ihm? War er so verzweifelt? Hatte ich ihm nicht gerade vor die Füße gekotzt?

Noch während mein Gehirn damit beschäftigt war, zu überlegen, warum er nicht angewidert davonrannte, wie es jeder vernünftige Mann getan hätte, machte sich mein Mund selbständig und murmelte halblaut einige Worte.

„Danke ... du hast einen unglaublich tollen Arsch. Zum Anbeißen.“

Wunderbar.

Ich konnte mich tatsächlich noch mehr demütigen.

Kapitel 3

E

in Dröhnen durchbrach meinen seltsamen Wachschlaf und schwoll immer weiter an, bis ich abgesehen davon nichts mehr wahrnehmen konnte.

Unwirsch drehte ich mich auf den Rücken – und bereute die schnelle Bewegung nahezu sofort.

Ein Wimmern entwich mir.

Ich konnte mich nicht erinnern, zuvor in meinem Leben derart heftige Kopfschmerzen gehabt zu haben.

Mir schien, als jagten sich einige Teufelchen durch meinen Schädel, die einen barbarischen Spaß daran hatten, ihre Dreizacke in mein Hirn zu bohren.

Leise aufstöhnend zuckte ich bei einem wahrhaft widerlichen Stich in meine Schläfe zusammen und öffnete unwillkürlich die Augen – nur um meine Netzhäute einer unmenschlich brennenden Helligkeit ausgesetzt zu sehen.

Warum hatte ich die Vorhänge nicht zugezogen?

Rasch begab ich mich zurück in den Schutz meiner geschlossenen Augenlider und zog mir als zusätzliche Schutzmaßnahme die Decke über den Kopf.

Viel besser.

So konnte ich es durchaus noch eine Weile aushalten.

War es nicht schon als Kind so gewesen?

Sich die Decke über den Kopf ziehen und alles war wieder in Ordnung?

Mein Magen gab ein geräuschvolles Brummen von sich und ein Schwall wirklich übelriechende Luft entwich meinem Mund.

Herrgott.

Wann hatte ich denn das gegessen?!

Ein Würgen unterdrückend riss ich die Decke von mir herunter und brummte unwillig, als die Sonne mich erneut unvorbereitet mit all ihrer Herrlichkeit blendete.

Ich war kein Kind mehr.

Ich war erwachsen.

Dementsprechend war so ziemlich nichts in Ordnung.