Systemsturz - Kohei Saito - E-Book + Hörbuch

Systemsturz Hörbuch

Kohei Saito

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Beschreibung

Ohne Kapitalismus in die Zukunft Wenn wir glauben, die Welt durch nachhaltigen Konsum vor der Klimakatastrophe zu retten, betrügen wir uns selbst. Das sagt der japanische Philosoph Kohei Saito. Denn der Kapitalismus ist nicht zukunftsfähig. Klar und überzeugend vertritt Saito die These: Nichts, was die Welt jetzt braucht, lässt sich innerhalb eines kapitalistischen Systems realisieren. Grünes Wachstum ist unmöglich. Was wir stattdessen brauchen? Einen neuen Kommunismus. Genauer gesagt: einen Ökosozialismus, der nicht auf Wachstum ausgerichtet ist, der das Produktionstempo herunterfährt und Wohlstand umverteilt. Schon Marx plädierte für eine nachhaltige Wirtschaftsordnung. Und nur damit wird es uns gelingen, die Natur – unsere Lebensgrundlage – zu erhalten. Die bahnbrechende Neuinterpretation der Marx'schen Theorie von einer der aufregendsten jungen Stimmen der internationalen Philosophie »Neoliberale Maßnahmen wie Deregulierung oder Beschneidung des Sozialstaats, mit denen das  Wachstum angetrieben wurde, haben soziale Gräben und Instabilität hinterlassen. Warum sollen wir so weitermachen, unser ganzes Leben auf Arbeiten, Geldverdienen, Konsumieren ausrichten? Wir brauchen einen ›new way of life‹.«  Kohei Saito

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Zeit:9 Std. 26 min

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Über das Buch

»Wir können die Probleme, die vom Kapitalismus verursacht wurden, nicht dadurch lösen, dass wir ihn uns für später warmhalten. Er ist nämlich das Grundübel. Für einen Ausweg aus dem kapitalistischen Schlamassel müssen wir die Ursache des Klimawandels, den Kapitalismus, einer radikalen Kritik unterziehen. Denn er ist es, der uns die Armut bringt, während er weiter Knappheit schafft und Profite erwirtschaftet. Auch die Commons hat er aufgelöst, und darum ist es der Degrowth-Kommunismus, der uns ein humaneres Leben in Überfluss ermöglicht. Sollten wir weiter versuchen, den Kapitalismus am Leben zu erhalten, sind wir angesichts des Chaos, das die Klimakrise mit sich bringt, zum Rückfall in die Barbarei verdammt.«

Kohei Sato

Systemsturz

Der Sieg der Natur über den Kapitalismus

Aus dem Japanischen von Gregor Wakounig

VorwortDie Ziele für nachhaltige Entwicklung sind das Opium des Volks!

Was machen Sie eigentlich gegen die Erderwärmung? Benutzen Sie nun auch eine eigene Einkaufstasche, um den Verbrauch von Plastiktüten zu reduzieren? Und anstatt Getränke in PET-Flaschen zu kaufen, tragen Sie Ihre eigene Flasche mit sich herum? Sind Sie auf ein Elektroauto umgestiegen? Ich sage es Ihnen ganz offen: Diese guten Absichten alleine sind sinnlos. Im Gegenteil, sie könnten vielleicht sogar schädlich sein. Aber wieso?

Der Glaube, dass der Erfolg im Kampf gegen die Erderwärmung davon abhängt, wie viel jeder Einzelne von uns tut, hält uns davon ab, die für die heutige Zeit wirklich wichtigen und mutigen Taten zu vollbringen. Er fördert stattdessen ein Konsumverhalten, das wie ein Ablasshandel funktioniert, um das Gewissen zu entlasten und die Augen vor der Realität der Krise weiter verschließen zu können. Das Kapital heuchelt uns Sorge um die Umwelt vor, und wir fallen auf dieses Greenwashing auch noch herein.

Aber sollte es nicht möglich sein, mit den »Zielen für nachhaltige Entwicklung« (Sustainable Development Goals, SDG) etwas für die globale Umwelt zu bewirken, schließlich werden die SDGs ja von der UNO propagiert und von allen Regierungen sowie großen Unternehmen gefördert? Eigentlich nicht. Selbst wenn Regierungen und Großunternehmen den SDG-Aktionsplan befolgen würden, ließe sich damit der Klimawandel nicht aufhalten. Die SDGs sind nämlich nur eine Art Alibihandlung mit dem einzigen Zweck, die Dringlichkeit der Krise zu verschleiern.

Marx hat Religionen einst als »Opium des Volkes« kritisiert, da sie die brutalen Auswüchse der kapitalistischen Realität nur abfedern. Und tatsächlich sind SDGs die neuzeitliche Version davon. Zuallererst müssen wir uns der Realität stellen, dass wir den Zustand der Erde unwiederbringlich verändert haben. Da der Einfluss des Menschen auf den Planeten so dermaßen groß ist, behauptete der Chemienobelpreisträger Paul J. Crutzen, dass geologisch gesehen ein neues Zeitalter über die Erde hereingebrochen sei, das sogenannte Anthropozän. Ein Zeitalter, in dem die Spuren menschlichen Wirkens die gesamte Erdoberfläche bedecken.

Und das ist wörtlich zu verstehen: Die Erde ist bedeckt von Gebäuden, Fabriken, Straßen, Ackerland und vielem mehr. In ihren Ozeanen schwimmen große Mengen Mikroplastik umher, und künstliche, vom Menschen erschaffene Objekte verändern ihre Ökosysteme in hohem Maße. Zu sehen ist das vor allem am vom Menschen verursachten dramatischen Anstieg des Kohlendioxids. Wie Sie wissen, ist Kohlendioxid ein Treibhausgas. Treibhausgase absorbieren die Infrarotstrahlung der Sonne und erwärmen die Atmosphäre – man nennt das auch Treibhauseffekt. Dank ihm wurde die Erde über eine lange Zeit auf einer Temperatur gehalten, die es Menschen und anderen Lebewesen ermöglichte zu leben.

Seit der industriellen Revolution verbraucht der Mensch jedoch massiv fossile Brennstoffe wie Steinkohle und Erdöl, die gewaltige Mengen an Kohlendioxid ausstoßen. Hatte die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre vor der industriellen Revolution bei 280 Parts per million (Anteile pro Million, ppm) gelegen, überschritt sie 2006 in der Antarktis zum ersten Mal seit vier Millionen Jahren die Marke von 400 ppm. Und dieser Wert steigt weiter an.

Im Pliozän, also vor vier Millionen Jahren, war die Durchschnittstemperatur um zwei bis drei Grad Celsius höher als heute, das Eisschild der Antarktis und Grönlands war geschmolzen, und auch der Meeresspiegel war um zumindest sechs Meter höher, wobei einige Studien auch von einer Höhe von zwanzig bis dreißig Metern ausgehen. Wird der Klimawandel im Anthropozän, sofern er sich fortsetzt, also zu ähnlichen globalen Umweltbedingungen führen wie damals? Ungeachtet der Antwort steht fest, dass die menschliche Zivilisation mit einer Krise ihres Fortbestands konfrontiert ist.

Das Wirtschaftswachstum der Moderne versprach uns ein Leben im Wohlstand. Jedoch wird durch die Umweltkrise des Anthropozäns klar, dass es ironischerweise gerade das Wirtschaftswachstum ist, das die Grundlagen des menschlichen Wohlstands untergräbt.

Selbst wenn der Klimawandel rapide voranschreitet, werden Superreiche in den Industrieländern ihr ausschweifendes Leben wie gehabt fortsetzen können. Das Alltagsleben von uns Normalbürgern erlaubt uns solche Freiheiten aber nicht, wir werden unsere bisherige Lebensweise verlieren und verzweifelt nach neuen Möglichkeiten zum Überleben suchen müssen. Eine schmerzliche Wahrheit, die wir während der Corona-Pandemie realisiert haben. Vor diesem Hintergrund mehren sich die Stimmen nach einer radikalen Neubetrachtung des bisherigen Zustands, der die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert und die Umwelt zerstört. Der Vorschlag des Davoser Weltwirtschaftsforums (WEF) für einen »Great Reset« könnte als Symbol dafür angesehen werden.

Den Planeten für die Zukunft zu retten bedeutet, ihn nicht nur Politikern und Experten zu überlassen. Eine »Macht ruhig mal«-Einstellung würde den Superreichen letztlich nur in die Hände spielen.

Wenn wir uns für eine bessere Zukunft als die gerade beschriebene entscheiden wollen, müssen jede Bürgerin und jeder Bürger als Betroffene aufstehen, ihre Stimme erheben und aktiv werden. Wenn wir allerdings einfach nur blindlings drauflosschreien und ziellose Aktionen durchführen, werden wir damit bloß Zeit vergeuden. Der springende Punkt ist, mit der passenden Strategie die richtige Richtung einzuschlagen.

Dazu müssen wir erst einmal die Ursachen des Klimawandels zurückverfolgen, und die liegen in nichts Geringerem als dem Kapitalismus. So begann die Zunahme des Kohlendioxidausstoßes erst mit der industriellen Revolution, oder anders gesagt – als der Kapitalismus so richtig in Fahrt kam. Kurz darauf gab es jemanden, der sehr gründlich über das Kapital nachdachte: Karl Marx.

Das vorliegende Buch analysiert die Verflechtung von Kapital, Gesellschaft und Natur im Anthropozän und beruft sich dabei gelegentlich auf ›Das Kapital‹ von Marx. Selbstredend habe ich keinesfalls die Absicht, den Marxismus der Vergangenheit einfach aufzuwärmen und aufzuarbeiten. 150 Jahre haben Marx’ Anschauungen vor sich hingeschlummert, ich möchte sie neu entdecken und weiterentwickeln.

Mit diesem »Systemsturz« könnten unsere Fantasie und Vorstellungskraft befreit werden, damit wir im Zeitalter der Klimakrise eine bessere Gesellschaft erschaffen.

Kapitel 1Der Klimawandel und die imperiale Lebensweise

Die Schuld des Wirtschaftsnobelpreises

Das Fachgebiet von William D. Nordhaus, seines Zeichens Träger des Wirtschaftsnobelpreises von 2018 und Professor an der Yale-Universität, sind die wirtschaftlichen Aspekte des Klimawandels. Möglicherweise wird in unserer modernen, mit der Klimakrise kämpfenden Gesellschaft die Tatsache, dass so jemand den Nobelpreis verliehen bekam, als eine gute Neuigkeit angesehen. Und trotzdem haben einige Klimaaktivisten harte Kritik daran geäußert.[1] Doch wieso? Der Grund war ein von Nordhaus im Jahr 1991 veröffentlichter wissenschaftlicher Artikel, der Anfang einer Reihe von Studien, die ihm schließlich den Nobelpreis einbrachten.[2]1991 war einerseits das Jahr, in dem der Kalte Krieg zu Ende ging, und gleichzeitig der Vorabend einer globalisierten Wirtschaft, die die Kohlendioxidemissionen extrem steigern würde. Nordhaus zog schon früh die Probleme des Klimawandels in die Wirtschaftswissenschaften mit ein. Und wie es für einen Ökonomen typisch ist, sprach er sich für die Einführung einer CO2-Emissionssteuer aus und versuchte, ein Modell für das Bestimmen der optimalen Emissionsreduktionsrate zu konstruieren.

Doch genau diese optimale Rate ist das Problem. Für die Bekämpfung des Klimawandels braucht es weniger Treibhausgasemissionen. Setzt man das Reduktionsziel zu hoch an, hemmt es das Wirtschaftswachstum; man müsse auf die »Ausgewogenheit« achten, so Nordhaus.[3] Seine »Ausgewogenheit« ist jedoch eine, mit der er viel zu sehr Partei für das Wirtschaftswachstum ergreift. Nordhaus behauptet nämlich, dass wir uns wegen des Klimawandels nicht den Kopf zerbrechen und mit dem bisherigen Modell des Wirtschaftswachstums weitermachen sollten. Es sichere den Wohlstand, der wiederum neue Technologien hervorbringe. So könnten zukünftige Generationen diese fortgeschrittenen technologischen Errungenschaften dazu nutzen, dem Klimawandel etwas entgegenzusetzen. Denn mit einer starken Wirtschaft und den neuen Technologien bestehe keine Notwendigkeit, die natürliche Umwelt für nachfolgende Generationen im gleichen Zustand zu belassen wie heute.

Doch auch mit der von Nordhaus vorgeschlagenen CO2-Emissionsreduktionsrate würde die Durchschnittstemperatur auf der Erde bis zum Jahr 2100 um satte 3,5 °C ansteigen. Die beste Lösung besteht für die Wirtschaftswissenschaften also darin, praktisch nichts gegen den Klimawandel zu unternehmen.

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass das 2016 in Kraft getretene Pariser Übereinkommen darauf abzielt, die Klimaerwärmung bis 2100 auf unter 2 °C (vorzugsweise unter 1,5 °C) gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. Viele Wissenschaftler schlagen nun jedoch Alarm, dass selbst das 2 °C-Ziel extreme Gefahren mit sich bringe, man die 1,5 °C anpeilen müsse. Nordhaus’ Modell ist also mehr als unzureichend, ein Anstieg von 3,5 °C würde vor allem in den Entwicklungsländern Afrikas und Asiens katastrophale Schäden verursachen. Doch der Beitrag dieser Länder zum weltweiten Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist gering. Natürlich wäre die Landwirtschaft ebenfalls schwer betroffen, doch auch ihr Beitrag zum weltweiten BIP beträgt »bloß« 4 Prozent, das klingt doch nicht so schlimm, die paar in Mitleidenschaft gezogenen Menschen in Afrika und Asien muss man eben in Kauf nehmen. Das, meine Damen und Herren, ist die Denkweise eines Nobelpreisträgers.

Aus dieser Position heraus ist Nordhaus’ Einfluss auf die Mainstream-Umweltökonomik natürlich sehr groß, weshalb sie die Grenzen der Natur und die Ressourcenknappheit betont. Unter diesen beiden Bedingungen die optimale Verteilung der Ressourcen zu ermitteln ist die Stärke der Wirtschaftswissenschaften. Das dadurch errechnete Optimum wäre dann sowohl für die Natur als auch für die Gesellschaft eine Win-win-Lösungsstrategie, die deshalb allgemein auch viel Anklang findet. Hierbei handelt es sich zweifellos um eine effektive Strategie für Wirtschaftswissenschaftler, bei internationalen Organisationen Präsenz zu zeigen. Im Gegenzug rechtfertigt so eine Vorgangsweise eine langsame und schleppende Reaktion auf den Klimawandel, die wenig oder gar nichts bewirkt.

Natürlich beeinflusst Nordhaus’ Ideologie auch das Pariser Übereinkommen, das den Temperaturanstieg wie gesagt auf unter 2 °C begrenzen will. Doch das ist nur ein leeres Versprechen. Wissenschaftler weisen darauf hin, dass es auch dann zu einem Temperaturanstieg um 3,3 °C kommen würde, wenn sich alle Staaten an die Beschlüsse des Übereinkommens hielten.[4] Ein Wert also, der ziemlich nah an Nordhaus’ Berechnungen liegt. Denn wie erwartet hat für die Eliten eines jeden Landes das Wirtschaftswachstum oberste Priorität, die eigentlichen Probleme aber werden nach hinten verschoben.

Deshalb ist es auch gar nicht verwunderlich, dass die Kehrseite von Losungen wie SDGs oder ESG (Environmental, Social and Governance), über die in den Medien so breit berichtet wird, ein jährlicher Anstieg der CO2-Emissionen ist. Unsere Welt ist aber bereits mit einem Temperaturanstieg von über 1,1 °C konfrontiert, wir können es uns nicht mehr leisten, weiter Zeit zu vergeuden. Und dennoch wird der Kern des Problems verschleiert, und die Klimakrise im Anthropozän verschlimmert sich zusehends.

Point of no Return

Eines muss offen gesagt werden: Der Klimawandel wird seinen Anfang nicht erst um das Jahr 2050 herum nehmen. Er hat bereits begonnen.

Und tatsächlich, extreme Wetterphänomene, die man früher als »Jahrhundertereignisse« eingestuft hätte, treten heute weltweit auf und gehören zum »New Normal«. Doch dabei ist die aktuelle Situation erst der Anfang von dem, was bald auf uns zukommen wird: Schon bald droht uns der Punkt, an dem irreversible Veränderungen eintreten werden und es nicht mehr möglich ist, zum früheren Zustand zurückzukehren – der Point of no Return.

So gab es im Juni 2020 in Sibirien beispielsweise Temperaturen von 38 °C, womöglich die höchsten in der Geschichte des Nordpolarkreises. Taut der Permafrostboden auf, werden große Mengen Methangas freigesetzt, was den Klimawandel nur weiter verschärfen wird. Darüber hinaus strömt Quecksilber aus, ebenso entsteht das Risiko des Auftretens von Bakterien und Viren wie etwa dem Milzbranderreger, und nicht zuletzt wird es auch den Verlust des Lebensraumes des Polarbären bedeuten.

Die Krise nimmt also immer weiter an Komplexität zu. Sobald die Zeitbombe zündet, wird eine dem Dominoeffekt ähnelnde Kettenreaktion ausgelöst, die einen für den Menschen nicht mehr aufhaltbaren Kollaps bedeuten wird. Um die Katastrophe noch abzuwenden, fordern Wissenschaftler, dass der durchschnittliche Temperaturanstieg bis zum Jahr 2100 unter 1,5 °C im Vergleich zu den vorindustriellen Temperaturen bleiben muss. Natürlich bräuchte es dafür sofortige Maßnahmen, schließlich sind wir bereits bei einem Anstieg von über 1 °C angelangt. Konkret müsste der CO2-Ausstoß bis 2030 fast halbiert, die Nettoemissionen bis 2050 auf null reduziert werden. Geht der Ausstoß so weiter wie bisher, wird die Erwärmung2030 die Schwelle von 1,5 °C überschreiten, bis 2100 wird ein weiterer Temperaturanstieg von bis zu 4 °C befürchtet. Natürlich gibt es in allen Staaten Versuche, die Emissionen zu reduzieren, diese sind jedoch unzureichend, weshalb es heißt, dass wir am Ende dieses Jahrhunderts mit einem Anstieg von 3,2 °C zu rechnen haben.

Aber die 1,5 °C sind noch gar nicht überschritten, und doch überschwemmten bereits 2022 riesige Fluten in Pakistan ein Drittel des Staatsgebiets, während Dürren in Afrika zu Hungersnöten führten. Doch wenn der Temperaturanstieg weiter so schnell voranschreitet, werden auch die wohlhabenden Industrienationen nicht unversehrt davonkommen. Ein Anstieg von nur 2 °C würde zum Aussterben der Korallen und einem großen Schaden für die Fischindustrie führen, sommerliche Hitzewellen hätten weitreichende Auswirkungen auf die Ernte von Kulturpflanzen. In Trockengebieten wie Kalifornien oder Australien kommt es immer häufiger zu Waldbränden, und in der Zwischenzeit werden Taifune und Hurrikane, die im Sommer in jeder Region ihre Spuren hinterlassen, zusehends massiver.

Durch Unwetter bzw. Starkregen verursachte Schäden werden ebenfalls zunehmen. In Japan, wo ich lebe, verzeichnete man durch das westjapanische Unwetter von 2018 eine Schadenssumme von 1200 Milliarden Yen. Seitdem sind Unwetter dieses Ausmaßes bereits zu einem jährlichen Ereignis im ganzen Land geworden, wobei die Wahrscheinlichkeit für weitere Unwetter zunimmt.

Dann wären da noch die Antarktis oder andere Orte mit einem Eisschild. Dieses schmilzt und wird innerhalb der kommenden achtzig Jahre für einen verheerenden Anstieg des Meeresspiegels sorgen. Im schlimmsten Fall könnten berühmte Städte wie New York oder San Francisco bis zum Jahr 2100 unter Wasser stehen. Das würde beispielsweise bedeuten, dass das Hafenviertel Fisherman’s Wharf versinken würde oder das One World Trade Center nur noch per Boot erreichbar wäre.

Im weltweiten Maßstab gesehen, wird Hunderten Millionen Menschen nichts anderes bleiben, als umzusiedeln, was die Nahrungsversorgung der Menschheit verunmöglichen wird. Auch wird es zu enormen wirtschaftlichen Verlusten kommen, man geht von jährlich 27 Milliarden US-Dollar aus. All das sind Schäden, die auf Dauer bestehen bleiben werden.

Natürlich sind wir, die wir in den Industrieländern leben, weitgehend für den Klimawandel verantwortlich. Laut Oxfam verursachen die wohlhabendsten 10 Prozent der Weltbevölkerung die Hälfte aller CO2-Emissionen. Autos, Flugzeuge, große Häuser, Fleisch und Wein: Um ein Leben mit all diesen Annehmlichkeiten zu ermöglichen, vergeudet ein Teil der Menschheit gewaltige Mengen an Rohstoffen und Energie.

Abb. 1:

CO2-Emissionsanteil nach Staaten (2017)

Denkt man darüber nach, was für große und unumkehrbare Folgen der Klimawandel für die zukünftigen Generationen mit sich bringt, kann die Gleichgültigkeit von uns, der jetzigen Generation, durch nichts entschuldigt werden. Es braucht eine klar ausgesprochene Forderung nach einem »großen Wandel« bzw. auch seine praktische Umsetzung. Deshalb besteht der mit diesem Buch angestrebte »große Wandel« darin, das kapitalistische System als solches infrage zu stellen.

Doch bevor wir voreilig werden und unrealistisch anmutende Forderungen stellen, müssen wir uns zuerst gründlich mit den Ursachen der Umweltkrise befassen, die in Form des Klimawandels immer mehr ans Licht kommen. Werfen Sie bitte einen Blick auf das Diagramm. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Forschung von Will Steffen und seinen Kolleginnen und Kollegen vom Climate Change Institute der Australian National University aufmerksam machen: Sie konnten nachweisen, dass das menschliche Wirtschaften seit der industriellen Revolution für die Zunahme der Umweltbelastungen verantwortlich ist, denn ein Anstieg der Weltbevölkerung, des Energieverbrauchs sowie der CO2-Konzentration in der Atmosphäre lassen sich in diesem Zeitraum ebenso beobachten wie ein dramatisches Schrumpfen der tropischen Regenwälder. Die wirtschaftliche Entwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der damit zusammenhängende sprunghafte Anstieg der Umweltbelastungen wird das »Zeitalter der großen Beschleunigung« (Great Acceleration) genannt. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat diese Beschleunigung noch weiter zugenommen. Ein solches Zeitalter kann nicht nachhaltig sein, das Anthropozän scheint auf eine Katastrophe hinzusteuern.[5]

Doch wie ist es überhaupt dazu gekommen? Dazu muss einem zuerst der Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Globalisierung und Umweltkrise klar werden. Den werden wir uns im Folgenden ansehen.

Wie die imperiale Lebensweise Opfer fordert

Bei der Analyse des Verhältnisses zwischen dem Kapitalismus im Anthropozän und der Umweltkrise sollten wir unseren Blick zuerst auf den globalen Süden richten. Mit dem Begriff »globaler Süden« bezeichnet man ein Gebiet, das von der Globalisierung geschädigt wird, sowie dessen Einwohner. Früher sprach man auch vom »Nord-Süd-Konflikt«. Doch mit dem Aufkommen der Schwellenländer und der verstärkten Einwanderung in Industrieländer muss man das Nord-Süd-Gefälle nicht mehr zwangsläufig an geografischen Gesichtspunkten festmachen. Auch unter den Industrienationen gibt es Gebiete, die von Armut und Diskriminierung betroffen sind, und ebenso gibt es in Entwicklungsländern wohlhabende Gesellschaftsschichten, deren Lebensstil dem der Industrieländer in nichts nachsteht. Deshalb ziehe ich es vor, den Ausdruck »globaler Süden« zu verwenden.

Blickt man auf die Geschichte des Kapitalismus zurück, wird jedenfalls klar, dass sich die Kehrseite des Wohlstands der Industrienationen in verschiedensten Tragödien ausdrückt, die sich im globalen Süden wiederholt abgespielt haben. Man kann auch sagen, dass die Widersprüche des Kapitalismus dort in konzentrierter Form zu finden sind.

Auch wenn wir den Rückblick auf die letzten Jahre beschränken, ist die Zahl der Opfer zu groß, um sie alle hier anzuführen. Als Beispiele erwähnt seien die von der englischen BP verursachte Ölpest im Golf von Mexiko, Amazonas-Waldbrände, die auf das Konto der ungezügelten, schädlichen Entwicklung des multinationalen Agribusiness gehen, oder aber die vor der Küste von Mauritius durch den Unfall des von der japanischen Mitsui-Reederei betriebenen Frachters Wakashio ausgelöste Schwerölpest.

Das Ausmaß der Zerstörung ist groß. Der Dammbruch von Brumadinho in Brasilien forderte 2019 um die 270 Menschenleben. Der Damm befindet sich im Besitz von Vale, einem der drei größten Bergbauunternehmen weltweit. Er diente nicht etwa der Trinkwasserversorgung, sondern der Lagerung von Eisenerzabraum (ein schleimartiges Abfallgemisch aus Wasser und Mineralien, das beim Erzabbau entsteht).

Vale war zwar bereits 2015 für einen ähnlichen Unfall an einem anderen Ort verantwortlich gewesen, doch auch 2019 war dieser Dammbruch, bei dem eine mehrere Millionen Tonnen schwere Schlammflut ein nahegelegenes Dorf unter sich begrub, auf schlampiges Management zurückzuführen. Natürlich wurden außerdem umliegende Flüsse durch die in alle Richtungen verstreuten Mineralien verschmutzt, und das Ökosystem nahm immensen Schaden.

Waren all diese Unfälle einfach nur »unglückliche« Ereignisse? Nein, natürlich nicht. Experten, Arbeiter sowie Anwohner wiesen wiederholt auf die Unfallgefahr hin. Ungeachtet dessen versäumten es Staat und Unternehmen, effektive Gegenmaßnahmen zu ergreifen, das hätte schließlich höhere Kosten bedeutet.

Es waren menschengemachte Katastrophen, die sich abgezeichnet hatten.

Und dennoch fürchte ich, dass die Anteilnahme des globalen Nordens an Unfällen in Mexiko oder im ebenso fernen Brasilien begrenzt ist. Außerdem wird es wohl auch Leserinnen und Leser geben, die sich denken, das Ganze habe mit ihrem eigenen Leben überhaupt nichts zu tun. Doch in Wirklichkeit tragen auch wir, die Einwohner der Industrieländer, zweifellos eine Mitschuld an diesen Katastrophen. Ob nun Eisen und Benzin für unsere Fahrzeuge, Baumwolle für unsere Kleidung oder Rindfleisch: All das kommt von »weit her«. Ohne die ausgebeuteten Arbeitskräfte und die geplünderten Rohstoffe des globalen Südens wäre unser Leben im Wohlstand unmöglich.

Die deutschen Soziologen Ulrich Brand und Markus Wissen bezeichnen den auf Ausbeutung von Rohstoffen und Energie des globalen Südens beruhenden modernen Lebensstil der Industrieländer als »imperiale Lebensweise«. Sie meinen damit die Massenproduktions- und Massenkonsumgesellschaft des globalen Nordens, die uns ein Leben im Wohlstand ermöglicht. Hinter den Kulissen dieser gesellschaftlichen Ordnung steht jedoch eine Struktur, die den globalen Süden ausbeutet und seine gesellschaftlichen Gruppen sowie geografischen Gebiete den Preis für unseren Wohlstand zahlen lässt. Ohne die Auslagerung der Ausbeutung in den globalen Süden könnte man keine imperiale Lebensweise pflegen. Sich verschlechternde Lebensbedingungen im globalen Süden sind eine Grundvoraussetzung des Kapitalismus, und das Verhältnis von Dominanz und Unterordnung zwischen Nord und Süd ist keine Ausnahme, sondern kapitalistischer Normalbetrieb.[6]

Und dennoch haben wir die jetzige Lebensweise als etwas überaus Attraktives akzeptiert, von dem wir uns nicht mehr trennen können. Wenn uns der globale Süden am Herzen liegt, müssen wir unseren Lebensstandard senken. Da wir uns also zu Komplizen der imperialen Lebensweise gemacht haben, wird unser Leben letztlich beschwerlicher.

Ein Beispiel: Die sogenannte Fast Fashion ist schon gänzlich Teil unseres Lebens geworden. Die Kleider dafür werden unter miesen Bedingungen von Arbeiterinnen und Arbeitern in Bangladesch hergestellt. Im Jahr 2013 erlangte der Einsturz des Gewerbegebäudes »Rana Plaza«, in dem fünf Textilfabriken untergebracht waren, traurige Berühmtheit, kostete das Unglück doch über 1000 Menschenleben. Zu erwähnen bleibt auch, dass die Baumwolle für die bengalische Textilproduktion von mittellosen indischen Bauern angebaut wird, die ihre Arbeit in brütender Hitze bei etwa 40 °C verrichten.[7] Wegen der verstärkten Nachfrage der Modeindustrie wurde angefangen, im großen Stil genetisch veränderte Baumwolle anzubauen. Dadurch ging das selbst angebaute Saatgut verloren, und die Landwirte müssen seitdem jedes Jahr gentechnisch veränderte Saatgutsorten, chemische Düngemittel und Unkrautvertilgungsmittel ankaufen. Kommt es wegen Dürre und Hitzewellen zu Missernten, sind die Bauern gezwungen, Schulden aufzunehmen, was unter ihnen bereits zu Suiziden geführt hat.

Das Tragische hierbei ist ja, dass der globale Süden von der Produktion und dem Konsum der imperialen Lebensweise abhängig und dadurch, der Struktur des Kapitalismus sei Dank, auch auf dessen Normalbetrieb angewiesen ist.

Wie schon erwähnt, wussten die Brasilianer selbst, dass der Damm von Brumadinho gefährlich war. Und trotzdem wurden sie gezwungen, den Abbau fortzusetzen, obwohl es zuvor ja sogar schon zu einem ähnlichen Unfall gekommen war. So hatten sie keine andere Wahl, als an der Abbaustätte weiterzuarbeiten und in der Nähe des Damms zu wohnen.

Auch in den Textilfabriken im »Rana Plaza« in Bangladesch wies die Belegschaft schon am Vortag auf ungewöhnliche Veränderungen an Wänden und Säulen hin, doch man schenkte ihren Stimmen kein Gehör. Und ebenso wissen die indischen Bauern, dass Pestizide schädlich für Natur und Gesundheit sind, doch trotzdem muss die Modeindustrie weiter expandieren. Man ist gezwungen, die weltweite Nachfrage zu befriedigen, ein Produktionsstopp kommt nicht infrage. Je mehr Menschen sterben, desto mehr Gewinn machen Großkonzerne. Das ist die Logik des Kapitalismus.

Natürlich haben wir solche schmerzhaften Argumente immer wieder gehört. Doch was tun wir? Spenden ein wenig Geld und vergessen dann alles wieder. Dass wir überhaupt vergessen können, bedeutet ja, dass Ereignisse, wie ich sie beschrieben habe, im Alltag unsichtbar gemacht werden.

Stephan Lessenich, seines Zeichens Soziologe an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, führt in diesem Sinne aus, dass das Abwälzen von Kosten bzw. auch Kompensationszahlungen in die Ferne sowie die erwähnte Unsichtbarmachung für »Wohlstand« der Industrienationen unerlässlich seien. Er benennt und kritisiert diese Entwicklung als »Externalisierungsgesellschaft«. Während der globale Süden das Opfer dieser Entwicklung ist, genießen die Industrieländer ein Leben in Wohlstand und versuchen, diesen privilegierten Status »nicht nur heute, sondern auch morgen und in Zukunft« aufrechtzuerhalten, beklagt Lessenich weiter. Die Externalisierungsgesellschaft schafft unaufhörlich Peripherien, wohin Belastungen abgewälzt werden. Dadurch ist unsere Gesellschaft zu Wohlstand gekommen.[8]

 

Versuchen wir nun, den Zusammenhang zwischen dem Kapitalismus der Industrienationen und dem Opfer des globalen Südens mittels der »Weltsystemtheorie« des im Vergleich zu Lessenich international weitaus bekannteren US-amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein in einfachen Worten zusammenzufassen. Seiner Einschätzung nach setzt sich der Kapitalismus aus einem »Zentrum« sowie der »Peripherie« zusammen. In der Peripherie bzw. im globalen Süden werden billige Arbeitskräfte ausgebeutet, wodurch die Preise der von ihnen produzierten Güter gedrückt werden und im Zentrum mit einer großen Gewinnspanne verkauft werden können. Wallerstein vertrat die Meinung, dass der »ungleiche Austausch« von Arbeitskraft in den entwickelten Ländern zu einer »Überentwicklung«, in den Peripherien hingegen zu einer »Unterentwicklung« führt. Mit dem Vordringen der kapitalistischen Globalisierung bis in die entlegensten Winkel der Erde sind jedoch die neuen »Grenzgebiete«, die es auszubeuten gilt, verschwunden. Das bedeutet, dass solche gewinnbringenden Prozesse ihr Limit erreicht haben, also unrentabel geworden sind. Infolgedessen sind Kapitalakkumulation und Wirtschaftswachstum schwierig geworden, sogar das »Ende des Kapitalismus« wurde ausgerufen.[9]

Was Wallerstein aber als Objekt der Ausbeutung ansah, war die menschliche Arbeitskraft, jedoch stellt diese nur eine Seite des Kapitalismus dar. Eine weitere Seite ist die globale Umwelt. Auch sie wird, neben der Arbeitskraft der Peripherien, vom Kapitalismus ausgebeutet. Durch »ungleichen Austausch« mit den Industrienationen werden dem globalen Süden Rohstoffe, Energie und Nahrung geraubt. Da der Kapitalismus bereits den Menschen als Werkzeug zur Kapitalakkumulation behandelt, ist auch die Umwelt nichts weiter als ein Zielobjekt für Raubbau. Das ist eine grundlegende Aussage des vorliegenden Buches.[10] Wenn ein derartiges Gesellschaftssystem auf unbegrenztes Wirtschaftswachstum abzielt, ist es nur eine natürliche Folge, dass die globale Umwelt in eine Krise gestürzt wird.

Wenn wir Wallersteins Argumentation weiterdenken, plündern die Zentren die Peripherie für weiteres Wirtschaftswachstum aus, jedoch liegen hinter den Kulissen dieser Entwicklung Kosten und Belastungen verborgen, die den Peripherien aufgebürdet werden. Nehmen wir als Beispiel einmal Palmöl her, das ja die unsichtbare Hauptrolle bei unserer Ernährung spielt. Es ist nicht nur preisgünstig, sondern auch oxidationsbeständig, weshalb es unter anderem in industriell verarbeiteten Lebensmitteln, Süßigkeiten oder aber auch Fast Food Anwendung findet. Geht man in einem Restaurant essen, findet man nur schwer Gerichte, für die kein Palmöl verwendet wurde.

Hergestellt wird es in Indonesien und Malaysia, als Rohstoff dient die sogenannte Ölpalme, deren Anbaufläche sich seit Anfang dieses Jahrhunderts verdoppelte, weshalb die Zerstörung des tropischen Regenwalds auch rapide voranschreitet. Doch das Ökosystem des Regenwalds ist nicht das einzige, das unter der großflächigen Walderschließung leidet, verheerende Folgen hat sie auch für die Waldbewohner, die auf eine intakte Natur angewiesen sind. Wird ein Regenwald zur Plantage, erodiert der Boden, und Düngemittel sowie Pestizide werden in die umliegenden Flüsse geschwemmt, was zur Verminderung des Fischbestands führt. Damit verschwindet die Proteinquelle der Einheimischen, und sie brauchen von nun an noch mehr Geld, um Proteine zuzukaufen. Um an Geld zu kommen, werden Wildtiere, allen voran vom Aussterben bedrohte Arten wie Orang-Utans und Tiger, bejagt und illegal gehandelt.

Hinter dem kostengünstigen, bequemen Leben in den Zentren steht also nicht nur die Ausbeutung der Arbeitskraft der Peripherie, sondern auch die Plünderung ihrer Rohstoffe und die damit einhergehenden Umweltbelastungen, die wir ihr aufbürden. Das eine funktioniert nicht ohne das andere. Das bedeutet aber nicht, dass alle Menschen auf unserem Planeten gleichermaßen von den durch die Umweltkrise verursachten Schäden betroffen sind. Produktion und Konsum von Nahrung, Rohstoffen und Energie sind eng mit den Umweltbelastungen verbunden, und Letztere sind sehr ungleich verteilt.

Lessenich wirft den Industrienationen wie gesagt vor, Externalisierungsgesellschaften zu sein. Demnach ist die Abwälzung der Lasten auf Menschen und Ökosysteme, die »irgendwo da draußen« sind, sowie die Nichtbezahlung ihrer wahren Kosten die Grundvoraussetzung für unsere Existenz in Saus und Braus.

Durch unser Alltagsleben reproduzieren wir die imperiale Lebensweise immer wieder aufs Neue. Andererseits aber wird die mit ihr verbundene Gewalt zunehmend unsichtbar gemacht, da diese sich an fernen Orten manifestiert. Man kennt ja den Begriff der Umweltkrise, und alleine mit dem Erwerb einer Ecobag oder eines biologisch produzierten T-Shirts kauft man sich von jeglicher Schuld frei; es erinnert an den – im Vorwort schon kurz angesprochenen – einstigen Handel der katholischen Kirche mit Ablassbriefen, die den Gläubigen gegen klingende Münze einen Sündenerlass bestätigten. Aber dann kommen laufend aufregende, neu designte T-Shirts und Ecobags auf den Markt, und man kann gar nicht anders, als nochmals zuzuschlagen. Der Ablassbrief stellt uns zufrieden, wen kümmert da schon die Gewalt gegen Mensch und Natur am anderen Ende der Welt, auch wenn wir wieder einmal auf das Greenwashing des Kapitals hereingefallen sind.

Doch die Bewohner der Industrieländer sind nicht einfach nur dazu gezwungen, gegenüber der Auslagerung der Belastungen passiv, ja geradezu apathisch zu sein. Die imperiale Lebensweise bereichert ihr Leben vielmehr, sie verinnerlichen sie aktiv als etwas Erstrebenswertes. Und so wünschen sie sich sogar noch mehr Apathie und haben Angst, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Hieß es einst »ich weiß es nicht«, hört man zunehmend »ich will das nicht wissen«.

Denn wahrscheinlich haben sie, nein, haben wir eine dunkle Ahnung, dass es uns nur gut geht, weil es anderen schlecht geht. Aber wir versuchen, diese Ungerechtigkeiten als etwas zu sehen, das uns nichts angeht. Wir ertragen ihren Anblick nicht, doch obwohl wir wissen, »dass wir die Ursache der Ungerechtigkeiten sind, wünschen wir uns insgeheim, dass der jetzige Zustand aufrechterhalten wird«.[11] Und so verankert sich die imperiale Lebensweise in unseren Gesellschaften immer weiter, Krisenbewältigungsmaßnahmen werden in die Zukunft verschoben, sodass letztlich jeder Einzelne von uns zum Mittäter wird. Doch die Quittung für all das hat sich mittlerweile als Klimakrise bis an die Zentren herangeschlichen.

 

Was ich gerade ausgeführt habe, ist natürlich nichts Neues. Bereits in den 1980ern und 1990ern wurden Debatten um Probleme wie Umweltverschmutzung und den Nord-Süd-Konflikt ähnlich lebhaft geführt wie heutzutage. Ein Beispiel dafür ist die »Netherlands Fallacy« (Niederländischer Irrtum). Der vorrangig vom US-amerikanischen Biologen Paul R. Ehrlich geprägte Begriff bezieht sich auf den Kontrast, dass die Lebensweise der Menschen in den Industrienationen – wie eben den Niederlanden – die Erde zwar stark belastet, doch das Ausmaß der Luft- und Wasserverschmutzung in diesen Ländern selbst vergleichsweise gering ist. Im Gegensatz dazu haben die Menschen in Entwicklungsländern mit verschiedensten Umweltproblemen wie etwa Luft- und Wasserverschmutzung sowie Müll zu kämpfen, obwohl sie ein bescheideneres Leben führen.

Doch wie kommt es zu dieser widersprüchlichen Situation? Eine Erklärungsmöglichkeit liegt im technischen Fortschritt, der sich mit dem Wirtschaftswachstum ergab und uns ermöglicht, Umweltschadstoffe zu reduzieren oder ganz zu beseitigen. In den Industrienationen feiert man deshalb, dass die Wirtschaft wächst, während man die Umwelt entlastet – doch genau hierin liegt der besagte »Irrtum«. Solche Umweltverbesserungsmaßnahmen sind nämlich nicht bloß auf den technischen Fortschritt zurückzuführen, sondern zugleich das Ergebnis wirtschaftlicher Entwicklungen, die mit nicht wenigen negativen, der Peripherie des globalen Südens aufgedrückten Auswirkungen einhergehen.[12] Die Netherlands Fallacy ist also der Irrglaube, dass Industrieländer mittels Wirtschaftswachstum und technologischem Fortschritt die Frage der Umweltverschmutzung gelöst hätten, während die Auslagerung ihrer Probleme in die ganze Welt ignoriert wird.

Die Übernutzung der Peripherien im Anthropozän

Das Anthropozän ist zwar einerseits das Zeitalter, in dem die Spuren der wirtschaftlichen Aktivität des Menschen auf der ganzen Erde zu sehen sind, andererseits kann man aber auch sagen, dass es eine Epoche der durch Externalisierung und Plünderung ausgezehrten Peripherien ist. Im Kapitalismus wird dem Boden alles entrissen, was auch nur irgendwie zu entreißen ist: Erdöl, Nährstoffe, seltene Erden usw. Dieser »Extraktivismus« stellt für die Erde eine ungeheure Belastung dar. Doch da der Kapitalismus für den Profit bereits das »billige Arbeitskraft« genannte Grenzgebiet vernichtet hat, ist nun die »billige Natur« genannte Peripherie dabei zu verschwinden. Ganz egal wie gut der Motor des Kapitalismus zu laufen scheint, letzten Endes sind die Ressourcen unseres Planeten begrenzt. Verschwindet der Spielraum für weitere Externalisierung, kehren die negativen Konsequenzen des Extraktivismus dorthin zurück, wo sie ihren Anfang genommen haben: in die Industrieländer.

Dieses Beispiel zeigt uns, wo die Grenzen der Macht des Kapitals liegen. Dieses zielt zwar auf unbegrenzte Wertsteigerung ab, doch die Erde als solche bzw. ihre Ressourcen sind nicht unbegrenzt vorhanden. Sind die Ressourcen der Peripherie erst einmal erschöpft, können wir nicht so weitermachen wie bisher. Es wäre der Anfang einer Krise, wie sie dem Anthropozän immanent ist. Das beste Beispiel dafür ist doch wohl der Klimawandel, der gerade im Gange ist. Da das Auslagern von Problemen in die Peripherie an seine Grenzen gestoßen ist, werden die Schäden jetzt endlich auch in den Industrieländern sichtbar, etwa durch Superhurrikans oder Waldbrände. Doch bleibt uns überhaupt noch Zeit, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen? Und wenn ja, was sollen wir tun?

»Wer in einer Welt begrenzter Ressourcen an exponentielles Wachstum glaubt, ist entweder verrückt oder Wirtschaftswissenschaftler«, soll Kenneth E. Boulding, selbst ein Wirtschaftswissenschaftler, einmal gesagt haben. Seitdem ist zwar schon ein halbes Jahrhundert vergangen, die Umweltkrise hat sich verschlimmert, doch noch immer streben wir nach mehr Wirtschaftswachstum und zerstören die Erde. So tief ist wirtschaftswissenschaftliches Denken also schon in unseren Alltag vorgedrungen. Sind nicht vielleicht wir es, die »verrückt« sind?

Unsere Kinder sind jedenfalls noch bei Vernunft. So war es die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg, die die Heuchelei der Klimaschutzmaßnahmen der Erwachsenen ans Licht brachte. Thunberg wurde im Alter von 15 Jahren durch die Organisation von Schulstreiks berühmt und machte so die Bigotterie des Pariser Übereinkommens publik. Auf der UN-Klimakonferenz COP24 im Jahr 2018 kritisierte sie die anwesenden Politiker und Politikerinnen scharf, hielt ihnen vor, sie würden sich nur um ihre eigene Beliebtheit scheren: »Ihr sprecht bloß über grünes, ewiges Wirtschaftswachstum, weil ihr zu viel Angst davor habt, unpopulär zu sein.«[13] Und ja, ich kann ihren Gedankengang und ihre Gefühle nachvollziehen. Der Kapitalismus war nach dem Ende des Kalten Krieges und der darauffolgenden Globalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte ja tatsächlich vollends damit beschäftigt, neue Möglichkeiten des Geldverdienens auszuloten. In der Zwischenzeit wurden deshalb dreißig wertvolle Jahre vergeudet, da kaum ein Gedanke an den Klimawandel verschwendet wurde.

Doch blicken wir einige Zeit zurück. Schon 1988 warnte der NASA-Forscher James E. Hansen in einer Rede im US-Senat, dass der Klimawandel »mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit« vom Menschen verursacht werde. Im selben Jahr riefen das Umweltprogramm der Vereinten Nationen UNEP und die Weltorganisation für Meteorologie WMO den Weltklimarat IPCC ins Leben, einen zwischenstaatlichen Ausschuss für Klimaänderungen.

Damals bestand noch die Hoffnung, dass es zum Abschluss eines internationalen Abkommens gegen den Klimawandel kommen könnte. Angenommen, Gegenmaßnahmen wären schon damals eingeleitet worden, etwa in Form einer bequemen Reduktion der CO2-Emissionen von 3 Prozent als Basis, dann hätten wir heutzutage vielleicht gar kein Klimawandelproblem. Doch leider kam Hansens Warnung zur denkbar schlechtesten Zeit, direkt vor dem Fall der Berliner Mauer. Der Zusammenbruch der Sowjetunion folgte, und der NeoliberalismusUS-amerikanischer Prägung breitete sich über die Welt aus. In den ehemaligen kommunistischen Ländern entdeckte er neue Märkte und billige Arbeitskräfte und erschloss so neue Grenzgebiete.

Doch mit der zunehmenden Expansion des kapitalistischen Wirtschaftens nahm auch die Rohstoffvergeudung rapide zu. So wurde beispielsweise die Hälfte aller von der Menschheit verwendeten fossilen Brennstoffe erst nach dem Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 verbraucht.[14] Die daraus resultierende Zunahme der CO2-Emissionen ist auf Abbildung 2 zu sehen.

Abb. 2:

Emissionen nach Gebiet

Genau in diese Zeit fällt auch die Veröffentlichung von Nordhaus’ allzu optimistischem wissenschaftlichen Artikel über die Reduktion des CO2-Ausstoßes. Und so wurden wie gesagt wertvolle dreißig Jahre vergeudet, in denen sich der Klimawandel merklich verschlimmert hat.

Dass Gretas Kritik also dermaßen scharf ausfiel, ist auf die Wut gegenüber der Verantwortungslosigkeit der Erwachsenen zurückzuführen, die wertvolle Möglichkeiten verstreichen ließen und nur an die unmittelbare Zukunft dachten. Doch die Haltung der Politiker und Eliten, die unverändert dem Wirtschaftswachstum den Vorrang geben wollen, heizte Gretas Wut nur noch weiter an. »Dass ihr nicht auf die Wissenschaft hört, liegt daran, dass ihr nur an Lösungen interessiert seid, die es ermöglichen, so weiterzumachen wie bisher. Doch solche Lösungen gibt es nicht mehr. Das liegt daran, dass ihr nicht gehandelt habt, als es noch nicht zu spät war.«[15] Gegen Ende ihrer Rede beim COP24-Gipfel hielt Greta fest, dass, wenn es innerhalb des jetzigen Systems keine Lösung gebe, »das System selbst« geändert werden müsse. Rund um den Globus erntete sie damit begeisterten Beifall junger Menschen.

Als Antwort auf die Stimme der Jugend müssen wir Erwachsenen zuerst das Wesen des jetzigen Systems begreifen und die Vorkehrungen für das System danach treffen. Selbstverständlich ist das, was Greta mit dem »jetzigen System« meint, der Kapitalismus.

Angesichts dessen Geschichte gibt es nur wenig Hoffnung, dass Staaten und Großkonzerne jemals ausreichende Klimaschutzmaßnahmen treffen werden. Anstelle von Lösungen hat der Kapitalismus nichts weiter als die Auslagerung von Ausbeutung und Belastungen im Angebot. Die Probleme wurden immer wieder an weit entfernte Orte verschoben, Problemlösungen somit wiederholt verschleppt.

Doch bereits Karl Marx analysierte Mitte des 19. Jahrhunderts das Problem der Externalisierung in die Peripherien. Auch ihm zufolge lagert der Kapitalismus seine eigenen Widersprüche in die Ferne aus und macht sie dadurch unsichtbar. Doch weil sie sich auf diese Weise bloß verschlimmern, kommt es zwingend zu einer hoffnungslos festgefahrenen Situation, die letztlich nur zum Kollaps führen kann. Dies wäre für das Kapital die unüberwindbare Grenze, so Marx. Folgen wir also seiner Denkweise und ordnen die Auslagerung in drei verschiedene Kategorien ein, um die Grenzen des Kapitalismus zu ermitteln: die technische, die räumliche und die zeitliche Auslagerung.

Die technische Auslagerung: Störung des Ökosystems

Die erste Methode der Auslagerung ist der Versuch, die Umweltkrise durch technologische Entwicklung zu überwinden. Marx veranschaulichte das am Beispiel der Bodenerschöpfung durch die Landwirtschaft, indem er sich auf die Kritik seines Zeitgenossen, des Chemikers Justus von Liebig, am »Raubbau« bezog. Laut Liebig können Bodennährstoffe, allen voran anorganische Stoffe wie Phosphor und Kalium, von Pflanzen erst durch die Verwitterung von Gestein aufgenommen werden. Da die Verwitterung aber ein extrem langwieriger Prozess ist, sind Bodennährstoffe, die von den Pflanzen aufgenommen werden können, nur begrenzt vorhanden. Deshalb ist es unerlässlich, dem Boden die von den Pflanzen absorbierten anorganischen Nährstoffe wieder zuzuführen, um die Bodenfruchtbarkeit zu bewahren. Liebig hat dieses Vorgehen als »Gesetz des Ersatzes« bezeichnet. Es sagt im Grunde aus, dass für eine nachhaltige Landwirtschaft Bodennährstoffe in einem Kreislauf zirkulieren müssen. Doch mit der Entwicklung des Kapitalismus kam es zwischen Stadt und Land zu einem Arbeitsteilungssystem, in dem auf dem Land geerntete Feldfrüchte für den Verkauf an die Arbeiter in der Stadt bestimmt sind. Somit werden die von den Feldfrüchten aufgenommenen und in den Städten konsumierten Nährstoffe den ursprünglichen Böden nicht mehr zurückgeführt, sondern von den städtischen Arbeitern verzehrt, verdaut und über die Toilette in die Gewässer gespült.

Auch in der kapitalistischen landwirtschaftlichen Betriebsführung sind Probleme verborgen. Landwirte sind dazu gezwungen, Monokulturen den Vorzug zu geben, da diese kurzfristig gesehen mehr Gewinn erwirtschaften, obwohl es für die Bodenfruchtbarkeit besser wäre, Felder regelmäßig brachliegen zu lassen. Auch die Investitionen für Bewässerungsanlagen zur Anreicherung der Böden werden auf ein Minimum beschränkt. Die Maximierung kurzfristiger Gewinne ist eben das Credo des Kapitalismus. Auf diese Weise kommt es zu einem »Riss« im Nährstoffkreislauf, der Boden verliert seine Nährstoffe, es kommt zur Erschöpfung. Liebig kritisierte eine irrationale Landwirtschaft, die die Nachhaltigkeit kurzfristigen Gewinnen opfert, als besagten »Raubbau« und schlug Alarm, dass es zum Untergang der europäischen Zivilisation kommen könnte.[16]

Aber historisch gesehen kam es niemals zu dieser Zivilisationskrise. Doch wieso nicht? Nun, Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das sogenannte Haber-Bosch-Verfahren entwickelt. Damit konnte Ammoniak industriell hergestellt werden, was die Massenproduktion günstigen chemischen Düngers ermöglichte. Allerdings führte das Verfahren nicht zu einer Behebung des »Risses« im Nährstoffkreislauf. Der springende Punkt ist auch hier, dass es wiederum nur eine weitere Form der Auslagerung war.

Bei der Herstellung von Ammoniak (NH3) nach dem Haber-Bosch-Verfahren werden Stickstoff (N) aus der Atmosphäre sowie Wasserstoff (H) aus fossilen Brennstoffen (hauptsächlich Erdgas) verwendet. Selbstredend bräuchte es davon enorme Mengen, um alle landwirtschaftlichen Flächen der Welt zu versorgen. Hinzu kommt, dass das für die Ammoniakherstellung verwendete Erdgas 3 bis 5 Prozent der weltweit produzierten Erdgasmenge ausmacht.[17] Kurz gesagt verschwendet die moderne Landwirtschaft einfach nur andere begrenzt vorhandene Ressourcen statt der ursprünglichen Bodennährstoffe. Selbstverständlich fallen beim Herstellungsprozess auch hohe Mengen an CO2-Emissionen an. Hier sehen wir also den der technischen Auslagerung innewohnenden Widerspruch.

Darüber hinaus verursacht die kapitalistische Landwirtschaft durch ihre Abhängigkeit von massivem Einsatz chemischer Dünger eine Reihe von Problemen. Durch den Rückfluss von Stickstoffverbindungen in die Umwelt kommt es etwa zu Nitratverschmutzungen des Grundwassers oder zu durch Eutrophierung verursachten roten Tiden. Dies hat auch Einfluss auf die Trinkwasserqualität sowie den Fischfang.

Die von der technischen Auslagerung hervorgerufenen Probleme beschränken sich also nicht auf die Erschöpfung eines einzigen Landstrichs, sondern ziehen eine lange Reihe an Konsequenzen hinter sich her.

Doch dabei bleibt es nicht. Der massive Einsatz chemischer Düngemittel führt z.B. zu Störungen des Bodenökosystems, sein Wasserbindungsvermögen verringert sich, Gemüse und Tiere werden anfällig für Seuchen. Allerdings verlangt der Markt nach Gemüse ohne Insekten und mit einheitlicher Größe und günstigem Preis. In der modernen Agrarindustrie geht es nicht mehr ohne chemische Düngemittel, Pestizide und Antibiotika: alles chemische Substanzen, die natürlich auch wieder ihren Weg in die Natur zurückfinden und Ökosysteme zerstören.

Und die Unternehmen, die für den Schaden verantwortlich sind? Sie beharren darauf, dass es keinen Kausalzusammenhang gibt, und weigern sich, Entschädigungszahlungen zu leisten. Doch auch wenn sie es täten, bliebe eine Vielzahl nicht mehr zu behebender Umweltschäden. Technische Auslagerung löst keine Probleme, vielmehr vertiefen sich durch die missbräuchliche Verwendung der Technik die Widersprüche nur noch weiter.

Die räumliche Auslagerung: Externalisierung und ökologischer Imperialismus

Nach der technischen Auslagerungsmethode gibt es als zweite die räumliche. Auch diesen Punkt betrachtet Marx im Kontext der Bodenerschöpfung.

Vor der Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens galt zu Marx’ Lebzeiten Guano als wichtigstes Düngemittel. Dabei handelt es sich um Ablagerungen versteinerter Exkremente von Seevögeln, die vor der Küste Perus leben. Es gibt Inseln, auf denen sich Guano meterhoch stapelt. Und da er vertrockneter Vogelkot ist, ist Guano nicht nur reich an Stoffen, die für das Pflanzenwachstum nötig sind, sondern darüber hinaus auch leicht zu handhaben. Die einheimische Bevölkerung verwendete Guano traditionell als Düngemittel. Als erster Europäer, der den Nutzen des Guanos erkannte, gilt Alexander von Humboldt, der Anfang des 19. Jahrhunderts eine Forschungsreise nach Südamerika unternahm. Danach wurde Guano auf einen Schlag als Wundermittel gegen die Bodenerschöpfung bekannt, und die massenhafte Ausfuhr in den Westen begann. Dank Guano konnte die Fruchtbarkeit der Böden in Amerika und England aufrechterhalten und somit die Nahrungsversorgung der städtischen Arbeiter gewährleistet werden.

Doch auch hier gibt es einen »Riss«, der nicht gekittet ist. Wie selbstverständlich wurde eine große Anzahl an Arbeitern für den schrankenlosen Guanoabbau mobilisiert. Die Folge war die brutale Unterdrückung der Bevölkerung der Guanoabbaugebiete, die Ausbeutung 90 000 chinesischer Kuli-Arbeiter, und nicht zuletzt ging die rasche Erschöpfung der Guanovorkommen auch mit einem starken Rückgang der Seevogelpopulation einher.[18] Darüber hinaus war die Erschöpfung der Rohstoffvorkommen auch ein Grund für den Ausbruch des Guano-Krieges (1864–66) zwischen Spanien und einigen südamerikanischen Ländern, vor allem Chile und Peru, sowie später des Salpeterkrieges (1879–84) zwischen Chile und dem Lager Peru/Bolivien.

Wie an diesem Beispiel zu sehen ist, manifestiert sich ein Auslagerungsversuch, der die Widersprüche nur in einer für die Zentren vorteilhaften Weise auflöst, in Form des ökologischen Imperialismus. Dieser stützt sich zwar auf die Plünderung der Peripherien und lagert dort gleichzeitig seine Widersprüche aus, doch genau das verschärfte die Widersprüche noch, schließlich war es ein schwerer Schlag für die Lebensgrundlagen der Ureinwohner und das Ökosystem.[19]

Die zeitliche Auslagerung: »Nach uns die Sintflut!«

Zu guter Letzt möchte ich noch auf die dritte, die zeitliche Auslagerungsmethode eingehen. Marx behandelt sie zwar unter dem Gesichtspunkt der übermäßigen Abholzung der Wälder, umgelegt auf die heutige Zeit tritt sie jedoch am deutlichsten als Klimawandel auf.

Der Massenverbrauch fossiler Brennstoffe verursacht zwar zweifellos den Klimawandel, was aber nicht bedeutet, dass seine Auswirkungen unmittelbar zu sehen sind. Wir sprechen hier von einer Zeitverzögerung, die sich oft über Jahrzehnte erstreckt und vom Kapital dazu benutzt wird, mit den bereits getätigten Investitionen wie Bergbaumaschinen und Pipelines möglichst viel Gewinn zu machen.

In diesem Sinne spiegelt der Kapitalismus die Meinung der heutigen Shareholder und Manager wider. Da er die Stimme zukünftiger Generationen ignoriert, werden etwaige Belastungen in die Zukunft verlagert und dadurch eine neue Peripherie geschaffen. Indem er die Zukunft opfert, kann die heutige Generation in Wohlstand leben. Allerdings ist der Preis dafür, dass zukünftige Generationen sich mit den Auswirkungen des CO2-Ausstoßes abplagen werden müssen, den sie selbst nicht verursacht haben. Eine solche Haltung der Kapitalisten nannte Marx ironisch »Nach uns die Sintflut!«.

Es mag ja Leute geben, die denken, dass die zeitliche Auslagerung nicht unbedingt etwas Negatives ist, schließlich kann dadurch Zeit für die Entwicklung technischer Errungenschaften zur Bekämpfung der Krise gewonnen werden. Und einige Wissenschaftler, wie der zu Beginn dieses Kapitels erwähnte Nordhaus, sind sogar der Meinung, es sei besser, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und wohlhabender zu werden, um damit die technische Entwicklung voranzutreiben, anstatt die CO2-Emissionen übermäßig zu reduzieren und damit der Wirtschaft zu schaden.

Doch angenommen, neue Technologien wären bereits entwickelt worden – es würde lange dauern, bis sie sich auf der ganzen Welt verbreiteten. Wertvolle Zeit also, die wir nicht haben. In der Zwischenzeit könnten sich sogenannte positive Feedbackeffekte (auch positive Rückkoppelungseffekte genannt) verstärken und die Umweltkrise somit womöglich zuspitzen. In diesem Fall wären neue Technologien gar nicht in der Lage, die Situation zu bewältigen, und die Hoffnung, die man in sie gesetzt hatte, würde enttäuscht werden.

Starke positive Feedbackeffekte hätten selbstredend auch negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Kann die technische Entwicklung nicht mehr mit dem Tempo der Umweltzerstörung Schritt halten, steckt die Menschheit in der Sackgasse und die nächste Generation muss sich damit abfinden. Anders gesagt würde das für die kommenden Generationen nicht nur bedeuten, dass sie gezwungen wären, in einer extrem unbarmherzigen Umwelt zu leben, sondern auch, dass sie wirtschaftlich in einer schwierigen Situation steckten.

Das wäre natürlich das schlimmste Szenario, doch es zeigt uns den Grund, wieso wir den Klimawandel jetzt sofort stoppen müssen. Dafür müssen wir seine grundsätzlichen Ursachen erforschen, anstatt auf eine technologiebetriebene Symptombehandlung zu setzen.

Die Doppelbelastung der Peripherien

Auf den letzten Seiten haben wir uns die drei Arten der Auslagerung nach Marx angesehen. Daraus wurde klar, dass das Kapital wie schon in der Vergangenheit die Auslagerung in die Peripherie zweifellos und ungeachtet negativer Konsequenzen mit verschiedenen Mitteln fortsetzen wird. Für die Peripherien wird das dann eine Doppelbelastung darstellen. Nachdem sie durch den ökologischen Imperialismus ausgeplündert wurden, werden ihnen ungerechterweise noch zusätzlich die zerstörerischen Folgen der Auslagerung aufgedrückt. Nehmen wir als Beispiel Chile her. Dort werden für die »gesunde Ernährung« oder anders gesagt für die imperiale Lebensweise des globalen Nordens bestimmte Avocados angebaut. Der Anbau und die Produktion der auch unter dem Namen »Butter des Waldes« bekannten Frucht verschlingen nicht nur große Mengen Wasser, sondern verbrauchen auch die Nährstoffe des Bodens, weshalb es schwierig wird, dort andere Obstsorten anzubauen. Chile opfert also sein eigenes Trinkwasser und seine eigenen Ressourcen der fürs Ausland gedachten Nahrungsmittelproduktion.

Damit beschwört es einen akuten Wassermangel herauf, da das Land von Dürren heimgesucht wird, die ihren Ursprung im Klimawandel haben. Und dieser ist, wie wir bereits gesehen haben, ein Produkt der kapitalistischen Auslagerung. Die Corona-Pandemie hat noch zusätzlich Öl ins Feuer geschüttet und die Situation verschlimmert, so wurden Wasservorräte trotz der Dürre für den Avocadoanbau verwendet, anstatt sie den Einheimischen für das Händewaschen verfügbar zu machen.[20] Hier sehen wir also, wie die Peripherien, hervorgerufen durch die konsumistische Lebensweise in den Industrieländern, als Erstes von den schädlichen Folgen des Klimawandels und der Pandemie getroffen werden.

Risiken und Chancen sind also äußerst ungleich verteilt. Damit die Zentren weiter auf dem Siegeszug bleiben können, müssen die Peripherien weiterhin Niederlagen einstecken.

Selbstverständlich können aber auch die Zentren den Folgen der sich verschlechternden Umweltbedingungen nicht zu 100 Prozent entfliehen. Jedoch ist es der Auslagerung zu verdanken, dass der Kapitalismus noch keinen todbringenden Schlag erlitten hat. Anders gesagt wird es für nicht wenige Teile unseres Planeten ökologisch gesehen schon zu spät sein, bis es so weit kommt, dass auch die Bevölkerung der Industrienationen mit großen ökologischen Problemen konfrontiert sein wird. Bevor der Kapitalismus in sich zusammenbricht, wird die Erde schon ein lebensfeindlicher Ort geworden sein.

Vor diesem Hintergrund sagte der bekannte US-amerikanische Klimaaktivist Bill McKibben: »Die abnehmende Verfügbarkeit fossiler Brennstoffe ist nicht die einzige Einschränkung, mit der wir konfrontiert sind. Tatsächlich ist sie nicht einmal die wichtigste. Bevor uns das Erdöl ausgeht, wird uns der Planet ausgehen.«[21] In dieser Aussage können wir »Erdöl« auch durch »Kapitalismus« ersetzen. Klar, geht die Erde zugrunde, heißt es für die Menschheit »game over«. Für unseren Planeten gibt es keinen Plan B.

Die Krise wird sichtbar

Wenn wir uns die kapitalistische Gesellschaft nur kurz und oberflächlich anschauen, scheint sie noch in ganz guter Verfassung zu sein (und das trotz immer bedrohlicher werdender Szenarien wie Pandemie, Krieg und Inflation). Doch Länder wie China oder Brasilien, die bisher quasi das Auffangbecken der Externalisierung waren, sind jetzt in der Lage, ein rapides Wirtschaftswachstum zu erreichen, wodurch der Spielraum, neue Auslagerungsgebiete zu schaffen, schrumpft. Aus reiner Logik heraus ist es jedoch unmöglich, dass alle Länder gleichzeitig Externalisierungsmaßnahmen betreiben, käme das Fehlen einer Peripherie für die Externalisierungsgesellschaft doch ihrem Todesurteil gleich.

Tatsächlich ist es ja so, dass aufgrund des Verlustes der Peripheriegebiete mit ihren billigen Arbeitskräften die Profitraten sinken und die Ausbeutung der Arbeiter in den Industrienationen stark zunimmt. Gleichzeitig stößt die Auslagerung bzw. Externalisierung von Umweltbelastungen in den globalen Süden auch an ihre Grenzen – Widersprüche, die mittlerweile auch in den Industrienationen zutage getreten sind.

Diese werden also selbst zum globalen Süden. Die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen bemerken wir, die wir in den Industrieländern leben, ja schon täglich. Ebenso ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir die Folgen der Umweltzerstörung, wie etwa die Klimakrise, am eigenen Leib zu spüren bekommen. Wir können nicht länger sagen, dass uns das Ganze nichts mehr angeht.

Um noch mal die Argumente Wallersteins zu wiederholen: Das Problem liegt darin, dass es nur eine Erde gibt und alles miteinander verbunden ist. Wenn Externalisierung und Auslagerung zu schwierig werden, kehren sie zu uns zurück, und wir bekommen so die Rechnung präsentiert. Plastikmüll, der bis dato unsichtbar im Meer trieb, findet als Mikroplastik in Meeresfrüchten und im Wasser den Weg in unseren Alltag zurück. Es heißt, wir essen jede Woche so viel Plastik, wie es einer Kreditkarte entspricht. Und dann ist da noch das Kohlendioxid. Es verursacht den Klimawandel, weshalb wir Jahr für Jahr von Hitzewellen, Hurrikans und Waldbränden heimgesucht werden.

In Europa wurden Flüchtlinge aus Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten zu einem sozialen Problem, das den Aufstieg des Rechtspopulismus begünstigt, welcher wiederum eine Bedrohung für die Demokratie darstellt. Dazu kommt, dass zum Beispiel eine der Ursachen des syrischen Bürgerkriegs ebenfalls im Klimawandel liegt. Im ganzen Land kam es zu lang anhaltenden Dürreperioden und folglich Missernten, die viele Menschen in Armut stürzten und somit die Wahrscheinlichkeit sozialer und auch religiös bedingter Konflikte erhöhten.[22] Die Situation in Amerika ist ähnlich. Hurrikans nehmen von Jahr zu Jahr an Größe zu, und Karawanen mittelamerikanischer Flüchtlinge strömen an die Grenzen der USA. Sie versuchen aber nicht nur, vor Gewalt und politischer Instabilität zu fliehen, sondern auch vor landwirtschaftlichen Problemen und der damit verbundenen Verarmung, die vom Klimawandel ausgelöst wurden.[23] Angesichts des Ansturms der Umweltflüchtlinge zeigte der vormalige Präsident Trump jedoch keine Gnade, ließ sie unter menschenunwürdigen Bedingungen festhalten, verweigerte ihnen kategorisch die Einreise ins Land und versuchte, an der Grenze zu Mexiko eine Mauer zu errichten.

Vergessen wir auch nicht die EU, welche die Flüchtlingsproblematik der Türkei aufbürdet. Umwelt- und Klimaflüchtlinge machen den bisher in den hochindustrialisierten Ländern unsichtbaren Widerspruch der imperialen Lebensweise als physische, lebende Körper sichtbar und rütteln an den Grundfesten der bisherigen Gesellschaftsordnung. Durch die Auszehrung der Peripherie wird es immer schwieriger, die Augen vor der Krise zu verschließen. Wir können das Problem nicht mehr mit einem »Nach uns die Sintflut!« elegant umschiffen, denn die Sintflut schwappt schon an unsere Haustür. Die Umweltkrise hält der Menschheit eine harte Realität vor Augen: dass wir die auf Extraktivismus und Externalisierung beruhende imperiale Lebensweise infrage stellen müssen, und das radikal.

Doch da sich das weitere Auslagern der Belastungen als zunehmend schwierig erweist, kommen innerhalb der Bevölkerung Unsicherheit und ein Gefühl der Krise auf, was Fremdenfeindlichkeit befeuert. Die Rechtspopulisten benutzen die Umwelt-, Ernährungs- und Energiekrise sowie die Flüchtlingsproblematik für ihre rassistische und nationalistische Hetzpropaganda. So wird die Gesellschaft gespalten, die Demokratiekrise verschärft sich, und es wäre nicht undenkbar, dass ein autoritärer »Führer« an die Macht kommt und wir in einem Regierungssystem landen, das man als »Klimafaschismus« bezeichnen müsste. In Kapitel 3 gehe ich näher auf diese Gefahr ein.

Dieser Moment der Krise sollte uns aber auch neue Möglichkeiten eröffnen können. Durch den Klimawandel bleibt der Bevölkerung der Industrienationen nichts anderes mehr übrig, als sich der Realität, die sie mitverursacht hat, zu stellen. Wird die Peripherie vollends ausgezehrt, wird man selbst zum Opfer, ist man selbst betroffen. Vielleicht ist das ja Anlass genug, die bisherige imperiale Lebensweise zu ändern, und die Forderung nach sowie Aktivitäten für eine gerechtere Gesellschaft werden sich breiter Unterstützung erfreuen.

Das ist die »Gabelung« in der Krise der kapitalistischen Weltordnung, von der Wallerstein gesprochen hat. Und die Erschöpfung der Peripherie führt uns an diesen Scheideweg der Geschichte, an dem das bisher bestehende System anfängt zu versagen. »Die ›Normalität‹ der Externalisierung ist zu einer Kindheitserinnerung verblasst«, so Wallerstein vor seinem Tod im Jahr 2019.[24] Auch die Umweltkrise verschärfe sich, was die Legitimität des Kapitalismus ins Wanken bringe und zu heftigen Protesten gegen das etablierte System führe.

Insofern bedeute die Auszehrung der Peripherie den besagten historischen Scheideweg. Erwartet uns mit dem Kollaps des kapitalistischen Systems der Sturz ins Chaos oder wird es durch ein anderes Gesellschaftssystem ersetzt werden, das Stabilität garantiert? An jener »Gabelung« am Ende des Kapitalismus sind wir jedenfalls schon angekommen.[25]

Rosa Luxemburgs Schlagwort »Sozialismus oder Barbarei« wird somit im 21. Jahrhundert wieder aktuell. Doch wie sollen wir die »Barbarei« verhindern? Sicher ist, dass uns mit einer nur schrittweisen Verbesserung die Zeit davonläuft. Welche »mutigen« Maßnahmen können wir denn überhaupt ergreifen? Im nächsten Kapitel will ich dafür einen genaueren Blick auf den Green New Deal werfen, in den im Westen viele Hoffnungen gesetzt werden.

Kapitel 2Die Grenzen des Klima-Keynesianismus

Der Green New Deal als Hoffnung?

Im ersten Kapitel haben wir gesehen, dass der Kapitalismus ein System ist, das nicht nur den Menschen, sondern auch die Natur ausbeutet. Darüber wächst seine Wirtschaft durch die Auslagerung der Belastungen in die Peripherie. Während diese Externalisierung noch gut funktionierte, konnten wir in den Industrieländern ein Leben in Wohlstand führen, ohne uns Sorgen um die Umweltkrise zu machen, weshalb wir über die »wahren Kosten« unseres Reichtums nie richtig nachgedacht haben. Doch dabei ist ja gerade das kapitalistische System der Grund dafür, dass sich die Umweltkrise so weit zugespitzt hat. Wir in den Industrieländern haben die Unsichtbarkeit der Belastungen genossen, und obwohl wir insgeheim ja wussten, was vor sich geht, haben wir die Augen vor der Realität verschlossen, weshalb Maßnahmen auch erst so spät ergriffen wurden.

In der Zwischenzeit können die »wahren Kosten« aber zunehmend nicht mehr ignoriert werden. Zwar bleibt uns kaum noch Zeit bis zum Point of no Return, aber es wird jetzt immer mehr darüber diskutiert, ob in der Form nie dagewesene »mutige« Maßnahmen denn überhaupt möglich seien.

Eine dieser Maßnahmen, in die besonders viele Erwartungen gesetzt werden, ist der Green New Deal. In den USA gelten beispielsweise Intellektuelle wie Thomas L. Friedman, Jeremy Rifkin oder Robert Pollin als seine Verfechter. Auch weltbekannte Politiker wie Bernie Sanders, Jeremy B. Corbyn und Yanis Varoufakis haben einige ihrer Wahlversprechen um den Green New Deal herum formuliert, wobei sich ihre Inhalte jedoch voneinander unterschieden.

Der Green New Deal umfasst umfangreiche Konjunkturpakete und öffentliche Investitionen zur Förderung von erneuerbaren Energien und Elektroautos. Auf diese Weise sollen stabile, gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen, die effektive Nachfrage gesteigert und die Wirtschaft angekurbelt werden. Man hofft, dass eine boomende Wirtschaft weitere Investitionen auslösen und den Übergang zu einer nachhaltigen grünen Wirtschaft beschleunigen wird.

Aus dem Namen wird der Wunsch nach einem neuen »New Deal« schnell ersichtlich, der nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 ja als Retter des Kapitalismus im 20. Jahrhundert galt. Im Anthropozän ist der Neoliberalismus nichts mehr wert, mit finanziellen Kürzungen und einer »schlanken Regierung« komme man gegen den chronischen Ausnahmezustand aus Epidemie, Krieg und Klimawandel nicht mehr an, heißt es. Von nun an brauche man einen neuen, grünen Keynesianismus: den »Klima-Keynesianismus«.

Doch klingt das nicht etwas zu gut? Kann der Green New Deal denn wirklich zum Retter des Anthropozäns avancieren? In diesem Kapitel will ich auf seine problematischen Aspekte näher eingehen.

Unter den Verfechtern des Green New Deal gilt der Wirtschaftsjournalist Thomas L. Friedman als jemand, der besonders viel Hoffnung in den Aspekt des Wirtschaftswachstums setzt. Laut ihm handelt es sich dabei um eine »grüne Revolution«: »Wir müssen die grüne Revolution als Businesschance begreifen, da sie die größte Chance für die Erneuerung Amerikas darstellt.«[26]

Friedman spricht schon lange Zeit davon, dass es dank der nach dem Kollaps der Sowjetunion erfolgten Globalisierung und Verbreitung von Informationstechnologien für alle Menschen möglich geworden sei, miteinander in Verbindung zu treten, und die Welt somit »flach« geworden sei. Als neu hinzugekommenes Element werde die »grüne Revolution« diese flache Welt wirklich nachhaltig machen.

Daraus kann man eine »Hoffnung« herauslesen, dass der Klima-Keynesianismus den Klimawandel als Chance nutzt, damit die Wirtschaft auch in Zukunft wie gewohnt weiterwachsen kann. Mit anderen Worten wäre das sich auf den Klima-Keynesianismus stützende »grüne Wirtschaftswachstum« die »letzte Bastion« des Kapitalismus, um seinen »Normalbetrieb« fortführen zu können.

Das Schlagwort dieser »letzten Bastion« sind die SDGs. Von der UNO über die Weltbank, vom Internationalen Währungsfonds (IWF) hin zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) werden sie von zahlreichen internationalen Organisationen begeistert als etwas Erstrebenswertes angepriesen. So veröffentlicht die von sieben Ländern, darunter dem Vereinigten Königreich, eingerichtete Globale Wirtschafts- und Klimakommission den sogenannten New Climate Economy Report. Der Bericht lobt die SDGs und verkündet feierlich: »Wir befinden uns an der Schwelle zu einer neuen Ära des Wirtschaftswachstums: […] einer Ära des Zusammenspiels von rascher technologischer Innovation, nachhaltigen Investitionen in die Infrastruktur und gesteigerter Ressourcenproduktivität.«[27] Nun müsste es wohl klar und deutlich zu verstehen sein, wieso für die Eliten, die sich unter dem Dach internationaler Organisationen versammeln, der Kampf gegen den Klimawandel als »Chance« für das Wirtschaftswachstum gesehen wird.

Und ja, der von den Friedmans und Rifkins dieser Welt propagierte Klima-Keynesianismus bringt zweifelsohne weiteres Wirtschaftswachstum hervor. Tiefgreifende wirtschaftliche Änderungen, für die große Investitionen in die Beschaffung von Arbeitsplätzen unerlässlich sind, werden nötig sein um nicht nur Solarpaneele, sondern zum Beispiel auch die weitreichende Nutzung von Elektroautos und den dazugehörigen Schnellladegeräten oder auch Energie aus Biomasse zu forcieren. Absolut richtig ist auch das Argument, dass die Klimakrise große Investitionen erfordere, die die bestehende gesellschaftliche Infrastruktur in ihrer Gesamtheit ändern würden.

Doch ein Problem bleibt, nämlich die Frage, ob all dies mit den ökologischen Belastungsgrenzen der Erde in Einklang zu bringen ist. Man mag sich zwar mit dem Wort »grün« schmücken, aber glauben Sie nicht auch, dass man diese Grenzen irgendwann überschreiten wird, wenn man nach endlosem Wachstum giert?

Planetare Grenzen

In diesem Fall müssen wir, auch wenn wir weiteres Wirtschaftswachstum anstreben, bei den ökologischen Grenzen einen Schlussstrich ziehen. Durch die schon erwähnten tiefgreifenden Änderungen in Richtung nachhaltiger Wirtschaft wird es nämlich zu zusätzlichen Umweltbelastungen kommen, und es gilt, dafür zu sorgen, dass diese keinen irreparablen Schaden anrichten – das meint zumindest der schwedische Umweltforscher Johan Rockström. Sein Team stellte 2009 das Konzept der »planetaren Grenzen« vor. Lassen Sie es mich kurz erklären.

Das Erdsystem verfügt von Natur aus über die Fähigkeit, sich zu erholen (Resilienz). Wird diese Fähigkeit jedoch in einem bestimmten Ausmaß überlastet, geht sie verloren, und es besteht die Gefahr, dass es zu rapiden und unumkehrbaren katastrophalen Veränderungen wie etwa dem Schmelzen des Polareises oder dem Massensterben von Wildtieren kommt. Dieser Vorgang wird »Tipping Point« (Kipppunkt) genannt. Den Tipping Point zu überschreiten, würde für die Menschheit eine extreme Gefahr darstellen. Durch die Messung und Identifizierung der Schwellenwerte von neun Kategorien versuchte Rockström daher, den Tipping Point zu bestimmen, der die Existenz der Menschheit sicherstellen würde (bei den untersuchten Kategorien handelte es sich um Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt, Stickstoff- und Phosphorkreislauf, Bodennutzungsänderung, Versauerung der Ozeane, Süßwasserverbrauch, Zerstörung der Ozonschicht, Belastung der Atmosphäre durch Aerosole sowie chemische Verschmutzung).

Die ermittelten Schwellenwerte sind also die planetaren Grenzen, die, solange man sie nicht überschreitet, von Rockström als »sicherer Handlungsspielraum für die Menschheit« abgesteckt wurden. Es braucht wohl nicht gesagt zu werden, dass die planetaren Grenzen auch auf die SDGs einen großen Einfluss hatten, da sie zum Zielwert für technische Innovation und Effizienzsteigerung wurden.

Schaut man sich die Messungen der Forschungsgruppe um Rockström jedoch genauer an, fällt auf, dass die planetaren Grenzen in vier der Kategorien, darunter Klimawandel und Verlust der biologischen Vielfalt, bereits überschritten sind. Als Grund dafür wird die wirtschaftliche Aktivität des Menschen angegeben.[28] Dieser Fakt zeigt uns sehr gut den Zustand an, in dem wir uns im Anthropozän