Sylterbe - Sibylle Narberhaus - E-Book

Sylterbe E-Book

Sibylle Narberhaus

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Beschreibung

Als die Kunststipendiatin Leonie Mahnke spurlos verschwindet, folgt die Polizei rätselhaften Hinweisen entlang des Kampener Kunst- und Kulturpfads. Die Lage spitzt sich zu, als die Leiche der Stiftungsleiterin Martina Engelhorst aufgefunden wird. Wer ist für ihren Tod verantwortlich? Gibt es eine Verbindung zur entführten Stipendiatin? Während die polizeilichen Ermittlungen auf Hochtouren laufen, kommt Landschaftsarchitektin und Hobbyermittlerin Anna Scarren dem Entführer unwissentlich gefährlich nahe und begibt sich selbst in größte Gefahr. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

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Seitenzahl: 321

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sibylle Narberhaus

Sylterbe

roman

Zum Buch

Mörderische Kunst Als die Stipendiatin und gefeierte Influencerin Leonie Mahnke spurlos auf Sylt verschwindet, geht die Polizei zunächst von einer werbewirksamen Inszenierung aus. Doch dann erhält sie rätselhafte Hinweise in Versform, die sie entlang des Kampener Kunst- und Kulturpfads führen. Kurze Zeit später entdecken Surfer die Leiche der Stiftungsvorsitzenden Martina Engelhorst am Strand. Stehen beide Taten in Zusammenhang? Welche Rolle spielt dabei ein Stalker, der Leonie seit Langem nachstellt? Währenddessen wird Landschaftsarchitektin Anna Scarren vom charmanten Kunstliebhaber Falk von Bergedorf mit der Umgestaltung seines Grundstücks beauftragt. Nick, Annas Ehemann und Polizist, beobachtet ihre Nähe zu Falk eher argwöhnisch. Während die Ermittlungen von Nick und seinem Team auf Hochtouren laufen, kommen Anna vermehrt Zweifel, ob Falk an der Entführung beteiligt sein könnte, und begibt sich selbst auf Spurensuche. Dabei kommt sie dem Entführer versehentlich bedrohlich nahe und riskiert ihr Leben.

Sibylle Narberhaus wurde in Frankfurt am Main geboren. Nach einigen Jahren in Frankfurt und Stuttgart zog sie schließlich in die Nähe von Hannover. Dort lebt sie seitdem mit ihrem Mann und ihrem Hund. Sie arbeitet bei einem internationalen Versicherungskonzern und widmet sich in ihrer Freizeit dem Schreiben. Schon in ihrer frühen Jugend entwickelte sich ihre Liebe zum Meer und insbesondere zur Insel Sylt. So oft es die Zeit zulässt, stattet sie diesem Fleckchen Erde einen Besuch ab. Dabei entstehen immer wieder neue Ideen für Geschichten rund um die Insel.

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © pkazmierczak / istockphoto.com

ISBN 978-3-7349-3342-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Sie fröstelte vor Kälte, während sie den unbeleuchteten Weg von der Bushaltestelle nach Hause lief. Tagsüber hatte die kräftige Märzsonne bereits für angenehme Temperaturen gesorgt. Doch jetzt in der Nacht schien der Winter zurückgekehrt zu sein. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der eisigen Luft. Sie zog ihre Wollmütze tiefer in die Stirn und vergrub die linke Hand in der Tasche ihres Mantels, während sie in der rechten das Smartphone hielt. Mit dem Schein der Handytaschenlampe leuchtete sie den Weg vor sich aus. Der Mond erhellte die Nacht, doch immer wieder schoben sich Wolken vor die natürliche Lichtquelle. Ausgerechnet heute musste sie den Heimweg nach der Geburtstagsfeier einer Freundin ohne Begleitung bestreiten. Sowohl ihr Freund als auch ihre beste Freundin waren an diesem Abend verhindert gewesen. Zunächst hatte sie den letzten Bus genommen und musste jetzt das letzte Stück zu Fuß gehen. Um nicht länger als nötig durch die einsame Nacht marschieren zu müssen, hatte sie kurz entschlossen die Abkürzung über den Feldweg gewählt. Die Lichter der Ortschaft rückten allmählich in greifbare Nähe, je näher sie kam. In wenigen Minuten würde sie die beleuchteten Straßen erreicht haben. Sie beschleunigte ihre Schritte, als sie plötzlich hinter sich etwas knacken hörte. Abrupt blieb sie stehen und leuchtete mit dem Handydisplay in die Dunkelheit, konnte jedoch nichts erkennen. Bestimmt stammte das Geräusch von einem Tier, das auf der Suche nach Nahrung oder einem Versteck durchs Unterholz kroch. Kein Grund zur Beunruhigung, sprach sie sich Mut zu. Dann setzte sie ihren Weg fort. Hinter der nächsten Biegung würde sie die Weide mit dem Unterstand erreichen, der während der Sommermonate einigen Pferden Schutz vor Regen und Hitze bot. Von dort aus war es nicht mehr weit bis zu dem Haus, in dem sie mit ihrer Mutter wohnte. In diesem Moment flog etwas nahezu lautlos über ihren Kopf hinweg. Sie stieß einen erstickten Schrei aus und hätte beinahe das Smartphone fallen lassen. »Blödes Vieh«, rief sie der majestätisch durch die Nacht gleitenden Eule nach. Nach wenigen Schritten vernahm sie abermals ein Geräusch. Dieses Mal war es lauter und näher. Ihr Puls beschleunigte sich. Ängstlich sah sie sich nach allen Seiten um, konnte aber aufgrund der Dunkelheit nichts erkennen. Ganz in der Nähe war der Ruf eines Käuzchens zu hören.

»Hallo? Ist da jemand?«, kamen die Worte zittrig über ihre Lippen. Sie lauschte angespannt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Nichts. In der Ferne war der Motor eines Autos zu hören, das sich auf der parallel zum Feldweg verlaufenden Landstraße näherte. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, zur Straße zu laufen. Doch die Entfernung bis dorthin wäre zu groß, sollte ihr hier in der Nähe jemand auflauern. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab und beschloss, einfach weiterzugehen. Wahrscheinlich spielte ihr ihre Fantasie nur einen Streich. Sie war kein Mensch, der sich schnell gruselte. Zudem wirkten Geräusche in der Dunkelheit stets unheimlicher und bedrohlicher als am helllichten Tag. Trotz allem beschleunigten sich ihre Schritte und ihr Atem mit jedem Meter, den sie zurücklegte. Gleich hatte sie die Weidehütte erreicht, und das undurchdringliche Dickicht neben dem Weg wich einzelnen Bäumen, die unbelaubt ihre kahlen Äste in die dunkle Nacht reckten. Dahinter konnte sich niemand unbemerkt verstecken. Während sie weiterlief, streifte plötzlich etwas ihr Bein und krallte sich in ihrem Hosenbein fest. Sie fiel auf dem unebenen Boden hin, aber rappelte sich schnell auf. Nahezu panisch versuchte sie, ihr Bein zu befreien, bis sie feststellte, dass sie sich bloß in einer wilden Brombeerranke, die in den Weg hineinragte, verfangen hatte. Nachdem sie sich losgemacht hatte, schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Als sie ihren Weg fortsetzen wollte, tauchte unvermittelt eine dunkle Gestalt vor ihr auf. Geschockt blieb sie einen Moment wie angewurzelt stehen, unfähig, einen Laut von sich zu geben. Dann siegte ihr Fluchtinstinkt und sie rannte los. Weit kam sie nicht.

Kapitel 1

Er stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz am Roten Kliff in Kampen ab. Nach der langen Fahrt schmerzte sein Rücken, daher beschloss er, zunächst einen kleinen Strandspaziergang zu unternehmen, bevor er im Hotel eincheckte. Er griff nach der leichten Sommerjacke auf dem Beifahrersitz und stieg aus. Der Parkplatz war um diese Zeit stark frequentiert, denn die meisten Menschen zog es bei diesem sonnigen Wetter an den Strand. Er streckte den Rücken durch, hielt das Gesicht der Sonne entgegen und sog gleichzeitig die salzige Nordseeluft tief in seine Lungen. Wie sehr hatte er dieses Gefühl vermisst. Dann marschierte er quer über den Parkplatz zu der kleinen Aussichtsplattform, von der aus man einen grandiosen Blick über das Meer und den darunter gelegenen Sandstrand hatte. Die weißen Strandkörbe leuchteten in der Sonne, die Handtücher und Strandmuscheln der Badegäste wirkten von hier oben wie bunte Farbtupfer im Sand. Auf das hölzerne Geländer gestützt, sah er zum Horizont und spürte die leichte Brise, die vom Meer her wehte und den gesamten Stress der letzten Zeit davonzutragen schien. Das Dünengras wiegte sich sanft im Wind. Augenblicklich durchflutete ihn ein Gefühl von Freiheit. Hatte er zunächst Zweifel an dieser Reise gehegt, gehörten diese spätestens jetzt der Vergangenheit an. Zu seinen Füßen ging es 30 Meter steil nach unten. Das berühmte Rote Kliff, das seine Farbe dem Limonit-Sandstein zu verdanken hatte, zog sich auf einer Länge von knapp vier Kilometern von Kampen nach Wenningstedt. Besonders in den Abendstunden ließ die untergehende Sonne das Kliff intensiv leuchten. Kein Wunder, überlegte er, dass dieses Fleckchen Erde bereits unzählige Künstler fasziniert und inspiriert hatte. Er freute sich darauf, nach langer Zeit endlich seinen alten Freund Falk wiederzusehen. Plötzlich wurde er durch laute Stimmen aus seinen Gedanken gerissen. Interessiert drehte er sich um und erblickte ein junges Pärchen, das die Aussichtsplattform in diesem Augenblick betrat.

»Los, Lennard«, sagte die Frau und streckte ihrem Begleiter ihr Smartphone entgegen. »Das kann ich gleich posten. Okay so?« Sie hatte sich mit dem Rücken zum Geländer positioniert, warf ihr Haar lässig nach hinten und lächelte in die Kamera.

»Ja, so ist es perfekt«, bestätigte der junge Mann und richtete das Smartphone auf sie.

Eine weitere Gruppe Urlauber strebte der Aussichtsplattform entgegen, daher beschloss er, das gute Wetter auszunutzen, um eine Kleinigkeit auf der nahegelegenen Restaurantterrasse der Sturmhaube zu essen, bevor er sein Hotelzimmer bezog.

Kapitel 2

Das Telefon klingelte zum wiederholten Mal, doch sie machte keine Anstalten, den Anruf entgegenzunehmen. Stattdessen richtete sie ihren Blick hoch konzentriert vor sich auf den Bildschirm, während ihre Finger über die Tastatur jagten.

»Jetzt nicht«, murmelte sie.

Das Dauerklingeln verstummte, und Ruhe kehrte bis auf das Klappern der Tasten auf der Tastatur ein.

»Das wäre erledigt«, sagte sie zu sich selbst und klappte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck den Laptop zu.

Sie wollte sich gerade von ihrem Stuhl erheben, als es an die Bürotür klopfte. »Ja!«, rief sie.

»Moin, Martina, du bist ja noch da«, stellte der Mann beim Betreten des Büros fest.

»Wo sollte ich deiner Meinung nach denn sonst um diese Zeit sein?« Sie wirkte gereizt.

»Ich dachte, du wärst vielleicht schon zur Mittagspause.«

»Dafür fehlt mir heute definitiv die Zeit. Ein Termin jagt den nächsten. Ich komme kaum zum Luftholen.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Also? Was kann ich für dich tun, Thorsten?« Erwartungsvoll sah sie ihn an.

»Heute kommen die neuen Stipendiatinnen«, begann er zögerlich und strich sich fahrig durch das Haar.

»Ja, und?«

»Frau Tottmann kommt mit der Bahn. Der ICE soll pünktlich um 14 Uhr in Westerland ankommen, wenn man der Bahn-App Glauben schenken darf. Ich werde sie vom Bahnhof abholen und zu ihrer Unterkunft bringen«, erklärte er und ließ das Handy in der Gesäßtasche seiner Hose verschwinden.

»Das ist mir bekannt. Wo liegt das Problem?«

»Es gibt kein Problem. Ich dachte, du wüsstest vielleicht, wann Frau Mahnke ankommt. Dann bräuchte ich nur einmal zu fahren und könnte sie gleich mitnehmen.«

»Tut mir leid, Thorsten, das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich hätte angenommen, du wärst diesbezüglich besser informiert als ich.« Sie zuckte die Schultern, stand auf und griff nach ihrer Tasche, die neben ihr auf dem Boden stand.

»Nee, eben nicht.« Der Kollege stand ein wenig ratlos im Raum.

»Ich muss mich beeilen. Mach dir keine Gedanken, Frau Mahnke ist alt genug, sie wird den Weg auch allein zu uns finden.« Mit diesen Worten begab sie sich zur Tür. Er folgte ihr. Nachdem sie das Büro abgeschlossen hatte, begleitete er sie ein Stück den Flur entlang zur Treppe. Kurz davor blieb er stehen.

»Dann treffen wir uns wie besprochen nachher und morgen früh um 9 Uhr im großen Besprechungsraum.«

»So ist es. Wenn es wider Erwarten Probleme geben sollte, welcher Art auch immer, ruf mich einfach an!« Sie hob im Weitergehen die Hand und eilte die Wendeltreppe nach unten.

Mit einem stummen Nicken sah er ihr nach. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Wenn er nicht zu spät kommen wollte, sollte er sich langsam auf den Weg machen. Der Westerländer Bahnhof lag ungefähr zehn Autominuten von seinem Büro entfernt. Erfahrungsgemäß musste er etwas mehr Zeit einplanen, je nach Verkehrsdichte rund um Westerland, von der Parkplatzsuche einmal abgesehen. Die wenigen Parkplätze direkt am Bahnhofsgebäude waren in der Regel belegt, aber vielleicht hatte er heute Glück und konnte einen von ihnen ergattern. Sonst müsste er versuchen, in einer der Seitenstraßen zu parken und ein Stück zu Fuß gehen. Auf diese Weise bot sich die Gelegenheit für eine kurze Zigarettenpause.

Eine halbe Stunde später stand er am Gleis und wartete auf den in Kürze eintreffenden Zug, als er von hinten unvermittelt einen Stoß bekam.

»Oh, entschuldigen Sie, junger Mann! Das wollte ich nicht!« Eine ältere Dame bugsierte ihren Gepäckwagen ungelenk durch die Menge wartender Fahrgäste und war ihm unsanft in die Hacken gefahren. »Der Wagen lässt sich nicht vernünftig steuern.«

»Schon gut«, murmelte er mit einem gequälten Gesichtsausdruck und rieb sich das schmerzende Fußgelenk.

Jetzt ertönte eine Lautsprecherdurchsage, und gleich darauf konnte er den einfahrenden Zug erblicken. Die Bremsen quietschten, die Türen öffneten sich mit einem Zischen, und sofort drängten sich vor den Ein- und Ausstiegen dichte Menschentrauben. Im Gedränge fiel es schwer, eine bestimmte Person ausfindig zu machen. Es dauerte jedoch nicht lange, da konnte er die junge Frau anhand ihres Cellokastens schnell ausfindig machen.

»Alina Tottmann?«, fragte er, als er ihr direkt gegenüberstand.

»Ja, ich bin …«, wollte sie antworten, als sie von einem Mann, der einen überdimensionalen Rucksack auf dem Rücken trug, unsanft angerempelt wurde. Sie geriet ins Straucheln und wäre um ein Haar samt Gepäck und Cellokasten auf den Bahnsteig gestürzt.

»Hoppla! Warten Sie, ich helfe Ihnen mit dem Gepäck.« Thorsten Block nahm ihr den Koffer ab.

»Das Cello nehme ich lieber selbst«, wehrte sie ab, als er auch nach dem Instrumentenkasten greifen wollte.

»Wie Sie möchten. Folgen Sie mir bitte, mein Wagen steht vor dem Bahnhofsgebäude.«

Beide bahnten sich ihren Weg zum Bahnhofsvorplatz.

»Die sehen ja lustig aus«, bemerkte Alina, als sie die knallgrünen Figuren, die sich schräg gegen den Wind zu stemmen schienen, auf dem Bahnhofsvorplatz erblickte.

»Hm, das ist Geschmacksache«, gab Thorsten Block wenig überzeugt von sich.

»Haben die einen Namen?«

»Das sind die Reisenden Riesen im Wind. Ein eher umstrittenes Kunstprojekt, aber nicht mehr wegzudenken.« Thorsten Block zuckte die Achseln.

»Besonders schön finde ich sie auch nicht, aber auf jeden Fall ziemlich originell.« Alina folgte ihrem Begleiter, der bereits im Gehen den Autoschlüssel aus seiner Hosentasche kramte. Die Heckklappe öffnete sich wie von Geisterhand, und er wuchtete den Koffer hinein. »Das Cello legen Sie am besten auf die Rücksitzbank«, schlug er vor und öffnete die hintere Wagentür.

»Sind Sie nur meinetwegen gekommen? Ich dachte, außer mir kommt noch jemand?«, fragte Alina, nachdem sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen und sich angeschnallt hatte.

Thorsten Block hatte den Motor gestartet und fädelte sich nunmehr in den fließenden Verkehr ein.

»Nein. Wir treffen uns nachher alle zu einem allgemeinen Kennenlernen. Jetzt bringe ich Sie erst mal zu Ihrer Unterkunft, damit Sie das Gepäck wegbringen und sich ein wenig frisch machen können nach der Reise.«

»Ich muss gestehen, ich bin vorher noch nie auf Sylt gewesen«, bemerkte sie mit einem verlegenen Lächeln und sah aus dem Fenster.

»Da sind Sie bestimmt nicht die Einzige.« Er lachte, was in einem kurzen Hustenanfall endete. Er sollte endlich mit dem Rauchen aufhören. »’tschuldigung.« Hektisch angelte er in der Mittelkonsole nach einer kleinen Metalldose mit Pfefferminzbonbons. »Fangen Sie bloß nie an zu rauchen«, sagte er und steckte sich einen Bonbon in den Mund.

»Das tue ich ganz bestimmt nicht. Mein Opa war Kettenraucher und ist an Lungenkrebs gestorben«, gab Alina zurück.

Block unterdrückte einen neuerlichen Huster. Mittlerweile hatten sie Westerland hinter sich gelassen und fuhren in nördliche Richtung. Bald erschien rechter Hand der Leuchtturm von Kampen, auch »Langer Christian« genannt, und die ersten Reetdachhäuser.

»Willkommen in Kampen«, erklärte Thorsten Block, als sie das Ortsschild passierten.

»Hübsche Häuser stehen hier«, stellte Alina fest, als sie neugierig aus dem Fenster sah.

»Ja, vor allem hübsch teuer.«

»Dann wohnen Sie nicht in Kampen?«, fragte Alina.

Im ersten Augenblick war er unsicher, ob die Frage wirklich ernst gemeint war. »Nein. Die Häuser hier sind für die allermeisten Menschen unerschwinglich«, erwiderte er und wechselte das Thema. »Gibt es etwas, was Sie nicht essen? Ich frage, weil wir heute Abend einen Tisch in einem Restaurant bestellt haben.«

»Ich esse weder Fleisch noch Fisch, und am liebsten ernähre ich mich vegan. Wenn das keine Umstände macht?« Sie lächelte ihn freundlich an.

»Natürlich nicht.« Sein Lächeln dagegen wirkte gequält.

»Ich kann es gar nicht erwarten, mich drei Monate nur der Musik und der Kunst zu widmen. Dazu in dieser einzigartigen Umgebung«, geriet sie nahezu ins Schwärmen. Dabei begannen ihre Wangen rosig zu leuchten. »Dauert es noch lange?«

»Was?«

»Bis wir die Unterkunft erreicht haben«, präzisierte sie.

»Wir sind gleich da. Nur noch das Stück die Hauptstraße entlang, und dann ist es gleich auf der linken Seite in den Dünen.«

Kapitel 3

Die Tür zum Café stand offen. Beim Betreten des Gastraumes stieg mir der Geruch von Gebackenem und frisch gemahlenem Kaffee in die Nase. Sofort knurrte mein Magen. Hinter dem Tresen stand meine Freundin Britta, die gerade dabei war, ein Dutzend frisch hergestellte Florentiner auf einer Tortenplatte dekorativ anzurichten. In ihren Ohren steckten kleine Kopfhörer, daher bemerkte sie mich nicht sofort. Als sie mich erblickte, nahm sie sie heraus und kam freudestrahlend auf mich zu.

»Anna! Wie schön, dich zu sehen! Willkommen zurück auf Sylt!« Meine Freundin drückte mich fest an sich, als hätten wir uns vor etlichen Jahren zuletzt gesehen und nicht vor vier Wochen.

»Danke! Ich wollte kurz vorbeischauen und mich offiziell zurückmelden. Ich störe dich hoffentlich nicht?«, erwiderte ich und sah mich in dem Café um. Der lange Tisch am Fenster war mit Blumenschmuck dekoriert und hübsch eingedeckt.

»Du störst nie! Wenn es dich nicht stört, dass ich nebenbei ein bisschen arbeiten muss? In einer Dreiviertelstunde hat sich eine Gruppe zum Geburtstagskaffee angemeldet.« Sie deutete auf den Tisch am Fenster.

»Dachte ich mir beinahe, dass gleich Gäste kommen. Sieht super aus!«

»Danke. Seit wann seid ihr zurück?«

»Seit gestern Nachmittag. Die Rückreise war ein echter Höllenritt, sage ich dir. Aber das erzähl ich dir ein anderes Mal ausführlicher. Jedenfalls bin ich froh, wieder zu Hause zu sein.«

»War es so schlimm?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn.

»Nein, überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Die Zeit in Kanada war großartig, wir haben unheimlich viel gesehen und erlebt. Nicks Eltern haben sich rührend um Christopher gekümmert, sodass Nick und ich auch mal allein unterwegs sein konnten. Wir haben ein paar seiner alten Freunde getroffen. Es war richtig schön. Trotz allem habe ich Sylt vermisst. Meine Eltern, die Hunde und euch natürlich.« Ich zwinkerte ihr zu.

»Das wollte ich hören.« Sie grinste breit, und ihre blauen Augen funkelten. Britta hantierte hinter dem Tresen herum und stellte anschließend ein Glas Limonade vor mir ab. »Hier, probier mal!«

»Hast du die selbst gemacht?«

Sie nickte. »Meine neueste Kreation. Bin gespannt, wie sie dir schmeckt.«

Unter Brittas kritischem Blick trank ich einen Schluck. »Lecker! Wirklich! Nicht zu süß und sehr erfrischend«, fällte ich schließlich mein Urteil.

»Danke. Ich hoffe, meine Gäste werden es genauso sehen.«

»Ganz bestimmt! Das wird der Renner diese Saison! Du wirst sehen«, versicherte ich und setzte das Glas erneut an meine Lippen, um den Rest auszutrinken.

»Das wäre schön.«

»Und sonst? Habe ich in der Zwischenzeit irgendetwas verpasst?«

Britta überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, der ganz normale Wahnsinn wie immer!«

Ich wollte gerade etwas erwidern, als mein Handy klingelte. »Entschuldige, Britta, da muss ich rangehen.«

Während ich telefonierte, verschwand Britta in der Küche.

»Alles okay?«, fragte sie, als sie mit einer Himbeertorte in den Händen zurückkam und sie in die Kühlvitrine neben weitere Torten stellte.

»Ja. Kaum bin ich zurück, ruft auch schon die Arbeit«, antwortete ich, während meine Augen auf die Himbeerköstlichkeit gerichtet waren. »Die sieht richtig gut aus.«

»Soll ich dir etwas davon einpacken?«

»Danke, das ist sehr lieb von dir, aber ich muss mich in der nächsten Zeit in puncto Essen unbedingt zurückhalten. Ich glaube, so viel, wie ich in den letzten Wochen in mich hineingeschaufelt habe, esse ich sonst das gesamte Jahr nicht.« Ich lachte und deutete auf meine Körpermitte.

»Du übertreibst maßlos!«, hielt Britta entgegen. »Habt ihr oft im Restaurant von Nicks Eltern gegessen?«, wollte sie noch wissen.

»Britta!« Eine Stimme aus der Küche unterbrach unsere Unterhaltung. Unmittelbar darauf erschien eine kleine resolute Frau im Türrahmen. Sie hatte eine Schürze umgebunden, die Hände steckten in schwarzen Gummihandschuhen. »Oh, ich wusste nicht, dass du Besuch hast. Ich bräuchte deine Hilfe. Geht auch schnell.«

»Ich komme sofort, Johanna!«, erklärte Britta, worauf die Frau in der Küche verschwand.

»Lass dich nicht aufhalten, ich muss sowieso weiter. Meine Eltern kommen nachher zum Grillen, und im Kühlschrank herrscht gähnende Leere. Ich muss dringend einkaufen.«

Dann verabschiedete ich mich von meiner Freundin und machte mich auf den Weg.

Kapitel 4

Immer wieder wanderte Martina Engelhorsts nervöser Blick auf ihr Smartphone.

»Hat sie sich zwischenzeitlich gemeldet?«, erkundigte sich Thorsten Block, der ihr gegenüber auf einem Sessel saß und an einem Stück Nagelhaut zupfte. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen, sein linker Fuß wippte nervös auf und ab.

»Bislang nicht. Sie reagiert auch auf keinerlei Nachrichten. Ich verstehe das nicht.«

»Glaubst du, ihr ist etwas zugestoßen?«

»Mal den Teufel nicht an die Wand. Das wäre die ultimative Katastrophe. Das kann uns den Kopf kosten.« Sie stieß lautstark die Luft aus. Dann sah sie zu der Wanduhr. »Na, 20 Minuten bleiben uns noch. Hoffen wir auf ein Wunder. Vielleicht taucht die Dame noch rechtzeitig auf. Wie ich Unpünktlichkeit hasse! Ich habe etwas im Büro vergessen, bin gleich wieder da. Sag mir bitte umgehend Bescheid, sollte sie auftauchen.«

»Mache ich. Ach, Martina …«, begann er, beendete den Satz jedoch nicht.

»Ja?«

»Schon gut. Das hat Zeit bis später«, versicherte er mit einem aufgesetzten Lächeln.

Daraufhin drehte sie sich um und stolzierte los. Das Stakkato ihrer Absätze auf dem Parkettfußboden hallte durch den Raum, als sie sich mit forschen Schritten Richtung Ausgang bewegte.

Thorsten Block stand am Fenster und sah hinaus, als ein Fahrzeug schwungvoll auf den Parkplatz gefahren kam. Aus dem weißen Mini-Cabriolet stieg eine junge Frau, deren Augenpartie von einer modischen Sonnenbrille verdeckt wurde. Sie sah sich um und steuerte dann, gefolgt von einem jungen Mann, auf den Haupteingang des Gebäudes zu. Das wurde auch Zeit, überlegte Block, bevor er sich auf den Weg machte, das Paar in Empfang zu nehmen.

»Hi, ich bin Leonie!« Sie hatte sich die Sonnenbrille ins Haar gesteckt und sah sich neugierig in dem Raum um.

»Im Namen der Stiftung heiße ich Sie herzlich willkommen!«, eröffnete Martina Engelhorst die Begrüßungsrunde. »Schön, dass Sie mittlerweile ebenfalls den Weg zu uns gefunden haben, Frau Mahnke.«

»Klar, aber nennen Sie mich Leonie. Sonst fühl ich mich gleich so uralt.« Sie kicherte und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre langen, grell lackierten Fingernägel waren an den Spitzen mit kleinen Strasssteinchen verziert.

Martina Engelhorst schenkte ihr ein aufgesetztes Lächeln und fuhr dann fort: »Zunächst müssen wir ein paar Formalitäten erledigen. Auch vor uns macht die Bürokratie nicht halt.« Abermals lächelte sie gequält. »Im Anschluss widmen wir uns dem angenehmen Teil. Wir würden Sie gern zu einem gemeinsamen Abendessen mit einigen Stiftungsmitgliedern einladen.«

»Cool, das passt. Für abends haben wir sowieso noch nichts geplant.« Leonie lachte fröhlich in die Runde. »In welchem Hotel sind wir untergebracht? Ich würde vorher gerne meine Sachen abliefern.«

»Ich gebe Ihnen nachher die genaue Adresse«, bot Thorsten Block an.

»Es ist herrlich ruhig dort. Mitten in den Dünen gelegen. Das gefällt dir bestimmt«, meldete sich Alina zu Wort.

»Hauptsache, das WLAN ist stabil«, erwiderte Leonie.

Kapitel 5

Nachdem ich die prall gefüllten Einkaufstaschen in den Wagen geladen hatte, machte ich mich auf den Rückweg nach Morsum. Nach wenigen Fahrminuten leuchtete die Tankanzeige auf.

»Ja, ja«, murmelte ich und beschloss, an der nächsten Tankstelle zu halten. Als ich nach dem Bezahlen zurück zu meinem Wagen ging, fiel mir ein Mann auf.

»Entschuldigen Sie bitte. Ich fürchte, mir ist ein kleines Missgeschick passiert«, sagte er und deutete auf das Heck meines Fahrzeuges.

»Ein Missgeschick?«, wiederholte ich.

»Ich habe mich verschätzt und habe beim Ausparken den Radkasten Ihres Fahrzeuges gestreift. Sehen Sie?« Er zeigte auf die Stelle. Auf den ersten Blick waren einige pa­rallel verlaufende Kratzer zu erkennen. »Selbstverständlich komme ich für den Schaden auf beziehungsweise meine Versicherung. Eine polizeiliche Aufnahme erübrigt sich damit meines Erachtens, es sei denn, Sie bestehen darauf.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, zog er eine Visitenkarte aus seiner Geldbörse und reichte sie mir. »Hier, bitte. Unter der angegebenen Telefonnummer können Sie mich erreichen. Warten Sie, im Handschuhfach habe ich auch die Nummer meiner Versicherung.«

Während er um sein Fahrzeug herum zur Beifahrerseite ging, betrachtete ich die Visitenkarte in meiner Hand. »Falk von Bergedorf« stach mir in geschwungenen Lettern ins Auge. Daneben war ein Wappen abgebildet. Vermutlich handelte es sich um ein Familienwappen, kam es mir in den Sinn.

»Danke, ich würde gerne ein paar Fotos von dem Schaden an beiden Fahrzeugen machen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Mein Blick huschte kurz zu seinem Fahrzeug, dessen Kotflügel ebenfalls deutliche Beschädigungen aufwies.

»Wie Sie wünschen«, erwiderte er mit ausladender Geste.

Ich machte schnell einige Aufnahmen mit meinem Handy, gab ihm ebenfalls eine Visitenkarte von mir und begab mich anschließend auf direktem Weg nach Hause.

»Hey, Anna, warte, ich helfe dir beim Tragen.« Nick kam mir entgegen, als ich den Wagen in der Einfahrt abgestellt hatte. »Was ist los?« Er musterte mich prüfend.

»Jemand ist gegen mein Auto gefahren, eine ordentliche Schramme hinten am Radkasten.«

»Und hat sich unerkannt aus dem Staub gemacht?«, nahm Nick an.

»Nein. Es gibt doch noch ehrliche Menschen auf dieser Welt. Der Mann hat sogar auf mich gewartet und mir seine Adresse gegeben. Zudem ist es an der Tankstelle passiert. Da gibt es Kameras. Er hätte also nicht so ohne Weiteres unerkannt verschwinden können. Vielleicht kann man die Kratzer einfach wegpolieren?«

»Hm«, brummte Nick und bückte sich, um den Schaden aus nächster Nähe begutachten zu können. »Ich fürchte, mit Wegpolieren ist das nicht getan. Das geht richtig tief in den Lack.« Er wischte mit den Fingern über die beschädigte Stelle. »Ich bin kein Fachmann, aber soweit ich das beurteilen kann, muss der Wagen in die Werkstatt.«

»Am besten rufe ich gleich Montagmorgen dort an und mache einen Termin.«

»Mach das. War der Mann ein Einheimischer oder ein Tourist?«, wollte Nick wissen.

»Sein Wagen ist zwar in Nordfriesland zugelassen, aber auf seiner Visitenkarte ist eine Hamburger Adresse angegeben.«

»Dann handelt es sich bestimmt um einen Zweitwohnungsbesitzer, der das Wochenende auf der Insel verbringt.«

Ich zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich. Er sah äußerst betucht aus, obwohl man sich diesbezüglich auch täuschen kann.«

»Deine Eltern haben vorhin angerufen«, wechselte Nick das Thema, als wir die Einkäufe in der Küche abstellten.

»Haben sie für heute Abend etwa abgesagt?«

»Nein, deine Mutter wollte nur wissen, ob sie irgendetwas mitbringen sollen.«

»Und was hast du ihr gesagt?« Ich goss mir ein Glas Mineralwasser ein und trank einen Schluck.

»Eine große Schüssel Mousse au Chocolat wäre schön.« Nick grinste breit.

Um ein Haar hätte ich mich verschluckt. »Das hast du nicht wirklich gesagt!«

Er sah mich an, und seine Mundwinkel zuckten amüsiert. »War bloß Spaß! Obwohl …«

»Du kennst meine Mutter. Ein Wort genügt, und sie stürzt sich umgehend in die Zubereitung.«

»Das weiß ich doch. Ich habe ihr gesagt, dass sie nichts mitbringen müssen. Schließlich soll die Einladung ein Dankeschön dafür sein, dass sie sich um die Hunde und das Haus gekümmert haben, während wir weg waren.«

In diesem Moment kam Christopher in die Küche gerannt. Er war völlig außer Atem vom Fußballspielen mit seinem Freund Jonas.

»Hey, Mum! Können wir Pancakes haben?«, fragte er und steckte seine Nase neugierig in eine der Einkaufstaschen.

»Mitten am Tag?«, fragte ich und begann, die Einkaufstaschen auszupacken. Pepper und Chili hatten sich ebenfalls in der Küche eingefunden, in der Hoffnung, etwas würde auch für sie dabei sein.

»Jonas hat aber noch nie welche gegessen. Kannst du welche machen? Bitte! So wie bei Grandma, mit ganz viel Ahornsirup!«

Mit bettelnden Mienen standen die beiden Jungen vor mir.

»Jetzt passt es wirklich nicht. Ihr könnt ein Eis haben, wenn ihr mögt. Hier! Ich habe deine Lieblingssorte mitgebracht.« Ich zog die Packung hervor und wedelte damit. Doch die Begeisterung der beiden hinsichtlich meines Angebotes hielt sich in Grenzen.

»Na gut«, murmelte Christopher enttäuscht.

»Morgen können wir welche machen. Jonas kann bei uns übernachten, und zum Frühstück gibt es dann Pancakes. Wäre das ein Deal?«

Die beiden Jungen tauschten Blicke und nickten dann einstimmig. »Deal!« Sie hoben jeweils die rechte Hand, und ich schlug ein.

»Cool, meine Mutter hat bestimmt nichts dagegen, dass ich hier schlafe«, sagte Jonas und folgte seinem Freund, der bereits wieder auf dem Weg in den Garten war.

Ich sah den beiden mit einem Schmunzeln nach. Erinnerungen an meine eigene Kindheit tauchten vor meinem inneren Auge auf. Früher hatte oft meine Freundin Britta bei uns übernachtet. Wir erzählten uns bis tief in die Nacht Geschichten, kicherten und lachten dabei derart, dass meine Eltern kaum in den Schlaf fanden. Wie unbeschwert wir damals als Kinder waren, überlegte ich, während sich automatisch ein Lächeln in mein Gesicht stahl.

»Worüber freust du dich so?« Nick war unbemerkt an mich herangetreten.

»Nichts Besonderes. Ich musste nur gerade an meine eigene Kindheit denken. Das ist lange her. Ich wünsche mir manchmal diese Unbekümmertheit zurück. Du nicht auch?«

Nick betrachtete mich eingehend. »Inwiefern?«

»Na, dass man sich nicht immer so viele Gedanken um alles macht. Und …«

»Und?«

»Ach, ich weiß auch nicht.«

»Du kannst nicht alles beeinflussen und planen, Anna. Manchmal muss man einfach spontan sein.«

»Das sagt sich so leicht«, protestierte ich.

»Resilienz heißt das Zauberwort«, fuhr Nick fort.

»Resilienz? Hast du das in einem deiner Fortbildungsseminare gelernt?« Ich hob skeptisch die Augenbrauen.

»Unter anderem, ja. Das kann man lernen. Außerdem: nobody is perfect!«

Ich stieß einen Seufzer aus, dann sah ich zur Uhr. »Für Resilienz habe ich leider gerade gar keine Zeit. Wenn ich mich nicht ein bisschen spute, stehen meine Eltern vor der Tür, und ich habe noch nicht einmal mit der Vorbereitung angefangen. Sieh dir das Chaos hier an!« Ich sah mich demonstrativ in der Küche um. »Außerdem muss ich noch Jonas’ Mutter anrufen. Er will bei uns übernachten. Die Jungs wollen unbedingt Pancakes zum Frühstück.«

Nick kam ein Schritt auf mich zu und umfasste meine Hüften. Dann gab er mir einen Kuss. »Siehst du? Genau das meine ich. Weißt du was?« Ich schüttelte den Kopf. »Die Küche bleibt heute kalt.«

Entgeistert sah ich ihn an. »Aber meine Eltern …«, setzte ich an.

»… können genauso gut mit uns in einem Restaurant essen«, beendete Nick den Satz.

»Was machen wir jetzt mit den ganzen Lebensmitteln, die ich extra eingekauft habe? Außerdem glaube ich nicht, dass wir mitten in der Saison spontan irgendwo einen Platz bekommen.«

»Das lass mal meine Sorgen sein.« Er zwinkerte mir zu und verließ die Küche.

»Ah, du lässt deine Beziehungen spielen. Da bin ich gespannt«, neckte ich ihn und verstaute nebenbei die restlichen Einkäufe.

Kapitel 6

»Eigentlich hatte ich mich heute auf eine ruhige Schicht eingestellt, aber bislang sieht das nicht danach aus. Ich könnte dringend einen Kaffee vertragen.«

»Dann lass uns zurück aufs Revier fahren. Irgendjemand hat bestimmt welchen gekocht.«

»Gute Idee. Ach nö, bitte nicht schon wieder!«, stöhnte Oliver Mirske, als sich die Einsatzzentrale meldete.

Ansgar Kreutzer nahm den Funkspruch entgegen. »Tja, aus dem Kaffee wird wohl nichts. Einbruch in Keitum bei einer Familie Habemann-Schotter.«

»Gut, dass Sie da sind!« Eine Frau, Mitte 60, kam aufgeregt auf die Polizisten zu, kaum waren sie ausgestiegen.

»Moin, haben Sie uns verständigt?«

Sie nickte heftig. »Ja, bei uns wurde eingebrochen. Schnell, mein Mann ist verletzt!«

»Haben Sie die Täter noch gesehen?«, erkundigte sich der Beamte, während sie der Frau ins Haus folgten.

»Nein, ich nicht. Die sind längst über alle Berge. Ich bin gerade eben von einer Feier nach Hause gekommen, da habe ich meinen Mann bewusstlos aufgefunden. Wahrscheinlich hat er die Einbrecher überrascht, und sie haben ihn niedergeschlagen«, erklärte die besorgte Frau.

Oliver beugte sich über den Verletzten und fühlte dessen Puls. »Haben Sie einen Rettungswagen verständigt?«

»Ja, das habe ich gleich als Erstes gemacht, anschließend habe ich die Polizei angerufen. Die Sanitäter müssten jeden Augenblick eintreffen.«

»Gut.«

»So, die Spusi ist informiert.« Ansgar gesellte sich wieder zu ihnen.

In diesem Augenblick kam der niedergeschlagene Gatte zu Bewusstsein und wollte sich aufrichten.

»Vorsichtig! Sie sollten besser liegen bleiben, bis die Kollegen der Rettung kommen«, betonte Ansgar, doch der Mann lehnte ab.

»Danke, geht schon wieder.« Er verzog schmerzvoll das Gesicht.

Die beiden Polizeibeamten halfen dem Mann auf und legten ihn anschließend behutsam auf das helle Ledersofa.

»Wie geht es dir, Liebling? Tut es sehr weh?« Frau Habemann-Schotter reichte ihrem Mann ein Glas Wasser. »Trink einen Schluck.«

»Mein Schädel brummt.«

»Konnten Sie die Einbrecher erkennen? Und vielleicht beschreiben? Waren es mehrere Personen?«, fragte Ansgar nach, ohne den Mann allzu sehr stressen zu wollen.

»Nein, weder noch. Ich war oben in meinem Arbeitszimmer, als ich unten im Haus seltsame Geräusche gehört habe. Erst dachte ich, du bist es, Schatz.« Er stöhnte bei dem Versuch, den Kopf zu drehen, um seine Frau anzusehen. »Ich bin runter, um nachzusehen, und plötzlich traf mich ein Schlag. Dann wurde mir schwarz vor Augen. An mehr kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.«

»Können Sie auf den ersten Blick sagen, ob etwas gestohlen wurde?« Oliver Mirske sah zu Frau Habemann-Schotter.

»Ich wüsste nicht, was. Wir bewohnen das Haus vorrangig in den Sommermonaten Juli und August. Daher bewahren wir weder wertvollen Schmuck noch größere Summen Bargeld während unserer Abwesenheit hier auf«, gab sie zurück.

»Bis auf einige Gemälde«, fügte der Hausherr hinzu. »Wenn wir nicht da sind, ist das Haus durch eine Alarmanlage gesichert, die rund um die Uhr von einer Sicherheitsfirma überwacht wird.«

»War die Anlage heute Abend auch eingeschaltet?«, wollte Oliver wissen.

Herr Habemann-Schotter verzog abermals bei dem Versuch, den Kopf zu schütteln, schmerzhaft das Gesicht. »Nein, da war ich ja zu Hause. Wir aktivieren sie nur, wenn niemand da ist.«

»Könnten Sie bitte kurz nachsehen, ob die Gemälde noch alle da sind?«, bat Ansgar die Ehefrau.

»Gerne. Ich bin gleich wieder da.«

Nach wenigen Minuten stand sie mit bleicher Miene im Wohnzimmer. »Der Nolde ist weg!«

Zeitgleich klingelte es an der Tür. Der Rettungswagen sowie die Kollegen der Spurensicherung waren eingetroffen.

Kapitel 7

Er zog die Tür hinter sich zu, steckte den Schlüssel ein und steuerte auf die Hauptstraße zu. Im Laufe des Tages hatte der Wind nachgelassen, was die abendliche Temperatur angenehmer erscheinen ließ. In Kürze würde die Sonne im Meer versinken. Ein magischer Moment, dem er persönlich wenig abgewinnen konnte. Nein, er war keiner dieser oberflächlichen Romantiker. Angeblich wurden auf Sylt jährlich nahezu mehr als 450.000 Schnappschüsse von Sonnenuntergängen geknipst, hatte er in einem Reisemagazin gelesen. In seinen Augen ein völliger Unsinn. Romantik und wahre Liebe bedeuteten viel mehr als kitschige Sonnenuntergänge. Er lief in Richtung Westen zum Meer, vorbei an der Uwe-Düne, die mit ihren 52 Metern Höhe die höchste Erhebung der Insel bildete. Als er den Strand erreicht hatte, tummelten sich bereits überall verstreut Menschen. Teilweise waren es Paare, teilweise sogar größere Gruppen, die dem Spektakel entgegenfieberten. Er ging ein paar Meter durch den Sand und ließ sich schließlich in einigem Abstand zu einer Gruppe Jugendlicher nieder. Seine Schuhe und Strümpfe waren voller Sand. Schnell zog er die Schuhe aus und klopfte den Sand heraus. Wenn er eines hasste, war es, Sand zwischen den Zehen zu spüren. Barfuß im Sand zu laufen, war für ihn der reinste Horror. Es war ihm ein Rätsel, wie Leute dieses Gefühl als befreiend empfinden konnten. Die Sonne stand wie ein roter Feuerball kurz davor, im Meer zu versinken. Weit am Horizont konnte man die Silhouette eines Containerschiffes erkennen. Sein Blick wanderte zurück zum Flutsaum, wo zwei kleine Jungen Ball spielten. Sie lachten. Die Eltern und Großeltern saßen in nächster Nähe und sahen den beiden zu. Er meinte, den Namen Christopher verstanden zu haben. Die restlichen Worte gingen im Rauschen der Wellen unter. Zwei Hunde gehörten ebenfalls zu der Familie. Einer von ihnen bellte aufgeregt und jagte zur Belustigung der Kinder dem Ball hinterher. Lachen wehte zu ihm herüber. Eine Familie, dachte er versonnen. Nicht mehr lange, und dieses Glück würde ihn ebenfalls ereilen. Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit auf ein Pärchen gelenkt, das dicht an ihm vorbeiging. Er erkannte sie an ihrer Stimme. Rasch zog er den Schirm seiner Mütze tiefer ins Gesicht. Sein Herz begann, aufgeregt zu schlagen. Dass er sie so bald sehen würde, hatte er nicht zu träumen gewagt. Für einen kurzen Augenblick sah sie in seine Richtung. Schnell senkte er den Blick. Auch wenn sie keine Notiz von ihm nahm, er konnte nicht vorsichtig genug sein. Plötzlich schwebte dicht über ihm eine Möwe vorbei. Gefolgt von einer zweiten. Sie vermittelten den Anschein, als würden sie im leichten Wind einfach ziellos dahingleiten. In Wahrheit waren sie auf Nahrungssuche. Ihren scharfen Augen entging nichts. Nicht selten landete ein gerade ausgepacktes Fischbrötchen oder eine Eiswaffel nicht im Mund eines Menschen, sondern im Schnabel eines dieser Räuber. Beobachten und das Überraschungsmoment ausnutzen. Exakt diese Taktik führte zum Erfolg. Zufrieden grinste er in sich hinein und schirmte mit der Hand die Augen vor der tiefstehenden Sonne ab, als er auf das Meer blickte. Das nächste Mal musste er unbedingt an seine Sonnenbrille denken.

Kapitel 8

»Axel! Ich freue mich, dich zu sehen. Komm rein!« Falk von Bergedorf machte einen Schritt zur Seite, um seinen Besucher eintreten zu lassen.

»Ich bin ein bisschen vor der Zeit. Ich hoffe, ich störe dich nicht?«

»Du störst nie, das weißt du doch. Außerdem bleibt uns noch genügend Zeit für einen Kaffee, bis wir losmüssen. Du nimmst doch einen, oder hast du zwischenzeitlich deine Gewohnheiten geändert und bist gänzlich auf Tee umgestiegen?«

»Nein. Zu einem Kaffee sage ich nicht Nein«, erwiderte Axel Windling mit einem Lachen und folgte seinem Freund in die Küche.

»Wie lange bist du schon auf der Insel?«, erkundigte sich Falk, während er zwei Kaffeebecher aus dem Hängeschrank nahm und sie unter den Kaffeevollautomaten stellte. Ein Tastendruck genügte, und das Mahlwerk der Maschine nahm mit einem Surren seine Arbeit auf.

»Erst seit gestern. Ich wollte schon früher kommen, aber mir ist ein wichtiger Termin dazwischengekommen. Du weißt ja, wie das ist. Der Plan erfährt eine Änderung, um es mit Loriots Worten zu sagen.«

»Stimmt, treffender kann man es kaum formulieren.« Von Bergedorf lachte. »Milch?«

»Gern, aber nur einen kleinen Schluck.« Dankbar griff er nach der Tasse mit dem duftenden Getränk. »Seit wann bist du ein Freund solcher Apparate? Ich dachte immer, handgefilterter Kaffee ist das Nonplusultra, und alles andere käme dir niemals ins Haus?«, fragte er mit einem belustigten Blick auf den ausladenden Kaffeevollautomaten auf der Arbeitsplatte.

Falk von Bergedorf winkte ab. »Du redest schon wie meine Haushälterin. Die hat für diese Dinger auch nicht viel übrig. Aber manchmal ist es eben praktisch. Besonders wenn man es eilig hat. Ein Knopfdruck genügt – fertig. Und geschmacklich ist der Kaffee gar nicht mal so übel. Vorausgesetzt man verwendet hochwertige Bohnen.«

Axel Windling schnupperte an dem Kaffee, um ihn anschließend zu probieren. »Hm, stimmt. Nicht übel. Könnte ich mich dran gewöhnen.«

»Siehst du, ich habe nicht zu viel versprochen. Komm, lass uns nach draußen gehen.«

Die beiden Männer gingen auf die Terrasse und nahmen an dem Tisch mit Blick auf das Wattenmeer Platz, das spiegelglatt vor ihnen lag. Vereinzelt waren Rufe von Seevögeln zu hören.