Syltstille - Sibylle Narberhaus - E-Book + Hörbuch

Syltstille E-Book und Hörbuch

Sibylle Narberhaus

4,5

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
  • E-Book-Herausgeber: GMEINER
    Hörbuch-Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Annas Freude über den neuen Auftrag ist schnell verflogen, als die Landschaftsarchitektin auf dem Grundstück ihrer Kundin die Leiche eines Sylter Bauunternehmers entdeckt. Die polizeilichen Ermittlungen ergeben, dass der Mann auf besonders heimtückische Art und Weise ermordet wurde. Auch Anna bekommt am eigenen Leib zu spüren, wozu Menschen aus Neid und Missgunst fähig sind. Eine alte Schulfreundschaft wird zur Bedrohung für ihre gesamte Familie.

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Seitenzahl: 390

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Zeit:9 Std. 25 min

Sprecher:Ulla Wagener

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Sibylle Narberhaus

Syltstille

Kriminalroman

Zum Buch

Hochgiftig Im hart umkämpften Baugewerbe herrschen seit jeher Neid und Missgunst. Die Landschaftsarchitektin Anna Scarren freut sich über einen neuen Auftrag. Doch während ihrer Arbeit macht sie eine grausige Entdeckung: Auf dem Grundstück ihrer Auftraggeberin wurde eine Leiche vergraben. Annas Ehemann Nick und seine Kollegen nehmen die Ermittlungen auf, die ergeben, dass es sich bei dem Toten um einen Sylter Bauunternehmer handelt. Dieser wurde offenbar auf besonders heimtückische Art und Weise ermordet. Doch wer kommt als Täter infrage? Kaum hat sich Anna von diesem Schock erholt, entpuppt sich das Aufleben einer alten Schulfreundschaft als Bedrohung für ihre gesamte Familie. Eine nervenaufreibende Täterjagd beginnt.

Sibylle Narberhaus wurde in Frankfurt am Main geboren. Sie lebte einige Jahre in Frankfurt und Stuttgart bevor sie schließlich in die Nähe von Hannover zog. Dort lebt sie seitdem mit ihrem Mann und ihrem Hund. Als gelernte Fremdsprachenkorrespondentin und Versicherungsfachwirtin arbeitet Sibylle Narberhaus bei einem großen Versicherungskonzern. Schon in ihrer frühen Jugend entwickelte sich ihre Liebe zur Insel Sylt. So oft es die Zeit zulässt, stattet die Autorin diesem herrlichen Fleckchen Erde einen Besuch ab. Dabei entstehen immer wieder Ideen für neue Geschichten rund um die Insel.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Syltleuchten (2017)

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © august30/Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5848-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

»Ist das Ihr letztes Wort?«, fragte er.

Seine Hand umklammerte fest den Hörer des Telefons, gleichzeitig konnte er seine aufsteigende Wut kaum unter Kontrolle halten. Auf seinem runden Gesicht zeichneten sich hektische rote Flecken ab. Er begann zu schwitzen.

»Das Thema ist abgeschlossen, ich habe dem nichts hinzuzufügen«, erwiderte der Mann am anderen Ende der Leitung mit entschlossener Stimme, ein Hauch Zufriedenheit schwang mit. »Und wenn Sie sich auf den Kopf stellen, die Entscheidung ist gefallen. Dieses Mal zu meinen Gunsten. Glauben Sie im Ernst, dass ich mir dieses Geschäft Ihretwegen entgehen lasse? Nennen Sie mir einen Grund, warum ich das tun sollte. Es ist an der Zeit, dass Leute wie Sie lernen, Niederlagen anzuerkennen und einzustecken. Ich habe mir nichts vorzuwerfen, alles ist ordnungsgemäß gelaufen.«

»Ordnungsgemäß! Dass ich nicht lache! Das werden Sie bitter bereuen! Das schwöre ich Ihnen!«

»Uh, schicken Sie mir Ihre Mafiafreunde an den Hals, oder wie darf ich diese Äußerung verstehen? Ich kriege ja richtig Angst!« Er machte eine kurze Pause. Ein Klicken war zu hören. Das Klicken eines Sturmfeuerzeuges. Dann wurde Luft eingezogen, begleitet von einem leisen Knistern, und wieder ausgestoßen. Er hatte sich eine Zigarette angezündet. »Sie können mir gar nichts! Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe, ich habe zu arbeiten.«

Der Mann am anderen Ende der Leitung schnaubte verächtlich. Am liebsten hätte er aus lauter Frust mit der Faust gegen die Wand geschlagen. Das Resultat wäre eine verletzte Hand gewesen. Mehr nicht. Es hätte an der gegenwärtigen Situation nichts geändert.

»Wie Sie das verstehen wollen, ist allein Ihre Sache. Sie werden damit nicht durchkommen. Verlassen Sie sich darauf. Wir wissen beide, dass Sie die vorgegebene Frist nicht eingehalten haben. Das stinkt zum Himmel! Das lasse ich mir nicht gefallen, das war illegal!«

»Ha, das sagt der Richtige! Ich wünsche einen schönen Tag!« Mit diesen Worten legte der Mann kichernd auf.

Das höhnische Lachen seines Gesprächspartners hallte ihm noch eine Weile in den Ohren, aber er bemühte sich, seine angestaute Wut zu zügeln, indem er bewusst gleichmäßig ein- und ausatmete. Er durfte sich nicht derart aufregen bei seinem ohnehin viel zu hohen Blutdruck.

»Und?«, fragte sie, als sie das Büro betrat. »Was hat er gesagt?«

»Was soll er gesagt haben?«, fauchte er sie verärgert an. Seine Wangen glühten, und die Zornesröte stieg ihm erneut ins Gesicht, ehe sie vollständig abgeklungen war. »Er lässt sich nicht umstimmen. Aber das war nicht anders zu erwarten.« Er hatte das Telefon neben sich auf den Schreibtisch gelegt und vergrub sein Gesicht in den Händen. »Das war’s dann endgültig für uns.«

»Aber vielleicht …«, wollte sie einlenken, doch er fiel ihr barsch ins Wort.

»Vielleicht, vielleicht! Mein Gott, wie naiv bist du eigentlich?«, fuhr er sie an. »Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, in welcher Misere wir uns befinden?«

Sie wurde augenblicklich rot im Gesicht, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich habe es nicht so gemeint«, wimmerte sie, griff nach einem Päckchen Taschentücher neben dem Computer und putzte sich geräuschvoll die Nase.

»Das weiß ich, Liebling. Es tut mir leid. Ich ärgere mich dermaßen über diesen unverschämten Kerl. Dieser …« Er beendete den Satz nicht, seufzte und sah seine Frau entschuldigend an.

»Was machen wir jetzt? Wir können uns nicht unser Lebenswerk von einem dahergelaufenen Typen kaputtmachen lassen? Alles, was wir über die Jahre aufgebaut haben, kampflos aufgeben?« Sie warf das zusammengeknüllte Taschentuch neben sich in den Papierkorb.

»In diesem Fall müssen wir wohl auf ein Wunder hoffen«, murmelte er vor sich hin und fuhr sich mit der Hand über das kurz geschorene Haar.

»Das brauchen wir nicht.« Ihre Miene erhellte sich plötzlich. »Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden.«

Kapitel 2

»Anna, wir sind erst zehn Minuten unterwegs, und du guckst unentwegt auf dein Handy«, stellte Britta fest, als sie mich dabei beobachtete, wie ich zum vierten Mal in Folge verstohlen auf das Display meines Mobiltelefons schielte. Schnell schob ich es zurück in meine Handtasche.

»Ja, ich weiß. Ich will bloß sichergehen, dass zu Hause alles gut läuft«, erwiderte ich wenig überzeugend.

»Natürlich tut es das. Was soll deiner Meinung nach nicht laufen?« Darauf wusste ich keine Antwort. »Nick ist die Zuverlässigkeit in Person und obendrein ein liebevoller Vater. Das weißt du. Da gibt es andere, bei denen sich das Sorgen machen lohnen würde. Nick zählt in keinem Fall dazu. Lass deine beiden Männer mal machen!«, fügte Britta mit einem schelmischen Grinsen hinzu.

»Männer ist gut gesagt. Bis die beiden einen echten gemeinsamen Männerabend bestreiten, dürften noch einige Sturmfluten über Sylt hereinbrechen.«

Wir verfielen in albernes Gelächter. Dafür ernteten wir sofort einen empörten Blick eines grauhaarigen Mannes mit rahmenloser Lesebrille, der uns gegenüber zwei Reihen weiter saß und in einem Managermagazin blätterte. Die Frau an seiner Seite dagegen lächelte uns freundlich zu.

»Ich fürchte, unser Verhalten ist unter seinem Niveau«, flüsterte ich Britta zu.

»Das mit dem Niveau ist so eine Sache. Achte auf seine Schuhe. Unter den Sohlen kleben noch die Preisschilder.«

Ich richtete meinen Blick auf die Schuhe des Mannes. Er hatte seine Beine lang ausgestreckt und an den Fußknöcheln überkreuzt, sodass die Sohlen gut sichtbar waren. Tatsächlich, Britta hatte recht. Auf den Schuhsohlen klebten eckige weiße Preisschilder. Ich konnte sogar erkennen, dass der schwarze Originalpreis durchgestrichen und durch einen neuen Preis in roter Schrift ersetzt worden war. Den genauen Betrag konnte ich allerdings aus dieser Entfernung nicht entziffern.

»Reduzierte Schuhe mit Preisschildern tragen, aber 1. Klasse fahren, das zeugt von sehr hohem Niveau«, murmelte ich. »Hinzu kommt, dass er einen Socken auf links trägt.«

Daraufhin fingen wir erneut an zu lachen. Ich konnte mich kaum beruhigen und vermied es, Britta direkt anzusehen, sonst wäre ich vermutlich geplatzt. Ihr ging es ähnlich. Es dauerte eine geraume Weile, bis wir uns beruhigt hatten. Zu Schulzeiten waren wir wegen eines dieser Lachanfälle aus dem Deutschunterricht verbannt worden. Wir durften das Klassenzimmer erst wieder betreten, wenn wir uns beruhigt hatten, hatte uns unsere Lehrerin ausdrücklich mit auf den Weg gegeben. Wir konnten uns jedoch nicht beruhigen und nutzten diese unfreiwillige Freistunde, um Eis essen zu gehen.

Während der IC mit beeindruckender Geschwindigkeit durch spätsommerliche Gefilde glitt, sah ich gedankenverloren aus dem Fenster. Die Landschaft zog an uns vorbei wie in einem Film. Die Blätter einiger Laubbäume hatten sich bereits herbstlich verfärbt und boten im Licht der Sonne einen atemberaubenden Anblick. Ein wahres Feuerwerk der Farben. Es war Mitte September, und die Nächte wurden spürbar kühler. Morgens lag ein hauchdünnes Vlies aus Tau über dem Boden. Die Luft roch manchen Tag bereits nach Herbst. Natürlich hatte Britta recht damit, dass Nick mit unserem Sohn zurechtkommen würde. Christopher war mittlerweile zehn Monate alt und ein sehr pflegeleichtes Kind. Ich hatte für die Tage, an denen ich nicht zu Hause sein würde, alles bis ins Detail organisiert. In zwei Tagen würde ich wieder auf Sylt sein. Eine laute Männerstimme riss mich aus meinen Gedanken.

»Die Fahrscheine bitte!«

Ein beleibter Bahnangestellter mit rundem Gesicht und kleinen hellen Schweinsaugen zwängte sich durch den Gang. An seinem Haaransatz hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Der Zug schaukelte unerwartet, und der Mann hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Wenn du fällst, dann bitte nicht in meine Richtung, wünschte ich mir insgeheim. Im letzten Augenblick konnte er sich an der Rückenlehne eines Sitzes abfangen. Die Fahrgäste hielten ihm bereitwillig ihre Fahrkarten entgegen, die er mit prüfendem Blick kontrollierte. Britta und ich reichten ihm ebenfalls unsere Fahrscheine, als er bei uns angekommen war. Er nahm sie kurz in Augenschein, nickte und wünschte uns eine angenehme Fahrt. Ich fragte mich, wie er in dem kurzen Augenblick überhaupt erkennen konnte, ob eine Fahrkarte gültig war. Mir wäre es schwergefallen, aber ich verfügte auch nicht über sein geschultes Auge.

»Also, ich bin sehr gespannt, wer alles auf dem Klassentreffen erscheinen wird«, erklärte Britta und verstaute ihre Fahrkarte sicher in ihrem Portemonnaie.

»Das bin ich auch«, erwiderte ich. »Wie ich Franka am Telefon verstanden habe, haben 22 ehemalige Mitschüler zugesagt. Das sind wirklich viel von insgesamt 28.«

»Somit wären wir nahezu komplett. Na, wir werden sehen, ob alle ihr Wort halten und tatsächlich kommen«, sagte Britta und lehnte sich entspannt in ihren Sitz zurück. »Ich würde gerne Musik hören, wenn es dich nicht stört«, ergänzte sie, zog ihren MP3-Player aus der Tasche und sah mich fragend an.

»Warum sollte mich das stören? Mach ruhig! Ich wollte lesen. Zu Hause komme ich in letzter Zeit selten dazu. Tagsüber habe ich keine Zeit und abends bin ich meistens viel zu müde. Spätestens nach der dritten Seite fallen mir die Augen zu«, antwortete ich und schlug mein Buch auf, das ich auf den Knien liegen hatte.

»Wenn ich einen Mann wie Nick neben mir im Bett liegen hätte, könnte ich nicht ansatzweise einen Gedanken an ein Buch verschwenden. Wie lange seid ihr zusammen?« Britta sah mich mit einem schelmischen Grinsen an.

»Britta, bitte!«, erwiderte ich und merkte, dass ich rot wie eine überreife Tomate anlief.

»Ich meine ja nur.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Hör Musik und lass mich lesen!«, entgegnete ich.

Während Britta mit geschlossenen Augen der Musik lauschte, tauchte ich ein in eine andere Welt und vergaß für eine Zeit lang alles andere um mich herum.

Nach Husum, Heide und Itzehoe hielt der Zug nun im Hamburger Hauptbahnhof. Viele Fahrgäste verließen an diesem Haltepunkt den Zug, aber ungefähr genauso viele stiegen zu. Das war kein Wunder, denn es war Freitagnachmittag, und das Wochenende stand unmittelbar vor der Tür. Einige Reisende waren bepackt, als wenn sie eine Weltreise antreten wollten. Sie kämpften sich mit riesigen, unbequem wirkenden Rucksäcken auf dem Rücken und Reisetaschen in beiden Händen durch die Menschenmenge. Vielleicht standen sie tatsächlich am Anfang einer langen Reise, kam es mir in den Sinn. Auf dem Bahnsteig wimmelte es von Menschen. Ein Pärchen lag sich in den Armen und sah dem nahenden Abschied schmerzerfüllt entgegen. Die junge Frau weinte. Ihr Begleiter hielt sie fest im Arm und streichelte ihr tröstend übers Haar. Bei diesem herzzerreißenden Anblick bekam ich schlagartig Heimweh. Am liebsten wäre ich ausgestiegen und hätte den nächsten Zug in Richtung Westerland genommen. Ich wusste, dass mein Impuls albern war, und schämte mich im selben Moment dafür. Ich war eine erwachsene Frau. Wir hatten erst vor wenigen Stunden die Insel, die jetzt meine Heimat war, verlassen. Ich sah zu Britta, die neben mir eingeschlafen war. Ihr Kopf lehnte seitlich gegen die Kopfstütze ihres Sitzes. Bestimmt würde ihr Nacken schmerzen, wenn sie aufwachte. Offensichtlich hatte sie die Musik so entspannt, dass sie glatt eingenickt war. Sie lächelte im Schlaf. Da sie friedlich schlief, beschloss ich, sie trotz allem nicht zu wecken. Die drohenden Nackenschmerzen nahm ich in Kauf, sie würden schnell abklingen. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Wenn der Zug den Hauptbahnhof von Hannover pünktlich erreichen sollte, lag noch über eine Stunde Fahrtzeit vor uns. Das mit der Pünktlichkeit bezweifelte ich jedoch, denn wir hatten zum jetzigen Zeitpunkt bereits 15 Minuten Verspätung. Ich überlegte, ob ich meinen Eltern die Verspätung telefonisch ankündigen sollte, damit sie nicht unnötig lange auf mich warten mussten. Sie hatten darauf bestanden, mich vom Bahnhof abzuholen. Ein Veto wäre zwecklos gewesen. Ich zögerte und gab die Hoffnung nicht auf, dass der Zug die Verspätung unterwegs aufholen würde. Daher beschloss ich, ihnen später Bescheid zu geben, wenn absehbar war, dass wir in keinem Fall pünktlich ankommen würden. Ich sah aus dem Fenster. Auf dem Bahnsteig herrschte ununterbrochen emsiges Treiben. Einige Reisende hetzten mit schnellen Schritten durch die Menge, den Blick abwechselnd auf die Uhr und die Anzeigetafeln gerichtet. Ihren Gesichtern entnahm ich, dass sie auf dem Weg zu ihrem Anschlusszug waren, den sie unter keinen Umständen verpassen durften. Andere hatten es weniger eilig. Sie warteten gelangweilt neben ihrem Gepäck sitzend oder stehend, einen Pappbecher mit Kaffee oder eine Papiertüte mit etwas Essbarem vom nahe gelegenen Backshop darin in der Hand. Eine Mutter mit zwei Kindern bahnte sich den Weg auf eine ältere Frau zu, die die Großmutter zu sein schien, denn die Kinder rissen freudig die Arme in die Höhe und stürmten auf die Frau zu. Die Oma stellte ihren Koffer ab, ging leicht in die Knie und nahm ihre beiden Enkel mit ausgebreiteten Armen in Empfang, um sie dann fest an sich zu drücken. Eine rührende Szene wie aus einem Film. Doch hier führte das echte Leben Regie. Wie viele Geschichten oder Schicksale spielten sich da draußen in diesem Augenblick wohl ab, überlegte ich. Ein schriller Pfiff ertönte, und der Zug setzte sich in Bewegung. Wir ließen den Bahnhof bald hinter uns. Nachdem wir die Stadt mit ihren hohen Häusern, Straßen und Gewerbegebieten verlassen hatten, fuhren wir eine ganze Weile durch unbewohntes Gebiet. Ein breites Band aus Wäldern und Feldern, unterbrochen durch einzelne kleinere Ansiedlungen, flog an uns vorüber. Ich las nicht in meinem Buch, sondern blickte aus dem Fenster und hing meinen Gedanken nach. Von Zeit zu Zeit kontrollierte ich mein Handy, ob eine Nachricht eingegangen war. Doch ich hatte keinerlei Textnachrichten erhalten. Kurzzeitig überlegte ich, Nick eine SMS zu schreiben und zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Dann entschied ich mich dagegen. Unter keinen Umständen wollte ich ihm das Gefühl vermitteln, ihn kontrollieren zu wollen. Britta hatte recht, er würde das hinbekommen. Auf Nick konnte ich mich stets verlassen. Der Gedanke an ihn und unseren gemeinsamen Sohn Christopher zauberte mir spontan ein Lächeln ins Gesicht. Vor meinem inneren Auge sah ich die beiden vor mir zusammen mit unserem schwarzen Labradormischling Pepper. Zufrieden lehnte ich mich in meinem Sitz zurück und beobachtete die vorbeifliegende Landschaft.

Über eine Lautsprecheransage wurde den Fahrgästen mitgeteilt, dass der Zug in Kürze den Hauptbahnhof von Hannover erreichen würde. In diesem Augenblick wurde Britta wach. Sie blinzelte und sah sich um.

»Habe ich echt die ganze Fahrt über geschlafen?«, fragte sie, rieb sich den Nacken und gähnte hinter vorgehaltener Hand.

»Fest wie ein Murmeltier«, bestätigte ich grinsend. »Keine Sorge, du hast nichts verpasst. Ich kann dich beruhigen.«

»Da bin ich froh. Dafür habe ich jetzt einen steifen Nacken«, beschwerte sie sich, rieb sich mit der Hand die schmerzende Stelle und verzog das Gesicht.

Der Zug verlangsamte die Geschwindigkeit, und die ersten höheren Gebäudekomplexe waren in Sichtweite. Dann schlängelten sich die Waggons durch die Innenstadt von Hannover zum Hauptbahnhof. Kreuzungen und mir bekannte Plätze tauchten rechts und links der Strecke auf. Ich hatte einen Großteil meines Lebens in dieser Stadt verbracht, bevor ich vor eineinhalb Jahren auf die Insel Sylt gezogen war. Britta war sogar hier geboren und somit eine waschechte Hannoveranerin. Wir kannten uns seit der ersten Schulklasse. Sie lebte allerdings viele Jahre länger auf Sylt als ich. Damals lernte sie während ihrer Ausbildung zur Hotelkauffrau ihren Mann Jan Hansen auf der Insel kennen, verliebte sich in ihn und blieb dort. Sie hatten zwei Kinder zusammen, die Zwillinge Ben und Tim. Die Jungs waren mittlerweile zehn Jahre alt und aus dem Allergröbsten raus. Nick und ich standen im Gegensatz dazu mit unserem kleinen Christopher erst ganz am Anfang.

Ein Lautsprecher knisterte, und eine tiefe Männerstimme teilte den Reisenden mit, dass der Zug in Kürze den Hauptbahnhof der Messestadt Hannover erreichen würde, gefolgt von einer Aufzählung diverser Anschlussverbindungen. Wir zogen unsere Jacken über und wuchteten unsere Reisetaschen aus den Gepäckfächern über unseren Sitzen. Britta half einer älteren Dame, die von ihrem Koffer erschlagen zu werden drohte. Dann kämpften wir uns Stück für Stück den engen Gang entlang vor in Richtung Tür, wo bereits eine Traube Fahrgäste zum Aussteigen bereitstand. Der Zug schaukelte plötzlich, als er in eine scharfe Kurve einbog, und ich konnte mich im letzten Moment an der Kopfstütze eines Sitzes festkrallen, um nicht der Länge nach hinzufallen. Wir rollten mit gedrosseltem Tempo in den Bahnhof ein. Im Vorbeifahren hielt ich Ausschau nach meinen Eltern. Ich musste mich dabei etwas bücken, um aus den tiefen Fenstern einen Blick erhaschen zu können. Und da konnte ich den auffallend gemusterten Mantel meiner Mutter in der Menge der Wartenden auf dem Bahnsteig entdecken. Sie suchte mit angestrengtem Blick die vorbeifahrenden Wagen ab, um mich irgendwo darin ausfindig zu machen. Telefonisch hatte ich ihr einige Tage zuvor die genaue Wagennummer mitteilen müssen, in dem wir unsere Plätze reserviert hatten. Sie hatte darauf bestanden. Mit quietschenden Bremsen kam der Zug schließlich zum Stehen. Die Türen öffneten sich mit einem zischenden Geräusch automatisch, und wir stiegen nacheinander aus. Draußen auf dem Bahnsteig lauerten neue Fahrgäste auf das Einsteigen. Sie drängten sich so dicht an die Türen, dass ich Mühe hatte, durchzukommen. Hinter mir hörte ich Brittas Stimme, die ebenfalls beim Verlassen des Zuges behindert wurde.

»Dürfen wir erst mal aussteigen?«, hörte ich sie gereizt sagen. Ich drehte mich zu ihr um und konnte sehen, wie sie genervt mit den Augen rollte. »Ich hasse das! Jedes Mal dasselbe. Ich weiß, warum ich am allerliebsten mit dem Auto verreise«, erklärte sie, als wir uns aus dem größten Pulk der Schieber und Drängler befreit hatten.

»Ach, ärgere dich nicht, Britta. Die Leute erziehst du nicht. Das interessiert die herzlich wenig, wenn du dich aufregst«, versuchte ich, meine Freundin zu besänftigen.

Wir setzten uns mit unseren Reisetaschen zu den Rolltreppen in Bewegung, wo ich meine Eltern vom Zug aus stehen gesehen hatte. Nach ein paar Metern im allgemeinen Geschiebe und Gedränge – um ein Haar hätte ich bei einem Rempler eine Dusche aus Kaffee abbekommen – entdeckte ich meine Eltern. Sie hatten uns ebenfalls gesichtet, meine Mutter winkte erfreut in unsere Richtung.

»Hallo, Anna! Hallo, Britta!«, rief sie aufgeregt und kam uns entgegen.

Mein Vater folgte ihr in geringem Abstand und war wie immer die Ruhe selbst. Das ganze Gegenteil meiner Mutter. Er lächelte freundlich. Meine Mutter bahnte sich den Weg gegen den Strom der Reisenden auf uns zu. Als sie direkt vor mir stand, konnte ich gerade noch meine Tasche abstellen, da wurde ich herzlich von ihr umarmt. Sie drückte mich so fest, als hätten wir uns seit Jahren nicht gesehen. Ich bekam kaum Luft zum Atmen.

»Wie schön, dass du da bist!« Sie betrachtete mich zunächst und kniff mir dann liebevoll in die Wange. »Müde siehst du aus. Hattet ihr eine gute Fahrt? Der Zug war ausnahmsweise pünktlich. Ich wollte eine Wette mit deinem Vater abschließen. Im Nachhinein ärgere ich mich, dass ich es nicht getan habe, ich hätte gewonnen«, stellte sie fest und sah sich mit einem triumphierenden Blick nach meinem Vater um.

Nun war Britta an der Reihe und wurde mit derselben Herzlichkeit begrüßt wie ich kurz zuvor. Mein Vater hatte sich zwischenzeitlich zu uns gesellt.

»Hallo, Anna! Geht es dir gut?«, sagte er und nahm mich in den Arm. Ich bejahte die Frage, und er bückte sich nach meinem Gepäck.

»Lass ruhig, Papa, die Tasche kann ich selbst tragen, sie ist nicht schwer«, protestierte ich.

Allerdings erfolglos, denn meine Mutter ergriff umgehend das Wort.

»Ach, das kann Papa ruhig machen. Schließlich ist er nicht alt und gebrechlich. Oder, Volker?«

Mein Vater quittierte ihre Frage mit einem verschmitzten Lächeln.

»Holen dich deine Eltern auch ab, Britta?«, wollte meine Mutter wissen und wandte sich an meine Freundin.

Britta schüttelte den Kopf. »Nein, ich fahre mit der Stadtbahn. Meine Eltern sind zu dieser Zeit noch im Geschäft.«

»Wir können dich mitnehmen und zu Hause bei deinen Eltern absetzen oder im Geschäft. Was dir lieber ist«, schlug mein Vater vor, ehe meine Mutter sich erneut zu Wort melden konnte.

»Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Bergmann, aber die Bahn hält in der Nähe. Die wenigen Meter bis zum Haus meiner Eltern sind kein Problem. Ich habe bloß leichtes Gepäck. Für Sie wäre es nur ein Umweg«, lehnte Britta ab.

»Wie du willst, Britta. Übrigens, wir waren längst beim Du«, entgegnete mein Vater.

»Stimmt, Volker, daran muss ich mich erst gewöhnen. Das ist die Macht der Gewohnheit«, entgegnete Britta mit einem Lachen.

Meine Eltern kannten meine beste Freundin seit unserer gemeinsamen Schulzeit. Deshalb hatten sie auf unserer Hochzeitsfeier im vergangenen Jahr beschlossen, Britta endlich das Du anzubieten. Wir waren alle erwachsen, und es klang eigentümlich, wenn Britta meine Eltern siezte, obwohl sie sie weiterhin duzten. Draußen vor dem Bahnhof am Ernst-August-Denkmal – der Hannoveraner sagt ›unterm Schwanz‹, da Ernst-August hoch zu Ross dargestellt ist – verabschiedeten wir uns voneinander. Britta machte sich auf den Weg zur höchstens 50 Meter entfernten Straßenbahnhaltestelle, und ich folgte meinen Eltern zum Parkhaus in der nahe gelegenen Ernst-August-Galerie, einem modernen Einkaufs-Tempel mit vielen Geschäften und Gastronomie unter einem Dach. Diese Shoppingcenter lagen absolut im Trend und schossen in nahezu allen Großstädten wie Pilze aus dem Boden. Nachdem mein Vater meine Reisetasche im Kofferraum seines Golfs verstaut hatte, fuhren wir los.

»Anna, ich freue mich, dass du uns besuchen kommst. Schade, dass du unseren Enkel nicht mitgebracht hast. Ich hätte ihn so gerne gesehen. Sicher ist er schon wieder gewachsen. Bei den Kleinen geht das so rasend schnell«, bedauerte meine Mutter.

»Ach Mama, der Aufwand hätte sich nicht gelohnt für die kurze Zeit«, gab ich zu bedenken. Ich konnte verstehen, dass meine Eltern ihr Enkelkind gern gesehen hätten.

»Ich weiß, mein Kind. Das sollte kein Vorwurf sein. Jetzt fahren wir nach Hause und trinken schön Kaffee. Rate mal, was ich extra für dich gemacht habe?«

»Hm, lass mich überlegen. Apfelstrudel?«, mutmaßte ich mit gespielter Unwissenheit.

»Richtig. Den habe ich heute Morgen gemacht. Ganz frisch. Dazu koche ich dir einen starken schwarzen Tee. Du wirst sehen, es wird wie früher sein.«

Ihre wachen Augen leuchteten erwartungsvoll. Ich aß für mein Leben gern den selbst gemachten Apfelstrudel meiner Mutter. Dafür trat sogar meine heiß geliebte Schokolade in den Hintergrund. Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, sie würde ihn backen, als ich ihr erzählt hatte, dass ich für ein Wochenende nach Hannover kommen würde.

»Das klingt äußerst verlockend«, erwiderte ich und musste schlucken. »Ich habe inzwischen richtig Hunger bekommen.«

»Du bist ohnehin viel zu dünn.« Ihr prüfender Blick wanderte einmal von oben nach unten an mir herunter. »Das ist mir sofort aufgefallen, als du aus dem Zug gestiegen bist. Ich wollte bloß nicht gleich etwas sagen. Wahrscheinlich ist die Doppelbelastung mit Beruf und Familie zu kräftezehrend für dich. Und dann das große Haus mit dem riesigen Grundstück. Ihr solltet unbedingt über eine Haushaltshilfe nachdenken«, machte meine Mutter deutlich und unterstrich ihre Aussage, indem sie sich zusätzlich zu mir nach hinten umdrehte und mir einen mahnenden Blick schenkte.

»Das wird nicht nötig sein. Zudem habe ich nicht gern fremde Leute im Haus. Das weißt du doch. Ava hilft mir ab und zu. Nick ist schließlich auch da. Wir sind ein gut eingespieltes Team«, rechtfertigte ich mich. »Du musst dir keine Sorgen machen.«

»Da muss ich deiner Mutter ausnahmsweise recht geben, Anna, du könntest wirklich ein wenig Entlastung brauchen«, mischte sich mein Vater in das Gespräch ein. »Nick arbeitet ebenso hart wie du, und ihr braucht Zeit für euch. Von Christopher ganz zu schweigen. Obendrein müsst ihr euch auch um Pepper kümmern. Einen Hund darf man nicht vernachlässigen. Tiere spüren das genau, wenn sie plötzlich weniger Zuwendung bekommen. Das kann unter Umständen zu Verhaltensauffälligkeiten führen. Neulich gab es zu diesem Thema einen Bericht im Fernsehen.«

Das hatte mir gerade noch gefehlt: Meine Eltern beschworen Probleme herbei, die nicht ansatzweise bestanden. Ich wusste, dass sie um unser Wohl besorgt waren, aber ich war alt genug und wohnte Hunderte Kilometer entfernt. Das hielt meine Eltern allerdings nicht davon ab, sich stets aufs Neue in mein Leben einzumischen. In diesem Moment schwor ich mir, mich niemals in Christophers Leben einzumischen, wenn er eines Tages erwachsen sein würde.

»Wir vernachlässigen weder unser Kind noch unseren Hund. Ihr müsst euch darüber nicht den Kopf zerbrechen. Über euren Vorschlag mit der Haushaltshilfe werde ich nachdenken und mit Nick sprechen. Einverstanden? Und jetzt würde ich das Thema gern ad acta legen«, versuchte ich, die Situation zu entschärfen und die Diskussion zu beenden.

Mein Vater brummte irgendetwas Unverständliches vor sich hin, wie er es öfter tat, und bog in die Straße ein, in der meine Eltern ein kleines Einfamilienhaus im Grünen bewohnten. Es grenzte unmittelbar an den Stadtteil Eilenriede, die grüne Lunge Hannovers. Ein seltsames Gefühl beschlich mich, als wir auf das Haus zufuhren. Ich war lange nicht mehr dort gewesen, und Erinnerungen an mein altes Leben erwachten mit einem Schlag zu neuem Leben. Als ich in meiner eigenen Wohnung in Hannover gelebt hatte, war ich an den Wochenenden regelmäßig bei meinen Eltern zum Kaffee gewesen. Besonders im Sommer hielt ich mich gern dort auf, wenn ich an heißen Tagen mit einem guten Buch und kühlen Getränk im Schatten des alten Apfelbaums der Hitze trotzen konnte. Eine stets willkommene Abwechslung zu meinem meist stressigen Alltag. Ab und zu übernachtete ich in meinem alten Zimmer, wenn es spät geworden und der Rotwein, den mein Vater spendierte, zu köstlich war. Vor allem in der ersten Zeit meines Alleinseins, als ich mich von meinem damaligen Freund getrennt hatte, spendeten mir die Besuche bei meinen Eltern Trost und gaben mir Halt. Ein unschönes und düsteres Kapitel meiner Geschichte, das mich im vergangenen Jahr überraschend eingeholt hatte. Schnell schüttelte ich diese unbehaglichen Erinnerungen ab. Mein Vater parkte den Wagen in der neu gepflasterten Einfahrt, und wir stiegen aus.

»Die Einfahrt ist schön geworden, Papa«, stellte ich anerkennend fest und deutete auf die graue Fläche, die mit einer hellen Kante aus Granit eingefasst war.

»Das haben dein Vater und sein Freund letztes Frühjahr zusammen gemacht. Da siehst du, wie lange du nicht mehr hier warst«, sagte meine Mutter und marschierte zur Haustür, um aufzuschließen. Der leicht anklagende Unterton war nicht zu überhören.

Mein Vater holte meine Reisetasche aus dem Kofferraum, und ich folgte ihm ins Haus.

»Ich bringe dein Gepäck gleich nach oben in dein altes Zimmer«, sagte er und hatte die ersten Treppenstufen schon hinter sich gelassen, ehe ich protestieren konnte. Ich wollte meinen Eltern keine Umstände machen und hätte meine Tasche selbst nach oben bringen können.

»Danke, Papa, das ist nett von dir«, erwiderte ich. »Ich gehe mir nach der Zugfahrt die Hände waschen.«

»Tu das! In Zügen schwirren massenweise Bakterien und Viren herum bei den vielen Menschen. Darüber möchte ich lieber nicht genauer nachdenken, was man sich alles holen kann.«

Meine Mutter verzog angewidert das Gesicht und eilte schnurstracks in die Küche, nachdem sie ihren Mantel an die Garderobe gehängt und ihre Handtasche auf der Kommode daneben abgestellt hatte. Ich konnte hören, wie sie Wasser in die Kaffeemaschine füllte und anschließend mit Geschirr hantierte. Nick und ich hatten meinen Eltern vergangene Weihnachten einen Kaffeevollautomaten geschenkt. Wir besaßen ein ähnliches Modell bei uns zu Hause, von dem meine Eltern begeistert gewesen waren. Nachdem ich mir gründlich die Hände gewaschen hatte, ging ich nach oben in mein altes Zimmer. Natürlich war es nicht mehr eingerichtet wie zu der Zeit, als ich es bewohnt hatte. Sonst hätten überall an den Wänden Poster mit Pferden oder mit längst in Vergessenheit geratenen Pop- und Filmstars gehangen. Das Zimmer diente heute meiner Mutter als Rückzugsort, an dem sie unter anderem ihre Handarbeitssachen aufbewahrte. In den hohen Regalen befanden sich in unzähligen Kunststoffboxen, nach Farben sortiert, Wollknäule. Stricken war ihre absolute Leidenschaft. In der näheren Umgebung meiner Eltern musste niemand im Winter unter kalten Füßen leiden, denn meine Mutter hatte die gesamte Nachbarschaft mit ihren Sockenkreationen versorgt. Je näher die kalte Jahreszeit rückte, desto mehr Bestellungen für Socken, Schals, Mützen und Handschuhe flatterten ins Haus. Meine alten Möbel waren im Laufe der Zeit verschwunden oder durch modernere ersetzt worden, bis auf meinen alten Schreibtisch. Den hatten meine Eltern behalten. Aus sentimentalen Gründen, wie ich annahm. Er stand noch immer direkt unter dem Fenster mit Blick in den weitläufigen Garten, an dessen Ende die uralte Trauerweide stand. Ihre langen Zweige mit den filigranen Blättern bewegten sich anmutig und federleicht, wenn der Wind darin spielte. Unzählige Male hatte ich gedankenverloren am Schreibtisch gesessen und die beruhigende Wirkung dieses Windspiels in mir aufgesogen, wenn ich über schier unlösbaren Mathematikaufgaben beinahe verzweifelte. Mein Blick schwenkte zurück auf den Schreibtisch, wo ich eine der diversen Fotografien, die in unterschiedlich großen Rahmen auf dem Schreibtisch platziert waren, in die Hand nahm. Auf dem Bild saß ich am Klavier und spielte hoch konzentriert. Die Aufnahme war während meines ersten Auftritts mit dem Schulorchester entstanden. Für dieses Ereignis hatte ich täglich mehrere Stunden geübt, um mich unter keinen Umständen vor versammelter Mannschaft zu blamieren. Auf einem weiteren Bild hielt ich stolz meine Schultüte in der Hand. Es war mein erster Schultag. Ich strahlte mit unübersehbarer Zahnlücke in die Kamera meines Vaters. Der Tag war gleichzeitig die Geburtsstunde der Freundschaft zwischen Britta und mir. Auf den meisten Bildern war ich aus Kinder- und Jugendtagen zu sehen. Einige Fotos waren aber auch neueren Datums. Ein Hochzeitsbild von Nick und mir vor der Morsumer Kirche und natürlich ein Bild unseres Sohnes Christopher. Er lachte zahnlos in die Runde. Ich betrachtete die Fotos, und Erinnerungen an längst vergangene Tage blühten auf. Ich musste beim Blick in die Vergangenheit schmunzeln, wurde aber auch nachdenklich. Der Anblick dieser Fotos machte mir bewusst, wie schnell das Leben vorbeizog und wie kostbar die Zeit war, die einem Menschen zur Verfügung stand.

»Anna, kommst du? Dein Tee ist fertig«, hörte ich die Stimme meiner Mutter von unten aus der Küche.

»Ja! Bin unterwegs!«, rief ich zurück, riss mich von der Vergangenheit los und lief die Treppe nach unten.

Mein Vater saß bereits am Tisch, als ich neben ihm Platz nahm. Meine Mutter schob mir ein riesiges Stück Apfelstrudel auf den Teller.

»Nimm dir Sahne dazu«, forderte sie mich auf, und ich griff gehorsam nach der Schale mit der weißen Verlockung.

»Danke«, sagte ich. »Das sieht köstlich aus. Und wie gut das riecht!« Unwillkürlich musste ich schlucken.

»Wie geht es euch?«, wollte mein Vater wissen und belud seine Gabel mit einem Stück Strudel. Dabei purzelte eine Rosine neben seinen Teller auf das blütenweiße Tischtuch. Von den Augen meiner Mutter unbemerkt, bugsierte er die runzelige Frucht schnell zurück auf den Teller. Lediglich ein kleiner dunkler Fettfleck blieb auf der hellen Decke als stummer Zeuge des Malheurs zurück. Mein Vater zog den Teller ein Stückchen nach rechts.

»Uns geht es sehr gut«, beantwortete ich seine Frage. »Ich bin beruflich gut ausgelastet und kann mich vor neuen Aufträgen kaum retten. Seitdem Nick bei der Kripo ist, hat er keinen Schichtdienst mehr, nur Rufbereitschaft. Die regelmäßigen Nachtdienste entfallen daher, und die Wochenenden sind meistens frei. Das ist eine enorme Entlastung. Neben seiner Arbeit bildet er Pepper zum Spürhund aus. Das ist praktisch, denn er kann ihn manchmal mit zum Dienst nehmen. Und der kleine Christopher ist unser Sonnenschein. Er wird von Tag zu Tag größer und erkundet neugierig die Welt.«

»Das freut mich zu hören«, stellte mein Vater zufrieden fest und schenkte mir ein liebevolles Lächeln. »Was für eine Art Ausbildung ist das, die Nick mit Pepper macht?«

»Mantrailing«, erwiderte ich und steckte mir einen Bissen Apfelstrudel in den Mund.

»Darunter kann ich mir gar nichts vorstellen«, meldete sich meine Mutter zu Wort, während ich genussvoll kaute.

»Das ist eine Ausbildung zum Personenspürhund. Er lernt, Menschen zu finden«, versuchte ich zu erklären, nachdem ich runtergeschluckt hatte.

»Warum muss man dem Ganzen ein Fremdwort geben?« Sie sah mich fragend an.

»Das ist Englisch.«

»Das ist mir klar. Alles muss heutzutage in Englisch sein«, stöhnte sie und bugsierte ein weiteres Stück Strudel auf den Teller meines Vaters.

»Was gibt es hier Neues?«, erkundigte ich mich und sah in die Runde.

»Hier passiert nichts Aufregendes. Jeder Tag ähnelt dem anderen. Wir sind gesund und zufrieden. Was will man mehr in unserem Alter?«, erklärte mein Vater.

»Das klingt beinahe so, als wenn ihr über 90 Jahre alt wärt«, unterbrach ich ihn mit einem Lachen. »Ihr seid erst gerade einmal Mitte 60!«

»Also Volker, nun übertreibst du aber wirklich!« Meine Mutter schüttelte verständnislos den Kopf und griff nach der Sahneschüssel. »Wir überlegen, ob wir Anfang Oktober Urlaub machen sollen.«

Ich fragte mich, ob sie damit Urlaub bei uns auf Sylt in Betracht zogen, und wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte. Die Besuche bei uns waren meist ein bisschen anstrengend. Vor allem für uns. Ich hoffte, sie hatten dieses Mal ein anderes Ziel als Sylt im Auge, und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Schließlich waren es meine Eltern und immer für uns da, wenn wir Hilfe benötigten. War ich undankbar? Ehe ich den Gedanken zu Ende spinnen konnte und mir selbst eine Antwort auf die Frage geben konnte, fuhr meine Mutter fort.

»Papa und ich überlegen, ein paar Tage auf die Insel Lanzarote zu fliegen. Einfach raus hier und mal etwas anderes sehen. Zu dieser Jahreszeit ist das Wetter angenehm warm dort, und wir könnten für den bevorstehenden Winter Sonne tanken. Andererseits …«

»Das ist eine hervorragende Idee. Was gibt es da lange zu überlegen?«, erwiderte ich schnell und jubilierte innerlich. Den skeptischen Blick meiner Mutter blendete ich aus. Es stand überhaupt nicht in ihrer Absicht, uns einen Besuch abzustatten.

»Deine Mutter hat Angst, dass während der Zeit unserer Abwesenheit bei uns eingebrochen werden könnte«, stellte mein Vater fest und schenkte sich Kaffee nach.

»Volker, du weißt genau, dass unsere Nachbarn zu dieser Zeit auch weg sind und ich mir deswegen Sorgen mache«, protestierte meine Mutter und warf meinem Vater einen vorwurfsvollen Blick zu. »Außerdem solltest du nicht so viel Kaffee trinken, das wirkt sich schlecht auf deinen ohnehin zu hohen Blutdruck aus.«

Mein Vater zog die Augenbrauen hoch und schüttelte resigniert den Kopf, während er den Deckel der Thermoskanne zuschraubte.

»Kann nicht irgendjemand anderes nach dem Haus sehen?«, wollte ich wissen. Da meine Mutter nicht sofort antwortete, sondern etwas verlegen mit dem Löffel in ihrer Kaffeetasse rührte, beschlich mich plötzlich eine böse Vorahnung. »Ihr wollt damit nicht andeuten, dass ich während dieser Zeit bei euch einhüten soll, oder? Mama? Papa?«

»Wäre das denn so schlimm?«, fragte meine Mutter nach kurzem Zögern und sah mich direkt an.

Ich hatte es befürchtet. Die Sache hatte einen Haken.

»Mama, wie stellst du dir das vor? Ich kann auf Sylt nicht einfach alles stehen und liegen lassen und hierher kommen. Ich habe Verpflichtungen.«

»Siehst du, Maria, ich habe gleich gesagt, dass du den Kindern nicht zumuten kannst, auf unser Haus aufzupassen«, entgegnete mein Vater.

»Ich helfe euch wirklich gerne, aber das geht nicht«, erklärte ich. »Tut mir leid.«

»Das war bloß eine Idee, mach dir keine Gedanken, Anna. Ich finde, dass das mit dem Urlaub von Anfang an eine Schnapsidee war, aber deine Mutter hat sich nun mal diese Reise in den Kopf gesetzt. Und wenn sie sich erst in etwas verbissen hat, lässt sie nicht mehr locker. Du kennst sie ja.« Er seufzte und schüttete einen ordentlichen Schluck Milch in seinen Kaffee. Als krönenden Abschluss ließ er ein Stück Würfelzucker in die hellbraune Flüssigkeit fallen und rührte alles mit zufriedener Miene mit dem Löffel um.

Meine Mutter holte postwendend zum Gegenschlag aus, doch ich kam ihr zuvor.

»Grundsätzlich finde ich die Idee mit der Reise sehr gut. Als Rentner habt ihr Zeit. Ihr solltet viel öfter verreisen. Könnt ihr nicht Henriette und Günter fragen, ob sie nach dem Haus sehen können? Sie wohnen quasi gleich um die Ecke«, versuchte ich, die Wogen zu glätten.

»Dein Vater will bloß nicht fliegen, das ist alles. Wenn es nach mir ginge …«, sagte meine Mutter beleidigt und zog einen Schmollmund. Sie sah derart komisch aus, dass ich nur schwer ein Lachen unterdrücken konnte.

»Meinetwegen«, gab mein Vater letztlich klein bei. »Ich rufe morgen bei Günter und Henriette an und frage, ob sie auf unser Haus aufpassen würden. Bist du nun zufrieden, Maria?«

In diesem Moment klingelte mein Handy, und ich war dankbar dafür.

»Entschuldigt bitte, da muss ich rangehen. Anna Scarren«, meldete ich mich, da mir die Nummer unbekannt war, die auf dem Display aufleuchtete.

Während des Gesprächs erhob ich mich von meinem Stuhl und ging rüber ins Wohnzimmer, um ungestört telefonieren zu können.

»Wer war das?«, erkundigte sich meine Mutter, als ich mich zurück an den Tisch setzte.

»Ich habe soeben einen neuen Auftrag an Land gezogen«, erwiderte ich zufrieden. »Das war eine Frau, die ihren Garten von mir anlegen lassen möchte. Sie hat in Braderup neu gebaut. Das Haus ist fertig und ich kann gleich anfangen, da sie möglichst vor dem Winter mit allem fertig sein möchte. Ein Ladengeschäft gehört mit zum Haus. Die Eröffnung soll unbedingt vor Weihnachten stattfinden.«

»Herzlichen Glückwunsch! Das freut mich, Anna.« Mein Vater erhob sich, um mich zu umarmen. »Wir sind sehr stolz auf dich! Nicht wahr, Maria?«

Meine Mutter reagierte nicht, denn sie war dabei, den Tisch abzuräumen. Ihr Verhalten deutete darauf hin, dass sie immer noch sauer auf meinen Vater war, sonst hätte sie sich längst zu Wort gemeldet. Nichts zu sagen, war wider ihre Natur und musste ihr ungeheuer schwerfallen. Das würde ein lustiger Abend werden, überlegte ich und trug die Platte mit dem restlichen Apfelstrudel in die Küche.

Ich war müde und erschöpft, daher ging ich bald nach dem Abendessen zu Bett. Zuvor telefonierte ich kurz mit Britta. Wir verabredeten uns für den morgigen Tag um die Mittagszeit. Zunächst wollten wir einen Abstecher in die Innenstadt machen und anschließend zum Klassentreffen gehen, das in einem Restaurant direkt am Maschsee stattfinden sollte. Jetzt saß ich im Nachthemd auf meinem Bett und wählte unsere Telefonnummer von zu Hause. Nachdem es ein paarmal geklingelt hatte, hörte ich Nicks tiefe wohlklingende Stimme am anderen Ende der Leitung. Ein warmer Schauer durchrieselte meinen gesamten Körper, als ich ihn mir bildlich vorstellte.

»Sweety«, sagte er, »wie schön, deine Stimme zu hören. Geht es dir gut? Alles okay?«

»Ja, alles in Ordnung, ich liege bereits im Bett.«

»Leider nicht mit mir«, erwiderte er, und ich wurde schlagartig rot.

Ich konnte mir sein Grinsen lebhaft vorstellen. Er schaffte es immer wieder aufs Neue, mich aus dem Konzept zu bringen. Das war bei unserer ersten Begegnung nicht anders gewesen. Ich hatte mich damals in seiner Gegenwart jedes Mal wie ein unreifer Teenager gefühlt.

»Ich wäre gern zu Hause bei euch. Ihr fehlt mir schon jetzt«, versicherte ich ihm. Ich sprach extra leise, damit meine Eltern mich nicht hörten. Nicht, dass sie mich belauschen würden, aber ich wollte vermeiden, dass sie einen falschen Eindruck bekamen, falls sie mich hören sollten. »Was macht Christopher? Ist er lieb? Hat er gegessen? Vermisst er mich? Und wie geht es Pepper?«

»Christopher hat gegessen und schläft selig und süß. Pepper liegt neben mir und lässt sich das Ohr kraulen. Du siehst, es ist alles in bester Ordnung, du brauchst dir also keine Sorgen zu machen. Wir schaffen das. Vertrau mir.«

»Das tue ich. Ich bin überzeugt, dass du alles im Griff hast, Nick. Daran zweifle ich nicht eine Sekunde, aber du kennst mich.«

Er lachte. »Ja, bleib entspannt, genieße dein freies Wochenende, hab Spaß bei dem Klassentreffen und lass dich von deiner Mutter bekochen. Deine Eltern lassen es sich sicher nicht nehmen, dich rundum zu verwöhnen.« Eine leichte Ironie lag in seiner Stimme.

»Stimmt, meine Eltern, ein unerschöpfliches Thema! Aber sie meinen es nur gut. Ich bin todmüde, ich melde mich morgen früh bei dir, okay?«, sagte ich und musste gähnen.

»Das höre ich, schlaf gut.«

»Du auch. Gib Christopher einen Kuss von mir. Ich vermisse dich«, flüsterte ich in mein Telefon.

»Ich vermisse dich auch, Sweety. Bis morgen.«

Dann legte ich auf. Ich blieb regungslos im Bett sitzen, und Nicks gefühlvolle Stimme hallte noch einen Moment in meinem Ohr nach. Was hatte ich für ein Glück. Er sah nicht nur blendend aus, er war obendrein ein wundervoller Mensch. Das Schicksal hatte es gut mit mir gemeint, als es uns zusammenführte. Im letzten Jahr brachte ich einen gesunden Jungen zur Welt, der unser Glück vervollständigte. Manchmal hatte ich Angst, dass alles zu perfekt lief und das böse Ende irgendwo lauerte. Was nicht bedeutete, dass Nick und ich nicht auch bereits stürmische Zeiten zusammen erlebt hätten. Wir kannten uns erst wenige Wochen, als Nick schwer verletzt wurde und sein Leben an einem seidenen Faden hing. Der Gedanke jagte mir heute noch einen kalten Schauer über den Rücken. Ich legte das Handy auf den Nachttisch neben mir und kuschelte mich fest in meine Bettdecke. Dann knipste ich die kleine Nachttischlampe aus. Aus dem Erdgeschoss drangen Geräusche aus dem Fernseher zu mir herauf. Meine Eltern waren offensichtlich noch wach und sahen fern. Es dauerte nicht lange, und ich fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen erwachte ich gegen 9.00 Uhr. So lange hatte ich seit ewigen Zeiten nicht mehr geschlafen. Ich streckte mich ausgiebig, stand auf und zog die Vorhänge zurück. Die Rasenfläche auf dem Grundstück meiner Eltern war mit leichtem Tau überzogen. Die Sonne kämpfte sich zaghaft durch eine dünne graue Wolkenschicht. Ein herrlicher Spätsommertag stand in den Startlöchern. Ich ging ins Badezimmer und stellte mich unter die Dusche, um meine Lebensgeister endgültig wachzurütteln. Frisch geduscht und angezogen begab ich mich nach unten in die Küche. Meine Eltern waren bereits auf den Beinen und saßen gut gelaunt am Frühstückstisch. Der Groll des Vortages war verflogen, wie ich erleichtert feststellen konnte. Meine Mutter war kein nachtragender Mensch, sie beruhigte sich ebenso schnell, wie sie sich aufregte.

»Guten Morgen, Anna! Hast du gut geschlafen?«, fragte meine Mutter. »Möchtest du Rührei? Papa hat frische Brötchen besorgt.«

»Morgen. Ja, ich habe geschlafen wie ein Murmeltier. Ich bin richtig erschrocken, dass es schon so spät ist. Ich nehme gerne Rührei«, beantwortete ich ihre Fragen der Reihe nach und setzte mich an den gedeckten Tisch.

»Wir haben dich absichtlich nicht geweckt.« Mein Vater schenkte mir ein Lächeln, als er von seiner Tageszeitung aufsah.

Meine Mutter verquirlte geräuschvoll zwei Eier in einem Gefäß, gab Salz und Pfeffer dazu und goss die Masse anschließend in eine heiße Pfanne. Als das Ei stockte, zerteilte sie es mit einem Pfannenwender und briet es eine Weile. Dann gab sie das fertige Rührei auf einen Teller und streute zum Abschluss einen Teelöffel frische Schnittlauchröllchen aus dem Garten darüber. Sobald der Teller vor mir stand, zog mir ein verführerischer Duft in die Nase, was zur Folge hatte, dass mein Magen prompt laut zu knurren begann.

»Da hat wohl jemand starken Hunger«, bemerkte mein Vater augenzwinkernd und lugte hinter seiner Zeitung hervor.

Beherzt griff ich nach der Gabel und ließ es mir schmecken. Nach dem reichhaltigen Frühstück fuhr ich mit der Straßenbahn ins Stadtzentrum, wo ich mit Britta verabredet war. Ich war seit ewigen Zeiten nicht mehr mit der Straßenbahn gefahren und konnte feststellen, dass ich es nicht vermisst hatte. Als ich unseren Treffpunkt, die »Kröpcke-Uhr«, in der Innenstadt erreichte, konnte ich Britta schon sehen. Sie stand zwischen all den anderen Wartenden und hielt nach mir Ausschau. Ehe ich die Hand heben konnte, hatte sie mich entdeckt und winkte mir fröhlich zu.

»Na, wie geht’s?«, begrüßte sie mich.

»Gut, und dir? Was machen deine Eltern?«, stellte ich die Gegenfrage.

»Denen geht es gut. Alles bestens. Ich habe nach langer Zeit endlich mal wieder ausgeschlafen. Herrlich! Auf Sylt alles im Lot?«, fragte sie grinsend. Ich nickte. Ich hatte gleich heute früh nach dem Duschen mit Nick telefoniert. »Na, dann lass uns losgehen«, forderte Britta mich auf. »Ich habe den Jungs versprochen, ihnen etwas aus der großen Stadt mitzubringen.«

Nachdem wir ausgiebig durch die unterschiedlichsten Geschäfte gebummelt waren und Britta eine Kleinigkeit für ihre beiden Söhne erstanden hatte, steuerten wir den Maschsee an. Der See, Anfang der 1930er Jahre künstlich angelegt, ist seither ein beliebtes Ausflugsziel. Mit seinen rund sechs Kilometer langen Uferwegen ist er bei Fußgängern ebenso wie bei Radfahrern und Joggern beliebt. Jedes Jahr im August verwandelt sich das Ufer des Sees in eine riesige Partymeile. Dann findet das dreiwöchige Maschseefest statt, das alljährlich bis zu zwei Millionen Besucher anlockt. Überall stehen Buden mit kulinarischen Köstlichkeiten, verschiedene Bühnen bieten Livemusik, und den krönenden Abschluss bildet ein Feuerwerk am Nachthimmel der Stadt. Britta und ich schlenderten am Alten Rathaus vorbei zum Nordufer des Sees. Dort, in einem Restaurant, sollte unser Klassentreffen stattfinden.

»Bin ich passend angezogen?«, fragte Britta mich und sah an sich herunter.

Ich legte den Kopf schief und musterte sie übertrieben kritisch. »Doch, ich glaube, so kannst du dich durchaus sehen lassen.«

Wir mussten lachen, und Britta versetzte mir einen spielerischen Klaps gegen die Schulter. Gemeinsam betraten wir das Restaurant und folgten dem Stimmengewirr, das mehr und mehr anschwoll, je näher wir dem Raum kamen, den uns eine Angestellte zugewiesen hatte. Eine Frau mit kurzen mittelblonden Haaren, die ihr wild in alle Richtungen vom Kopf abstanden, kam uns begeistert entgegen. Ihre Wangen wiesen hektisch rote Flecken auf, und sie machte einen aufgeregten Eindruck.

»Anna! Britta! Großartig, dass ihr tatsächlich kommen konntet!«, begrüßte sie uns überschwänglich. »Ich kann gar nicht glauben, dass ihr hier seid. Lasst euch anschauen!«

»Hallo, Franka!«, erwiderten wir im Chor.

»Mensch, wie lange ist das her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben? Ihr zwei habt euch kaum verändert. Scheinbar konserviert die Nordseeluft«, stellte Franka mit einem Zwinkern fest, nachdem sie uns eine nach der anderen von oben bis unten gemustert hatte. »Kommt mit! Die meisten Ehemaligen sind schon da, sie stehen dahinten an der Bar. Dort bekommt ihr etwas zu trinken. Das Essen gibt es in circa einer Stunde. Ich hoffe, das haltet ihr bis dahin aus?« Sie sah uns fragend an.

»Kein Problem. Schließlich sind wir nicht in erster Linie wegen des Essens hier«, winkte Britta mit einem Augenzwinkern ab.

»Ich habe mir extra etwas Besonderes einfallen lassen für den heutigen Abend. Ihr könnt gespannt sein.« Dann eilte sie voran.