T wie Testosteron - Carole K. Hooven - E-Book

T wie Testosteron E-Book

Carole K. Hooven

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Beschreibung

Erst wenn wir alles über das Testosteron wissen, können wir uns selbst und einander besser verstehen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Testosteron eine potente Kraft in unserer Gesellschaft ist, die die Geschlechter voneinander unterscheidet. Wie die Evolutionsbiologin Carole Hooven zeigt, sorgt das Hormon für viele verschiedene  männliche und weibliche Verhaltensweisen. Aber auch wenn viele Geschlechtsunterschiede in der Biologie begründet sind, lassen sich davon nicht zwingend restriktive Geschlechternormen oder patriarchalischen Werte ableiten. Hooven beschreibt das komplexe Zusammenspiel zwischen Genen, Hormonen, sozialem Umfeld und Erfahrungen, das uns zu dem macht, was wir sind. Dabei deckt Hooven wirkungsvoll falsche oder irreführende Annahmen über Testosteron auf. Ein unverzichtbares und höchst informatives Buch für eine gerechtere und harmonischere Gesellschaft.

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Das Buch

Testosteron ist ein wichtiger, unsichtbarer Akteur bei der Partnerschaft, beim Sex, Sport, bei der Rollenverteilung als Eltern, bei Gewaltverbrechen und vielem mehr. Die Vorstellung, dass Testosteron tatsächlich zu Geschlechtsunterschieden beiträgt und das Verhalten maßgeblich beeinflusst, stößt jedoch immer noch auf viel Widerstand. Die Evolutionsbiologin Carole K. Hooven belegt, dass die Anerkennung von Testosteron als einflussreiche Kraft in der Gesellschaft nicht zu Einschränkungen führt, sondern eine enorme Vielfalt an menschlichem Verhalten hervorbringt. Letztendlich geht es darum, wie wir Vorurteile und problematisches Verhalten bekämpfen, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen.

Die Autorin

Dr. CAROLE K. HOOVEN ist Dozentin und Co-Direktorin der Abteilung für menschliche Evolutionsbiologie an der Harvard University. Sie promovierte in Harvard über Geschlechtsunterschiede und Testosteron und lehrt dort seither. Für ihre beliebten Kurse erhielt sie bereits zahlreiche Auszeichnungen.

Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel

Ullstein

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel T – The Story of the Hormone that Dominates, Divides, and Drives us

Published by arrangement with Henry Holt R and R are registered trademarks of Macmillan Publishing Group, LLC.

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ISBN 978-3-8437-2713-6

© 2022 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2021 by Carole Hooven

Illustrations copyright © 2021 by Felix Byrne

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, nach einer Vorlage von Octopus Publishing Group

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
KAPITEL 1: Es geht los
KAPITEL 2: Innere Ausscheidungen
KAPITEL 3: Man nehme T oder Wie Jungen entstehen
KAPITEL 4: T im Gehirn
KAPITEL 5: Wie man sich einen Vorsprung verschafft
KAPITEL 6: Geweihe und Gewalt
KAPITEL 7: Gewalttätige Männer
KAPITEL 8: Die Sache kommt ins Rollen
KAPITEL 9: T im Übergang
KAPITEL 10: Zeit für T
Anmerkungen
Danksagungen
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

FÜR GRIFFIN

KAPITEL 1

Es geht los

SCHIMPANSENDASEIN

Hätten wir nicht unter den Schlafstellen der Schimpansen gestanden, als sie aufwachten, wäre uns der Schlüssel zu ihrem Testosteronspiegel entwischt: der Urin. Also bereitete ich mich in den acht Monaten fast jeden Tag, den ich bei den Schimpansen verbrachte, schon vor dem Morgengrauen auf einen Spaziergang im Dschungel vor.

Die Evolution hat ein intelligentes System konstruiert: Es motiviert uns, unseren Tag mit den Nutzeffekten von Licht und Wärme zu beginnen, die von der Sonne abgegeben werden. Wie alle tagaktiven Lebewesen bringen wir unseren Schlaf-Wach-Zyklus mit der 24-stündigen Drehung unseres Planeten um seine Achse in Einklang. Wenn die Lichtrezeptorzellen in unserer Netzhaut die Morgensonne wahrnehmen, wird die Information an die Zirbeldrüse weitergegeben, ein winziges, wie ein Tannenzapfen geformtes Organ, das tief im Zentrum unseres Gehirns liegt. Die Drüse vermindert daraufhin die Produktion des sogenannten Schlafhormons Melatonin und veranlasst uns damit zu einem bestimmten Verhalten: Wir wachen auf.1

Jedenfalls hat es so funktioniert, bevor wir Menschen uns an künstliches Licht gewöhnt hatten. Schimpansen halten an dem alten Zeitplan fest, und so musste ich mich aus dem Bett quälen, während mein Melatoninspiegel noch hoch war. Ich bekämpfte meinen angeschlagenen Zustand mit einer Dosis Koffein, die ich in Form von Kaffee zu mir nahm – und den machte ich mir mit Regenwasser auf dem Propangasherd unserer Freilandstation.

Ausgestattet mit Gummistiefeln zum Schutz vor Unannehmlichkeiten wie Treiberameisen, Schlammlöchern und schwarzen Mambaschlangen, außerdem mit einer Taschenlampe und einer 30 Zentimeter langen Machete gegen das Gestrüpp machte ich mich auf den Weg zu meinen ugandischen Freilandassistenten. Es war ein ganz gewöhnlicher Schimpansen-Forschungstag: Wir trotteten den Menschenaffen im Wald von Kibale im Westen Ugandas hinterher und machten uns Notizen über ihr Leben und ihre Verhaltensweisen.

Nach rund einstündiger Wanderung blieb ich auf dem Waldboden unter einem der Bäume, auf denen die Schimpansen am Vorabend hoch oben ihre Nester zum Schlafen gebaut hatten, stehen. Ich konzentrierte mich, die drastische Wandlung des nächtlichen Waldes in allen Einzelheiten in mich aufzunehmen. Das permanente Summen der kreisenden Insekten ging in der wachsenden Kakofonie der Rufe von Vögeln und Affen unter. Sonnenstrahlen schnitten durchs Unterholz und machten Tautropfen zu goldenen Perlen, die an dem grünen Blattwerk hingen. Insbesondere wartete ich auf ein bestimmtes Geräusch: das Rascheln von oben, die ersten Regungen der aufwachenden Schimpansen. Das war das Signal, mich bereitzuhalten.

Was das erste Bedürfnis am Morgen angeht, unterscheiden sich Schimpansen nicht sonderlich von anderen Affen: Sie müssen mal! Aber während wir aus dem Bett stolpern und die Richtung zum Bad (oder zur Außentoilette oder einer Grube) einschlagen, strecken Schimpansen einfach das Hinterteil über den Rand ihres Nestes. Ich gab mir alle Mühe (was nicht immer reichte), mich weit genug entfernt aufzustellen und mich vor dem Urin zu schützen, der aus ungefähr zehn Metern Höhe durch die Blätter regnete, und doch so weit in der Nähe zu bleiben, dass ich etwas davon auffangen konnte. Zu diesem Zweck benutzte ich einen langen Stock mit gegabeltem Ende, über das ich eine Plastiktüte gezogen hatte.2

Auf diese Weise konnte ich einen kleinen Beitrag zu den Kenntnissen über Verhalten und Physiologie leisten, die Forschende im Rahmen des Kibale Chimpanzee Project sammelten. Mit diesem Schatz an Informationen können neue Aufschlüsse über den Ursprung einer Vielzahl von Verhaltensweisen gewonnen werden. Besonders interessierten wir uns aber für Sexualität, Aggression und Dominanz, drei Aspekte, die von dem Gegenstand dieses Buches beeinflusst werden: vom Testosteron oder T, wie Insider es nennen. Menschliche Versuchspersonen können wir einfach bitten, in ein Röhrchen zu spucken. Wilde Schimpansen sind weniger kooperativ, also messen wir das Testosteron stattdessen in ihrem Urin (und in ihren Exkrementen).

Sorgfältig pipettierte ich das wenige, was ich an Urin mit der Plastiktüte aufgefangen hatte, in Reagenzgläser und trug sie zu unserer Freilandstation, von wo sie später in das endokrinologische Labor der Harvard University transportiert wurden. Nachdem die Schimpansen einige Minuten mit den Blättern geraschelt und sich erleichtert hatten, kletterten sie an den Baumstämmen hinunter und begannen, die Freilandassistenten und mich im Schlepptau, ihr Tagewerk.

EIN RAUFBOLD VERTEILT PRÜGEL

Schimpansen leben in »Gemeinschaften«, die in der Regel aus rund 50 Tieren bestehen. Eine solche Gemeinschaft ähnelt in mancherlei Hinsicht einer Gruppe von Menschen in einer kleinen Ortschaft: Die Grenzen sind klar gezogen und werden verteidigt, zu Nachbarorten bestehen feindselige Beziehungen. In dieser Schimpansenstadt – sie hieß Kanyawara – war Imoso das Alphatier und damit gewissermaßen der Bürgermeister. Es war nur eine von mehreren derartigen Gemeinschaften, die sich über den riesigen Wald in der Nähe der Grenze zur Demokratischen Republik Kongo verteilten. Imoso war temperamentvoll und herrschsüchtig, ein Anführer, eher gefürchtet als gemocht. Jeden Tag versammelten sich »Parteien«, kleinere Schimpansengruppen aus der Gemeinschaft, und verbrachten den Tag zusammen. Ich blieb einer solchen Gruppe auf den Fersen. Wenn Imoso dazugehörte, konnte ich mit viel Knurren rechnen, mit Geschrei und Geheul, Drohungen, Ohrfeigen, Stöcken, die herumgezerrt und geworfen wurden, und Getrommel auf der Brust. Es gab eine sichere Methode, um die Sache noch spannender zu machen: ein fruchtbares Weibchen zu der Mischung geben. Dann gab es viel Sex und noch mehr Aggression, weil die Männchen um das Recht stritten, sich mit ihr zu paaren.

Andere Tage waren weniger durch solche dramatischen Episoden gekennzeichnet als vielmehr durch das Auf und Ab von Nahrungssuche und Spiel. Die Jungen schmusten und knuddelten, wurden gefüttert, stolperten herum und liefen Geschwistern oder Gefährten nach, oder sie hockten wie kleine Könige auf dem Rücken der Mutter, die sie von einer Futterstelle zur nächsten trug. So verhielt es sich normalerweise, wenn ich Gruppen ohne ausgewachsene Männchen beobachtete.

An einem Tag im Januar wirkte Imoso ruhiger als sonst. Und an diesem Tag traf er die ungewöhnliche Entscheidung, sich nur mit einem Weibchen und ihren beiden Jungen herumzutreiben. Ich lehnte mich an einen großen Feigenbaum und betrachtete die friedliche Szene. Outamba saß hinter Imoso auf einer Lichtung auf einem umgestürzten Baum. Geschickt durchsuchte sie seine dichten dunklen Haare, trennte sie, drückte sie platt, untersuchte jeden Abschnitt nach Schmutz oder Parasiten, entfernte energisch, was sie gefunden hatte, und steckte sich die Leckerbissen in den Mund. Das Baby Kilimi und ihre ältere Schwester Tenkere tollten in der heißen Mittagssonne der Äquatorregion auf einer Wiese inmitten vieler Vögel und Insektenschwärme herum.

Plötzlich rissen mich ohrenbetäubende Schreie von Outamba aus meinem beschaulichen Zustand und ließen mein Herz rasen. Ich richtete mich auf. Imoso sprang hoch, stellte sich auf den Baumstamm und fing an, Outamba mit Fäusten zu schlagen. Gleichzeitig versetzte er ihr Tritte. Sie taumelte zu Boden, und die winzige Kilimi verkroch sich schnell in ihre Arme. Outamba kauerte sich in schützender Umarmung über ihre Tochter, sodass ihr Rücken Imosos Angriffen ausgesetzt war. Ich bemühte mich, alle Ereignisse genau festzuhalten – wer tat wem was an und wie lange? (Zum Glück hatte ich John Bargoza bei mir, einen erfahrenen Freilandassistenten aus dem Projekt, und der informierte mich anschließend über alles, was ich übersehen hatte.) Nachdem ich während einiger brutaler Minuten bereits längere und heftigere Schläge gesehen hatte als je zuvor, griff Imoso nach einem großen Stock und fing an, damit auf Outambas Kopf und Rücken einzudreschen. Tenkere, die erst drei Jahre alt und nicht mehr als 60 Zentimeter groß war, rannte um Imoso herum und schlug mit ihren kraftlosen kleinen Fäusten auf ihn ein, während der Riese ihre Mutter verprügelte. Aber Tritte und Schläge mit Fäusten und Stöcken reichten nicht – Imoso wurde noch kreativer: Er hängte sich an einen Ast, sodass er die Füße frei hatte und damit auf sie eintrampeln und mit noch größerer Kraft treten konnte. Neun erstaunliche Minuten später war es vorüber.

Nach der Prügelei blutete Outamba aus der zarten, unbehaarten Haut ihres Hinterteils, aber zumindest ihre Kinder waren unversehrt, und sie konnte sich mit ihnen davonschleichen.

Ich wusste zwar, dass andere Forschende schon brutalere und sogar mörderische Angriffe beobachtet hatten, aber für mich war das etwas Neues. Die Episode war herzzerreißend, aber für mich als Wissenschaftlerin auch spannend und verwirrend. Natürlich ärgerten und schlugen die großen Männchen regelmäßig ausgewachsene Weibchen, aber nach allem, was ich bisher gesehen hatte, waren die Schläge kurz und vergleichsweise harmlos.

Zufällig war in jener Woche gerade Richard Wrangham zu Besuch, der berühmte Primatenforscher von der Harvard University, der die Freilandstation gegründet hatte und leitete. Ich rannte die rund drei Kilometer durch den Wald zurück zu der Station und schilderte, was ich gesehen hatte. Ich war außer Atem und platzte fast vor Gefühlen und Fragen, aber seine erste Reaktion bestand einfach darin, mir seine Hand entgegenzustrecken und die meine zu schütteln. Er sagte mir, ich hätte als erste Wissenschaftlerin beobachtet, wie ein nichtmenschlicher Primat in freier Wildbahn einen Stock als Waffe benutzte. Sogar das Magazin Time brachte einen Bericht mit einem großen Foto von Richard Wrangham, mir und dem mittlerweile berühmten Stock (der später von den Freilandassistenten auf der Lichtung geborgen wurde). Die Überschrift lautete »Die Frauenschläger von Kibale«.3 Der vermenschlichende Titel verursachte mir Bauchschmerzen, aber die Ähnlichkeiten zwischen Imosos verstörendem Verhalten und häuslicher Gewalt unter Menschen waren nicht zu leugnen. Warum hatte er das getan? Damals hatte ich keine Antwort. Eine Erklärung ergab sich erst später, als wir Testosteron und Fortpflanzung an der Freilandstation genauer erforscht hatten.

DÄMONISCHE MÄNNCHEN

Meine Reise nach Uganda hat sich durch einige Umwege ergeben, die ich während meiner universitären Laufbahn gemacht hatte. Eigentlich interessierte ich mich für das Verhalten von Menschen, und das führte dazu, dass ich auf dem College Psychologie im Hauptfach wählte. Ich hatte Spaß an Kursen über Freud und Jung, psychische Störungen, den menschlichen Charakter und die Unterschiede zwischen Individuen. Aber erst im zweiten Jahr des Hauptstudiums musste ich mich zurückhalten, um nicht von meinem Sitz aufzuspringen, so schwer fiel es mir, meine Begeisterung über den Inhalt der Vorlesung im Zaum zu halten. Den Kurs (Biologische Psychologie) und die Professorin (Josephine Wilson) werde ich ebenso wenig vergessen wie den Tag, als sie uns mit Neuronen und Neurotransmittern bekannt machte, die je nach Art und Menge eine Vielzahl von Verhaltensweisen beeinflussen. Ich weiß noch, wie sie hoch aufgerichtet dastand, die ausgestreckten Arme über den Kopf erhob und mit den Fingern wackelte, um ein Neuron und seine Dendriten – kleine Verzweigungen, die mit anderen Neuronen in Austausch treten – lebendig werden zu lassen. Für mich eröffnete sich hier ein neuer, vielversprechender Weg, um die Ursachen des menschlichen Verhaltens zu verstehen, und das fühlte sich ungeheuer befriedigend an. Ich wusste, dass ich mehr von diesem Gefühl wollte, aber das Examen stand bevor, und ich hatte noch keine Stelle in Aussicht.

Wie es mit einem Bachelor in Psychologie üblich ist, landete ich bei einer Firma für Finanzsoftware. (Ich wollte vor allem eine Tätigkeit, bei der ich »mit Computern arbeiten« konnte. Schließlich schrieb man das Jahr 1988.) Ich sagte mir, ich würde dort ein paar Jahre bleiben und in dieser Zeit meinen großen Lebensplan schmieden. Aber ich hatte viel zu lernen, und die Tätigkeit war angenehm. Aus zwei Jahren wurden zehn. Ich besuchte Kurse, die ich im College verpasst hatte, wie Molekularbiologie und Genetik. Dabei merkte ich, dass ich – im Gegensatz zu meinen Gefühlen in der Schulzeit – die Biologie liebte. Ich unternahm ausgedehnte Reisen in Länder wie Israel, Tansania, Costa Rica und China, und dabei erwachte meine Neugier auf die Ursachen für die Vielfalt der Kulturen und ökologischen Verhältnisse auf der Erde. Außerdem las ich populärwissenschaftliche Bücher wie Das egoistische Gen von Richard Dawkins. Dabei wurde mir klar, wie die Evolutionstheorie dazu beitragen konnte, meine Fragen nach dem Leben auf der Erde zu beantworten.

Solche Erfahrungen verstärkten meinen Wunsch, die tiefgreifendsten und überzeugendsten Erklärungen für das Verhalten der Menschen zu finden. Es lief auf eine einzige Frage hinaus: Wie hat die Evolution das Wesen der Menschen geprägt?

Dann las ich das Buch, das mir einen Weg aufzeigte, auf dem ich meine Interessen weiterverfolgen konnte: Bruder Affe: Menschenaffen und die Ursprünge menschlicher Gewalt4. Was mich fesselte, war nicht die Gewalt als solche, sondern der Ansatz, mit dem die beiden Autoren der großen Frage nachgingen: Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind? Ich entschloss mich, das Gleiche zu tun wie der Autor: Ich wollte Schimpansen studieren, um mehr über uns selbst und unsere evolutionären Ursprünge zu erfahren. Also gab ich meinen Job auf und bewarb mich um eine Doktorandenstelle.

Ich kann niemandem empfehlen, in dieser Reihenfolge vorzugehen.

Der Autor des Buches war Richard Wrangham. Glücklicherweise unterrichtete er an der Harvard University in meiner Heimatstadt Cambridge in Massachusetts, und ich schickte ihm meine Bewerbung für das Doktorandenprogramm in seinem Institut, das zu jener Zeit biologische Anthropologie hieß. Das Ablehnungsschreiben war enttäuschend, aber im Rückblick hätte ich damit rechnen müssen. In ein solches Programm aufgenommen zu werden, ohne über Forschungserfahrung auf dem Fachgebiet zu verfügen, ist schwierig. In manchen Fällen kann Naivität aber auch ein Vorteil sein. Ich blieb hartnäckig, und irgendwann bot Richard – wir waren mittlerweile bei den Vornamen angelangt – mir die Gelegenheit, ein Jahr in Uganda am Kibale Chimpanzee Project mitzuarbeiten. Er hatte die Freilandstation 1987 eingerichtet, um Verhalten, Physiologie und Ökologie wilder Schimpansen zu studieren. Ich hatte die Aufgabe, die Station zu verwalten und gleichzeitig eigene Forschungen durchzuführen. Ich konnte es kaum glauben. Natürlich sagte ich zu.

SEX UND GEWALT BEI ZWEIERLEI PRIMATEN

So kam es, dass ich an jenem Tag im Januar 1999 im Wald stand, Schimpansenurin auffing und zusah, wie ein großes Männchen ein viel kleineres Weibchen verprügelte, während sie ihre Kinder zu schützen versuchte. Der Umgang der beiden miteinander war ein dramatisches Beispiel für die gegensätzlichen Verhaltensmuster von Schimpansen, die zuvor bereits mein Interesse geweckt hatten: Die Weibchen waren relativ friedlich und fürsorglich, die Männchen hingegen sex- und hierarchieversessen sowie aggressiv.

Ich konnte beobachten, wie männliche Schimpansen ihre Aggression in unterschiedlichen Situationen und zu unterschiedlichen Zwecken zum Ausdruck brachten, und nur in manchen Fällen gab es dafür eine eindeutige Erklärung. Sie wollten zeigen, wer das Sagen hat, und verlangten, als Respektsperson behandelt zu werden. Mangelnder Respekt bedeutete, dass der Rang eines dominierenden Männchens nicht ausreichend beachtet wurde, und dann versuchte dieses Männchen meistens mit Prügeln sicherzustellen, dass ihm in Zukunft angemessene Demut entgegengebracht wurde. Wenn zwei Männchen in der Hierarchie sehr dicht beieinander standen, fochten sie es vielleicht angesichts einer sexuellen Gelegenheit aus – sie kämpften, um sich die Paarung mit einem sexuell attraktiven Weibchen zu sichern (das heißt mit einem Weibchen, das sich in der fruchtbaren Phase befand und damit im Mittelpunkt großer männlicher Aufmerksamkeit stand), oder um andere Männchen von ihr fernzuhalten (was als »Bewachung der Partnerin« bezeichnet wird). Und wie steht es mit Imosos Angriff auf Outamba zu einer Zeit, als sie nicht fruchtbar war? Wie spätere Daten zeigten, macht eine solche Aggression das Weibchen häufig in Zukunft gefügiger. Männchen zielen dabei meist auf Weibchen ab, die beste Voraussetzungen für die Fortpflanzung mitbringen. Umgekehrt paaren sich die Weibchen bevorzugt mit Männchen, die ihnen gegenüber besonders aggressiv waren, und bringen deren Nachkommen zur Welt5. An dieser Stelle sollte ich etwas Wichtiges betonen: Das bedeutet nicht, dass hinter der Aggression von Männern gegen Frauen eine ähnliche evolutionäre Ursache steht, und noch viel weniger will ich behaupten, dass solches Verhalten unvermeidlich oder entschuldbar wäre. Ohnehin können auch andere Tiere – darunter Primaten mit ganz unterschiedlichen Sozialsystemen – ebenfalls Anhaltspunkte für die evolutionären Ursprünge unserer eigenen Verhaltensweisen liefern.

Damit soll nicht gesagt werden, dass jedes Schimpansenmännchen ein Rabauke oder rund um die Uhr gewalttätig ist. Schimpansen haben unterschiedliche Charaktere – manche sind schüchtern, andere liebenswürdig, einige brutal. Auch große Männchen wie Imoso verhielten sich manchmal sanftmütig und geduldig. Sie spielten mit den Kleinen, kämpften und bissen nur leicht und ließen zu, dass sie als Klettergerüst verwendet wurden, während sie sich bemühten, ein Nickerchen zu machen. Sie verbrachten viel Zeit in ihrer sozialen Gruppe mit Weibchen, Jungen und anderen Männchen, sie wanderten, ruhten sich aus, fraßen und kraulten sich, wobei wenig oder keine Brutalität im Spiel war. Bei den Weibchen sah ich nur wenig aggressives Verhalten, aber es kommt vor – und das mitunter heftig.

Das Gleiche gilt natürlich auch für die ausgewachsenen männlichen Angehörigen der Menschengemeinschaft: Sie sind zu äußerst heldenhaften, zärtlichen und großzügigen Handlungen in der Lage, aber auch zu Gewalt und Grausamkeit. Ich habe jeden Tag viele Stunden als einzige Frau in einer Gruppe einheimischer Männer zugebracht und ihnen mein Leben anvertraut. Aber in der gleichen Zeit verübten andere Männer aus derselben Region Afrikas brutale Taten gegen Zivilisten.

Jede Nacht leistete mir der BBC World Service Gesellschaft, und in den Top-Meldungen kam häufig das damalige Alphamännchen unserer Erde vor: US-Präsident Bill Clinton. Berichtet wurde auch über seine Affäre mit Monica Lewinsky, einer Praktikantin aus dem Weißen Haus. Wie viele Männer vor ihm und auch viele danach riskierte Clinton alles für ein paar flüchtige sexuelle Begegnungen. Es war zwar eine Ablenkung und ein Nervenkitzel, aber genauer hörte ich hin, wenn die Rebellen im Kongo erwähnt wurden; dann versuchte ich so viele Informationen wie möglich darüber zu gewinnen, ob sie in Richtung meiner Freilandstation unterwegs waren6. Nebenan im Kongo tobte ein Bürgerkrieg, und die Region war ein Nährboden für politische Gewalt. Ich erfuhr von grausamen Angriffen, bei denen Männer mit Macheten auf Dorfbewohner einschließlich der Kinder losgingen, Hände, Gliedmaßen oder Köpfe abschnitten und die Frauen vergewaltigten. Menschen aus dem Westen wurden regelmäßig bedroht, insbesondere wurde ihnen gedroht, sie zu köpfen. Ich fühlte mich wie eine lahme Ente – allein lag ich nachts in meinem kleinen Bungalow, und die Machete, die unter meinem Kopfkissen lag, war nur ein schwacher Trost.

Im März 1999 wurde ein besonders grausamer Angriff, der in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit fand, zum Auslöser für die Evakuierung der meisten Bürger westlicher Staaten (einschließlich des Friedenskorps) aus der Region. Rund 400 Kilometer südlich von uns waren Rebellen aus Ruanda in einen ugandischen Nationalpark eingedrungen und hatten auch die Grenze zur Demokratischen Republik Kongo überschritten. Die Aufständischen töteten vier Parkmitarbeiter und entführten 15 Touristen ins Gebirge. Acht von ihnen, Bürger Großbritanniens, Neuseelands und der Vereinigten Staaten, wurden mit Macheten und Knüppeln getötet. Mindestens bei einer Frau konnte schwerer sexueller Missbrauch nachgewiesen werden.7

Ich blieb noch einige Monate in der Freilandstation, aber wegen der zunehmenden Drohungen gegen Bürger westlicher Staaten und da Rebellen in unserer Gegend aktiv waren, brachte die US-Botschaft mich schließlich außer Landes.

Von meinen Erlebnissen in Uganda blieb der Ehrgeiz, mehr über die gemeinsamen biologischen Eigenschaften von Menschen und anderen Tieren zu erfahren und damit zu erklären, warum Männer und Frauen oftmals so unterschiedlich sind. Eigentlich ging es mir darum, die Männer zu verstehen. Und Testosteron versprach ein wichtiger Teil dieser Erklärung zu werden. Meine zweite Bewerbung an der Harvard University hatte Erfolg, und ich begann mit der Arbeit an einer Dissertation in biologischer Anthropologie und brachte über meine Frage, wie wir mithilfe des Testosterons die Geschlechterunterschiede in Denk- und Lernweise, Wahrnehmung und Problemlösung erklären können, so viel wie möglich in Erfahrung.

GESTATTEN: T

Testosteron ist in winzigen Mengen in unserem Blut enthalten. Beide Geschlechter produzieren es, aber Männer besitzen zehn- bis zwanzigmal mehr davon als Frauen. Trotz seiner unbedeutenden physischen Gegenwart hat dieses Hormon es geschafft, einen besonderen Ruf zu erlangen, der den aller anderen Körpersubstanzen in den Schatten stellt. Schließlich ist Testosteron ein »Androgen« – vom griechischen »andros« – Mann und »gen« – erzeugen. Wenn das Y-Chromosom der Inbegriff des Mannseins ist, dann ist Testosteron zumindest in der allgemeinen Wahrnehmung der Inbegriff der Männlichkeit. Bill Clinton hatte angeblich viel davon, zuverlässige Zahlen kennen wir aber von Donald Trump.

Kurz vor der US-Präsidentenwahl 2016 trat Trump in der landesweit ausgestrahlten Fernsehsendung von Dr. Oz auf und machte die Ergebnisse seiner neuesten ärztlichen Untersuchung publik. Oz las die Zahlen vor – Körpergewicht, Cholesterin, Blutdruck, Blutzucker. Der Arzt war wegen der »guten Werte«, wie er sie nannte, positiv gestimmt8; das Publikum interessierte sich aber anscheinend nur für einen davon: 441 (Nanogramm je Deziliter). Vermutlich, so schien der begeisterte Applaus der Zuhörer zu sagen, betrachtete man Trumps Testosteronspiegel als wissenschaftlichen Beweis, dass er nicht nur die Mentalität, sondern auch die physiologischen Voraussetzungen für einen starken, männlichen Führer mitbrachte. Der genaue Aufbau des Moleküls ist für die meisten Menschen sicher nicht besonders spannend (die chemische Formel lautet C19H28O2), über seine angebliche Männlichkeitskraft kann das allerdings nicht behauptet werden – sie ist manchmal Nervenkitzel, manchmal aber auch Gift.

Der Schriftsteller Andrew Sullivan teilte den Leserinnen und Lesern des New York Magazine mit, er habe wegen seiner zweiwöchentlichen Testosteroninjektionen »ein echtes Gespür dafür, was es bedeutet, ein Mann zu sein […] Mit dem Energieschub, der Kraft, dem klaren Denken, dem Ehrgeiz, dem Antrieb, der Ungeduld und vor allem der Geilheit«9. Ein Artikel in Psychology Today erklärte: »Frauen werden von toxischen, maskulinen, männlichen Phänotypen angezogen, die im Zusammenhang mit Testosteron stehen […] und die mit ihren Verhaltensmustern in der gesellschaftlichen Hierarchie aufsteigen und ihre Position gegenüber Nebenbuhlern verteidigen können.«10 Nach Ansicht der linksgerichteten Huffington Post war Trumps Präsidentschaft »von Testosteron befeuert«, und das mache sie »zu etwas äußerst Gefährlichem«, das zum Krieg führen könne.11 Der rechtslastige American Spectator meinte, das Problem liege weniger in zu viel, sondern in zu wenig Testosteron bei einigen prominenten Konservativen: »Es gibt auch eine von niedrigem Testosteron geprägte, dilettantische Spielart des Konservativismus, die sich in den ›Mainstream‹-Medien übermäßig entwickelt hat […] und so sterile Hybride wie Michael Gerson, George Will und David Brooks hervorbringt«; diese Politiker hätten während Trumps erstem Präsidentschaftswahlkampf »am Tee genippt«, während Trumps Basis »einen Krieg führte«.12 In einem anderen Artikel in Psychology Today spricht der Autor vom »Fluch des Testosterons«, weil ein hoher T-Spiegel »einen biologischen Drang auslöst, der früher oder später seinen Ausdruck finden will«. Nach Ansicht des Autors können wir die sexuellen Übergriffe eines Harvey Weinstein, Bill Cosby und anderer prominenter Männer zwar nicht entschuldigen, wir sollten aber verstehen, dass »Männer einfach nur Tiere sind, die unter dem Einfluss von T große Schwierigkeiten haben, Frauen anders als nur eindimensional, als Objekte für sinnliche Befriedigung, wahrzunehmen«.13

Demnach leiden mächtige Männer nicht nur an dem Fluch der übermäßigen Männlichkeit, der sie zu Krieg und Vergewaltigung treibt, sondern das Hormon ist schuld, und wir Frauen können nicht anders, als es zu mögen! Zu viel Testosteron ist offensichtlich Gift, zu wenig verdirbt die Männlichkeit, und genau die richtige Menge führt zu Lebenskraft und Erfolg.

Trifft irgendetwas davon auch nur entfernt zu? Oder haben wir es wieder einmal mit einem populären Mythos zu tun – vielleicht mit einem, der eine sexistische Vergangenheit hat? Angemessene Antworten auf solche Fragen erfordern ein ganzes Buch, und das haben Sie hier vor sich.

Testosteron ist zweifellos verantwortlich für die anatomischen und physiologischen Grundlagen der Fortpflanzungsfähigkeit eines Mannes. Wie wir in Kürze noch genauer erfahren werden, ist es aber auch die Ursache für viel mehr als nur die Themen, über die so hitzig diskutiert wird. Nach einstimmiger Ansicht der Fachleute hat Testosteron vor allem die Aufgabe, die Anatomie, Physiologie und Verhaltenseigenschaften zu unterstützen, die die männliche Fortpflanzungsleistung steigern – zumindest gilt das bei Tieren. Männer sind da keine Ausnahme: Testosteron hilft ihnen, sich fortzupflanzen, und lenkt die Energie so, dass sie in der Lage sind, mit anderen Männern um Partnerinnen zu konkurrieren. Wie funktioniert das? Darum geht es in diesem Buch.

GESCHLECHTERUNTERSCHIEDE UND GESCHLECHTSHORMONE

Männer und Frauen sind biologisch verschieden – ob bei Menschen, Schimpansen oder anderen Arten. Wird ein Unterschied festgestellt, ist noch nichts über seine Ursache bekannt. Manche Unterschiede sind klein oder haben zumindest im Zusammenhang dieses Buches keine Folgen: So können Frauen beispielsweise etwas besser als Männer mathematische Berechnungen wie das Addieren der Zahlen in einer Spalte ausführen. Andere Unterschiede hingegen sind groß und bedeutsam. Männer fühlen sich häufiger als Frauen sexuell zu Frauen hingezogen, und sie sind in allen Winkeln der Erde, aber auch in jedem Alter viel häufiger körperlich aggressiv. Männer sind beispielsweise in den Vereinigten Staaten für rund 70 Prozent aller tödlichen Verkehrsunfälle und 98 Prozent der Amokläufe mit Schusswaffen verantwortlich, begehen weltweit mehr als 95 Prozent der Morde und die überwältigende Mehrzahl gewalttätiger Handlungen aller Arten einschließlich sexueller Übergriffe.14 Solche Beispiele verdeutlichen im Zusammenhang mit Geschlechterunterschieden eine wichtige Aussage: Fast alle Merkmale, in denen sich die Geschlechter unterscheiden, sind nicht auf Männer oder Frauen beschränkt. Auch Frauen morden und werden sexuell übergriffig, sie haben Spaß an Sex mit anderen Frauen, und einige von ihnen sind weniger genau als viele Männer, wenn es darum geht, mit dem Haushaltsgeld auszukommen.

Sehen wir uns einmal einen offenkundigen, unumstrittenen Unterschied zwischen den Geschlechtern etwas genauer an: die Körpergröße. In den Vereinigten Staaten ist die Durchschnittsgröße von Frauen um rund 14 Zentimeter geringer als die Durchschnittsgröße von Männern. Wie bei vielen Geschlechterunterschieden bestehen allerdings auch hier beträchtliche Überschneidungen: Es gibt Frauen, die größer sind als die meisten Männer, und Männer, die kleiner sind als die meisten Frauen. Werden einige Hundert Männer und Frauen zufällig ausgewählt und ihre Größe wird gemessen, sieht die Größenverteilung ungefähr so aus, wie diese Abbildung veranschaulicht:

Die senkrechte Achse, auch »y-Achse« genannt, stellt die Zahl der Menschen aus der Stichprobe dar, die in die jeweiligen Größenkategorien eingeteilt werden; diese sind entlang der waagerechten »x-Achse« aufgetragen. Die Kurven über den jeweiligen Balken bilden klar die zwangsläufig chaotischen Daten ab. (Gezeigt ist nur ein Teil der Balken.) Dunkle Balken stellen Frauen dar, helle Balken Männer. Betrachten wir den längsten dunklen Balken, so stellen wir fest, dass wir etwas weniger als 60 Frauen mit einer Größe von 163 Zentimetern gefunden haben. Ebenso haben wir mehr als 20 Frauen mit 175 Zentimetern gefunden und so weiter. Die Durchschnittsgröße der Frauen (die Spitze der dunklen Kurve bei ungefähr 163 Zentimetern) liegt eindeutig niedriger als die Durchschnittsgröße der Männer (die Spitze der hellen Kurve bei ungefähr 175 Zentimetern), aber es gibt bei der Größenverteilung unter den Geschlechtern eine große Überschneidung.

Die Größenverteilung unter den Männern ist auch breiter als unter den Frauen. Mit anderen Worten: Die Frauen gruppieren sich dichter um den Durchschnittswert als die Männer, das heißt, in der Körpergröße der Männer gibt es eine größere Variationsbreite. Mehr Männer sind extrem groß oder extrem klein, solche Frauen gibt es in geringerer Zahl. Die Frauen stehen dichter am Durchschnittswert ihres Geschlechts als die Männer an dem ihren.

Ein Geschlechterunterschied kann sich nur auf den Durchschnittswert beziehen (das sehen wir in manchen Tests zur Lesefähigkeit, in denen Frauen besser abschneiden), oder aber nur auf die Variationsbreite (wie beim IQ, wo es in der Verteilung unter Männern eine größere Breite gibt), oder auch auf beides wie bei der Körpergröße.15 Die ersten beiden Fälle zeigen diese Diagramme:

Geschlechterunterschiede gibt es überall. Manche sind groß, andere klein, manche uninteressant, einige auffällig und erklärungsbedürftig. Ein sehr großer Unterschied zwischen den Geschlechtern ist der Testosteronspiegel im Laufe des Lebens. Spielt dieser Unterschied eine Rolle für alle anderen Unterschiede? Und wenn ja, welche? Unbestritten ist, dass Testosteron die Körpergröße der Männer im Vergleich zu Frauen steigert. (Wie wir allerdings im nächsten Kapitel noch genauer erfahren werden, wird ein Junge größer, wenn ihm vor der Pubertät die Hoden entfernt werden.) Umstrittener ist die Bedeutung des Testosterons für den Geschlechterunterschied bei komplexen Verhaltensweisen wie körperlicher Gewalt. In ihrem 2019 erstmals erschienenen Buch Testosteron: Warum ein Hormon nicht als Ausrede taugt äußern sich Rebecca Jordan-Young, Professorin für Frauen-, Gender- und Sexualitätsstudien, und die Kulturanthropologin Katrina Karkazis skeptisch über die Annahme, Testosteron habe für Geschlechterunterschiede beim Verhalten überhaupt eine große Bedeutung. Nach ihrer Ansicht ist die Vorstellung, dass es »die Aggression der Menschen antreibt« eine »Zombietatsache«, eine Hypothese, die oft widerlegt wurde und dennoch nicht tot zu kriegen ist. An anderer Stelle schreibt Jordan-Young, die Entlarvung dieses Mythos sei entscheidend dafür, »Gewalt auszugrenzen und den Weg zu den Heilmitteln zu eröffnen, den wir weiterverfolgen oder uns auch nur ausmalen können«.16

Wenn T nicht schuld ist, lautet die naheliegende Alternativhypothese, dass Männer aggressiver sind, dann liegt der Grund vor allem in ihrer Sozialisierung. Die American Psychological Association formuliert es so: »Die anfängliche Sozialisation der Geschlechterrollen zielt darauf ab, patriarchalische Codes17 beizubehalten, indem sie von Männern fordert, sie sollten sich dominante, aggressive Verhaltensweisen zulegen.«18 Weniger wissenschaftlich wird die Aussage durch das folgende Comic verdeutlicht, das Werbung für das Trainingssystem des Bodybuilders Charles Atlas machen soll. Die Anzeige stammt zwar aus den 1940er-Jahren, ihre Themen sind aber auch heute noch von Bedeutung, und sie ist ein frappierendes Beispiel für einen Mechanismus, durch den Männer so sozialisiert werden können, dass sie aggressiv sind.

BLEIB RUHIG UND SIEH DIR DIE BEFUNDE AN

In meinem ersten Jahr als Doktorandin kam mir auch der erste Stolperstein auf dem Weg zum Doktortitel in die Quere. Es geschah in dem Doktorandenseminar zum Thema »Die Evolution des Sexualverhaltens«. Eines unserer wöchentlichen Seminare drehte sich um das Thema der »erzwungenen Kopulation« bei Tieren. Unter den Lektüreempfehlungen war ein Forschungsartikel des Biologen Randy Thornhill, in dem er eine Theorie über die Evolution der Vergewaltigung formulierte. Als Beispiel nannte er dabei das Männchen der Schnabelfliege, das die Flügel des Weibchens mit einer »Bauchklammer« festhält und ihr dann seinen Samen »aufzwingt«. Der Überschrift des Artikels zufolge handelte es sich dabei um eine »Vergewaltigung«, denn diese lautete: »Vergewaltigung bei Schnabelfliegen der Gattung Panorpa und eine allgemeine Vergewaltigungshypothese«. Aufgrund solcher Verhaltensweisen der Schnabelfliegen und anderer Tiere spekulierte Thornhill über die Entstehung der Vergewaltigung bei Menschen:

»Bei Arten, bei denen die Männchen wichtige Ressourcen zur Fortpflanzung der Weibchen beitragen, sollten die Männchen stark zugunsten der Vergewaltigung selektioniert werden […] Vergewaltigung ist für ein Männchen ohne Ressourcen die einzige Möglichkeit zur Fortpflanzung, denn es kann das Weibchen über seine Qualität als Partner nicht täuschen […] Meiner Hypothese zufolge […] wurden größere Männer in der Evolution des Menschen begünstigt, weil sie mit größerer Wahrscheinlichkeit erfolgreich vergewaltigen konnten, wenn es ihnen nicht gelang, erfolgreich um Ressourcen als Eltern zu konkurrieren.«19

Das ist, vorsichtig ausgedrückt, ein starkes Stück. Damit behauptet er, Männer seien in der Evolution größer geworden als Frauen, damit sie diese wie eine Schnabelfliege flachlegen und vergewaltigen können, wenn es ihnen nicht gelingt, die Damen mit ihren Fähigkeiten als gute Ernährer zu beeindrucken.

Der Artikel verursachte mir Magenschmerzen. Als ich in dem Seminar an der Reihe war, etwas zur Diskussion beizutragen, gab ich mir alle Mühe, meine Gedanken zu sammeln. Mit feuchten, glänzenden Augen fasste ich meine Meinung gegenüber der übrigen Gruppe so zusammen: »Dieser Autor ist ein Arschloch!« Ich kann mich noch lebhaft erinnern, wie klein, machtlos und wütend ich mich fühlte. Mir war, als würden mich alle anstarren und auf eine Erklärung warten. Eine andere Studentin saß neben mir am Tisch, und ich sah sie, nach Bestätigung heischend, an – die Männer würden es natürlich nicht kapieren. Niemand tröstete mich. Stattdessen redete mir der Professor in aller Ruhe zu und sagte, ich solle auf die wissenschaftlichen Fakten und die Argumente eingehen. Ich dachte: Was ist denn hier los? Ist außer mir niemand empört? Aber er lenkte meine Aufmerksamkeit hartnäckig auf die Belege und Gedankengänge in dem Artikel. Schließlich gelang es mir, meine Abscheu zu überwinden, und ich bemühte mich, die Argumentation zu beurteilen, ohne dass mir meine Emotionen in die Quere kamen.

Einfach war das nicht. Meine Gefühle lösten sich nicht in Luft auf. Und noch heute bin ich nicht begeistert darüber, dass jemand so unsensibel über ein sensibles Thema schreibt. Aber ich lernte, dass ich die Belege für eine empörende Hypothese aufgrund ihrer Stichhaltigkeit beurteilen kann; schon das gab mir mehr Selbstvertrauen. (Nebenbei bemerkt: Während meiner Doktorandenzeit lernte ich Thornhill einmal kurz kennen, und dabei schien er mir ein ungeheuer netter Typ zu sein.)

Heute sind meine Studierenden häufig in der gleichen Lage wie ich damals in jenem Seminar: Sie stoßen auf belastende Ideen und Forschungsergebnisse. Manche von ihnen reagieren emotional und lehnen die Positionen kurzerhand ab. Eine solche Reaktion ist verständlich – Gefühle, ob positiv oder negativ, wirken sich darauf aus, wie Tiere einschließlich des Menschen alles, was ihnen begegnet, beurteilen.20 Wenn ich in meiner Badewanne eine große behaarte Spinne sehe, bin ich unter Umständen erregt, und das nicht auf positive Weise – selbst dann, wenn ich genau weiß, dass gerade diese Spinnenart vollkommen ungefährlich ist. Der »Spinnenreiz« hat in meinem Körper unangenehme Empfindungen geweckt, und ich halte die Spinne deshalb für etwas Schlechtes. Wenn wir auf einen emotionalen oder körperlichen Reiz – einen Gliederfüßer, eine Person, einen unbelebten Gegenstand oder eine wissenschaftliche Hypothese – stark ansprechen, projizieren wir häufig unsere Reaktion irrational auf den Reiz selbst. Das kann dazu führen, dass wir schlechte Entscheidungen treffen, weil wir uns auf unser Bauchgefühl verlassen, statt vernünftig zu sein und eine angemessene Bewertung der Befunde vorzunehmen. Wir können uns dazu getrieben fühlen, unverdaulichen Schlussfolgerungen aus dem Weg zu gehen.

Je länger ich mich mit dem Testosteron von Menschen und anderen Tieren beschäftigte, desto stärker wuchs meine Überzeugung, dass die Sozialisierung nur ein Teil der Geschichte ist. Heute lautet meine Einschätzung: Testosteron spielt für die Geschlechterunterschiede zwischen den Menschen eine zentrale Rolle, und das nicht nur im Hinblick auf die körperlichen Merkmale. Aber einer solchen Ansicht Ausdruck zu verleihen, birgt seine eigenen Gefahren. Das merkte ich schon bald.

SUMMERS UND DAMORE

Wir schrieben den Januar 2005. Ich hatte gerade meinen Doktor in biologischer Anthropologie gemacht und war von der Harvard-Doktorandin zur Harvard-Dozentin geworden. Damit hatte ich zahlreiche Lehrverpflichtungen, aber stets als »Teaching Fellow« – so heißt in der Harvard-Sprache die Assistentin, die sich jede Woche mit kleinen Gruppen von Studierenden trifft und den Stoff erörtert, den der Professor oder die Professorin in den Vorlesungen behandelt hat. Ich war begeistert über die Gelegenheit, einen eigenen Kurs zu konzipieren und zu unterrichten, und bereitete mich hoch motiviert auf die erste Stunde vor. Der Stoff des Seminars stützte sich zum größten Teil auf meine Doktorarbeit, die sich am Ende nicht um Schimpansen gedreht hatte, sondern um die Frage, wie wir mithilfe des Testosterons die Geschlechterunterschiede in Denk- und Lernweise, Wahrnehmung und Problemlösung erklären können. An dem Seminar mit dem Titel »Die Evolution der Geschlechterunterschiede bei Menschen« sollten zwölf Studierende teilnehmen.

Manch einer hat vielleicht schon von Lawrence Summers gehört, dem damaligen Präsidenten der Harvard University. Vielleicht ist der Name auch bekannt, weil er Finanzminister unter Präsident Clinton war oder weil er als Chefvolkswirt bei der Weltbank gearbeitet hat. Wahrscheinlich ist aber vor allem in Erinnerung geblieben, dass er empörende Dinge darüber gesagt haben soll, warum Frauen sich aus biologischen Gründen nicht für Mathematik und Naturwissenschaft eignen.

Ganz so war es nicht. Ein paar Wochen bevor mein Seminar beginnen sollte, hielt Summers auf einer kleinen Tagung einen Vortrag. Es ging um die Frage, wie mehr Frauen in die Fachgebiete von Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik gelockt werden konnten. Dazu äußerte er mehrere Hypothesen, mit denen sich erklären ließ, warum Frauen auf diesen Gebieten unterrepräsentiert sind. Eine davon stützte sich auf »unterschiedliche Sozialisations- und Diskriminierungsmuster« und führte, wenn überhaupt, nur zu wenig Stirnrunzeln. Eine andere dagegen besagte, die Eignung der Männer sei vielfältiger (genau wie die Körpergröße variabler ist), und das führe dazu, dass mehr Männer und Frauen ganz oben (und ganz unten) stünden:

»Um Sie zu provozieren, hier meine plausibelste Vermutung zu der Frage, was hinter allem steht: Das mit Abstand größte Phänomen ist der allgemeine Konflikt zwischen den legitimen Familienwünschen der Menschen und dem derzeitigen Wunsch der Arbeitgeber nach Leistung und Arbeitseinsatz, und im Sonderfall von Wissenschaft und Ingenieurwesen stellen sich Fragen nach der von vornherein vorhandenen Eignung und insbesondere der Variabilität dieser Eignung. Bestärkt werden solche Überlegungen durch eigentlich untergeordnete Faktoren, die mit Sozialisation und fortgesetzter Diskriminierung zu tun haben. Mir wäre nichts lieber, als dass ich hier widerlegt würde, denn ich würde es begrüßen, wenn man solche Probleme einfach dadurch angehen könnte, dass alle verstehen, worum es geht, und sich Mühe geben, damit fertig zu werden.«21

Mit seinen Äußerungen wollte Summers eine Diskussion in Gang bringen. Zumindest gelang es ihm, den Mageninhalt einer bekannten Biologin vom Massachusetts Institute of Technology, die im Publikum saß, in Wallung zu bringen. Sie stand auf, verließ den Saal und sagte später einem Journalisten, wenn sie geblieben wäre, »wäre ich entweder ohnmächtig geworden oder ich hätte mich übergeben«. Wenig später wurde in der Presse der Vorwurf des Sexismus erhoben. Spender spendeten nicht mehr. Überall auf dem Campus gab es hitzige Diskussionen. Nach einem Misstrauensvotum des Lehrkörpers, der in Summers’ Äußerungen den letzten Tropfen im Fass einer umstrittenen Präsidentschaft sah, gab er dem Druck nach und trat zurück.22

So war es auch kein Zufall, dass zu meinem auf zwölf Personen beschränkten Seminar mehr als hundert Studierende kamen. Die Kontroverse ist seitdem nicht mehr im Sande verlaufen.

Während des sogenannten Summers-Skandals wurde mir klar, dass ich auf der falschen Seite der Trennlinie stand. Ich beschäftigte mich mit Evolution, Testosteron und Geschlechterunterschieden, und das machte mich moralisch verdächtig. Ich hatte es für selbstverständlich gehalten, dass wir jedes Problem (die Tatsache, dass Frauen in den Naturwissenschaften und im technischen Bereich unterrepräsentiert sind, sexuelle Übergriffe und unzählige Diskriminierungen) nur dann lösen können, wenn wir seine Wurzeln erkennen, und das kann nur in einer Atmosphäre der freien, ungehinderten Untersuchungen stattfinden. Mit anderen Worten: Wir müssen in der Lage sein, alle vernünftigen, durchdachten Hypothesen zu durchleuchten und zu diskutieren, ohne uns zu schämen oder etwas zu zensieren. Das, so hatte ich mittlerweile begriffen, war das Wesen von Wissenschaft und Forschung. Und genau diese Einstellung brachte ich auch gegenüber einem Reporter der Studierendenzeitschrift Harvard Crimson zum Ausdruck, als er mich nach den Ansichten von Präsident Summers befragte. Ich muss zugeben, dass ich naiv war. Ich hatte nicht zur Kenntnis genommen, dass einige meiner Kollegen nicht nur hinsichtlich der biologischen Grundlagen von Geschlechterunterschieden anderer Meinung waren als ich, sondern auch was die Frage anging, welche Themen sich für Diskussionen und Untersuchungen eignen. Ein Physikprofessor der Harvard University sagte der New York Times, es sei verrückt von mir »zu glauben, dass es ein angeborener Unterschied ist – der Unterschied in der Standardabweichung. Es ist Sozialisierung. Wir haben junge Frauen dazu ausgebildet, durchschnittlich zu sein. Junge Männer haben wir dazu ausgebildet, abenteuerlustig zu sein«.23 Er war nicht der Einzige, der solche Ansichten äußerte. Offensichtlich sollte man Hypothesen wie denen von Summers keine Aufmerksamkeit schenken, weil solche »gefährlichen Ideen« Frauen möglicherweise entmutigten und die Gleichberechtigung der Geschlechter störten.

Die Ablehnung, die ich zu jener Zeit spürte, kam zum größten Teil von männlichen Professoren: Sie erklärten mir, wie die Dinge funktionieren – dass Frauen in Naturwissenschaften und Technik unterrepräsentiert seien, liege ausschließlich an Diskriminierung und sexistischer Sozialisation. Meine Forschungsarbeiten legten aber eine andere Vermutung nahe. Ich war eine junge Dozentin ohne Dauerstelle, und schon bald wuchs in mir ein Gefühl der Nervosität: Wie würden meine Meinungen und Fähigkeiten bei denen, die am oberen Ende der Universitätshierarchie standen, ankommen? Schließlich gab ich die Forschung auf und widmete mich der Lehre, die mir große Freude macht. Rückblickend frage ich mich aber, ob das Umfeld jener Zeit Einfluss auf meine Entscheidung hatte.

Machen wir nun einen Sprung ins Jahr 2017 und zu dem alljährlichen Ritual, den Lehrplan für meine Vorlesungsreihe über Hormone und Verhalten zu aktualisieren. Ich beginne immer mit der Einheit »Sex, Geschlecht und ihre Unterschiede«. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie sich die Funktion von Testosteron in der Embryonalentwicklung unterscheidet, je nachdem, ob sie zu einem Jungen oder zu einem Mädchen führt. Wenn die Studierenden die Grundlagen verinnerlicht haben, nutze ich den Summers-Skandal, um geschlechtsabhängige Verhaltensunterschiede vorzustellen. Was hatte er gesagt? Wie hatte die Presse darüber berichtet? Wurden seine Behauptungen durch wissenschaftliche Belege gestützt? Und hatte er vielleicht sogar die Vermutung geäußert, biologische Unterschiede könnten eine Erklärung für eine ungerechte Situation von Frauen sein? Mittlerweile dachte ich darüber nach, meinen Summers-Exkurs aufzugeben: Die meisten jetzigen Studierenden hatten nie davon gehört, und 2005 waren sie vielleicht gerade eben in die Pubertät gekommen. Da kam mir glücklicherweise James Damore zu Hilfe.

Damore entsprach vermutlich dem Bild eines typischen Softwareingenieurs: männlich und ein wenig verschroben. Mitte 2016, als er seine berüchtigte interne Notiz mit der Überschrift »Googles ideologische Echokammer« schrieb, waren etwa 80 Prozent der Softwareingenieure bei Google Männer. Nach seiner Ansicht waren die Bestrebungen des Konzerns, Geschlechterparität herzustellen, irregeleitet, und das, so Damore, führe zu einer Art umgekehrter Diskriminierung zu Ungunsten der Männer. In seinem 3000 Wörter langen Memo schrieb er: »Ich behaupte nur, dass Vorlieben und Fähigkeiten bei Männern und Frauen zum Teil aus biologischen Gründen unterschiedlich verteilt sind und dass diese Unterschiede vielleicht eine Erklärung dafür bieten, dass wir keine gleichberechtigte Repräsentation von Frauen in technischen Berufen und Führungspositionen sehen.«24 Außerdem deutete er an, welche biologische Tatsache für solche Unterschiede sorgen könne: das Testosteron.

Das Memo verbreitete sich rasend schnell, und wenig später war Damore der neue Summers. Eine Google-Mitarbeiterin wurde mit der Aussage zitiert, Damores Ansichten seien »brutal beleidigend«, und sie werde nie wieder mit ihm zusammenarbeiten. Nach Ansicht mancher Kognitionsforscher, die seine Behauptungen unter die Lupe nahmen, wurden sie durch Belege gestützt,25 andere blieben kritisch.26 Aber die einschlägigen Erkenntnisse über Geschlechterunterschiede waren nahezu bedeutungslos für die emotional aufgeladenen Reaktionen, und sie hinderten Google auch nicht daran, Damore einige Monate später zu entlassen, weil er »gefährliche Geschlechterklischees vertreten« habe.27

Damit hatte Damore zweifellos Pech. Er verklagte Google unter dem Vorwurf »offener Feindseligkeit wegen konservativer Gedanken […] in Verbindung mit heimtückischer Diskriminierung wegen Rasse und Geschlecht«.28 Immerhin hatte ich aber für meinen Lehrplan eine aktuellere Debatte um Geschlechterunterschiede. Er umfasste auch neue Fachartikel zu dem Thema, in denen sich der wissenschaftliche Fortschritt seit der Summers-Kontroverse widerspiegelte. Aber während die Wissenschaft weiter vorangeschritten ist, hat sich an unserer Fähigkeit, uns mit unangenehmen, von der Wissenschaft nahegelegten Gedanken auseinanderzusetzen, nichts verändert.

DIE FEMINISTINNEN SCHLAGEN ZURÜCK

Alles schön und gut: Ich vertrete vielleicht unrealistische Ansichten darüber, wie man seine Gefühle im Zaum halten und wissenschaftliche Hypothesen leidenschaftslos beurteilen sollte, in Wirklichkeit haben Frauen aber allen Grund, »biologischen« Erklärungen für Geschlechterunterschiede zu misstrauen. Wissenschaftler und Philosophen – die meisten von ihnen Männer – haben sich schon immer selbstbewusst über die angebliche Minderwertigkeit der Frauen und ihre biologischen Ursachen verbreitet.29 Ein Haupttäter, das muss ich leider sagen, war der größte Biologe aller Zeiten: Charles Darwin. In seinem zweiten, 1871 erschienenen Buch Die Abstammung des Menschen nennt er Belege für die größere »geistige Kraft« der Männer:

»Der hauptsächlichste Unterschied in den intellektuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer größeren Höhe in allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildungskraft, oder bloß den Gebrauch der Sinne und der Hände erfordern. Wenn eine Liste mit den ausgezeichnetsten Männern und eine zweite mit den ausgezeichnetsten Frauen in Poesie, Malerei, Skulptur, Musik (mit Einschluss sowohl der Komposition als auch der Ausübung), der Geschichte, Wissenschaft und Philosophie mit einem halben Dutzend Namen unter jedem Gegenstande angefertigt würde, so würden die beiden Listen keinen Vergleich miteinander aushalten […] wenn die Männer einer entschiedenen Überlegenheit über die Frauen in vielen Gegenständen fähig sind, muss der mittlere Maßstab der geistigen Kraft beim Manne über dem der Frau stehen.«30

Männer, das stellt er zu Recht fest, sind in der Geschichte herausragender Denker und Künstler überrepräsentiert. Aber anscheinend konnte Darwin die kulturellen Normen der viktorianischen Zeit nicht ablegen. Aus unserer aufgeklärteren Sicht können wir eine naheliegende andere Hypothese formulieren: Frauen werden schlicht durch Einschränkungen gehindert. Nicht, weil sie von Natur aus über geringere geistige Fähigkeiten verfügen, sondern weil die Gesellschaft es so will. Obwohl eine Frau damals an der Spitze des britischen Empire stand, war es im viktorianischen England nicht üblich, dass Frauen eine qualifizierte Ausbildung erhielten. Erst wenige Jahre vor Erscheinen der Abstammung des Menschen hatte die University of London erstmals Frauen (eine kleine, neunköpfige Gruppe) zum Studium zugelassen. Und auch sie erhielten kein offizielles Examenszeugnis, sondern nur einen »Befähigungsnachweis«. Heutzutage haben Frauen die Männer in Darwins eigenem Fachgebiet überflügelt und können dieselben akademischen Grade vorweisen.31 Auch Darwin hatte allen seinen großartigen Leistungen zum Trotz in manchen Dingen unrecht.

Manch einem ist vielleicht schon aufgefallen, dass Lawrence Summers ganz ähnlich argumentierte. Allerdings behauptete er, nicht der Durchschnitt sei unterschiedlich, sondern die Schwankungsbreite der »geistigen Fähigkeiten« sei bei Männern größer als bei Frauen. Damit steht er zwar auf festerem Boden als Darwin, aber da Wissenschaftler anfällig für Vorurteile und kulturelle Einseitigkeit sind, ist Vorsicht angebracht. Summers’ Behauptungen wurden abgetan, weil sie starke emotionale Reaktionen provozierten. Es sollte nicht die Möglichkeit außer Acht gelassen werden, dass Summers selbst oder die von ihm zitierten Fachleute nur allzu erpicht auf Erklärungen waren, mit denen sie den männerzentrierten Status quo stärken konnten. Vorurteile gibt es auf allen Seiten.

Denken und Arbeiten werden stets durch Voreingenommenheiten beeinflusst. Die wissenschaftliche Erklärung für Geschlechterunterschiede unterliegt oftmals subtilen oder weniger subtilen Einflüssen durch kulturelle Normen: Sie begünstigen Hypothesen, wonach Geschlechterunterschiede von der Natur vorgegeben sind. Unter anderem wurden Frauen bis ins 20. Jahrhundert mit pseudowissenschaftlichen Begründungen aus dem Profisport ausgeschlossen. Eine deutsche Zeitschrift schrieb 1898: »Heftige Körperbewegungen können eine Verschiebung der Lage und eine Lockerung der Verankerung sowie eine Senkung der Gebärmutter und Blutungen herbeiführen, was zu Unfruchtbarkeit führt und damit dem wahren Ziel der Frauen im Leben, nämlich gesunde und kräftige Kinder zu gebären, zuwiderläuft.«32Solche Äußerungen sind Teil einer langen und folgenreichen Geschichte: Wissenschaft wird im Dienst menschenverachtender Zwecke missbraucht und verzerrt. Eines von vielen Beispielen ist die Eugenikbewegung in den Vereinigten Staaten. Im Jahr 1931 gab es in 29 Bundesstaaten Gesetze, mit denen die Zwangssterilisation von Menschen, die man für genetisch »minderwertig« hielt, legalisiert wurde. Charles William Eliot, ein früherer Präsident der Harvard University, bezeichnete die Eugenikgesetze als unbedingt notwendig, weil sie die Bundesstaaten vor »moralischem Niedergang« schützten. Bis zur Abschaffung der Gesetze wurden mehr als 70.000 Menschen sterilisiert.33

Auf der anderen Seite lassen sich feministische Kritikerinnen unter Umständen von der Angst beeinflussen, die Biologie könne dazu benutzt werden, Frauen zur häuslichen Fronarbeit zu verurteilen oder das Patriarchat auf andere Weise zu stärken. Solche Bedenken mögen begründet sein oder auch nicht, aber für den Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Hypothesen sind sie bedeutungslos. Und im Fall des Testosterons ist die Erkenntnis naheliegend, dass viele Kritiker sich von solchen bedeutungslosen Befürchtungen motivieren lassen.

Problematische Verhaltensweisen, die gesellschaftliche Ursprünge haben, lassen sich vermutlich auch gesellschaftlich ausschalten. Aber was sollen wir machen, wenn die Verhaltensweisen durch das Testosteron hervorgerufen werden und demnach einen sogenannten natürlichen Ursprung haben? Schließlich können wir nicht die halbe Menschheit kastrieren. Also sind wir aufgeschmissen, oder?

UNBEQUEME GEDANKEN

Manch einer hofft vielleicht, beunruhigende Erkenntnisse über die Wirkungen des Testosterons würden nicht stimmen, ich möchte aber eines betonen: Solche Hoffnungen haben nichts damit zu tun, ob sie wahr sind. Wenn eine Hypothese abstoßend gefunden wird, sollte im Allgemeinen sofort eine Warnlampe aufleuchten, denn dann besteht die Gefahr, dass die Belege, die für die Hypothese sprechen, übergangen werden. Das scheint vielleicht auf der Hand zu liegen, aber bei mir dauerte es lange, bis ich es gelernt hatte und in die Praxis umsetzen konnte.

Die Vorstellung, die geschlechtsabhängige Struktur von Körper, Verhalten und Institutionen der Menschen stehe nahezu vollständig unabhängig von der Biologie (und insbesondere vom Testosteron) im Raum, ist heute so beliebt wie eh und je. Eine führende Vertreterin dieser Denkrichtung ist Cordelia Fine, Psychologin und Autorin des 2017 erschienenen Buches Testosterone Rex: Myths of Sex, Science, and Society. Nach ihrer Ansicht ist die Theorie, Testosteron spiele für das Verhalten von Männern eine zentrale Rolle, unter dem erdrückenden Gewicht der wissenschaftlichen Befunde gestorben. Den Dinosaurier wieder zum Leben zu erwecken, so Fine, ist nutzlos und gefährlich zugleich, denn solche Gedanken »zerstören die Hoffnung auf die Gleichberechtigung der Geschlechter«.34

Und weiter: Wer glaubt, »das biologische Geschlecht sei eine grundlegende, unterschiedlich gerichtete Kraft in der Entwicklung des Menschen«, fällt auf eine »sattsam bekannte Geschichte« herein, wonach »Unterschiede zwischen den Geschlechtern durch den Evolutionsdruck früherer Zeiten geprägt wurden – Frauen sind vorsichtiger und auf das Elterndasein konzentriert, während Männer nach Status streben, um mehr Partnerinnen anzulocken«.35

Testosterone Rex wurde mit dem renommierten Wissenschaftsbuchpreis der Royal Society ausgezeichnet. Ein Jurymitglied schrieb: »Dieses Buch erklärt hervorragend, wie jedes Baby, ob männlich oder weiblich, bei der Geburt so ausgestattet ist, dass es in jede Lebensform hineinwachsen kann.«36 Wenn wir uns die sexistische Geschichte über Evolution und Hormone – die Vorstellung vom »König Testosteron« – zu eigen machen, erlegen wir unserer Leistungsfähigkeit enge Grenzen auf. Um diese Grenzen zu beseitigen, so scheinen Fine und andere zu glauben, müssen wir die »tief verwurzelten Mythen«37 über biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern und insbesondere die über das Testosteron widerlegen.

Die Vorstellung, biologische Erklärungen für Geschlechterunterschiede müssten zwangsläufig zu einem Zukunftspessimismus und der fatalistischen Anerkennung geschlechtsabhängiger gesellschaftlicher Normen führen, ist allgemein verbreitet. Die Neurowissenschaftlerin Gina Rippon formuliert es in ihrem 2019 erschienenen Buch The Gendered Brain so: »Der Glaube an die Biologie bringt eine bestimmte Geisteshaltung im Hinblick auf eine festgelegte, unveränderliche Natur menschlicher Tätigkeiten mit sich und übersieht, welche Möglichkeiten sich durch unsere wachsenden Kenntnisse darüber eröffnen, in welchem Umfang unser flexibles Gehirn und seine anpassungsfähige Welt unauflösbar verwoben sind.«38

Eine sorgfältig zusammengestellte Literaturliste mit Büchern wie Testosteron: Warum ein Hormon nicht als Ausrede taugt, Testosterone Rex und vielen populärwissenschaftlichen Zeitschriften- und Zeitungsartikeln würde für jemanden mit wenigen Vorkenntnissen die Frage aufwerfen, was das ganze Getue eigentlich soll. Wenn die Wissenschaft wirklich so fehlerhaft ist, wie konnte dann der Mythos vom Testosteron als »männlichem Geschlechtshormon« überhaupt entstehen? Diese Frage beantwortet die Journalistin Angela Saini in ihrem populären Buch Inferior: How Science Got Women Wrong – and the New Research That’s Rewriting the Story. Was uns in die Irre geführt hat, war demnach der eindeutige, sehr reale Sexismus in der Wissenschaftsgeschichte. Nach ihrer Ansicht können wir die echten Belege nur dann erkennen, wenn wir Voreingenommenheit und Sexismus entlarven. Am Anfang des Buches fragt sie: »Hat die Verteilung und Ausgewogenheit der Geschlechtshormone über die Geschlechtsorgane hinaus eine Wirkung, die tiefer in unseren Geist und unser Verhalten eingreift und zu ausgeprägten Unterschieden zwischen Männern und Frauen führt?«39 Ihre Antwort ist eindeutig: »Es gibt zwischen den Geschlechtern nur wenig psychologische Unterschiede, und die Unterschiede, die man beobachtet, werden stark von der Kultur und nicht von der Biologie geprägt.«40

Ich stimme Saini darin zu, dass sexistische Einstellungen manchmal Einfluss auf die Forschung haben. Mit ihrer Antwort auf die Frage bin ich aber nicht einverstanden. Die Wissenschaft zeigt, dass die Antwort eindeutig Ja lautet. Testosteron lenkt Psychologie und Verhalten der Geschlechter in mehrfacher Hinsicht in unterschiedliche Richtungen.

In den nachfolgenden Kapiteln werden wir genauer erfahren, wie T sich im Dienste der Fortpflanzung auf unseren Körper, unser Gehirn und unser Verhalten auswirkt. Das sind keine schlechten Nachrichten, sondern Informationen, die uns weiterbringen. Nichts in unseren Kenntnissen über T oder Geschlechterunterschiede besagt, dass wir das derzeitige Maß an sexuellen Übergriffen, Belästigung, Diskriminierung oder Zwang hinnehmen müssten. Im Gegenteil: Gesellschaftlicher Fortschritt hängt vom wissenschaftlichen Fortschritt ab.41 Wenn wir verstehen, welche Kräfte unsere Prioritäten und unser Verhalten antreiben und welche Wechselwirkungen zwischen Genen, Hormonen und Umwelt ablaufen, verfügen wir über bessere Voraussetzungen, um die zerstörerischen Seiten unserer Natur zu bekämpfen. Es besteht keine Notwendigkeit, die Rolle des Testosterons in unserem Leben kleinzureden. Zu erfahren, wie die Welt funktioniert, und sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen, mag manchmal unangenehm oder beunruhigend sein. Aber ich hoffe, es ist meistens befriedigend, stärkend und macht manchmal sogar Spaß. So war es jedenfalls bei mir.

KAPITEL 2

Innere Ausscheidungen

REINHÄNGEN ODER RAUSHÄNGEN?

Stellen wir uns einmal ein paar Männchen aus dem Tierreich vor: Ein Frosch hüpft am Rand eines Teiches entlang, ein Elefant weidet in der afrikanischen Savanne, eine Möwe kreist über unseren Köpfen. Und jetzt stellen wir uns vor, ein Mann würde (nackt wie alle anderen Tiere) seinen Hund auf der Straße spazieren führen. Bei welchem dieser fünf Tiere sind die Hoden zu sehen? Das Bild, auf dem die Keimdrüsen von Frosch und Vogel in der Luft pendeln, scheint deplatziert, also stehen diese beiden Tiere vermutlich nicht auf unserer Liste. Was ist mit dem Elefanten? Die Vorstellung von hängenden Elefantenhoden ist zwar irgendwie naheliegend, aber falsch. Den Dickhäuter zu kastrieren, wäre eine echte Herausforderung. Wie bei Fröschen, Möwen und den meisten anderen Wirbeltieren liegen die Hoden eines Elefanten tief in seinem Körper verborgen. Der nackte Mann und sein Hund? Bei beiden Säugetieren sind die Hoden »abgestiegen« und hängen in einem Hautsack an der Leiste. Diese kostbaren, empfindlichen Organe, diese Samen- und Testosteronfabriken scheinen auf bizarre Weise verletzlich zu sein, hängen sie doch in einem Beutel aus dünner Haut.

Als Frau kann ich nur hilflos zusehen, wenn ein vergnügtes Football-Spiel plötzlich zur Qual wird, weil sich ein Spieler, zusammengekrümmt wie ein Fötus, auf den Boden wirft, sich windet und stöhnt. Ein Tritt, ein Schlag oder auch nur ein Klaps auf die Hoden scheint quälend schmerzhaft zu sein. Wenn so etwas geschieht, kann sich ein Mann vielleicht damit trösten, dass die Evolution die Schmerzen aus einem bestimmten Grund geschaffen hat: Wenn es wie verrückt wehtut, ist das Bemühen intensiver, ähnliche Situationen in Zukunft zu vermeiden. Aber ebenso, wie wir eine überzeugende Erklärung liefern müssten, wenn wir unser gesamtes Bargeld in einer Papiertüte auf die Fußmatte vor die Haustür legen würden, so muss die Evolution die Frage beantworten, warum sie diese kostbare Fracht überhaupt erst so verletzlich heraushängen lässt. Warum sind die Hoden nicht immer im Körperinneren untergebracht wie Herz und Gehirn?

In der Embryonalentwicklung aller Säugetiere liegen die Hoden zu Anfang in der Bauchhöhle nicht weit von den Nieren. Und bei den meisten Säugetieren einschließlich des Menschen steigen sie im Spätstadium der Schwangerschaft durch die Wirkung des Testosterons in den Hodensack ab. Bei Elefanten und einigen anderen Säugetieren jedoch, so beim Kap-Goldmull (der wie eine Mischung aus einem kleinen Igel und einem Hamster aussieht), Robben, Walen und Delfinen bleiben die Hoden wie die empfindlicheren weiblichen Eierstöcke an ihrem ursprünglichen Platz in der Bauchhöhle. Warum ist das so?

Genetische Befunde aus jüngerer Zeit legen die Vermutung nahe, dass die ersten Säugetiere ihre männlichen Keimdrüsen heraushängen ließen. Als aber der Evolutionsstammbaum der Säugetiere wuchs und sich immer weiter verzweigte, führten einige solche Zweige auch zu Arten, deren Gene für innere Hoden sorgten.1 Warum diese Arten einen anderen Weg einschlugen, weiß niemand genau, aber äußere Hoden müssen irgendeinen Nutzen haben – sonst hätte die Evolution sie durch die Bank ausgemerzt.

Eines weiß jeder Mann: Der Hodensack ist nicht einfach eine unbewegliche Tasche. Wenn ein Mann in kaltes Wasser eintaucht, spürt er, wie sich die Kremastermuskeln im oberen Teil des Hodensacks zusammenziehen und die Hoden näher an den wärmeren Körper drücken – manchmal so stark, dass es wehtut. Und wenn er seinen warm gelaufenen Laptop auf die Oberschenkel legt, entspannen sich die Muskeln, lockern den Griff und bemühen sich darum, die Hoden weiter vom Körper entfernt herunterhängen zu lassen. Wir wissen, dass der Hodensack der Klimasteuerung dient: Er sorgt dafür, dass die Temperatur der Hoden optimal ist, um Samenzellen zu produzieren. Dieses Optimum liegt ungefähr vier Grad niedriger als die Temperatur im Inneren des Körpers. (Wer für eine maximale Samenproduktion sorgen will, sollte enge Unterwäsche und zu langes Fahrradfahren vermeiden.2) Säugetiere mit inneren Hoden schaffen es ebenfalls, eine optimale Temperatur aufrechtzuerhalten, aber dazu dienen ihnen andere Systeme.3 Die Frage nach den Gründen für die unterschiedliche Lage der Hoden bei verschiedenen Arten ist bis heute nicht beantwortet.

Wenn man verstehen will, was Hormone sind und in welchem Zusammenhang sie mit der Männlichkeit stehen, sind die hängenden Hoden ein Glücksfall. Sie können entfernt werden, ohne ihren Eigentümer zu töten, und die nachfolgenden Veränderungen am Tier lassen sich leicht beobachten. Da der Zugang also relativ einfach ist, wissen die Menschen schon seit mehr als 2000 Jahren, dass die Hoden entscheidenden Einfluss auf Aussehen, Verhalten und Fortpflanzungsfähigkeit männlicher Tiere haben. Die moderne Verhaltensendokrinologie – die Erforschung der hormonellen Einflüsse auf das Verhalten – hat ihre Wurzeln in diesem uralten Wissen um die Wirkung der Hoden.

In dem vorliegenden Kapitel gehen wir der Frage nach, wie das Wissen um die Hoden zu einigen (nach heutigen Maßstäben) wahrhaft bizarren gesellschaftlichen Praktiken geführt hat und im 19. und 20. Jahrhundert die Voraussetzungen schuf, die zur Entdeckung des Testosterons führten. Mit ihrem Einfluss auf unser Gehirn und unseren Körper tragen die Hormone dazu bei, dass wir überleben und uns fortpflanzen können.

Deshalb wollen wir uns zunächst die Hoden ansehen und dann herausfinden, wie T seine magischen Wirkungen entfaltet.

Schon im vierten Jahrhundert v. Chr. machte sich Aristoteles Gedanken darüber, welche Veränderungen eine Kastration – die Entfernung der Hoden eines Tieres – auslöst. In seiner Geschichte der Tiere stellte er fest, dass die Unterschiede zwischen »intakten« und kastrierten Tieren an die zwischen Männern in verschiedenen Lebensstadien (Jugend, Mannesalter, Greisenalter) erinnern, aber auch an die zwischen Tieren, die sich fortpflanzen oder nicht fortpflanzen wie die Vogelmännchen, die im Frühling laut und bunt sind, im Herbst aber viel weniger auffallen. Kastrierte Tiere lieferten ein Indiz, dass die Hoden für Entwicklung und Aufrechterhaltung bestimmter männlicher Körper- und Verhaltensmerkmale verantwortlich sind:

»Manche Tiere ändern ihre Form und ihr Wesen nicht in einem bestimmten Alter oder zu bestimmten Jahreszeiten, sondern nachdem sie kastriert wurden […] Vögel werden am Hinterteil an der Stelle kastriert, an der sich die beiden Geschlechter vereinigen. Brennt man diese zwei- oder dreimal mit heißen Eisen aus, wenn der Vogel ausgewachsen ist, wird sein Kamm blass, er krächzt nicht mehr und er zeigt keinerlei geschlechtliche Leidenschaft. Brennt man den Vogel aber aus, wenn er noch jung ist, nimmt er keine dieser männlichen Eigenschaften oder Neigungen an, wenn er heranwächst. Bei Männern ist das Gleiche der Fall: Verstümmelt man sie im Knabenalter, kommen nie die später wachsenden Haare, und die Stimme verändert sich nicht, sondern behält den hohen Klang […]. Der angeborene Haarwuchs fällt nie aus, denn ein Eunuch wird niemals kahlköpfig.«4

Als »Eunuch« (von den griechischen Begriffen für »Bett« und »bewachen«) kann jeder Mann bezeichnet werden, der kastriert wurde, insbesondere aber dann, wenn er auch als Diener oder Beschützer eines Harems tätig ist.

Ob es nun darum ging, Feinde oder Vergewaltiger zu bestrafen, zu verhindern, dass geistig behinderte Menschen Kinder bekamen, um die hohe Stimme eines kleinen Jungen zu bewahren, die Rolle einer Frau zu verkörpern oder einen Diener weniger wollüstig zu machen: Die Kastration war in vielen Kulturen und Zeitaltern üblich.

KASTRATEN