Sylter Affären - Ben Kryst Tomasson - E-Book
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Sylter Affären E-Book

Ben Kryst Tomasson

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Beschreibung

Sylt undercover.

Der Club Royale ist Sylts neuester In-Club: Hier treffen sich die Schönen und Reichen – allen voran der Bauunternehmer Jahnke, dem der Club gehört. Doch auch andere Prominenz zieht das besondere Ambiente an – darunter einige, die schon seit längerem im Visier der Steuerfahndung stehen. Karolina Dahl, Kriminalkommissarin beim LKA, wird undercover nach Sylt geschickt. Sie schleicht sich bei Jahnke ein und gaukelt ihm vor, Kontakt zu Geldwäschern zu suchen. Jahnke verspricht, ihr zu helfen, doch dann ist er tot – und Karolina steht unter Mordverdacht …

Ein packender Sylt-Krimi mit viel Lokalkolorit – und einer ungewöhnlichen Heldin.

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Seitenzahl: 386

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Informationen zum Buch

Sylt undercover

Der Club Royale ist Sylts neuester In-Club: Hier treffen sich die Schönen und Reichen – allen voran der Bauunternehmer Jahnke, dem der Club gehört. Doch auch andere Prominenz zieht das besondere Ambiente an – darunter einige, die schon seit längerem im Visier der Steuerfahndung stehen. Karolina Dahl, Kriminalkommissarin beim LKA, wird undercover nach Sylt geschickt. Sie schleicht sich bei Jahnke ein und gaukelt ihm vor, Kontakt zu Geldwäschern zu suchen. Jahnke verspricht, ihr zu helfen, doch dann ist er tot – und Kari steht unter Mordverdacht …

Ben Kryst Tomasson

Sylter Affären

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

Danksagung

Über Ben Kryst Tomasson

Impressum

1.

»Ein Buch?«, fragte Götz Marquardt und runzelte die Stirn. »Jemand will ein Buch über dich schreiben?«

Siegmund Jahnke lehnte sich in seinem Sonnensessel zurück und schwenkte die Eiswürfel in seinem Whiskyglas.

»Warum nicht?«, sagte er und ließ den Blick über das aufgewühlte Meer schweifen.

Hohe Wellen brachen sich weit draußen und rollten auf den Strand zu. Fontänen weißer Gischt spritzten an der Wasserkante auf. Dunkle Wolken trieben vorbei und warfen bizarr geformte Schatten auf Meer und Land. Dann trieb der stürmische Wind sie weiter. Die Sonne blitzte wieder hervor und tauchte den Strand in ein strahlendes Licht.

Siegmund Jahnke und Götz Marquardt saßen auf der Terrasse des neuen Restaurants im Norden von Westerland. Oben auf dem Deich, mitten im Landschaftsschutzgebiet, mit einem einmaligen Blick über den Strand. Eigentlich kein Baugebiet, aber mit ein paar gut gestreuten bunten Scheinen und der einen oder anderen eingeforderten Gefälligkeit war auch auf Sylt noch so einiges möglich. Jedenfalls für jemanden wie Siegmund Jahnke.

Im Augenblick waren sie die einzigen Gäste. Das Lokal würde erst am Abend mit einer feierlichen Gala eröffnet werden.

Siegmund Jahnke strich mit einer fast zärtlichen Geste über die Armlehne seines Sessels und betrachtete zufrieden die große Terrasse mit den hellen Bankirai-Holzbohlen und den bequemen Sonnenstühlen. Der »Club Royale« war mehr als nur sein neuestes Bauprojekt. Er war sein Baby.

Jahnke machte eine ausladende Handbewegung, die nicht nur den Club, sondern den gesamten Deich, den Strand und das Meer einschloss.

»Warum soll nicht jemand ein Buch über mich schreiben?«, fragte er. »Ich habe mir schließlich etwas aufgebaut.«

Götz Marquardt betrachtete seinen Geschäftspartner. Er hätte nicht gesagt, dass Siegmund Jahnke ein Freund war. Dazu war das Business zu heikel, das Risiko zu groß, die Vorsicht ein ständiger Begleiter. Aber wenn es in Marquardts Leben überhaupt jemanden gab, der einem Freund nahekam, war es Siegmund Jahnke.

»Ich rate dir davon ab«, sagte er und nippte an seinem Wasserglas. »Willst du wirklich, dass jemand in unseren Geschäften herumschnüffelt? Am Ende fliegt noch alles auf.«

Siegmund Jahnke winkte mit großer Geste ab. »Ach wo. Was soll so eine kleine Schriftstellerin schon herausfinden?« Er trank einen Schluck von seinem Whisky. Glenmorangie. Hergestellt in dieser feinen, kleinen Brennerei in Tain in den schottischen Highlands. Etwas anderes kam für ihn nicht in Frage. Nicht, seit er es sich leisten konnte.

»Ich habe sie eingeladen. Sie kommt heute Abend zur Eröffnungsgala.«

Götz Marquardt seufzte ergeben und stellte sein Wasserglas zurück auf den niedrigen Tisch zwischen den Sonnensesseln. Wenn sich Siegmund Jahnke zu etwas entschlossen hatte, konnte man es ohnehin nicht mehr ändern.

Jahnke zwinkerte ihm zu.

»Sie wird dir gefallen«, sagte er. »Ihr Agent hat mir ein Foto geschickt. Groß. Blond. Sportlich. Augen wie das Meer. Blau und grau und ein bisschen kühl. Aber ich bin sicher, dahinter brodelt es.«

***

Karolina Dahl schüttelte den Kopf.

»Ein Buch?«, fragte sie. »Du willst, dass ich ein Buch schreibe?«

Ole Lund wippte in seinem bequemen Schreibtischsessel und lächelte. »Ich will, dass du so tust, als würdest du ein Buch schreiben«, präzisierte er.

Karolina sprang von ihrem Stuhl auf und trat ans Fenster. Sie blickte auf den Olof-Palme-Damm, auf dem die Autos vorbeirasten. Viel zu schnell, wie immer. Es war kein besonders beschaulicher Anblick, den man von den Fenstern der Abteilung 5 für operativen Einsatz und Ermittlungsunterstützung aus hatte. Im Gegensatz zu vielen anderen Behörden residierte das Landeskriminalamt Schleswig-Holstein nicht in der Nähe der Förde, sondern im Mühlenweg, direkt neben der Kieler Stadtautobahn.

»Das ist wirklich die blödeste Idee, die du jemals hattest«, erklärte Karolina.

Ole Lund schmunzelte. »Das sagst du jedes Mal.«

Karolina drehte sich zu ihm um. »Ja. Aber dieses Mal habe ich recht. Ich kann nicht schreiben. Ich verabscheue es. Das weißt du doch. Ich schreibe keine Briefe, keine E-Mails, keine SMS. In der Schule habe ich Aufsätze gehasst wie die Pest. Ich hatte nicht mal als junges Mädchen ein Tagebuch.«

Lund nickte. »Hm. Deine Mutter hat so etwas erwähnt. Ich glaube, sie sagte etwas von einem analen Problem. Dass du deine Gefühle nicht rauslassen willst.«

Karolina schnaubte. »Meine Mutter ist Psychotherapeutin. Sie kann nicht akzeptieren, wenn jemand eine klare Meinung zu etwas hat. Sie meint immer, es seien Widerstände.«

»Meistens hat sie recht«, warf Lund ein.

Karolina lächelte. »Ja«, gab sie zu. »Aber ich habe keine Schreibphobie. Ich kann es nur einfach nicht.«

Lund zuckte mit den Schultern. »Niemand erwartet, dass irgendein Verlag das Werk am Ende kauft. Aber als Schriftstellerin hast du die perfekte Tarnung. Keiner wird sich wundern, wenn du neugierig bist und Fragen stellst. Im Gegenteil, die Leute werden sich geschmeichelt fühlen. Sie werden freiwillig zu dir kommen, weil sie hoffen, dass sie in deinem Buch auftauchen.«

Karolina setzte sich kopfschüttelnd wieder auf ihren Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches. Lund war ihr Freund, aber er war auch ihr Vorgesetzter. Und wenn das hier ihr Auftrag war, dann war es eben so.

»Gut«, sagte sie. »Ich schreibe also ein Buch. Über den Bauunternehmer Siegmund Jahnke auf Sylt.«

Lund nickte. »Du fliegst sofort. Heute Abend steigt die Eröffnungsparty seines neuen Lokals.« Er warf einen Blick auf den Zettel, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Club Royale«, sagte er und hob spöttisch die Mundwinkel. »Nomen est Omen.«

Karolina nickte. »Club Royale.« Ein Ort für die Schönen und Reichen. Für die, die schon von allem genug hatten. Und die trotzdem den Hals nicht vollbekamen. Eine innere Leere, würde ihre Mutter, die Psychotherapeutin, sagen. Aber Karolina hielt es da mehr mit ihrem Vater, dem Hubschrauberpiloten. Er flog das Kieler Notarztteam zu seinen Einsätzen und hatte in seinem Leben schon mehr Blut gesehen als jeder Pilot eines Kampfhubschraubers. Und er war der Ansicht, dass man seine persönlichen Bedürfnisse nicht auf Kosten anderer befriedigen durfte.

Karolina musste plötzlich schmunzeln. Ihre Eltern diskutierten oft genauso erbittert wie Ole Lund und sie. Ihre Mutter warb für Verständnis, ihr Vater für Anstand. Aber im Grunde wollten sie beide dasselbe, und das wussten sie auch. Ein Grund, weshalb sie immer noch so liebevoll und zärtlich miteinander umgingen wie zu Beginn ihrer Ehe.

Karolina verscheuchte ihre Gedanken und sah Ole Lund an.

»Gut«, wiederholte sie. »Wer bin ich?«

Lund nahm einen Reisepass aus seiner Schreibtischschublade und reichte ihn Karolina. Sie nahm den Pass und schlug ihn auf.

»Kari?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Kari Blom?« Sie sah Lund gereizt an. »Was soll das sein? Eine Halskrankheit?«

Lund lächelte und rückte seinen Krawattenknoten zurecht. Karolina hatte ihn noch nie ohne Schlips im Büro gesehen. Dabei hatte er so gut wie keinen Publikumsverkehr. Aber sie musste zugeben, dass ihm das Businesshemd und die schmale Designerkrawatte standen.

»Ein Pseudonym«, entgegnete er. »Ein Künstlername.« Seine Lippen kräuselten sich, und in seinen Augen blitzte der Schalk. »Du bist es doch, die darauf besteht, dass deine Tarnnamen ähnlich klingen wie dein echter Name«, erklärte er. »Weil du sonst nicht darauf reagierst.«

Karolina nickte.

»Ja. Wie zum Beispiel Katja, Karla, Katarina. Oder Carmen, Carina, Karen. Um nur einige zu nennen. Aber Kari?«

»Sei lieber dankbar, dass ich mich nicht für Kari Es entschieden habe.«

Karolina schüttelte den Kopf. »Ehrlich, Ole. Wir machen das hier nicht zum Spaß.«

Ole Lund grinste. »Nein? Schade.«

Er griff wieder in seine Schreibtischschublade und zog einen dünnen Schnellhefter hervor. Bei Lund lag nie etwas auf dem Tisch, das er gerade nicht brauchte. Lund schlug den Hefter auf und reichte Karolina ihr Flugticket.

»Also, Kari«, sagte er. »In zwei Stunden geht dein Flieger. Und heute Abend bist du auf der fettesten Party, die Sylt je gesehen hat.« Er lächelte ironisch. »Wenn man der Klatschpresse glauben darf.«

2.

Der Festsaal im »Club Royale« war dezent geschmückt. Die indirekte Beleuchtung warf ein vorteilhaftes Licht auf die versammelte Sylter High Society. Es betonte die teuren Kleider und die sorgfältig toupierten Frisuren, ließ aber Falten, Runzeln und hängende Kinnpartien weitgehend im Schatten. Überall blitzten goldene Ketten und Armbanduhren.

Der Champagner floss in Strömen, und das Büfett, das an der rückwärtigen Seite des Saals aufgebaut worden war, wurde von einer nicht kleiner werdenden Traube von Menschen umlagert. Sie schaufelten sich Kaviar, Hummer und Garnelen auf die Porzellanteller mit dem dezenten Friesenmuster, als hätten sie seit Wochen nichts gegessen. Was zumindest auf den schlanken Teil der Frauen vermutlich auch zutraf. Soweit Siegmund Jahnke wusste, nahmen sie gewöhnlich nicht mehr als ein halbes Salatblatt zu sich. Die andere Gruppe der Frauen, die den Kampf um die schlanke Linie längst aufgegeben hatte, aß ebenso genüsslich wie hemmungslos. Wer nicht maßhalten konnte, fing angesichts dieses Buffets sicherlich nicht damit an.

Jahnke bemerkte, dass sich auch die anwesenden Männer in zwei Fraktionen einteilen ließen: jene, die die Etikette wahrten und sorgfältig bescheidene Portionen auf dem Porzellan arrangierten, und jene, die sich die Teller vollhäuften, als fürchteten sie, es könne früher oder später nichts mehr geben. Als ob so etwas auf einer von Jahnkes Partys jemals vorgekommen wäre.

Siegmund Jahnke grinste. Die Gala war ein voller Erfolg. Jeder, der eine Einladung erhalten hatte, hatte sich geschmeichelt gefühlt, und alle hatten den großartigen Neubau auf der Deichkrone gelobt. Der »Club Royale« war aber auch wirklich ein Schmuckstück.

Siegmund Jahnke blickte zu Götz Marquardt, der neben ihn getreten war. Wie immer trank er nur Wasser. Marquardt war überzeugt davon, dass er seinen Erfolg seinem klaren Kopf verdankte. Und den wollte er sich nicht vernebeln lassen. Man wusste ja nie, wann man ihn brauchte.

»Schöne Feier«, sagte Marquardt.

Jahnke nickte. »Ja. Und das Beste kommt noch.«

Er legte Marquardt einen Arm um die Schultern und führte ihn zur Schmalseite des Saals, wo auf einer halbrunden Bühne ein Quartett mit Querflöte, Oboe, Violine und Kontrabass spielte. Jahnke machte den Musikern ein Zeichen, und sie beendeten das Stück mit einem etwas misstönenden Akkord.

Siegmund Jahnke betrat die Bühne. Sofort eilte ein schwarzbefrackter Kellner herbei und reichte ihm ein schnurloses Mikrofon. Jahnke klopfte prüfend auf das Gehäuse, und aus den Lautsprechern erklang ein krachendes Geräusch. Jahnke nickte zufrieden.

»Liebe Freunde«, sagte er ins Mikro.

Die Gespräche im Saal verstummten, und die Gäste blickten zu ihm herüber.

»Kommt ein bisschen näher«, forderte er sie auf.

Die Anwesenden versammelten sich um die Bühne, bis sie im Halbrund standen.

»Ihr wisst, ich mag keine großen Reden«, erklärte Siegmund Jahnke. »Deswegen will ich euch nur danken, dass ihr alle gekommen seid, um mit mir die Eröffnung dieses wunderbaren Ortes zu feiern.« Er blickte zu Götz Marquardt und lächelte. »Zugleich ist es auch eine Feier für dich, Götz. Zu deinem Geburtstag. Alles Gute!«

Die Gäste im Halbrund klatschten. Siegmund Jahnke gebot ihnen mit einer knappen Handbewegung Einhalt.

»Wir kommen jetzt zum Höhepunkt des Abends«, verkündete er und ging zurück zu Marquardt. Dann gab er dem Flötisten des Musikquartetts ein Zeichen.

»Bühne frei für den Festakt!«

Die vier Musiker trugen ihre Stühle an die Rampe und setzten sich wieder. Dann begannen sie ein Stück zu spielen, das an Karnevalsmusik erinnerte. Zwei Kellner schoben eine riesige bunte Torte auf einem Rollwagen herein. Sie sah so appetitlich aus, dass Marquardt erst auf den zweiten Blick realisierte, dass sie aus Pappmaché war. Die Kellner platzierten die Torte genau in der Mitte der Bühne und traten zurück.

Die Musik steigerte sich zu einem Tremolo. Aus den Kerzen auf der Torte schoss ein Feuerwerk. Durch die Menge der Zuschauer ging ein Raunen. Und dann klappte der Deckel der Torte auf.

Eine schlanke Frau mit langen schwarzen Haaren stieg heraus. Einer der Kellner schob eine fahrbare Treppe herbei und half der Frau die Stufen herunter. Sie trug ein bodenlanges, grün schimmerndes Kleid. Ihr Gesicht war hinter einer ebenfalls grün schimmernden venezianischen Maske verborgen.

Siegmund Jahnke sah Marquardt erwartungsvoll an. Der verzog den Mund. Eine Frau aus der Torte – das war doch ein alter Hut.

Die Frau trat an den Bühnenrand und ließ sich von einem der Kellner das Mikrofon reichen. Die Musiker hörten auf zu spielen. Stattdessen erklang jetzt ein Playback vom Band, das Marquardt bekannt vorkam. Eine Ballade, die an James Bond-Filme erinnerte.

Die Frau begann zu singen:

»Waking in the rubble

Walking over glass

Neighbours say we’re trouble

Well their time has passed

Peering from the mirror

No, that isn’t me

A stranger getting nearer

Who can this person be?«

Damit riss sich die Sängerin die Maske vom Gesicht. Darunter kam das bärtige Gesicht eines jungen Mannes zum Vorschein. Die Menge johlte. Götz Marquardt schluckte. Jetzt hatte er das Lied erkannt.

»Rise like a phoenix«, sang der junge Mann, »Out of the ashes …«

***

Das Gejohle der Gäste war bis zum Parkplatz unten vor dem »Club Royale« zu hören.

Kriminalhauptkommissar Jonas Voss starrte missmutig auf die Holztreppe, die zum Eingang des Restaurants führte. Neben ihm im Wagen saß seine Kollegin, Kriminalkommissarin Hannah Behrends. Auch sie hatte schlechte Laune.

»Als ob wir nichts Besseres zu tun hätten, als hier für die Sylter High Society die Türsteher zu spielen«, beschwerte sie sich. »Wir sind doch nicht die Bereitschaftspolizei.«

Voss machte eine vage Handbewegung. »Auf Sylt ist das eben ein bisschen schwierig. Sollen die Kollegen alle mit dem Autozug kommen? Und wenn hier so viel Prominenz anreist, muss halt jemand aufpassen.«

Hannah runzelte die Stirn. »Dir gefällt das doch auch nicht«, wandte sie ein.

»Nein. Gefallen tut es mir nicht.«

Voss blickte zu einer blonden jungen Frau, die gerade aus einem Taxi stieg. Sie trug ein enganliegendes silbernes Kleid und sah einfach umwerfend aus.

Hannah, die seinen Blick bemerkte, schnaubte leise. »Das ist nicht ganz deine Preisklasse, oder?«

Voss musterte die Frau. Sie sah nett aus. Gar nicht wie ein Mitglied jener besseren Gesellschaft, die auf einen Polizisten wie ihn nur spöttisch herabsah. Eher wie jemand, der die Natur, das Leben und die Freiheit liebte. Aber vermutlich war das auch nur Fassade.

»Vor allem gefällt mir nicht, dass Olivia mit den Kindern allein ist«, wechselte er das Thema. »Wenn ich nicht da bin, sitzen sie die halbe Nacht vor dem Fernseher und stopfen sich mit Pizza und Chips voll. Und die Wohnung sieht hinterher aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.«

Hannah Behrends lächelte. Ihr Kollege hatte kein Glück mit seinen Kindermädchen. Seit seine Frau ihn wegen der Karriere verlassen hatte, war Jonas Voss’ Leben bestimmt von der Suche nach einem Au-pair-Mädchen, das zumindest ein bisschen erwachsener war als seine beiden Kinder. Bisher hatte er keines gefunden. Wenn man bedachte, dass Jasper und Finja gerade erst acht und elf waren, sagte das einiges über die Qualität der Kindermädchen.

Was Jonas Voss fehlte, war eine neue Frau an seiner Seite. Eine Rolle, in der sich Hannah gerne selbst gesehen hätte. Aber bisher hatte Voss ihre Avancen nicht einmal bemerkt. Zumindest hatte er so getan.

***

Siegmund Jahnke kam mit ausgebreiteten Armen auf Kari zu.

»Sie müssen Kari Blom sein«, rief er.

Kari lächelte schmal. Ja. Das war sie dann wohl.

Jahnke ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. Dann trat er einen Schritt zurück, ohne ihre Hand loszulassen. Er betrachtete ihr silbern glitzerndes Kleid. Für einen Moment blieben seine Augen an ihrem Busen hängen. Dann wanderten sie weiter zu ihrem Gesicht und ihrer modischen Haarfrisur. Ganz offensichtlich gefiel ihm der Anblick.

»Sie sehen fantastisch aus!«, erklärte er und zog sie mit sich in den Festsaal.

Der Travestiekünstler stand noch immer auf der Bühne und gab Chansons zum Besten.

Kari, die kulturelle Grenzüberschreitungen schon immer gemocht hatte, lächelte.

Siegmund Jahnke dirigierte sie zu einem großgewachsenen, schlanken Mann mit kurzen dunklen Haaren, der mit einem Wasserglas in der Hand vor der Bühne stand und offenbar nicht recht wusste, was er von der Darbietung halten sollte.

»Götz!«, rief Jahnke und blieb vor dem Mann stehen. »Das ist sie!«

Der Dunkelhaarige legte den Kopf schief. »Wer?«

Kari bemerkte, dass alles an ihm schmal war: die langen, feingliederigen Hände, die gerade Nase und die Augen. Kohleschwarze Augen, die sie durchdringend ansahen. Er war ein sehr attraktiver Mann. Ein gefährlicher Mann.

»Die Frau, die das Buch über mich schreiben will«, erklärte Jahnke und schnappte sich zwei Champagnerkelche vom Tablett eines vorbeieilenden Kellners. Er reichte Kari eines der Gläser und stieß mit ihr an. »Kari Blom. Und das …«, er wies mit dem Kinn auf den Dunkelhaarigen, »… ist Götz Marquardt. Mein Anwalt und Steuerberater. Und mein Freund.«

Marquardts Mundwinkel hoben sich eine Winzigkeit. »Ah«, sagte er eine Spur freundlicher. »Siegmund hat mir davon erzählt. Aber Ihr Name sagt mir nichts. Sie schreiben Ihr erstes Buch?«

Kari lächelte. »Nein. Ich schreibe unter Pseudonym. Ich mag den Trubel nicht, den man um erfolgreiche Autoren macht.«

»So?« Der Dunkelhaarige musterte sie scharf. »Und wie lautet Ihr Pseudonym?«

Karis Lächeln vertiefte sich. »Der Sinn eines Pseudonyms ist, dass man nicht erkannt wird. Da wäre es nicht sehr sinnvoll, wenn ich es auf einer Party zum Besten gäbe, meinen Sie nicht?«

Der Dunkelhaarige hob nur die Augenbrauen.

Sein Freund Jahnke lachte schallend. »Das ist eine Frau nach meinem Geschmack«, erklärte er.

Kari tat so, als fühlte sie sich geschmeichelt. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Ihnen gleich ein paar Fragen stelle?«, erkundigte sie sich. »Ich möchte gern so schnell wie möglich mit der Arbeit an meinem Buch beginnen.«

»Ja. Wunderbar«, rief Jahnke. »Fragen Sie.«

Kari warf einen Blick auf Götz Marquardt, der sie misstrauisch musterte.

»Ich würde lieber unter vier Augen mit Ihnen reden«, sagte sie. »Die Grundlage eines solchen Projekts ist ein Vertrauensverhältnis, das man zunächst aufbauen muss.«

Siegmund Jahnke nickte enthusiastisch. »Sie haben vollkommen recht«, bestätigte er und legte ihr eine Hand auf den Rücken. »Du entschuldigst uns?«, sagte er zu Marquardt. »Wir haben noch etwas zu erledigen. Etwas … Intimes.«

Er wollte Kari aus dem Saal führen, aber bevor er dazu kam, stellte sich ihnen eine Frau in einem nachtblauen Abendkleid in den Weg. Sie hatte die weißblonden Haare hochtoupiert, und um ihren schmalen Hals lag eine glänzende Perlenkette. In ihr Gesicht, das vermutlich einmal hübsch gewesen war, hatten sich tiefe Falten gegraben. Trotzdem hätte sie eine imposante Erscheinung abgegeben – wenn sie nicht so offensichtlich betrunken gewesen wäre.

Die Frau hob ihr Champagnerglas.

»Siegmund! Was für ein wunderbarer Abend«, rief sie. Ihre Stimme schnarrte, und sie verschliff die S-Laute. »So ein herrliches Geschenk für Götz. Und ein ganz besonderes Bonbon für dich.«

»Patrizia.« Siegmund Jahnke lächelte bemüht. »Meine Frau«, erklärte er an Kari gewandt, ehe er wieder die Frau im nachtblauen Kleid ansah. »Das hier ist Kari Blom«, sagte er. »Sie schreibt eine Biografie über mich. Ganz sachlich.« Er bedachte seine Frau mit einem tiefen Blick. »Nüchtern.«

Die Lippen von Patrizia Jahnke wurden schmal. »Du kannst es nicht lassen, mich zu demütigen, nicht wahr?«, fauchte sie.

Jahnke hob das Kinn. Er machte eine vage Geste, mit der er die Gäste erfasste, die neugierig zu ihnen herübersahen.

»Meine Mitwirkung scheint dabei nicht nötig zu sein, meine Liebe. Du erledigst das schon ganz hervorragend allein.«

Patrizia Jahnke schnaubte wütend. Dann schüttete sie ihrem Mann mit einer schnellen Bewegung ihren Champagner ins Gesicht. Kari trat rasch zur Seite. Jahnke zog ein Stofftaschentuch aus der Innentasche seines Sakkos und wischte sich das Gesicht ab.

»Du machst dich lächerlich, Patrizia.«

Seine Frau hob den Arm, um mit dem leeren Glas nach ihrem Mann zu werfen, aber Götz Marquardt kam ihr zuvor. Mit einem Schritt war er neben Patrizia Jahnke und entwand ihr den Champagnerkelch. Dann ergriff er ihre Hand.

»Komm«, sagte er. »Wir machen einen kleinen Spaziergang am Strand.«

Damit zog er die Frau des Bauunternehmers durch die offenstehenden Flügeltüren auf die Terrasse und ging mit ihr die große Treppe hinunter zum Strand.

Siegmund Jahnke strich sich die dünnen blonden Haare aus der Stirn. »Verzeihen Sie«, sagte er und lächelte. »Aber jetzt sind wir ungestört.«

Er dirigierte Kari aus dem Saal zu einer Tür mit der Aufschrift »Privat«, die er mit einer übertriebenen Verbeugung öffnete. Dann schob er Kari hinein.

Es war eine Art Büro, mit einer Sitzgruppe in der einen und einem breiten Sofa in der anderen Ecke. Die riesigen Fenster wiesen zur Wasserseite hinaus und eröffneten einen fantastischen Blick über den Strand und das Meer. Jetzt, in der Dämmerung, die in einer Sommernacht wie dieser erst spät einsetzte, leuchtete der Sand golden und die Nordsee tiefblau. Eine glutrote Sonne versank in den Wellen und tauchte den von Nebelschleiern überzogenen Himmel in alle möglichen Schattierungen von Orange. Es war wie der Blick auf eine riesige, grellbunte Kitschpostkarte. Aber es war auch wunderschön.

Jahnke führte Kari zum Sofa und drückte sie sanft auf die Sitzfläche.

»Einen Moment«, sagte er und ging zur Tür. »Ich ziehe mir nur schnell ein frisches Hemd an und hole uns noch etwas Schönes zu trinken. Und dann machen wir es uns gemütlich.«

Kari sah ihm mit einem flauen Gefühl nach. Sie war sich ganz und gar nicht sicher, dass Siegmund Jahnke sie richtig verstanden hatte.

3.

Als Kari die Augen aufschlug, drehte sich alles um sie herum. Das Bild mit den Schiffen gegenüber von ihrem Bett. Der Schrank und der Schreibtisch aus rötlichem Kastanienholz. Und die blau-weiß gemusterten Vorhänge vor dem Fenster, durch die sich ein paar Sonnenstrahlen stahlen und ihr ins Gesicht stachen.

Kari schloss die Augen wieder und stöhnte. Sie vertrug einfach keinen Alkohol. Aber zu ihrer Rolle als weltgewandter Autorin hätte es nicht gepasst, sich den ganzen Abend an einem Glas Wasser festzuhalten wie Jahnkes Freund Marquardt. Zu dem silbern glitzernden Kleid und dem perlenden Lachen, mit dem sie Siegmund Jahnke umgarnt hatte, gehörte einfach ein Glas Champagner. Und weil sie viel zu reden gehabt hatten, hatte sie gelegentlich etwas trinken müssen. Offenbar war es mehr gewesen, als sie gedacht hatte. Oder hatte Jahnke ihr etwas ins Glas getan?

Erst jetzt bemerkte sie, dass nicht die Sonnenstrahlen sie geweckt hatten. Es war ihr Smartphone, das fordernd piepte und vibrierend in ihrer Handtasche herumhüpfte. Kari streckte den Arm aus und bekam den Riemen der Handtasche zu fassen. Sie zog das Smartphone heraus, ohne die Augen zu öffnen, und nahm das Gespräch an.

»Ja?«

»Oh, oh.« Die Stimme von Ole Lund war unverkennbar spöttisch. »Die Party war wohl wirklich fett.«

Kari massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Es half ein wenig gegen den Kopfschmerz, der sich von dort ausbreitete.

»Na ja«, sagte sie. »Das Übliche. Teure Kleider, dickes Make-up, hübsche Fassaden. Und dahinter jede Menge psychische Probleme.«

»Ah!« Lund lachte. »Heute die Stimme deiner Mutter.«

Kari seufzte. »Meine Mutter hat einen guten Blick für diese Dinge. Das weißt du.«

»Ja.« Lund wurde ernst. »Und du hast ihn auch.« Er machte eine kurze Pause, um den Sprung zum nächsten Thema sanfter zu gestalten. »Hast du etwas erreicht?«, fragte er dann.

Kari atmete tief durch. Dann schlug sie die Augen auf und schwang die Füße aus dem Bett. Sie fühlte sich ein wenig wackelig auf den Beinen, aber als sie das Fenster öffnete und die kühle Morgenluft einsog, wurde ihr Kopf klarer.

»Mehr, als ich zu hoffen gewagt habe«, erwiderte sie und schaute auf den blühenden Garten und das kleine Stück Wattenmeer, das zwischen den Büschen hindurchblitzte. »Ich habe Siegmund Jahnke vorgemacht, dass ich mir von den Buchhändlern hohe Zusatzhonorare für meine Lesungen zahlen lasse. Schwarz und in bar natürlich. Und dass ich dieses Geld gern auf ein Konto im Ausland transferieren würde. In die Schweiz oder nach Liechtenstein.«

»Sag nicht, er ist darauf eingegangen.«

Kari lachte leise. »Zuerst nicht. Er hat sich aufgeplustert und gesagt, er mache keine krummen Geschäfte. Bei ihm sei alles legal und ordnungsgemäß versteuert.«

»Die Kollegen von der Steuerfahndung sehen das anders«, warf Lund ein.

»Ja. Und sie haben recht«, erklärte Kari. »Ich habe Jahnke die große Enttäuschung vorgespielt. Du weißt schon. Von einem gewieften und weltgewandten Geschäftsmann hätte ich erwartet, dass er nicht so brav und bieder wäre. So langweilig.«

»Und er hat angebissen.«

Kari lächelte leicht. »Ich hatte das silberne Kleid an.«

»Oh!« Ole Lund lachte. »Das Kleid.«

Kari sah in den blauen Himmel, auf dem weiße Wolken vorbeirasten wie auf einer Autobahn. Sie würde eine Runde laufen gehen. Und danach würde sie Siegmund Jahnke in mundgerechte Häppchen zerlegen.

»Jahnke hat angedeutet, dass er seine Gelder mit irgendeiner Immobiliensache an der Steuer vorbeischleust. Wie das genau geht, wollte er mir nicht verraten. Aber er hat mir versprochen, dass er mich den entsprechenden Leuten vorstellt. Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn an die Wand nageln können.«

Ole Lund schnalzte mit der Zunge. »Gute Arbeit, Kari«, sagte er. »Wie immer.«

***

Kriminalhauptkommissar Jonas Voss rannte die Treppe ins Erdgeschoss hinunter und wäre beinahe auf einem feuerroten Spielzeugauto ausgerutscht. Im letzten Moment übersprang er die gefährliche Stufe. Er geriet ein wenig ins Straucheln, fing sich aber wieder.

Als er die Tür zum Wohnzimmer aufstieß, stöhnte er laut. Aus den Polstern der Sitzgarnitur war ein windschiefes Zelt gebaut worden, auf dem Wohnzimmertisch lagen leere Pappverpackungen mit halbgegessenen Pizzen, und auf dem Boden stritten die Puppen seiner Tochter mit den Spielzeugautos seines Sohnes um die Vorherrschaft. Und irgendwo in diesem Chaos befand sich das Telefon, das fordernd klingelte.

»Olivia?«, rief Voss in der Hoffnung, das spanische Kindermädchen würde auftauchen und ihm beim Suchen helfen. Natürlich vergeblich.

Er ließ sich auf die Knie nieder und schlüpfte in das Polsterzelt. Dort fand er klebrige Becher mit dicken Kakaoresten, ein angebissenes Stück Stremellachs – und das Mobilteil seines Telefons.

Voss griff danach und drückte auf den Rufannahmeknopf. Dann zog er ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte den Fettfilm vom Telefon.

»Voss«, meldete er sich, während er das Telefon in die andere Hand wechselte und seine fettigen Finger mit dem Papiertuch reinigte. Als er hörte, was ihm seine Kollegin Hannah Behrends mitzuteilen hatte, ließ er das Tuch fallen.

»Ja«, sagte er. »Ich komme sofort.«

***

Als er zehn Minuten später auf seinem Fahrrad saß, war Jonas Voss außer Atem. In aller Eile hatte er Hemd und Hose übergestreift, sich die Zähne geputzt und ein wenig Wasser ins Gesicht gespritzt. Die größte Anstrengung hatte darin bestanden, Olivia zu wecken. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht sofort wieder eingeschlafen war, sondern es schaffte, Jasper und Finja in die Schule zu bringen.

Das rostige alte Hollandrad ächzte und stöhnte, als Voss kräftiger in die Pedalen trat. Er sollte sich wirklich bald ein neues Rad kaufen. Aber er kam einfach nicht dazu. Genauso wenig, wie er es schaffte, sich endlich nach einer neuen Partnerin umzusehen. Nach einer, die sich anständig um Jasper und Finja kümmerte. Und die ihn nicht sitzen ließ wie Friederike, die ihr Leben nicht als Hausfrau und Mutter auf Sylt fristen wollte, sondern lieber als Konzertpianistin um die Welt tingelte.

Voss strampelte die Keitumer Landstraße entlang, die hinter Tinnum zur Keitumer Chaussee wurde und schließlich in den Kirchenweg mündete. Dort lag das Polizeirevier, in dem Voss sein Büro hatte, aber heute nahm er sich nicht die Zeit, hineinzugehen. Hinter dem Westerländer Bahnhof überquerte er Trift und Maybachstraße und radelte durch die Friedrichstraße, Westerlands große Einkaufsstraße, zum Strandaufgang. Natürlich war hier Fußgängerzone, doch Voss hatte nicht die Muße, sich an die Vorschriften zu halten. Er schlängelte sich zwischen den schon am frühen Morgen zahlreichen Touristen hindurch und stieg erst ab, als er den Strandübergang erreicht hatte. Der Mann im Strandwärterhäuschen winkte ihn durch, als er seinen Polizeiausweis zückte.

Voss wischte sich den Schweiß von der Stirn und trabte hinunter zur Kurpromenade. Für einen kurzen Moment blieb er stehen und genoss den Blick auf die Nordsee und den breiten Strand mit den unzähligen blau-weiß gestreiften Strandkörben. Dann stieg er wieder aufs Rad, stemmte sich gegen den scharfen Wind und fuhr über die Promenade bis zum »Sunset Beach«. Direkt hinter dem Bistro und der gleichnamigen Surfschule am Brandenburger Strand ragte der imposante Neubau auf, vor dem er mit seiner Kollegin die halbe Nacht Wache gehalten hatte. Offenbar vergebens.

4.

Siegmund Jahnke saß in seinem Sessel am Fenster, beide Hände lässig auf die Armlehnen gelegt, den Blick starr auf die großartige Landschaft hinter dem Panoramafenster gerichtet. Allerdings saß er nicht ganz freiwillig dort. In seiner Brust steckte ein Brieföffner. Blut war aus der Wunde ausgetreten und hatte Jahnkes weißes Boss-Hemd besudelt.

Prof. Dr. Susanne Lorenz, die Leiterin der Kieler Rechtsmedizin, kniete vor Jahnke auf dem Boden. Als Voss das Büro des Bauunternehmers betrat, erhob sie sich und kam auf ihn zu. Sie zog die Latexhandschuhe von den Fingern und reichte ihm die Hand.

»Moin«, sagte sie.

»Moin«, erwiderte Voss. Er war froh über diesen norddeutschen Gruß. Jemandem im Angesicht eines Toten einen guten Morgen zu wünschen, hätte ihm missfallen. Denn daran war absolut nichts Gutes.

»Sie waren schnell«, bemerkte er.

Susanne Lorenz lächelte knapp. »Sie wissen doch. Mit dem Flieger von Kiel nach Westerland ist es ein Katzensprung.«

Voss nickte. Dann deutete er auf den toten Jahnke.

»Können Sie schon etwas sagen?«

»Nun ja.« Die Rechtsmedizinerin zog die Kapuze ihres Tyvek-Anzugs vom Kopf. Darunter kam ein kurzer blonder Lockenkopf zum Vorschein. »Die Todesursache ist offensichtlich, denke ich.«

Hannah Behrends, Voss’ Kollegin vom Polizeirevier Sylt, kam aus einem Nebenraum. »Er wurde erstochen«, sagte sie. »Wann?«

Die Rechtsmedizinerin zog einen digitalen Notizblock hervor. »Der Ausprägung der Leichenstarre und der Temperaturmessung nach zu urteilen letzte Nacht zwischen elf und eins«, erklärte sie. »Mit etwas Glück kann ich es nach der Obduktion noch genauer sagen.«

Voss nickte und sah sich um. Die Kollegen von der Kriminaltechnik waren bereits am Werk und verteilten ihre Nummerntäfelchen, verpackten Spurenträger in Plastikbeutel, machten Fotos von Leiche und Tatort und stäubten alle in Frage kommenden Oberflächen mit ihrem Fingerabdruckpulver ein.

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte er Hannah Behrends.

Seine Kollegin wies durch die offene Tür in den Flur. Dort saß ein junges Mädchen mit dunklem Rock, weißer Bluse und Schürze auf einem Stuhl und tupfte sich mit einem zerknüllten Papiertaschentuch das Gesicht ab.

»Sie heißt Dortje Bremer und arbeitet als Kellnerin im ›Club Royale‹. Sie sagt, sie wollte Jahnke die Lieferscheine von der Feier gestern Abend heraufbringen. Sie dachte erst, er spiele mit ihr, weil er sich nicht umgedreht hat, als sie hereinkam. Als sie dann zu ihm hingegangen ist, hat sie einen Schock gekriegt.« Hannah deutete auf die Lieferscheine, die verstreut um Jahnkes Sessel herumlagen. »Immerhin war sie so klug, nichts anzufassen. Sie hat den Raum sofort verlassen und den Polizeinotruf gewählt.«

Voss nickte. »Sehr umsichtig«, sagte er und zwinkerte Susanne Lorenz zu. »Und das bei einer so jungen Frau.«

***

Jonas Voss führte Dortje Bremer an die Bar in der Club Lounge. Er schob sie auf einen der Barhocker und füllte ein Schnapsglas mit Weizenkorn.

»Trinken Sie das.«

Die Kellnerin warf ihm einen unsicheren Blick zu. Schließlich zuckte sie mit den Schultern und kippte den Schnaps mit einem Zug hinunter. Sie verzog das Gesicht und schüttelte sich. Dann seufzte sie. Offenbar tat der Alkohol seine Wirkung und milderte den Schock ein wenig.

»Hatten Sie gestern Abend auch Dienst?«, fragte Voss.

Die Kellnerin nickte. »Das war ja die Party des Jahres. Da mussten alle ran.«

Voss sah sich nachdenklich im Raum um. Ein dunkles, männliches Ambiente mit voluminösen Sesseln und weit auseinanderstehenden Tischen. Durch die dichten Vorhänge fiel nur wenig Licht herein. Genau die richtige Atmosphäre für vertrauliche Gespräche über Geschäfte, die nicht an die Öffentlichkeit dringen sollten.

Er wandte sich wieder der Kellnerin zu. »Haben Sie während der Feier etwas beobachtet? Irgendwas Ungewöhnliches?«

Dortje Bremer nestelte nervös an den Knöpfen ihrer Bluse herum. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das war eine tolle Feier. Natürlich nur mit geladenen Gästen. Alles, was auf Sylt Rang und Namen hat.« Sie zerrte an ihrer Schürze. Dann blickte sie plötzlich auf. »Doch. Es gab da einen Aufruhr. Kurz nachdem dieser Travestiekünstler aus der Torte gestiegen war.«

Voss runzelte die Stirn. »Ein Travestiekünstler?«

»Ja.« Dortje Bremer griff nach ihrem leeren Schnapsglas und schaute hinein. Die Erinnerung entlockte ihr ein Lächeln. »Ein Mann im Kleid, aber mit einem Vollbart. So wie diese Conchita Wurst, die den Eurovision Song Contest gewonnen hat. Er hat auch das Lied gesungen. ›Rise like a phoenix‹.«

»Ah.« Voss, der lieber mit den Kindern spielte, als auf den Fernseher zu starren, erinnerte sich dunkel, davon gehört zu haben.

Dortje Bremer nickte. Dann verschwand ihr Lächeln wieder. »Kurz darauf gab es diesen Vorfall. Frau Jahnke hat ihrem Mann eine Szene gemacht.« Sie stellte das Schnapsglas zurück auf die Theke und beschäftigte sich wieder mit den Knöpfen an ihrer Bluse. »Sie hat ihm ihren Champagner ins Gesicht geschüttet.« Die Kellnerin blickte auf und sah Voss an. »Sie war betrunken«, erklärte sie und hob die Schultern. »Das ist sie öfter.«

Jonas Voss suchte vergeblich in seinen Jackentaschen nach Notizbuch und Kugelschreiber. Vermutlich lag die Kladde irgendwo in dem Papierstapel auf seinem Schreibtisch, der niemals kleiner wurde. Und den Kugelschreiber hatte er wahrscheinlich verloren so wie hundert andere Stifte zuvor.

Die Kellnerin, die seine Not bemerkte, stand auf und öffnete eine Schublade hinter der Theke. Sie schob Voss einen Notizblock und einen abgekauten Bleistift hin. Dann setzte sie sich wieder auf den Hocker und zupfte an ihrer Schürze.

Voss notierte sich ihre Aussage.

»Weshalb?«, fragte er dann. »Weshalb hat Frau Jahnke ihrem Mann eine Szene gemacht?«

Die Kellnerin fuhr mit einem Finger über das dunkle Holz der Theke.

»Sie dachte wohl, er wollte mit dieser Frau anbändeln.«

»Mit welcher Frau?«

Dortje Bremer zuckte mit den Schultern. »Ich kannte sie nicht. Sie war gerade erst gekommen. Und nachdem Herr Marquardt – das ist der Anwalt von Herrn Jahnke –, nachdem Herr Marquardt also Frau Jahnke nach draußen gebracht hatte, ist Herr Jahnke mit dieser Frau in sein Büro gegangen.«

Die Kellnerin drehte das leere Schnapsglas in ihren Händen. Dann hob sie ruckartig den Kopf. »Gegen Mitternacht habe ich die Frau noch einmal gesehen. Da kam sie aus dem Büro von Herrn Jahnke. Allein. Und sie sah ziemlich durcheinander aus.«

Voss spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Womöglich hatte Dortje Bremer die Täterin gesehen.

»Können Sie die Frau beschreiben?«

»Groß. Schlank. Blond. Hübsch. Ungefähr Mitte dreißig.«

Voss schrieb eilig mit. Das war keine schlechte Beschreibung. Aber trotzdem würde sich unter den Partygästen vermutlich eine ganze Reihe von Damen finden, die so aussahen.

»Würden Sie die Frau wiedererkennen?«

Dortje Bremer nagte an ihrer Unterlippe. Dann nickte sie. »Ja. Ganz sicher.«

Voss lächelte. Er wusste nur zu gut, wie es um die Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen bestellt war. Sicher geglaubte Erinnerungen verschwammen, wenn sie mit der Realität konfrontiert wurden. Und er hätte sich auch nicht gewundert, wenn die große blonde Frau in Wirklichkeit klein und rothaarig gewesen wäre. Das war alles schon vorgekommen. Aber vielleicht war Dortje Bremer ja eine Ausnahme. Eine der seltenen Zeuginnen, deren Aussage tatsächlich verwertbar war.

5.

Über dem Hinterhof einer Bäckerei, die gerade ihre Türen öffnete, kreisten schreiend ein paar Möwen. Die Sonne, die eben über die Dächer der Häuser kletterte, spiegelte sich in der großen Schaufensterscheibe des Ladens.

Kari Blom sah aus dem Fenster des Taxis, das sie von dem kleinen Gartenhaus in Braderup, das Ole Lund für sie als angebliches Schreibdomizil gemietet hatte, nach Westerland zum »Club Royale« brachte. Durch das Wagenfenster, das einen Spalt geöffnet war, zog zusammen mit der Meeresluft der Duft von frischgebackenen Brötchen herein. Kari lief das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte sich nach ihrer kurzen Runde am Strand entlang nur eine Tasse Instantkaffee aufgegossen. Jetzt bedauerte sie, dass sie das Angebot ihrer Vermieterin, zum Frühstück zu ihr in das herrliche alte Reetdachhaus zu kommen, ausgeschlagen hatte.

Das Taxi fuhr am Wenningstedter Dorfteich vorbei, und Kari erhaschte einen Blick auf den Turm der Friesenkapelle, der gleich hinter dem Teich aufragte. Roter Backstein vor tiefblauem Himmel mit einer goldenen Kugel und einem Kreuz auf dem Ziegeldach. Dann geriet die Kapelle aus dem Blickfeld, weil der Wagen nach links abbog.

»Sind Sie zum ersten Mal auf Sylt?«, fragte der Taxifahrer und musterte Kari eingehend im Rückspiegel. Kari hätte es vorgezogen, wenn er sich mehr auf den Verkehr konzentriert hätte. Er klebte seinem Vordermann fast an der Stoßstange und hatte schon einige Male heftig bremsen müssen, um keinen Auffahrunfall zu verursachen.

»Nein«, sagte sie. »Aber das letzte Mal ist lange her.«

Der Taxifahrer nickte. Er war ein feister Mann mit dünnen dunklen Haaren, die sich feucht um seinen Kopf ringelten. Sein Bauch war so mächtig, dass er nur mit Mühe hinters Steuer passte.

»Da war es sicher schöner«, bemerkte er. »Nicht so viele Leute. Heutzutage trifft man ja kaum noch Einheimische zwischen all den Touristen.«

Kari erwiderte nichts. Sie hatte nicht viel für Menschen übrig, die sich über die Zustände beklagten, von denen sie lebten. Ohne Touristen waren auch Taxifahrer weitgehend überflüssig. Oder Kriminalbeamten ohne Verbrecher. Natürlich wäre die Welt dann vielleicht ein besserer Ort. Aber das war eine philosophische Frage. Eine, die sie, wie sie schmunzelnd dachte, gerne und trefflich mit Ole Lund hätte erörtern können. Sie liebte diese Dispute mit ihm, bei denen sie intellektuell die Klingen kreuzten. Aber nach frustrierter Pöbelei war ihr nicht zumute.

Der Taxifahrer fuhr durch den nördlichen Teil von Westerland, der von hässlichen Hochhäusern dominiert wurde, und bog dann nach rechts ab. Er hielt auf dem Parkplatz vor dem »Club Royale« und sah zu dem imposanten Bau hinauf.

»Eine Schande ist das«, schimpfte er. »So ein Klotz. Und das mitten im Dünenschutzgebiet. Aber Leute wie dieser Baulöwe Jahnke können sich ja alles leisten.«

Kari lächelte. Sie bezahlte den Fahrer und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld.

»Wer weiß«, erwiderte sie und stieg aus. »Wer hoch fliegt, kann auch tief fallen.«

***

Jonas Voss trat aus dem »Club Royale« und atmete auf. Auch wenn das noble Ambiente im Inneren einladend war, fühlte er sich in einer solchen Umgebung fehl am Platz. Und der Tote tat ein Übriges.

Voss blinzelte in die Sonne und strich sich durch die Haare, die eine Windbö zerzaust hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass Dortje Bremer ihm gefolgt war. Die junge Frau war noch immer aufgelöst und fingerte unablässig an ihren Kleidern herum. Und dann wurde sie plötzlich ganz starr. Sie streckte ihre Hand aus und deutete auf den Parkplatz.

Dort stieg gerade die blonde junge Frau, die Voss am Abend zuvor beobachtet hatte, aus einem Taxi. Gestern hatte sie ein teures, silbern glänzendes Kleid getragen. Heute war sie mit einer schlichten hellen Hose, einer dezent gemusterten Bluse und flachen Pumps bekleidet. Falls das überhaupt möglich war, sah sie noch umwerfender aus als am Abend zuvor.

Die Stimme der jungen Kellnerin zitterte. »Das«, flüsterte sie und zeigte auf Kari, »das ist die Frau, die gestern Nacht aus Herrn Jahnkes Büro gekommen ist.«

6.

Kari Blom schlug die Beine übereinander und lehnte sich lächelnd auf ihrem Stuhl zurück. Mit einer beiläufigen Bewegung strich sie den Stoff ihrer Hose glatt und hoffte, dass Kriminalhauptkommissar Jonas Voss und seine Kollegin Hannah Behrends nicht bemerkten, dass ihre Hand zitterte. Sie war weiß Gott keine Anfängerin, und Siegmund Jahnke war nicht der erste Informant, der zu früh das Zeitliche gesegnet hatte. Bei Undercover-Einsätzen im Rotlichtmilieu oder gegen Bandenkriminalität kam so etwas schon mal vor. Aber es war definitiv das erste Mal, dass man Kari als Verdächtige vernahm.

Natürlich war Voss besonnen und professionell genug, um das nicht laut auszusprechen. Offiziell befragte er sie lediglich als Zeugin. Deshalb saßen sie auch nicht in einem sterilen und lichtlosen Vernehmungsraum – wenn es denn so einen in dem kleinen Polizeirevier in Westerland überhaupt gab –, sondern in einem gemütlichen Zimmer mit bunten Vorhängen und einem Bücherregal an der Wand. Und vor ihr auf dem Tisch stand nicht etwa ein Aufnahmegerät samt Mikrofon, sondern eine dampfende Tasse Kaffee. Aber wenn es Zweifel an Karis Rolle in diesem Fall gab, hätte ein Blick in Hannah Behrends’ Augen gereicht, um sie auszuräumen. Voss hatte die junge Kriminalkommissarin schon vor dem »Club Royale« nur mit Mühe davon abhalten können, Kari Handschellen anzulegen. Beinahe trotzig hatte Hannah daraufhin verlangt, dass Kari zumindest an Ort und Stelle erkennungsdienstlich behandelt wurde. Kari hatte es mit kühler Contenance über sich ergehen lassen. Immerhin gabes mittlerweile elektronische Scanner für die Fingerabdrücke, so dass ihre Hände jetzt nicht mit Stempelfarbe beschmutzt waren.

Der Kriminalhauptkommissar räusperte sich.

»Frau Blom«, sagte er. »Was ist gestern Abend passiert?«

Kari trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Er war stark und gut.

»Ich bin gegen halb elf auf die Party gekommen«, erklärte sie, und Voss und Hannah Behrends nickten.

»Ja. Das haben wir gesehen.«

»Aha.« Kari schaute die Kriminalkommissarin verblüfft an. Dann fiel ihr der dunkle Wagen ein, der am Abend auf dem Parkplatz vor dem »Club Royale« gestanden hatte. Sie hatte gemeint, zwei Personen im Inneren zu erkennen. Offenbar hatte man die Sylter Kriminalpolizei dazu verdonnert, sich um den Schutz der Partygäste zu kümmern. Jahnke musste gute Verbindungen gehabt haben, wenn sich die Behörden für so etwas hergaben.

»Sie hatten eine Einladung?«, fragte Voss.

Kari nickte.

»Weil Sie mit Herrn Jahnke befreundet waren? Oder weil Sie mit ihm Geschäfte gemacht haben?«

Kari schüttelte den Kopf. »Weder noch. Ich habe Herrn Jahnke gestern Abend erst kennengelernt. Ich war aus beruflichen Gründen dort.«

Voss runzelte die Stirn. Kari konnte förmlich sehen, wie vor seinem inneren Auge Bilder aufstiegen. Szenen, die er lieber nicht sehen wollte.

»Was genau«, fragte er, »ist denn Ihr … Beruf?«

Kari stellte ihre Kaffeetasse zurück auf den Tisch. »Nicht das, was Sie denken«, entgegnete sie. »Ich bin Schriftstellerin. Ich schreibe ein Buch.«

Hannah Behrends kniff die Augen zusammen. »Über Siegmund Jahnke?«

Kari lächelte. »›Moderne Architektur am Meer. Die Erfolgsgeschichte eines Sylter Bauunternehmers‹.«

Voss verzog den Mund. Er sah aus, als hätte er einem Buch über Jahnke einen anderen Titel gegeben. Einen, der weniger schmeichelhaft war.

»Sie sind also um halb elf gekommen«, sagte er. »Und dann?«

»Jahnke hat mich seinem Freund Marquardt vorgestellt«, erklärte Kari und bemerkte, dass sich Voss’ Miene weiter verdüsterte. Der Anwalt gehörte offenbar auch zum Kreis der Sylter Bürger, die der Kriminalhauptkommissar nicht besonders schätzte. »Und dann gab es einen kleinen Eklat. Ich wollte mich mit Herrn Jahnke in sein Arbeitszimmer zurückziehen, um über unser Buchprojekt zu sprechen. Frau Jahnke hat das wohl missverstanden. Sie hat ihrem Mann eine Szene gemacht.« Kari räusperte sich. »Sie hatte zu viel getrunken.«

Hannah Behrends beugte sich über den Tisch zu Kari. »Und ihr Verdacht war natürlich vollkommen aus der Luft gegriffen«, bemerkte sie spitz.

Kari hob das Kinn. »Ich dachte, wir wären hier, weil Sie Fragen an mich haben. Nicht, um mir Dinge zu unterstellen, für die es absolut keine Indizien gibt.«

Voss legte seiner Kollegin eine Hand auf den Arm. Hannah Behrends presste die Lippen zusammen. Dann setzte sie sich wieder aufrecht hin.

»Sie sind also mit Herrn Jahnke in sein Büro gegangen«, knüpfte Voss an Karis Bericht an. »Und dann?«

»Dann hat sich Herr Jahnke kurz entschuldigt, um sich ein frisches Hemd anzuziehen. Seine Frau hatte ihm Champagner ins Gesicht geschüttet.«

Kari spürte, wie sie innerlich fröstelte. Heute Morgen war die Szene in ihrer Erinnerung verschwommen gewesen, aber jetzt stand sie ihr wieder klar vor Augen. Sie hatte auf Jahnkes Sofa gesessen und zugesehen, wie der rotglühende Ball der Abendsonne im Meer versank und sich das Grau der Nacht langsam auf die Wasserlinie senkte. Nach einer Weile war Jahnke zurückgekommen, mit zwei frischen Gläsern Champagner. Er hatte sich zu ihr auf das Sofa gesetzt und ihr einen der Kelche gereicht. Und dann hatte er ihr eine Hand an die Wange gelegt und mit dem Daumen über ihre Lippen gestrichen.

»Nachdem er zurück war, haben wir eine Weile zusammengesessen und über das Buch gesprochen«, erklärte sie. »Und anschließend bin ich gegangen.«

Jonas Voss stöberte in den Taschen seiner abgewetzten Lederjacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte. Schließlich zog er einen zerknüllten Block hervor, wie er im Gaststättengewerbe für die Bestellungen verwendet wurde. Er warf einen Blick auf seine Notizen. »Wann haben Sie Jahnke verlassen?«

Kari fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ich denke, das war gegen Mitternacht.«

Voss nickte und fischte einen abgekauten Bleistift aus seiner Jackentasche. »Unsere Rechtsmedizinerin geht davon aus, dass Siegmund Jahnke zwischen elf und eins ermordet wurde«, erklärte er. »Demzufolge waren Sie vermutlich die Letzte, die ihn lebend gesehen hat.«

Kari betrachtete den Kommissar. Mit seinem zerknitterten Hemd, dem der oberste Knopf fehlte, den aufgerollten Ärmeln und den vom Wind zerzausten Haaren hätte er besser auf einSegelboot als in ein Polizeirevier gepasst. Doch die sanften braunen Augen, die Kari anblickten, zeigten einen wachen Geist.

»Ich glaube nicht, dass ich die Letzte war«, erwiderte sie. »Als ich ihn verlassen habe, hat er jedenfalls noch gelebt.«

Hannah Behrends faltete ihre Hände auf dem Tisch und schaute Kari lauernd an. Ihre blauen Augen funkelten, und ihre Wangen waren gerötet.

»Wir haben Zeugen«, erklärte sie. »Mehrere Gäste der Feier haben Sie gesehen, als Sie aus Jahnkes Büro kamen. Und alle haben ausgesagt, dass Sie sehr aufgeregt wirkten. Aufgelöst. Und dass Sie es sehr eilig hatten, von dort zu verschwinden.«

Kari bemühte sich um ein gleichmütiges Gesicht. »Wenn die Leute das sagen, wird es wohl so gewesen sein.« Sie bemerkte, dass Voss’ Mundwinkel zuckten.

»Was war der Grund für Ihre Eile?«, erkundigte er sich. »Wenn Sie doch gerade ein erfolgreiches Gespräch über Ihr Buch hinter sich gebracht hatten?«

Kari schloss für einen Moment die Augen. Sie hätte es vorgezogen, die Stunden mit Jahnke so schnell wie möglich zu vergessen. Zu verdrängen, wie ihre Mutter richtigerweise diagnostiziert hätte. Es hatte sie mit Ekel erfüllt, dass sie auf Jahnkes plumpe Annäherungsversuche hatte eingehen und so tun müssen, als sei es ein lustiger Flirt, der früher oder später zu mehr führen würde. Zumindest so lange, bis sie ihn dort hatte, wo sie ihn haben wollte.