Marx im Anthropozän - Kohei Saito - E-Book

Marx im Anthropozän E-Book

Kohei Saito

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Beschreibung

»Kohei Saito ist der neue Popstar der Kapitalismuskritik ... Er ist der neue Piketty.« Berliner Morgenpost Mit ›Systemsturz‹ gelang Kohei Saito der internationale Erfolg. Die Entdeckung von Ökologie und Nachhaltigkeit in Karl Marx´ Denken machte den japanischen Philosophen auf einen Schlag berühmt. Das vorliegende Buch führt zu den Wurzeln seiner Arbeit über Marx und erklärt, warum gerade diese Aspekte der marxschen Theorie im 20. Jahrhundert nicht nur vergessen, sondern marginalisiert und sogar unterdrückt wurden. Anhand präziser Quellenexegese entwickelt Saito einen Marx, der den Grundstein legt für eine neue Form des Miteinanders: Degrowth-Kommunismus. Damit präsentiert Saito eine völlig neue Vorstellung der postkapitalistischen Gesellschaft, ohne dabei die Fehler des real existierenden Sozialismus zu wiederholen.

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EPUB

Seitenzahl: 968

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Kapitalismuskritik in Zeiten der Klimakrise

 

Mit dem internationalen Erfolg von ›Systemsturz‹ gelang dem japanischen Philosophen Kohei Saito die Entdeckung der Nachhaltigkeit im Denken von Karl Marx. Dieses Buch führt zu den Wurzeln von Saitos Arbeit über Marx und erklärt, warum gerade diese Aspekte der marxschen Theorie im 20.Jahrhundert nicht nur vergessen, sondern marginalisiert und sogar unterdrückt wurden. So tritt Saito in den Dialog mit anderen zeitgenössischen marxistischen Theorien und lässt die ökologische Kapitalismuskritik von Marx gegen den herrschenden Produktivismus im Anthropozän wieder aufleben. Damit legt Saito den Grundstein für eine neue Form des Miteinanders: Degrowth-Kommunismus.

Kohei Saito

Marx im Anthropozän

Ideen für die postkapitalistische Gesellschaft

Aus dem Englischen von Thomas Atzert

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Danksagung

Siglen

Einleitung

Teil I Marx’ in Vergessenheit geratene ökologische Kritik des Kapitalismus

Kapitel 1 Marx’ Stoffwechseltheorie in Zeiten der globalen ökologischen Krise

I Die Verdrängung der Marx’schen Idee des Ökosozialismus

II Die Wiederentdeckung der Marx’schen Ökologie

III Drei Dimensionen des Risses im Stoffwechsel

IV Drei Dimensionen der Auslagerung des Risses im Stoffwechsel

V Rosa Luxemburgs in Vergessenheit geratene Stoffwechseltheorie

Kapitel 2 Das intellektuelle Verhältnis von Marx und Engels aus ökologischer Perspektive neu betrachtet

I Intellektuelle Arbeitsteilung?

II Marx als Autor und Engels als Herausgeber des Kapitals

III Dialektik von »Herrschaft« und »Rache«

IV Engels’ Notizbücher und die Kritik der politischen Ökonomie

Kapitel 3 Lukács’ Theorie des Stoffwechsels als Grundlage des Ökosozialistischen Realismus

I »Ambivalenzen« in Geschichte und Klassenbewußtsein

II Lukács’ Dialektik der Natur und der Dualismus in der Wissenschaft

III Lukács’ Stoffwechseltheorie und sein ontologischer Monismus

IV Zu Lukács’ Krisentheorie als Kritik der ökologischen Krise

Teil II Kritik der Produktivkräfte in Zeiten der globalen ökologischen Krise

Kapitel 4 Monismus und die Nichtidentität von Natur

I Anthropozän, Kapitalozän oder Technozän?

II Monismus und die Produktion von Natur

III Vom Anthropozän zum Kapitalozän

IV Ein nichtkartesianischer Dualismus von »Form« und »Stoff«

V Die Elastizität des Kapitals und die ökologische Krise

VI Gutes Anthropozän?

Kapitel 5 Das Revival des utopischen Sozialismus und die Produktivkräfte des Kapitals

I Vollautomatisierung als Chance für den Postkapitalismus

II Die Grundrisse und der »General Intellect«

III Subsumtion der Arbeit und die Produktivkräfte des Kapitals

IV Kapitalistische Produktionsweise und historischer Materialismus

V Elektoralismus und Technologie als Ideologie

Teil III Auf dem Weg zum Degrowth-Kommunismus

Kapitel 6 Marx als Degrowth-Kommunist: Die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) und die große Transformation nach 1868

I Die MEGA und der späte Marx

II Den historischen Materialismus dekonstruieren

III Marx in späten Jahren und eine neue Vorstellung des Kommunismus

IV Marx’ veränderte Vision des Kommunismus

Kapitel 7 Degrowth-Kommunismus und Reichtum im Überfluss

I Die ursprüngliche Akkumulation als Ursache der ökonomischen und ökologischen Katastrophe

II Marx’ Begriff des Reichtums oder: Wie beginnt Das Kapital?

III Die Negation der Negation und der Überfluss im Kommunismus

IV Genossenschaftliche Arbeit behebt den Riss im Stoffwechsel

Schluss

Literatur

Register

 

 

Für Teinosuke Otani

Meinen Lehrer und treuen Freund

Danksagung

Während der Arbeit am vorliegenden Buch seit 2017 habe ich auf verschiedene Weise großzügige Unterstützung von Wissenschaftlern und Freunden aus aller Welt erfahren. Sehr begünstigt wurde meine Auseinandersetzung mit Marx’ Schriften durch meine direkte Beteiligung am laufenden Projekt der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Großen Dank schulde ich meinen Kolleginnen und Kollegen bei der MEGA in Berlin, insbesondere Gerald Hubmann, Timm Graßmann, Regina Roth, Claudia Reichel, Jürgen Herres, Rolf Hecker und Carl-Erich Vollgraf.

Profitieren konnte ich zudem von einem in den Jahren 2016/17 gewährten Auslandsforschungsstipendium der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS), das mir einen Aufenthalt am Department of Sociology der University of California in Santa Barbara und eine Forschungszusammenarbeit mit Kevin Anderson ermöglichte. Seine Studie Marx at the Margins war für mich eine entscheidende Anregung, dieses Buchprojekt in Angriff zu nehmen. In Japan lasen und kommentierten Ryuji Sasaki und Soichiro Sumida das gesamte Manuskript. Beide haben auch dieses Mal dazu beigetragen, die logische Konsistenz und Klarheit des Textes zu verbessern. Darüber hinaus habe ich das Buchprojekt regelmäßig mit meinen engen Kollegen Tomonaga Tairako, Makoto Itoh, Hideto Akashi, Kengo Nakamura und Midori Wakamori diskutiert, die mich stets mit immensem Zuspruch und wichtigen Anregungen unterstützten. Patrick Eiden-Offe, Judith Dellheim und Terrell Carver lasen ebenfalls Teile des Manuskripts und gaben wertvolle Kommentare dazu ab. Andere kommentierten die im Rahmen verschiedener Konferenzen und Lehrveranstaltungen präsentierten Vorträge und Papiere, insbesondere Michael Heinrich, Frieder Otto Wolf, Christian Zeller, Bob Jessop, Babak Amini, Bini Adamczak, Kaan Kangal, Paula Rauhala, Joel Wainwright, Martin Wagner, Yibing Zhang, Ingo Stützle, Michael Löwy, Nick Srnicek, Michael Hardt, Paul Mason, Paul Burkett und John Bellamy Foster.

Während meiner Forschungsarbeit hatte ich glücklicherweise Gelegenheit, an verschiedenen internationalen Konferenzen und Seminaren teilzunehmen. Vorherige Versionen von Teilen des vorliegenden Buches wurden bei Tagungen der Historical Materialism Conference (London), der Japan Society of Political Economy (Tokio) und des Marx-Collegium (Toronto) vorgestellt. Mein tief empfundener Dank gilt Marcello Musto, mit dem mich bei einigen wichtigen Projekten eine enge Zusammenarbeit verbindet. Ich habe an mehreren der bedeutenden internationalen Konferenzen teilgenommen, die er an der York University (2017), am ADRI im indischen Patna (2018) und an der Universität Pisa (2019) organisiert hatte. Diese Konferenzen boten mir Gelegenheit zum Austausch mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und trugen dazu bei, meine Überlegungen entscheidend weiterzuentwickeln. Die Veröffentlichung dieses Buches ist auch ein Ergebnis der Unterstützung durch das Partnership Development Grant des Social Science and Humanities Research Council of Canada (SSHRC) für das Forschungsvorhaben »The Global History of Karl Marx’s Capital«, das ebenfalls ein gemeinsames Projekt mit Marcello Musto ist.

Vishwas Satgar und Michelle Williams von der Witts University luden mich im Sommer 2018 freundlicherweise für eine Woche nach Johannesburg ein, um dort drei Vorträge zu halten. Leslie Esther und Alex Colas organisierten im November 2018 meinen Besuch in London, wo ich den Deutscher Memorial Prize für meine Studie Karl Marx’s Ecosocialism (dt. Natur gegen Kapital, Frankfurt am Main/New York: Campus 2016) entgegennehmen sowie verschiedene weitere Vorträge halten konnte. Mein Dank gilt ferner Markus Gabriel und Sebastian Breu, die im Juni 2019 an der Universität Bonn eine internationale Konferenz organisierten, auf der ich das Kapitel über Georg Lukács präsentierte. Sighard Neckel lud mich darüber hinaus zu einer Jahreskonferenz unter dem Titel »Unsustainable Past – Sustainable Future?« an der Universität Hamburg ein, auf der ich die unschätzbare Gelegenheit hatte, die Beziehung zwischen Marx’scher Ökonomiekritik und Degrowth in Zeiten der ökologischen Krise zu diskutieren. Darüber hinaus ist das Buchprojekt in hohem Maße Seongjing Jeong zu Dank verpflichtet, der mich 2018 freundlicherweise einlud, der südkoreanischen sozialwissenschaftlichen Forschungsgruppe »Postcapitalism and the Innovation of Marxism« beizutreten, die vom Bildungsministerium der Republik Korea und der National Research Foundation of Korea finanziert wird. Internationale Forschung mit koreanischen Wissenschaftlern, darunter Sangwon Han, Seung-Wook Baek, Hyun Kang Kim, Vladimir Tichonow und Minzy Koh, trugen dazu bei, den Umfang meines Projekts zu erweitern. Unterstützt wurde die Forschungsarbeit schließlich auch von der Japan Society for the Promotion of Science.

Einige grundlegende Überlegungen gehen auf die Arbeit an meinem Buch Hitoshinsei no Shihonron (dt. Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus, München: dtv, 2023) zurück, das sich in Japan mit einer halben Million verkaufter Exemplare als unerwartet populär erwies. Für den großen Erfolg schulde ich meiner Lektorin Yuka Hattori Dank, die enorm viel Zeit und Energie in das Buch investiert hat. Zum Teil kann die vorliegende Studie als eine gründlichere und stärker wissenschaftlich argumentierende Version jenes Buches betrachtet werden, dessen Klarheit von ihrer redaktionellen Unterstützung herrührt. Natürlich ist das vorliegende Buch keine Übersetzung jenes früheren. Es baut vielmehr auf einer grundlegend anderen Argumentation auf, gestützt auf eine noch sorgfältigere Lektüre des Materials und auf die Rekonstruktion der in den vergangenen Jahren geführten wichtigen Debatten zur Marx’schen Ökologie. Anwesha Rana von Cambridge University Press half mir geduldig, das vorliegende Buch auf den Weg zu bringen, obwohl sich die Abgabe des Manuskripts infolge der weltweiten Pandemie der Jahre 2020–2022 beträchtlich verzögerte. Ich kann nur hoffen, dass mir durch diese Verzögerung mehr Zeit blieb, meine Argumentation zu vertiefen. Mein besonderer Dank gilt Alexander Brown für sein sorgfältiges Korrektorat in der letzten Phase der Buchproduktion. Jacob Blumenfeld hat mich freundlicherweise bei der Übersetzung einiger deutscher Texte ins Englische unterstützt. Alle verbleibenden Fehler sind indes von mir zu verantworten.

Ich danke allen Verlagen und Redaktionen für die Erlaubnis, bei der Abfassung der angegebenen Kapitel auf Material aus den im Folgenden genannten Beiträgen zurückgreifen zu dürfen. Deren Inhalt wurde für das vorliegende Buch grundlegend überarbeitet, erweitert und aktualisiert:

 

Kapitel 1: »Marx’s Theory of Metabolism in the Age of Global Ecological Crisis«, in: Historical Materialism, Bd. 28 (2020), H. 2, S. 3–24.

Kapitel 2: »Marx and Engels: The Intellectual Relationship Revisited from an Ecological Perspective«, in: Marcello Musto (Hg.), Marx’s Capital after 150 Years. Critique and Alternative to Capitalism, London: Routledge, 2020, S. 167–183.

Kapitel 7: »Primitive Accumulation as the Cause of Economic and Ecological Disaster«, in: Marcello Musto (Hg.), Rethinking Alternatives with Marx. Economy, Ecology and Migration, Cham: Palgrave Macmillan, 2021, S. 93–112.

 

Schließlich wäre es mir unmöglich gewesen, das Buch ohne Mao, Lichto und Lisa, meine Familie, abzuschließen. Sie haben das Projekt immer unterstützt und gefördert und mir die Leidenschaft geschenkt, mir in diesen dunklen Zeiten eine bessere Welt vorzustellen.

Siglen

MEGA • Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe, Abteilung I–IV, 122 Bde., Berlin: Dietz Verlag, Akademie Verlag, De Gruyter, 1975ff.

MEW • Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, 44 Bde., hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED/Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung/Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin: Dietz 1956–2018.

Grundrisse • Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/58), in: MEW42, Berlin: Dietz 1983, S. 15–768.

Resultate • Karl Marx: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses (Ökonomisches Manuskript 1863–1865), in: Archiv sozialistischer Literatur 17, Frankfurt am Main: Neue Kritik, 1969.

Kapital I • Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (41890), in: MEW23, Berlin: Dietz, 1977.

Kapital II • Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band (21893), in: MEW24, Berlin: Dietz, 1973.

Kapital III • Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band (1894), in: MEW25, Berlin: Dietz, 1973.

IISG Sig. B 91a • Internationaale Instituut voor Sociale Geschiedenis, Karl Marx – Friedrich Engels Papers, Teil B Exzerpte von Karl Marx, Nr. 91a.

Einleitung

Die Welt steht in Flammen. Wir erleben »das Ende des Endes der Geschichte«.[1] Mit der raschen Zuspitzung der globalen ökologischen Krise in ihren verschiedenen Formen – Klimawandel, Versauerung der Ozeane, Störung des Stickstoffkreislaufs, Wüstenbildung, Bodenerosion, Verlust der biologischen Vielfalt – steuert das von Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der UdSSR verkündete »Ende der Geschichte«[2] heute auf ein völlig unerwartetes definitives Ende zu, nämlich auf das Ende der Menschheitsgeschichte. Tatsächlich hat der Siegeszug der neoliberalen Globalisierung den rasanten Anstieg der durch menschliches Handeln verursachten Umweltbelastung auf der Erde seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – die sogenannte Große Beschleunigung,[3] das Zeitalter, in dem der Anstieg aller sozioökonomischen und Erdsystem-Megatrends sich in einem Hockeyschläger-Diagramm darstellen lässt – nur noch stärker beschleunigt und letztlich die Grundlagen der menschlichen Zivilisation destabilisiert. Pandemie, Krieg und Klimakatastrophe sind alle symptomatisch für ein »Ende der Geschichte«, das Demokratie, Kapitalismus und die ökologischen Systeme in eine chronische Krise stürzt.

Viele Menschen sind sich durchaus der Tatsache bewusst, dass die derzeitige Lebensweise auf eine Katastrophe zusteuert, aber das kapitalistische System bietet keine Alternative zum Moloch der Überproduktion und des Überkonsums. Es gibt auch keinen überzeugenden Grund zu glauben, dies werde bald der Fall sein, da der systemische Zwang des Kapitalismus ihn am Einsatz von fossilen Brennstoffenfesthalten lässt, trotz ständiger Warnungen vor den Folgen, des Wissens darum und des Widerstands dagegen. Die Einsicht in die Tatsache, dass eine rasche und weitreichende Dekarbonisierung, mit der das 1,5-Grad-Celsius-Ziel des Pariser Abkommens zu erreichen wäre, tiefgreifende Veränderungen in praktisch allen Bereichen der Gesellschaft erfordert, ließ radikalere soziale Bewegungen entstehen, die auf direkte Aktion setzen und fordern, das kapitalistische System zu beseitigen.[4] In diesen Zusammenhang gehört auch, wenn Greta Thunberg in einer Rede das »Märchen vom ewigen Wachstum« anprangert und damit deutlich macht, dass das auf unbegrenzte Akkumulation auf einem begrenzten Planeten abzielende kapitalistische System die Hauptursache für die Klimakatastrophe ist.

Dies ist die neue historische Situation, insbesondere auch für den Marxismus, der nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus als ein »toter Hund« behandelt wurde. Wenn Umweltschützerinnen lernen, die Irrationalität des gegenwärtigen Wirtschaftssystems unmissverständlich als Problem zu benennen, hat der Marxismus die Chance zu einem Revival, falls er dazu beitragen kann, Debatten und soziale Bewegungen zu bereichern, denen er nicht nur eine gründliche Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, sondern auch eine konkrete Vision einer postkapitalistischen Gesellschaft bietet. Ein solches Revival hat indes bislang nicht stattgefunden, und es bestehen nach wie vor Zweifel an der Nützlichkeit eines Rückgriffs auf das Marx’sche Erbe im 21. Jahrhundert. Marx’ politischer Optimismus, wie er am deutlichsten im Manifest der Kommunistischen Partei zum Ausdruck kommt, wurde wiederholt als Beleg seines notorischen und völlig inakzeptablen Produktivismus und Ethnozentrismus angeführt.

Es wäre sicherlich allzu naiv zu glauben, die weitere Entwicklung der Produktivkräfte im »westlichen« Kapitalismus könnte angesichts der globalen ökologischen Krise als emanzipatorischer Motor der Geschichte fungieren. Tatsächlich unterscheidet sich die Situation heute entscheidend von derjenigen im Jahr 1848: Der Kapitalismus ist nicht mehr fortschrittlich. Im Gegenteil zerstört er die allgemeinen Bedingungen von Produktion und Reproduktion und stellt dadurch für menschliches wie für nichtmenschliches Leben gleichermaßen eine ernsthafte existenzielle Bedrohung dar. Kurzum, Marx’ Vorstellung vom historischen Fortschritt erscheint hoffnungslos überholt. Wenn es in dieser Situation eine schwache Hoffnung auf ein Revival des Marxismus gibt, so bleibt die wesentliche Voraussetzung dafür, jenes berühmt-berüchtigte Großschema des sogenannten historischen Materialismus, das sich um den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen dreht, radikal zu reformulieren. Darum vor allem soll es in diesem Buch gehen, nicht als Abgesang auf die (Menschheits)Geschichte, sondern als Ausblick auf eine andere, klare und helle Zukunft aus einer marxistischen Perspektive, ohne angesichts der globalen ökologischen Krise in Pessimismus und Apokalyptik zu verfallen.

Ein solches Projekt kann das Problem der »Natur« nicht umgehen. Dies umso mehr, als »das Ende des Endes der Geschichte« auch »das Ende des Endes der Natur« in sich birgt. Bill McKibben hat einmal davor gewarnt, dass die Vorstellung von Natur, von der die moderne Welt lange Zeit ausging, für immer verschwunden sei, weil der globale Kapitalismus den gesamten Planeten grundlegend verändert und keine unberührte Natur mehr übrig gelassen habe.[5] Dieser Umstand wird heute allgemein als Anthropozän bezeichnet, das Zeitalter, in dem die Menschheit zu einer »bedeutenden geologischen Kraft« mit enormer wissenschaftlicher und technologischer Macht wurde, die in der Lage ist, den gesamten Planeten in einem nie dagewesenen Ausmaß zu verändern.[6]

Die Realität des Anthropozäns ist freilich weit davon entfernt, den Traum der Moderne von der Emanzipation des Menschen durch die Beherrschung der Natur zu verwirklichen. Der Klimawandel, flankiert vom Anstieg des Meeresspiegels, von Waldbränden, Hitzewellen und veränderten Niederschlagsmustern, zeigt, wie das »Ende der Natur« dialektisch in eine »Rückkehr der Natur«[7] umschlägt: Die Erde und ihre Grenzen werden immer stärker dadurch spürbar, dass Menschen die Naturgewalten nicht mehr bändigen können und von ihnen sogar wie von einer eigenständigen und fremden Kraft überwältigt werden. Kurzum, das moderne Bacon’sche Projekt bricht zusammen. Angesichts einer solchen zunehmenden Unbeherrschbarkeit der Natur nehmen sich verschiedene Varianten einer Kritischen Theorie der Natur, darunter der Ökomarxismus, der dringlichen Aufgabe an, das Verhältnis von Menschheit und Natur zu überdenken.[8] Das dominante Narrativ über das Anthropozän basiert indes auf einem monistischenAnsatz, der sich durch die Hybridität des Sozialen und des Natürlichen auszeichnet und dem Marxismuskritisch gegenübersteht.[9] Im Gegensatz dazu zielt das vorliegende Projekt darauf ab, die Debatte über die Mensch-Natur-Beziehung zu erweitern, und zwar im Rückgriff auf Marx’ dualistische Herangehensweise, die auf seiner Theorie des Stoffwechsels aufbaut.

Eine solche theoretische Anstrengung hat heute auch weitreichende praktische Bedeutung. Marx’ Methode angemessen zu verstehen, lässt uns den besonderen Beitrag erkennen, den sein Werk in den jüngsten Debatten zum Thema Postkapitalismus leistet. Hier findet sich ein drittes »Ende« der nach dem Kalten Krieg etablierten Orientierungen, nämlich »das Ende des kapitalistischen Realismus«. Mark Fisher beklagte einmal, der »kapitalistische Realismus« – das Gefühl, es sei »einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus« – schränke unsere politische Vorstellungskraft erheblich ein und unterwerfe uns fortwährend dem Regime des Kapitals.[10] Die gleiche Beschränkung ist bezogen auf die Umwelt erkennbar. So schreibt Slavoj Žižek: »Es ist einfacher, sich eine totale Katastrophe vorzustellen, die allem Leben auf der Erde ein Ende bereitet, als eine reale Veränderung der kapitalistischen Verhältnisse.«[11] Mit der Zuspitzung multipler Krisen von Ökonomie und Demokratie, von Pflege und Umwelt, deren Tendenzen durch die Covid-19-Pandemie und den russisch-ukrainischen Krieg noch verstärkt wurden, mehren sich indes die Rufe nach einem radikalen »Systemwandel«. Dabei befürworten Slavoj Žižek (2020) und Andreas Malm (2020) einen »Kriegskommunismus«, während John Bellamy Foster (2020) und Michael Löwy (2015) für die Idee des »Ökosozialismus« eintreten.[12]

Intensive Diskussionen über das »Leben nach dem Kapitalismus«[13] gibt es darüber hinaus auch außerhalb marxistischer Kreise. Thomas Pikettys (2021) Diktum, dass wir »einen neuen […] Sozialismus brauchen«,[14] ist hier exemplarisch, doch eine stärker ökologische Version desselben Arguments findet sich in Naomi Kleins ausdrücklichem Bekenntnis zur Idee des Ökosozialismus. Sie konstatiert,

dass der selbsternannte Sozialismus [der Sowjetunion und Venezuelas] nicht von Haus aus grün ist. Dem müssen wir uns stellen, aber wir können auch darauf verweisen, dass Länder mit einer starken demokratisch-sozialistischen Tradition (wie Dänemark, Schweden und Uruguay) eine Umweltpolitik verfolgen, die zu den visionärsten der Welt gehört. Daraus können wir den Schluss ziehen, dass Sozialismus nicht unbedingt ökologisch ist, aber ein demokratischerÖko-Sozialismus – der die Demut besitzt, die Lehren indigener Völker über die Pflichten gegenüber künftigen Generationen und die Verbundenheit zwischen allen Lebensformen zu befolgen – die beste Chance für ein kollektives Überleben der Menschheit bietet.[15]

Angesichts der Tatsache, dass Klein keine Marxistin ist, ist dies eine bemerkenswerte Wendung. Ellen Meiksins Wood erklärte einmal, dass »Themen wie Frieden und Ökologie nicht sonderlich gut dazu geeignet sind, starke antikapitalistische Kräfte hervorzubringen. In gewissem Sinne ist ihre eindeutige Universalität das Problem. Sie schaffen keine sozialen Kräfte, weil sie einfach keine spezifische soziale Identität besitzen«.[16] Doch die heutige Situation sieht in Bezug auf Ökologie ganz anders aus als zu jener Zeit, gerade weil die planetarische Krise der Konstituierung einer universellen politischen Subjektivität gegen das Kapital eine materielle Grundlage bietet. Und zwar deshalb, weil das Kapital weltweit ein »Umweltproletariat«[17] schafft, dessen Lebensbedingungen durch die Kapitalakkumulation schwerwiegend unterminiert werden.

Angeregt durch solche Ansätze aus jüngerer Zeit, Entwürfe und kreative Ideen für ein freieres, egalitäreres und nachhaltigeres Leben zu entwickeln, greife ich auf die Marx’sche Theorie zurück, um eine vollkommen neue, dem Anthropozän angemessene marxistische Vision einer Gesellschaft jenseits des Mangels vorzustellen. Eine solche Rückbesinnung auf Marx’ ökologische Vision einer postkapitalistischen Gesellschaft zielt darauf ab, die Diskurskonstellation rund um das Anthropozän zu erweitern und das junge geochronologische Konzept über die Geowissenschaften hinaus mit zeitgenössischen Fragestellungen zur politischen Ökonomie, Demokratie und Gerechtigkeit zu verbinden.

Unterstützung erfährt dieses neue ökosozialistische Projekt für das Anthropozän auch durch neuere philologische Entdeckungen, dank erstmals in der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) publizierter Materialien. Die vierte Abteilung der MEGA veröffentlicht Marx’ naturwissenschaftliche Notizbücher, und darin erweist sich die Reichweite der Marx’schen ökologischen Interessen als weitaus umfangreicher denn bislang angenommen.[18] Nun wurden diese Notizen selbst von der Forschung zwar recht lange vernachlässigt, doch neuere Studien zeigen, dass Marx mit seinen Untersuchungen in den Bereichen Geologie, Botanik und Agrarchemie die Absicht verfolgte, verschiedene Praktiken von Raub zu analysieren, die eng mit dem Klimawandel, der Erschöpfung von natürlichen Ressourcen (Bodennährstoffen, fossilen Brennstoffen und Wäldern) sowie dem Artensterben verbunden sind, und zwar aufgrund des kapitalistischen Systems der industriellen Produktion.

Ökologische Aspekte der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie sind folgerichtig zu einem der zentralen Felder für eine Wiederbelebung des Marx’schen Erbes im Anthropozän geworden. Insbesondere der Begriff eines »metabolischen Bruchs«, eines Risses im natürlichen und gesellschaftlichen Stoffwechsel hat sich als unverzichtbares theoretisches Werkzeug für eine ökologische Kritik des zeitgenössischen Kapitalismus erwiesen.[19] Durch dieses Konzept wird Marx’ Kritik an der zerstörerischen Seite der kapitalistischen Produktion untermauert, da sich zeigen lässt, dass es auf zeitgenössische ökologische Probleme wie globale Erwärmung, Bodenerosion, Aquakultur, Viehwirtschaft oder die Störung des Stickstoffkreislaufs anwendbar ist.[20] Teil I des vorliegenden Buches entwickelt den konzeptuellen Ansatz eines Risses im Stoffwechsel als theoretische und methodische Grundlage der marxistischen politischen Ökologie weiter. Neben Marx und zur Vertiefung der an ihn anschließenden Ökologie beschäftigt sich dieser Teil ferner mit Friedrich Engels, Rosa Luxemburg, Georg Lukács und István Mészáros, insofern ihre Texte dazu beitragen, die theoretische Reichweite des marginalisierten Begriffs »Stoffwechsel« im Marxismus zu erfassen.

Beim vorliegenden Projekt geht es indes nicht nur einfach darum, Marx’ Begriff des Stoffwechsels adäquater zu verstehen. Die Aufgabe, die marxistische Ökologie ausgehend vom Begriff eines Risses im Stoffwechsel auszuarbeiten, ist auch deshalb interessant, weil sie von praktischer Relevanz ist: Unterschiedliche Herangehensweisen an die ökologische Krise werden darin zu unterschiedlichen Lösungsansätzen führen. In diesem Zusammenhang sind »postmarxistische« Versuche zu erwähnen, die es unter dem Vorzeichen eines philosophischen Monismus unternommen haben, das Verhältnis von Mensch und Natur im Anthropozängegen die Vorstellung eines Risses im Stoffwechsel auszuarbeiten. Die Vertreter der monistischen Sichtweise problematisieren einen »ontologischen Dualismus« im Marxismus[21], von dem behauptet wird, den ontologischen Status von Natur im Anthropozän nicht adäquat zu begreifen. Da der Kapitalismus die Umwelt in ihrer Gesamtheit grundlegend umgestalte, existiere Natur als solche nicht, sondern werde durch die kapitalistische Entwicklung »produziert«. Der Monismus verlangt, den ontologischen Binarismus zu überwinden und ihn durch ein relationales Denken zu ersetzen: Alles ist ein »Hybrid« aus Natur und Gesellschaft. Vor allem Jason W. Moore macht die Vorstellung eines metabolischen Bruchs zum Gegenstand seiner Kritik und wirft ihr vor, in einen kartesianischen Dualismus von »GESELLSCHAFT« und »NATUR« zurückzufallen. Stattdessen gelte es, ein relationales Verständnis des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur zu entwickeln.[22]

So allerdings restauriert der Monismus für das Anthropozän abermals den gescheiterten Prometheanismus, indem er letztlich den stetig weiter gehenden Eingriff in die Natur rechtfertigt. Ein in diesem Sinn »geokonstruktivistischer« Ansatz unterstellt, es gebe im Anthropozän bereits ein Übermaß an menschlichen Eingriffen in die Natur, daher sei jeder Versuch, derartige Eingriffe aus Angst vor Umweltzerstörung zu stoppen, unverantwortlich und verhängnisvoll, denn der Prozess sei irreversibel.[23] Einem solchen Ansatz zufolge ist der einzige gangbare Weg eine Art »Sachwaltertum« über die Erde, um den gesamten Planeten neu zu gestalten und so für die Zukunft die Existenz der Menschheit zu sichern, wenn nicht gar ihre Emanzipation zu ermöglichen. Dieses Revival des prometheischen Projekts unterwandert auch marxistische Bemühungen, die Vision einer postkapitalistischen Zukunft zu erneuern.[24] Eine Erwiderung auf verschiedene monistische und prometheische Strömungen im Anthropozän aus dem Blickwinkel des methodologischen Dualismus von Marx findet sich im Teil II des vorliegenden Buches.

Nach dieser kritischen Auseinandersetzung mit den theoretischen Grenzen sowohl monistischer als auch prometheischer Positionen arbeitet Teil III Marx’ ökologische Vision einer postkapitalistischen Gesellschaft in nichtproduktivistischer Weise aus. Gestützt auf die neuen Erkenntnisse aus dem in der MEGA publizierten Material wird gezeigt, dass der späte Marx nach 1868 durch interdisziplinäre Studien in den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften an einen theoretischen Wendepunkt – eine coupure épistémologique im Sinne Louis Althussers[25] – gelangte. Marx’ letztentwickelte Vision des Postkapitalismus in den 1880er Jahren ging über den Ökosozialismus hinaus und lässt sich angemessener als Degrowth-Kommunismus bezeichnen. Bislang unbekannt, bietet die Idee des Degrowth-Kommunismus einen wertvollen Ansatz, um den anhaltenden »kapitalistischen Realismus« zu überwinden. Wohl gibt es heute ein wachsendes Interesse an radikalen Positionen, doch reicht es nicht aus, lediglich eine ökosozialistische Kritik des gegenwärtigen Kapitalismus zu entwickeln. Nur im Rückgriff auf Marx’ eigene Texte ist es möglich, eine positive Vision einer zukünftigen Gesellschaft für das Anthropozän zu entwerfen. Eine solche radikale Transformation ist notwendigerweise der Neubeginn der Geschichte als das Zeitalter des Degrowth-Kommunismus.

Aber wenn Marx wirklich einen solchen Degrowth-Kommunismus vorgeschlagen hat, warum wurde dann in der Vergangenheit von niemandem darauf hingewiesen, und warum befürwortete der Marxismus einen produktivistischen Sozialismus? Eine einfache Antwort lautet, dass die Marx’sche Ökologie lange Zeit ignoriert wurde. Zunächst ist es daher notwendig, den Moment ihrer Verdrängung zu ermitteln. Die Genealogie der (verdrängten) Marx’schen Ökologie beginnt bei Marx selbst. Ausgehend von den in der MEGA veröffentlichten Notizbüchern zur Naturwissenschaft begründet Kapitel 1 Marx’ Begriff des Risses im Stoffwechsel und beleuchtet die drei Dimensionen dieses ökologischen Bruchs sowie seiner technologisch vermittelten räumlichen und zeitlichen »Auslagerung« im globalen Maßstab. Vertieft wurde Marx’ grundlegende Einsicht in die ständige Expropriation der Natur durch das Kapital als Ursache des Risses im Stoffwechsel durch Rosa Luxemburg in Die Akkumulation des Kapitals, einem Werk, das den Hauptwiderspruch des Kapitalismus ausgehend von dessen zerstörerischen Folgen für die Menschen und die Umwelt in nichtkapitalistischen Peripherien thematisiert.

Obwohl sie den Begriff des Stoffwechsels verwendet, formuliert ihn Luxemburg als Kritik an der engen Sicht der Kapitalakkumulation bei Marx. Dies legt den Schluss nahe, dass Marx’ Begriff des Stoffwechsels bereits zu jener Zeit nicht adäquat verstanden wurde. Ein solches Missverständnis war indes vorgezeichnet, denn viele Schriften von Marx waren damals unveröffentlicht und Luxemburg nicht zugänglich. Das Problem rührt aber auch von Friedrich Engels’ Versuch her, den »Marxismus« als System, als Weltanschauung des Proletariats zu etablieren. Um die Deformation von Marx’ Stoffwechselbegriff in ihren Ursprüngen nachzuvollziehen, rekonstruiert Kapitel 2 Engels’ Rezeption der Marx’schen Stoffwechseltheorie durch einen sorgfältigen Vergleich der redaktionellen Arbeit Engels’ am Kapital mit den Originalen der ökonomischen Manuskripte von Marx sowie den in der MEGA veröffentlichten Notizbüchern beider. Eine solche Untersuchung offenbart subtile, aber entscheidende theoretische Unterschiede zwischen Marx und Engels, insbesondere im Hinblick auf ihren Umgang mit dem Begriff »Stoffwechsel«. Die Unterschiede hinderten Engels, die Marx’sche Theorie des metabolischen Bruchs angemessen zu würdigen, und in der Folge wurde der Begriff des Stoffwechsels im Marxismus marginalisiert.

Diese Marginalisierung zeigt sich deutlich in den 1920er Jahren im Zuge der historischen Herausbildung und Entwicklung des westlichen Marxismus, der sich immer weiter von Marx’ Methodik und seinen ursprünglichen Einsichten zum Stoffwechsel entfernte. Die Frage des intellektuellen Verhältnisses zwischen Marx und Engels spielt in diesem Zusammenhang eine maßgebliche Rolle, bestimmt sie doch Grundauffassungen des westlichen Marxismus insgesamt. Bekanntlich trifft dieser eine rigorose Unterscheidung zwischen Marx und Engels, wobei Letzterem vorgeworfen wird, er habe die Dialektik in unzulässiger Weise auf den Bereich der Natur ausgedehnt, was schließlich zum mechanistischen Gesellschaftsbild des sowjetischen orthodoxen Marxismus geführt habe. Trotz der scharfen Kritik an Engels teilt der westliche mit dem sowjetischen Marxismus indes die Grundannahme, über die Natur habe Marx wenig zu sagen gewusst, und vernachlässigt so die Tragweite von dessen Stoffwechselbegriff ebenso wie seine ökologische Kapitalismuskritik.

Georg Lukács, einer der Begründer des westlichen Marxismus, ist, wie Kapitel 3 erörtert, insofern eine Ausnahmeerscheinung, als er dem Stoffwechselbegriff zweifellos Beachtung schenkte. Lukács’ in Geschichte und Klassenbewußtsein formulierte Kritik am Engels’schen Umgang mit der Natur hatte einen immensen Einfluss auf den westlichen Marxismus, doch letztlich verfolgte Lukács selbst in dieser Frage einen anderen Ansatz, den er 1925/26 in einem unveröffentlichten, Chvostismus und Dialektik betitelten Manuskript als Teil einer eigenen Stoffwechseltheorie ausarbeitete. Lange Zeit blieb dieses Manuskript unbekannt, und dementsprechend missverstanden wurden Lukács’ Intentionen in Geschichte und Klassenbewußtsein; verschiedene theoretische Ungereimtheiten und Ambivalenzen der Schrift trugen ihm wiederholt Kritik ein. Bezieht man jedoch Chvostismus und Dialektik ein, so wird deutlich, dass Lukács’ Darstellung des Verhältnisses von Mensch und Natur in Kontinuität zu Marx’ eigenem methodologischen Dualismus steht, der analytisch zwischen Gesellschaftlichem und Natürlichem unterscheidet. Mit dieser Methodik bietet Lukács’ Stoffwechseltheorie einen Ansatz, den »nichtkartesianischen« Dualismus von Form und Stoff bei Marx im Sinne der Kritik der modernen kapitalistischen Produktion auszuarbeiten. Dennoch wurde diese außergewöhnliche Einsicht vom orthodoxen wie vom westlichen Marxismus gleichermaßen verdrängt, was im gesamten 20. Jahrhundert zur weiteren Marginalisierung der Marx’schen Ökologie führte.

Auch aufgrund eines unzureichenden Verständnisses der dualistischen Methode von Marx steht der Begriff des metabolischen Bruchs in der Kritik. Kapitel 4 setzt sich mit marxistischen Varianten einer monistischen Sichtweise auseinander, wie sie Jason W. Moore mit seinem Begriff »Weltökologie« sowie Neil Smith und Noel Castree mit »Produktion von Natur« vertreten. Ungeachtet der offensichtlichen theoretischen Unterschiede zeigt sich an ihrer monistischen Sicht auf den Kapitalismus, wie ein Missverstehen der Marx’schen Methode problematische Konsequenzen von praktischer Relevanz nach sich zieht.

Wie Kapitel 5 erörtert, führt das mangelnde Verständnis der Marx’schen Methode in jüngerer Zeit auch unter Marxisten zu einem Revival prometheischer Vorstellungen. Ein solcher utopischer Marxismus stützt sich auf Marx’ Grundrisse und argumentiert, eine auf Informationstechnologie beruhende dritte industrielle Revolution – etwa durch künstliche Intelligenz (KI), gemeinsame Ressourcennutzung (sharing economy) und das Internet der Dinge (IdD) – könne in Verbindung mit umfassender Automatisierung die Menschen von der Plackerei der Arbeit befreien und das kapitalistische System der Wertschöpfung obsolet machen. Hinter all der Verherrlichung erträumter Zukunftstechnologien besteht indes der alte Prometheanismus fort. Um diesen endgültig zu überwinden, ist es notwendig, Marx’ Begriff der »reellen Subsumtion« aus den 1860er Jahren in den Mittelpunkt zu rücken – also gerade nicht die in den 1850ern geschriebenen Grundrisse. Dann wird offenkundig, dass die im Kapital formulierte Kritik an den »Produktivkräften des Kapitals« für eine deutliche Verschiebung der Sicht auf den technischen Fortschritt im Kapitalismus steht, insofern Marx zu der Erkenntnis gelangt war, dass die kapitalistische Entwicklung von Technologiennicht notwendigerweise eine materielle Grundlage für den Postkapitalismus schafft.

Die Abkehr von der zuvor gehegten naiven Befürwortung der technologischen Entwicklung brachte für Marx jedoch eine Reihe neuer Schwierigkeiten mit sich. Sobald er begonnen hatte, die fortschrittliche Rolle einer zunehmenden Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus in Frage zu stellen, war er unweigerlich gezwungen, auch die eigene frühere progressive Geschichtsauffassung zu hinterfragen. Kapitel 6 rekonstruiert diesen Prozess der Selbstkritik beim späten Marx. Nur wenn man seiner theoretischen Krise nachgeht, wird klar, warum er sich gleichzeitig mit den Naturwissenschaftenund mit vorkapitalistischen Gesellschaften beschäftigen musste, während er versuchte, den zweiten Band des Kapitals fertigzustellen. Durch die intensive Auseinandersetzung mit den genannten theoretischen Feldern vollzog Marx schließlich nach 1868 einen weiteren Paradigmenwechsel. Sein Brief an Vera Sassulitsch aus dem Jahr 1881 muss aus dieser Perspektive neu interpretiert werden, nämlich als Niederschlag einer nichtproduktivistischen und nichteurozentrischen Sicht der zukünftigen Gesellschaft, die als Degrowth-Kommunismus zu bezeichnen wäre.

Eine derartige Schlussfolgerung mag für viele überraschend sein. Niemand hat bisher eine solche Sicht des Marx’schen Postkapitalismus vorgeschlagen. Darüber hinaus standen sich Degrowth-Ökonomie und Marxismus lange Zeit unvereinbar gegenüber. Wenn jedoch der späte Marx die Idee einer stationären Wirtschaft im Interesse einer radikal gleichen und nachhaltigen Gesellschaft akzeptiert, entsteht ein neuer Raum des Dialogs zwischen beiden. Um einen solchen Dialog auf fruchtbare Weise aufzunehmen, greift das letzte Kapitel auf das Kapital und andere Schriften zurück, um bestimmte Passagen unter dem Gesichtspunkt des Degrowth-Kommunismus einer erneuten Lektüre zu unterziehen. Mit anderen Worten, Kapitel 7 zielt auf eine Neuinterpretation des Kapitals im Versuch, darüber hinauszugehen. Vorgeschlagen wird eine neue Lesart einiger Schlüsselpassagen, die ansonsten als naive Befürwortung eines Produktivismus erscheinen würden. Vor allem der radikale Überfluss des »genossenschaftlichen Reichtums« in der Kritik des Gothaer Programms verweist auf eine nichtkonsumistische Lebensweise in einer Ökonomie jenseits des Mangels, die angesichts der globalen ökologischen Krise im Anthropozän eine sichere und gerechte Gesellschaft verwirklicht.

Endnoten

[1]

Alex Hochuli, George Hoare, Philip Cunliffe: Das Ende des Endes der Geschichte. Post-Politik, Anti-Politik und der Zerfall der liberalen Demokratie, übers. von Stefan Kraft, Wien: Promedia, 2022.

[2]

Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, übers. von Helmut Dierlamm, Ute Mihr u. Karlheinz Dürr, München: Kindler, 1992.

[3]

John R. McNeill, Peter Engelke: »Mensch und Umwelt im Zeitalter des Anthropozän«, übers. von Thomas Atzert, in: Akira Iriye, Jürgen Osterhammel (Hg.): Geschichte der Welt. 1945 bis heute: Die globalisierte Welt, München: C.H. Beck, 2013, S. 357–534.

[4]

Extinction Rebellion: Wann wenn nicht wir*. Ein Extinction Rebellion Handbuch, übers. von Ulrike Bischof, Frankfurt am Main: S. Fischer, 2019.

[5]

Bill McKibben: Das Ende der Natur. Die globale Umweltkrise bedroht unser Überleben, übers. von Udo Rennert, München, Zürich: Piper, 1992. McKibben streitet keineswegs ab, dass auch vor den 1990er Jahren eine unberührte Natur nicht existierte. Er hebt indes hervor, selbst eine »Idee« von Natur als einer von menschlichen Eingriffen unabhängigen könne aufgrund des zunehmenden menschlichen Einwirkens nicht mehr als brauchbares konzeptionelles Werkzeug gelten. Eine solche Positionierung passt zu den in jüngerer Zeit populären monistischen Ansätzen, wie sie in Kapitel 4 erörtert werden, obwohl McKibben sich nicht an diesen Debatten beteiligt.

[6]

Paul J. Crutzen, Eugene F. Stoermer: »The ›Anthropocene‹«, in: Global Change Newsletter 41 (Mai), 2000, S. 17–18, hier S. 18. Eugene F. Stoermer sprach bereits in den 1980er Jahren vom »Anthropozän«, verwendete den Ausdruck damals allerdings in einem anderen Sinn. Der russische Geochemiker Vladimir I. Vernadskij entwickelte in den 1920er Jahren das Konzept der »Biosphäre«, um den Einfluss des Menschen auf das biologische Leben im planetarischen Maßstab hervorzuheben, was auch für die aktuelle Diskussion über das Anthropozän von Bedeutung ist; vgl. Vladimir I. Vernadskij: Der Mensch in der Biosphäre. Zur Naturgeschichte der Vernunft [1926], hrsg. von Wolfgang Hofkirchner, übers. von Felix Eder u. Peter Krüger, Frankfurt am Main: Lang, 1997; Will Steffen, Jacques Grinevald, Paul Crutzen, John McNeill: »The Anthropocene. Conceptual and Historical Perspective«, in: Philosophical Transactions of the Royal Society A369 (1938), 2011, S. 842–867, hier S. 844.

[7]

John Bellamy Foster: The Return of Nature. Socialism and Ecology, New York: Monthly Review Press, 2020.

[8]

Hartmut Rosa, Christoph Henning, Arthur Bueno (Hg.): Critical Theory and New Materialisms, London: Routledge, 2021.

[9]

Bruno Latour: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, übers. von Achim Russer u. Bernd Schwibs, Berlin: Suhrkamp, 2017; Jason W. Moore: Kapitalismus im Lebensnetz. Ökologie und die Akkumulation des Kapitals, übers. von Dirk Höfer, Berlin: Matthes & Seitz, 2020.

[10]

Mark Fisher: Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift, übers. von Christian Werthschulte, Peter Scheiffele u. Johannes Springer, Hamburg: VSA, 2013, S. 8; vgl. Fredric Jameson: »An American Utopia«, in: Slavoj Žižek (Hg.): An American Utopia. Dual Power and the Universal Army, London: Verso, 2016, S. 1–96, hier S. 3.

[11]

Slavoj Žižek: Living in the End Times, London: Verso, 2010, S. 334.

[12]

Slavoj Žižek: Pandemie! COVID-19 erschüttert die Welt, übers. von Aaron Zielinski, Wien: Passagen, 2021; Andreas Malm: Klima|x, übers. von David Frühauf, Berlin: Matthes & Seitz, 2020; Foster: The Return of Nature, a.a.O.; Michael Löwy: Ökosozialismus. Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe, übers. von Roland Holst, Hamburg: Laika, 2016.

[13]

Tim Jackson: Wie wollen wir leben? Wege aus dem Wachstumswahn, übers. von Eva Leipprand u. Linda Geßner, München: oekom, 2021.

[14]

Thomas Piketty: Der Sozialismus der Zukunft. Interventionen, übers. von André Hansen, München: C.H. Beck, 2021, S. 10.

[15]

Naomi Klein: Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann, übers. von Gabriele Gockel, Sonja Schuhmacher u. Barbara Steckhan, Hamburg: Hoffmann und Campe, 2019, S. 282; Hervorh. K.S. Für einen »demokratischen Sozialismus« spricht sich Klein ferner in einem Beitrag jüngeren Datums aus, vgl. Naomi Klein: »Democratic Socialism for a Climate-Changed Century«, in: Kate Aronoff, Peter Dreier, Michael Kazin (Hg.): We Own the Future. Democratic Socialism – American Style, New York: The New Press, 2020, S. 78–91. Und auch Thomas Piketty plädiert für einen »partizipativen Sozialismus«, nicht nur im Interesse sozialer Gleichheit, sondern auch aus Gründen der Nachhaltigkeit angesichts des Klimawandels, vgl. Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, übers. von André Hansen, Enrico Heinemann, Stefan Lorenzer, Ursel Schäfer u. Nastasja S. Dresler, München: C.H. Beck, 2022, Kap. 17. Die Befürwortung des »Sozialismus« markiert in beiden Fällen eine deutliche Akzentverlagerung im politischen Grundton nach links.

[16]

Ellen Meiksins Wood: Demokratie contra Kapitalismus. Beiträge zur Erneuerung des historischen Materialismus [1995], übers. von Ingrid Scherf u. Christoph Jünke, Köln/Karlsruhe: ISP, 2010, S. 269.

[17]

John Bellamy Foster, Brett Clark, Richard York: Der ökologische Bruch. Der Krieg des Kapitals gegen den Planeten, übers. von Klaus E. Lehmann, Hamburg: Laika, 2011, S. 51.

[18]

Kohei Saito: Natur gegen Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus, Frankfurt am Main/New York: Campus, 2016.

[19]

Foster, Clark, York: Der ökologische Bruch, a.a.O.; John Bellamy Foster, Paul Burkett: Marx and the Earth. An Anti-Critique, Leiden/Boston: Brill, 2016.

[20]

Brett Clark: »The Indigenous Environmental Movement in the United States. Transcending Borders in Struggles against Mining, Manufacturing and the Capitalist State«, in: Organization and Environment 15 (4), 2002, S. 410–442; Brett Clark, Richard York: »Carbon Metabolism. Global Capitalism, Climate Change and the Biospheric Rift«, in: Theory and Society 34 (4), 2005, S. 391–428; Stefano Longo, Rebecca Clausen, Brett Clark: The Tragedy of the Commodity. Oceans, Fisheries, and Aquaculture, New Brunswick: Rutgers University Press, 2015; Hannah Holleman: Dust Bowls of Empire. Imperialism, Environmental Politics, and the Injustice of Green Capitalism, New Haven: Yale University Press, 2018. Ferner sind Studien aus jüngerer Zeit zu nennen, die mit dem Begriff des metabolischen Bruchs arbeiten: Jason W. Moore: »Environmental Crises and the Metabolic Rift in World-Historical Perspective«, in: Organization and Environment 13 (2), 2000, S. 123–157; ders.: »The Crisis of Feudalism. An Environmental History«, in: Organization and Environment 15 (3), 2002, S. 301–322; Philip Mancus: »Nitrogen Fertilizer Dependency and Its Contradictions. A Theoretical Exploration of Social-Ecological Metabolism«, in: Rural Sociology 72 (2), 2007, S. 269–288; Philip McMichael: »Agro-fuels, Food Security and the Metabolic Rift«, in: Kurswechsel 23 (3), 2008, S. 14–22; Ryan Gunderson: »The Metabolic Rifts of Livestock Agribusiness«, in: Organization and Environment 24 (4), 2011, S. 404–422; Del Weston: The Political Economy of Global Warming. The Terminal Crisis, London: Routledge, 2014.

[21]

Noel Castree: Making Sense of Nature. Representation, Politics and Democracy, London: Routledge, 2013, S. 177.

[22]

Moore: Kapitalismus im Lebensnetz, a.a.O., S. 9 u. passim.

[23]

Frédéric Neyrat: The Unconstructable Earth. An Ecology of Separation, übers. von Drew S. Burk, New York: Fordham University Press, 2019.

[24]

Paul Mason: Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie, übers. von Stephan Gebauer, Berlin: Suhrkamp, 2016; Nick Srnicek, Alex Williams: Die Zukunft erfinden. Postkapitalismus und eine Welt ohne Arbeit, übers. von Thomas Atzert, Berlin: Edition Tiamat, 2016; Aaron Bastani: Fully Automated Luxury Communism. A Manifesto, London: Verso, 2019.

[25]

Louis Althusser: Für Marx [1965], hg. von Frieder Otto Wolf, übers. von Werner Nitsch, Karin Priester, Klaus Riepe, Elin Sanders, Peter Schöttler, Gabriele Sprigath u. Frieder Otto Wolf, Berlin: Suhrkamp, 2011.

Teil IMarx’ in Vergessenheit geratene ökologische Kritik des Kapitalismus

Kapitel 1Marx’ Stoffwechseltheorie in Zeiten der globalen ökologischen Krise[1]

Recht lange Zeit wurde Marx’ Interesse an ökologischen Fragen selbst von seriösen marxistischen Intellektuellen kaum Beachtung geschenkt. Der Marx’sche Sozialismus galt weithin als »prometheische« – protechnologische und antiökologische – Befürwortung der Herrschaft über die Natur. Dieser Eindruck wurde einerseits noch dadurch verstärkt, dass Marxistinnen und Marxisten der Umweltbewegung ablehnend begegneten, da diese sich in ihren Augen per se gegen die Arbeiterklasse richte und nur Ausdruck der Ideologie einer arrivierten Mittelschicht sei. Andererseits bestärkte die Umweltkatastrophe in der UdSSR – wie sie insbesondere im ökologischen Kollaps des Aralsees und in der Reaktorhavarie von Tschernobyl zutage trat – Umweltaktivisten in der Überzeugung, dass der Sozialismus keine nachhaltige Gesellschaft schaffen kann. Letztendlich entwickelte sich daraus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein anhaltender Antagonismus von Rot und Grün.

Im 21. Jahrhundert gerät die Situation in Bewegung. Ganz gleich, wie verheerend der real existierende Sozialismus für die Umwelt war, sein Zusammenbruch und der Triumph des Kapitalismus unter dem Vorzeichen einer neoliberalen Globalisierung trugen in den vergangenen Jahrzehnten nur weiter zur Umweltzerstörung bei. Die Ineffizienz konventioneller marktorientierter Lösungen für ökologische Probleme führte schließlich zu einem erneuten Interesse an heterodoxen Ansätzen, einschließlich der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie.[26] Gleichzeitig eröffneten der Zusammenbruch der UdSSR und der schwindende Einfluss der alten Dogmen des orthodoxen Marxismus »einen intellektuellen Horizont und einen Raum der Reflexion, in dem theoretische und konzeptionelle Fragen diskutiert werden konnten, ohne durch parteipolitische Polemik oder spaltende politische Loyalitäten verschlossen zu sein«, so Göran Therborn.[27] Diese Lage, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Marxismus, führte in den vergangenen beiden Jahrzehnten zur »Wiederentdeckung« der Marx’schen Ökologie (I).

Es war István Mészáros’ Theorie des »gesellschaftlichen Stoffwechsels«, die dieser Wiederentdeckung den Weg ebnete. Durch die Auseinandersetzung mit der Stoffwechseltheorie Mészáros’, die er vor allem in den Büchern Beyond Capital und The Necessity of Social Control entwickelt hat, lässt sich Marx’ ökologische Theorie eines »metabolischen Bruchs«, eines »Risses im Stoffwechsel« solider auf ihre Grundlegung in der Kritik der politischen Ökonomie beziehen (II). Eine solche Klärung hilft, drei verschiedene Dimensionen des Risses im Stoffwechsel in Marx’ Kapital zu unterscheiden (III). Dementsprechend gibt es drei Dimensionen der Auslagerung oder Externalisierung jenes Risses, die das Kapital so elastisch und resilient gegenüber ökonomischen und ökologischen Krisen erscheinen lassen. Freilich lösen solche Auslagerungen niemals die tiefen Widersprüche kapitalistischer Akkumulation. Im Gegenteil, sie münden nur in neue Krisen und verschärfen die Widersprüche auf höherer Stufenleiter (IV). Genau dies problematisiert Rosa Luxemburg in ihrer 1913 erschienenen Schrift Die Akkumulation des Kapitals, in der sie den Marx’schen Begriff des Stoffwechsels auf die Analyse des ungleichen Tauschs im Kapitalismus im globalen Maßstab anwendet.[28] Trotz ihrer Absicht, mit dem Rekurs auf den Begriff Marx zu kritisieren, ist ihr Ansatz tatsächlich mit dem Marx’schen Verständnis des metabolischen Bruchs vereinbar. Ihre Kritik ist diskussionswürdig, zeigt sie doch, wie bereits im beginnenden 20. Jahrhundert eine problematische Rezeption der Marx’-schen Stoffwechseltheorie einsetzte, die später dazu führte, dass ihr keine Beachtung geschenkt wurde (V).

IDie Verdrängung der Marx’schen Idee des Ökosozialismus

Seit den 1970er Jahren wurde Marx wiederholt eine naive »prometheische Haltung«[29] vorgeworfen: »Marx’ Sicht auf die Welt behielt immer diesen prometheischen Zug, der die menschliche Eroberung der Natur verherrlicht.«[30] Auch selbsterklärte Marxisten räumten diesen Makel ein. Leszek Kołakowski etwa stellt fest, »ein typisches Merkmal von Marx’ Prometheanismus ist sein mangelndes Interesse am Natürlichen«.[31] Marx’ Kritikern zufolge ignoriere dessen produktivistische Sichtweise das Problem natürlicher Grenzen; stattdessen preise er naiv die freie Verfügung über die Natur: Marx stehe »dem industriellen System der Technologie und dem Projekt menschlicher Naturbeherrschung weitgehend unkritisch gegenüber«.[32] Problematisiert wurde die dem Marx’schen »historischen Materialismus« innewohnende optimistische Annahme, die Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus werde ausreichen, der menschlichen Emanzipation eine materielle Grundlage zu schaffen. Aufgrund der im real existierenden Sozialismus eingetretenen Umweltzerstörung sahen sich Umweltschützer legitimiert, eine solche »›produktivistische‹, ›prometheische‹ Geschichtsauffassung« als völlig inakzeptabel anzuprangern.[33] Der Zusammenbruch der UdSSR schließlich verstärkte die kritischen Stimmen gegen die nichtökologische Sichtweise von Marx nur noch.[34]

Selbst heute ist das Bild von Marx’ Produktivismus weit verbreitet. Fredric Jameson verweist darauf und spricht von »Marx’ eigener leidenschaftlicher Bindung an eine technologische Zukunft ohne Wenn und Aber«.[35] Während Jameson eine solche Bindung eher gutheißt, kritisiert Axel Honneth die Beschränkung des Marxismus, insofern eine der ihm inhärenten Ideen »eine Spielart des technologischen Determinismus« sei, der einen linearen Fortschritt der Produktivkräfte im Dienste der »Naturbeherrschung« unterstelle.[36] So gesehen war es unvermeidlich, dass im Marxismus die Frage der Ökologie marginalisiert wurde. Marx’ Denken sei es, so Nancy Fraser, »nicht gelungen, systematisch Gender, Ökologie und politische Macht als strukturierende Prinzipien und Achsen der Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften einzubeziehen – geschweige denn als Einsätze und Voraussetzungen sozialer Kämpfe«.[37] Noch deutlicher formuliert es Sven-Eric Liedman, der zu dem Schluss kommt, Marx sei kein »ökologisch bewusster Mensch im modernen Sinne« gewesen.[38]

Glücklicherweise ist das nicht die ganze Geschichte. Ganz im Gegenteil ist es keineswegs übertrieben festzustellen, dass eine der wichtigsten Entwicklungen in der Marxforschung nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in Osteuropa die »Wiederentdeckung« von Marx’ ökologischer Kapitalismuskritik ist, initiiert von Paul Burkett und John Bellamy Foster in der Monthly Review sowie von James O’Connor, Joel Kovel und Michael Löwy in Capitalism Nature Socialism.[39] Ungeachtet mancher Spannungen zwischen beiden Zeitschriften aufgrund theoretischer Differenzen, die sich um den Begriff des metabolischen Bruchs respektive die These des »zweiten Widerspruchs des Kapitalismus« drehen, haben beide kritischen Projekte überzeugend dargelegt, dass ein marxistischer Ansatz nützlich ist, um die ökologische Krise als Manifestation systemischer Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zu verstehen.[40]

Insbesondere Foster und Burkett zeigen deutlich, dass Marx ein »ökologisch bewusster Mensch im modernen Sinne« war. Durch eingehende Untersuchung der Marx’schen Forschung auf naturwissenschaftlichem Gebiet – und insbesondere durch eine detaillierte Auseinandersetzung mit Marx’ Rezeption der These vom systematischen Raubbau in der Landwirtschaft in Justus von LiebigsAgriculturchemie aus dem Jahr 1862 – haben Foster und Burkett die Bedeutung von Marx’ Theorie des Stoffwechsels herausgestellt.[41] Auf der Grundlage dieses Stoffwechselbegriffs erläutert Foster, dass Marx nicht nur die metabolischen Brüche im Kapitalismus als unvermeidliche Folge einer verhängnisvollen Verzerrung im Verhältnis von Mensch und Natur betrachtete, sondern auch die Notwendigkeit einer qualitativen Umwälzung der gesellschaftlichen Produktion hervorhob, um die tiefe Kluft im allgemeinen Stoffwechsel der Natur zu überwinden.[42] Insofern Ökologie sich als integraler Bestandteil von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie erweist, erfährt seine Vision einer postkapitalistischen Gesellschaft eine Neuinterpretation als »Ökosozialismus«.[43] Schon bald wurde »Stoffwechsel« als, so Marina Fischer-Kowalski, »neuer Stern am Begriffshimmel« angesehen, da er die Hoffnung weckte, die neue Idee des Ökosozialismus könnte das lange Zeit antagonistische Verhältnis von Rot und Grün überwinden.[44]

Im Rückblick erscheint heute zumindest die Existenz von Marx’ Ökologie – ihre Brauchbarkeit und wissenschaftliche Geltung vorerst außer Acht gelassen – so offensichtlich, dass sich fragen lässt, warum sie so lange unbeachtet blieb. An dieser Stelle sei auf einen Grund hingewiesen.[45] Die Nichtbeachtung von Marx’ Ökologie hat mit dem unvollendeten Charakter seiner Kritik der politischen Ökonomie zu tun. Bekanntlich hat Marx den zweiten und den dritten Band des Kapitals zu Lebzeiten nicht publizieren können. Nach Marx’ Tod wurden sie von Engels auf der Grundlage verschiedener Manuskripte, die zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben worden waren, bearbeitet und 1885 respektive 1894 veröffentlicht. Ungeachtet dessen betrachteten Marxistinnen und Marxisten Engels’ Ausgabe des Kapitals ganz selbstverständlich als endgültige Fassung, die tatsächlich Marx’ Sichtweise widerspiegele. Übersehen wurde dabei, dass Marx sich vor allem in seinen späten Jahren intensiv mit den Naturwissenschaften beschäftigte und eine große Anzahl von Notizbüchern mit einer Reihe von Exzerpten und Kommentaren hinterließ, die sich Umweltaspekten widmeten. Diese neuen Forschungen begann Marx zwar nach der Veröffentlichung des ersten Bandes des Kapitals, doch publizierte er nach 1868 kaum noch und konnte die Ergebnisse der neuen Studien nirgendwo weiter ausarbeiten. Die ökologischen Erkenntnisse von Marx sind daher lediglich in diesen Notizbüchern zu finden, die bis zu ihrer jüngsten Veröffentlichung weitgehend unbeachtet im Archiv blieben und im Verlauf des gesamten 20. Jahrhunderts nicht publiziert wurden.[46]

In der Tat waren nur wenige Wissenschaftler daran interessiert, diese Notizbücher zu studieren. David Rjazanov, der in den 1920er Jahren das Marx-Engels-Institut in Moskau gegründet hatte und leitender Herausgeber der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA1) war, äußerte sich negativ über Marx’ in späten Jahren erfolgte Beschäftigung mit den Naturwissenschaften; die Bedeutung der Notizbücher für das Verständnis von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie wies er daher zurück:

Wenn er [Marx] um das Jahr 1881–82 seine selbständige geistige Schaffenskraft zum Teil auch eingebüßt hatte, so hat er doch die Fähigkeit zur Forschung nie verloren. Man muß sich bisweilen bei der Durchsicht dieser Hefte die Frage vorlegen, wozu er denn so viel Zeit für seine systematischen, gründlichen Auszüge verschwendete. Denn sich mit 63 Jahren die Mühe zu geben, eine größere geologische Arbeit abschnittsweise auszuziehen, ist eine unverzeihliche Pedanterie.[47]

Eine solche ablehnende Haltung gegenüber dem späten Marx trug nicht gerade wenig dazu bei, Marx’ Interesse an ökologischen Fragen weithin zu vernachlässigen. Manche prominente Ökosozialisten argumentieren daher, die Marx’sche Ökologie »extrapoliert das Ökologische bei Marx aus kurzen und vagen Exkursen in Texten, die sich mit anderen Gegenständen als ökologischen Dynamiken befassen«.[48] In der neuen Ausgabe der Werke von Marx und Engels, der »zweiten« Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2) finden sich jedoch jene neuen Materialien veröffentlicht, die dokumentieren, wie Marx in seinen späteren Jahren seine ökologische Kapitalismuskritik entwickelte.[49] Die MEGA untermauert die Behauptung einer Gruppe von Ökomarxisten, zu denen auch ich gehöre, dass die Marx’sche Stoffwechseltheorie die tragende Säule seiner ökosozialistischen Kapitalismuskritik ist.

IIDie Wiederentdeckung der Marx’schen Ökologie

Einen erheblichen Anteil an einem angemessenen Verständnis des Marx’schen Stoffwechselbegriffs als Grundlage der Kritik der politischen Ökonomie hat retrospektiv betrachtet der ungarische Marxist István Mészáros. So ist es kein Zufall, dass Mészáros bereits in den 1970er Jahren Umweltthemen im Kapitalismus diskutierte. Die Herausstellung der Marx’schen Ökologie in der Studie BeyondCapital (1995) schließlich kann als Höhepunkt der langjährigen Auseinandersetzung Mészáros’ mit dem Stoffwechselbegriff von Marx gelten.[50]

Seine Vorlesung zur Verleihung des Deutscher Memorial Prize im Jahr 1971 begann Mészáros mit einer Erinnerung an Isaac Deutschers Warnung vor Gefahren wie einem Atomkrieg, die »unsere biologische Existenz bedrohen«.[51] Diesen Mahnruf Deutschers dehnte Mészáros auf eine andere zeitgenössische, für die »gesamte Menschheit« existenzielle Krise aus, nämlich die Umweltzerstörung unter dem Kapitalismus. Eine solche Feststellung war weitsichtig, und Mészáros traf sie sogar noch vor der Veröffentlichung des Berichts Die Grenzen des Wachstums durch den Club of Rome im Jahr 1972. Den ökologisch zerstörerischen Charakter der kapitalistischen Entwicklung formuliert er als »Grundwiderspruch« des Kapitalismus:

[Der] Grundwiderspruch des kapitalistischen Systems der Kontrolle besteht darin, dass es weder »Entwicklung« von Zerstörung noch »Fortschritt« von Verschwendung zu trennen vermag – wie katastrophal die Folgen auch sind. Je mehr Kräfte der Produktivität es freisetzt, desto mehr Kräfte der Zerstörung muss es entfesseln; und je mehr es den Umfang der Produktion ausweitet, desto mehr muss es alles unter Bergen alles erstickenden Abfalls begraben.[52]

Mészáros grenzt sich an dieser Stelle entschieden vom orthodoxen Marxismus seiner Zeit ab, den auszeichnete, dass er die Entwicklung der Produktivkräfte unter dem Kapitalismus auf naive Weise als Motor des Fortschritts in der Menschheitsgeschichte begrüßte. Mészáros hingegen warnt, das verschwenderische und zerstörerische System der Produktion um einer endlosen Kapitalakkumulation willen werde nicht zur Emanzipation des Menschen führen, sondern auf lange Sicht unweigerlich die materiellen Bedingungen für das Prosperieren der Gesellschaft untergraben.

Da die Erde endlich ist, liegt es auf der Hand, dass der Kapitalakkumulation absolute biophysikalische Grenzen gesetzt sind.[53] Trotz des Wissens um diesen Umstand ist das Kapital nicht in der Lage, sich selbst zu beschränken. Im Gegenteil, ständig versucht es, jene Grenzen zu überwinden, und steigert damit nur die eigene Destruktivität Gesellschaft und Natur gegenüber. Hieraus erwächst für Mészáros die »Notwendigkeit gesellschaftlicher Kontrolle«, um im Interesse des menschlichen Überlebens und der Erhaltung der natürlichen Umwelt den verschwenderischen und zerstörerischen Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung ein Ende zu bereiten. Eine solche gesellschaftliche Planung der Produktion ist jedoch mit der grundlegenden Logik kapitalistischer Produktion unvereinbar. Mészáros fordert daher eine qualitativ anders geartete Organisation der gesellschaftlichen Produktion durch die frei assoziierten Produzenten.

Fünfzehn Jahre später formuliert Mészáros in seinem Buch Philosophy, Ideology and Social Science dieses Problem der zunehmenden Schädigung und Zerstörung der Natur durch das Kapital zum ersten Mal mit Hilfe des Stoffwechselbegriffs und unterstreicht dessen Bedeutung »für jede ernsthafte Theorie der Ökologie«.[54] Das eigentliche Problem liegt seiner Ansicht nach letztlich darin, dass »das Kapital notwendigerweise nicht in der Lage ist, eine wirkliche Unterscheidung zwischen dem problemlos Transzendierbaren und dem Absoluten zu treffen, da es – ungeachtet der Konsequenzen – seine eigenen, historisch besonderen Erfordernisse als absolute setzen muss, während es dem blinden Diktat des selbst-expandierenden Tauschwerts folgt«.[55] Insofern das Kapital historische Notwendigkeit mit »Naturnotwendigkeit« verwechselt, kann es die wahre Bedeutung einer solchen Naturnotwendigkeit nicht erkennen, die durch die elementaren Erfordernisse der Produktion bestimmt ist, welche wiederum durch den allgemeinen Stoffwechsel der Natur begrenzt sind. Das Kapital verhält sich stattdessen so, als wären selbst diese absoluten natürlichen Grenzen transzendierbar – und mögen einige auch tatsächlich mit Hilfe von Wissenschaft und Technik transzendierbar sein, so doch ganz offensichtlich nicht alle –, und zielt darauf ab, sie sich im Namen der weiteren Verwertung des Werts zu unterwerfen, was zur »zunehmenden Schädigung und schließlich Zerstörung der Natur« führt.[56] Da das Kapital keine absoluten Grenzen anerkennen kann, ist die »bewusste Anerkennung der bestehenden Schranken« als Bedingung der allgemeinen Entwicklung des Individuums ein revolutionärer Akt. Diese antiprometheanische Einsicht in die Grenzen des Wachstums markiert einen wichtigen Schritt zur Verbindung von Umweltbewegung und Sozialismus.

Mit BeyondCapital schließlich verändert Mészáros die gesamte diskursive Konstellation rund um die Marx’sche Ökologie, indem er den Stoffwechselbegriff viel systematischer ausarbeitet.[57] Den Fokus legt er dabei auf Marx’ Begriff des »gesellschaftlichen Stoffwechsels«, um die kapitalistische Produktionsweise als historisch einzigartige und in ihrem Ausmaß beispiellose Art der (Re-)Organisation des übergeschichtlichen Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur zu analysieren. Bewusst hebt er diesen Begriff hervor und formuliert damit eine Antithese gegen die enge Fokussierung des traditionellen Marxismus auf die Mehrwerttheorie als »Enthüllung« über die Ausbeutung der Arbeiterklasse im Kapitalismus. Mészáros’ Absicht ist es, die theoretische Reichweite der Kritik am Kapitalismus zu erweitern und über die Fabrik hinaus zu treiben. Tatsächlich ist für Marx gesellschaftlicher Stoffwechsel als Prozess durch einen Fluss von Waren und Geld charakterisiert: »Das Produkt einer nützlichen Arbeitsweise ersetzt das der andren.« (Kapital I, 119). Anknüpfend an diese Feststellung plädiert Mészáros für einen viel umfassenderen und integraleren Ansatz im Hinblick auf die historische Dynamik der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion im Kapitalismus.

Nun ist der Begriff des Stoffwechsels für Marx im Kapital von ganz grundlegender Bedeutung, obgleich seine Tragweite immer noch häufig unterschätzt wird. So definiert Marx »Arbeit«, die grundlegendste Kategorie des Marxismus, in Bezug auf den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert« (Kapital I, 192). Dieser Stoffwechselprozess ist zunächst ein natürlich-ökologischer Prozess, der allen historischen Epochen gemeinsam ist, weil Menschen nicht leben können, ohne die Natur durch ihre eigene Tätigkeit zu bearbeiten: Der Arbeitsprozess ist, so Marx, »allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam« (Kapital I, 198). Diesem »allgemeinen Stoffwechsel der Natur« (MEW43, 59) kann sich der Mensch niemals entziehen. Das bedeutet zugleich, dass Menschen niemals ex nihilo produzieren können, sondern stets nur ex materia. Nahrung, Kleidung, Wohnung und selbst die meisten der High-Tech-Güter, durch die heute die Wirtschaft »dematerialisiert« wird, erfordern Energie und natürliche Ressourcen, und zwar ausnahmslos. In diesem Sinne ist der Stoffwechsel des Menschen mit der Natur eine »Naturnotwendigkeit«, die niemals auszusetzen ist. Deshalb schreibt Marx, die Arbeit wirke auf »ein materielles Substrat«, das ohne menschliches Zutun existiere, und menschliche Arbeit könne »nur die Formen der Stoffe ändern« (Kapital I, 57).[58]

Darüber hinaus ist der Mensch von der Natur abhängig. Sowohl die Arbeit als auch die Natur spielen, wie Marx hervorhebt, im Arbeitsprozess eine wesentliche Rolle: »Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter« (Kapital I, 58).[59] Menschen können die Natur bearbeiten, nutzen und zerstören, doch ihre Aktivitäten sind durch Naturgesetze und diverse biophysikalische Mechanismen des allgemeinen Stoffwechsels der Natur beschränkt. Nach Mészáros stellt diese ständige Interaktion die »primäre« Ebene des allgemeinen Stoffwechselprozesses zwischen Mensch und Natur dar, »ohne den die Menschheit selbst in der idealsten Gesellschaftsform nicht überleben könnte«.[60]

Auf einer konkreteren Ebene unterscheiden sich die genauen Modalitäten, wie Menschen den Stoffwechsel mit ihrer Umwelt vollziehen, erheblich, je nach den gegebenen objektiven natürlichen Bedingungen wie Klima, Standort, Verfügbarkeit und Zugänglichkeit von Ressourcen und Energie. Diese Dimensionen der elementaren Ebene des Stoffwechsels haben mit dem natürlichen Substrat zu tun, das als »historisches Absolutum« als solches bestehen bleibt: »Denn wie sehr dieses natürliche Substrat auch durch die fortschreitende Entwicklung der menschlichen Produktivität im Zuge der historischen Herausbildung ›neuer Bedürfnisse‹ und der entsprechenden Erweiterung der Bedingungen zu ihrer Befriedigung modifiziert werden kann (und tatsächlich muss), so bleibt es doch letztlich immer fest von der Natur selbst umschrieben.«[61] Ähnlich argumentiert Kate Soper und verweist auf »jene materiellen Strukturen und Prozesse, die unabhängig von menschlicher Aktivität sind (in dem Sinne, dass sie kein vom Menschen geschaffenes Produkt sind), und deren Kräfte und kausale Mächte die notwendigen Bedingungen jeder menschlichen Praxis sind und die möglichen Formen bestimmen, die diese annehmen kann«.[62] Die objektive Existenz der Natur unabhängig vom Menschen kennzeichnet die Grundeinsicht des Materialismus.

Menschen sind jedoch durch die gegebene Umwelt nicht einfach nur eingeschränkt. Sie sind in der Lage, ihre Interaktion mit ihr zu reflektieren. Sie können Werkzeuge entwickeln, um effizienter zu produzieren, sie können die Qualität von Produkten verbessern, neue Materialien entdecken und sogar völlig neue Gegenstände erfinden, ganz nach ihren Bedürfnissen. Das ist im Vergleich zu anderen Lebewesen der einzigartige Charakter menschlicher Arbeit. Während sich die Produktivkräfte auf diese Weise historisch entwickeln, verändern sich auch die objektiven Bedingungen der Produktion im Laufe der Menschheitsgeschichte stark. Dessen ungeachtet bleibt jene grundlegende materielle Bedingung durchweg bestehen und lässt sich auch nicht beseitigen. Die Formbarkeit der Natur negiert nicht ihre Eigenschaft als natürliches Substrat der Arbeit. Wenn der Mensch dieses natürliche Substrat ignoriert, führt diese Verletzung der Naturgesetze zu einer Vielzahl ökologischer Widersprüche wie Umweltverschmutzung, Ressourcenknappheit und -erschöpfung.

Gleichzeitig warnt Marx davor, eine solch allgemeine Beschreibung des Arbeitsprozesses könne in die banale Feststellung münden, der Mensch sei ein Teil der Natur und müsse mit dieser leben. Während der unaufhörliche Stoffwechsel eine transhistorische Überlebensbedingung sei, die so lange gelte, wie Menschen auf der Erde lebten und arbeiteten, verkomme, wie Marx hervorhebt, die Art und Weise, wie »die allgemeinen Bedingungen aller Produktion abgehandelt werden«, zu »flachen Tautologien«, die »nichts […] als die wesentlichen Momente aller Produktion angeben« (Grundrisse, 22). Das Besondere der ökonomischen Analyse von Marx ist indes die Erkenntnis, dass Arbeit immer unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen verrichtet wird. Mészáros fasst diesen Punkt als Notwendigkeit sozialer Vermittlung des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur zusammen: »Es gibt kein Entrinnen vor dem Imperativ, grundlegende strukturelle Beziehungen zu etablieren, durch die sich die lebenswichtigen Funktionen der primären Vermittlung aufrechterhalten lassen, damit die Menschheit zu überleben vermag.«[63] Aus diesem Imperativ entsteht im Verlauf der Menschheitsgeschichte eine gesellschaftliche Gliederung, vermittelt durch Kommunikation, Kooperation, Normen, Institutionen und Recht. Der Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur ist unter diesem Blickwinkel gleichzeitig ein gesellschaftlich-geschichtlicher Prozess, dessen konkrete Form je nach den strukturellen Beziehungen, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten existieren, erheblich variiert. Sie bilden das, was Mészáros als »Vermittlungen zweiter Ordnung historisch besonderer Systeme der gesellschaftlichen Reproduktion« anspricht.[64]

Die historische Besonderheit dieser Vermittlungen zweiter Ordnung im Kapitalismus wird unmittelbar deutlich, wenn wir sie mit denen in nichtkapitalistischen Gesellschaften vergleichen. Marx stellt die neuzeitliche kapitalistische Produktion derjenigen der antiken Gesellschaft gegenüber:

Der Reichtum erscheint [in der Antike] nicht als Zweck der Produktion […]. Die Untersuchung ist immer, welche Weise des Eigentums die besten Staatsbürger schafft. […] So erscheint die alte Anschauung, wo der Mensch, in welcher bornierten nationalen, religiösen, politischen Bestimmung auch immer als Zweck der Produktion erscheint, sehr erhaben zu sein gegen die moderne Welt, wo die Produktion als Zweck des Menschen und der Reichtum als Zweck der Produktion erscheint. (Grundrisse, 395)

Das vorrangige Ziel der kapitalistischen Produktion ist vor allem anderen die Verwertung des Kapitals. Der Kapitalismus ist von der unstillbaren Gier nach Profit getrieben und steigert die Produktionsleistung ständig. In vorkapitalistischen Gesellschaften