Tage einer Hexe - Genoveva Dimova - E-Book

Tage einer Hexe E-Book

Genoveva Dimova

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Beschreibung

Eine unvergleichliche Geschichte voller Monster und dunkler Magie Als Hexe hat Kosara viel Übung im Kampf gegen die gefährlichen Fabelwesen, die in jeder Neujahrsnacht über ihre Stadt herfallen. Es gibt nur ein Monster, das Kosara nicht besiegen kann: den Zmey, bekannt als Zar der Monster, dem sie als einzige je entkommen ist. Sie hat ihn einmal zu oft gereizt, und nun beginnt er sie zu jagen... Nachdem Kosara ihren Hexenschatten – die Quelle ihrer Kräfte – kurz vor Mitternacht fast beim Kartenspiel an einen Fremden verloren hat, wird ihr klar, dass der Zmey sie verfolgt. Nun besteht ihre einzige Hoffnung darin, ihren Schatten gegen eine illegale Passage über die Mauer zur Nachbarstadt zu tauschen, wohin ihr die Monster nicht folgen können. Das Leben im sicheren Belograd wäre schön, doch Kosara entwickelt schon bald eine oft tödliche Krankheit, die schattenlose Hexen heimsucht. Nur die Rückgewinnung ihrer Magie kann sie heilen. Um ihren Schatten aufzuspüren, muss sie sich mit einem verdächtig aufrechten Ermittler zusammentun. Noch schlimmer als die Zusammenarbeit mit der Polizei ist – und alle Hinweise legen das nahe – dass Kosaras rettende Magie sich nun in den Händen des Zmey selbst befindet. »Dimova glänzt mit ihrem fesselnden Fantasy-Debüt, eine herausragende Lektüre.« Publishers Weekly »Als würden sich Delilah S. Dawson und Naomi Novik zusammentun, um The Witcher neu zu schreiben.« Library Journal

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 558

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Dies ist der Umschlag des Buches »Tage einer Hexe« von Genoveva Dimova, Andrea Wandel, Wieland Freund

Genoveva Dimova

Tage einer Hexe

Aus dem Englischen von Wieland Freund und Andrea Wandel

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Witch’s Compendium of Monsters,

Book 1: Foul Days« im Verlag Tor Books, New York

© 2024 by Genoveva Detelinova Dimova

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i. S. v. § 44 b UrhG vorbehalten

Cover: Klett-Cotta unter Verwendung einer Illustration von © Vera Drmanovski

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-96608-4

E-Book ISBN 978-3-608-12361-6

1

Es ging auf Mitternacht zu in dieser Neujahrsnacht. Die Stadt hinter der Mauer jedoch feierte nicht. Ihre Einwohner wussten, dass die Geburt eines neuen Jahrs – wie jede Geburt – schwer, schmerzhaft und gefährlich war.

Nur eine einzige Schenke, tief unter Chernograds steilen Türmen in die Schneeverwehungen geschmiegt, hatte in dieser Nacht geöffnet. Sie war brechend voll, doch die Stimmung war seltsam gedämpft. Die Gäste saßen dicht gedrängt, Schulter an Schulter, hoben sie die Gläser. Am Tisch in der Ecke war es hinter einer Wolke aus Pfeifenrauch besonders still. Kosara musste ihren Einsatz abwägen, und sie ließ sich Zeit.

Allein die besten Kartenspielerin zu sein, würde in dieser Nacht für einen Sieg nicht reichen: Es brauchte schon die beste Betrügerin. Und um zu betrügen, musste dieses verdammte Kaminfeuer heller brennen.

»Und?«, sagte Roksana. Pflaumenbrand tropfte von ihrem Kinn auf die Tischplatte und schimmerte im schwachen elektrischen Lampenlicht wie flüssiger Bernstein. Die Goldperlen, die ihre beiden dicken Zöpfe zusammenhielten, glitzerten in scharfem Kontrast zu ihrer gebräunten Haut. Ihre Finger trommelten auf den Kartenstapel, bereit zu geben. »Bist du dabei?«

Alle drei – Roksana, Malamir und der Fremde – ließen Kosara nicht aus den Augen. Nicht mit den Mundwinkeln zucken. Nicht zu laut schlucken, nicht die verschwitzten Handflächen an den Hosenbeinen abwischen, versuch dich zu beruhigen …

»Gib mir noch einen Moment«, sagte sie. »Ich muss überlegen.«

»Scheiße nochmal, Kosara!« Roksana donnerte ihren Krug auf den Tisch. Ein paar Gäste an den anderen Tischen zuckten zusammen. Es konnte einem Angst machen, wenn eine Frau dieser Größe außer sich geriet. »Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.«

Kosara ließ sich von der Lautstärke nicht einschüchtern. Sie wusste nur zu gut, wie es klang, wenn Roksana wirklich wütend war. Eigentlich war sie auch gar nicht bei der Sache. Immer wieder wanderte ihr Blick zur Uhr hinauf, deren Zeiger näher und näher gen Mitternacht rückten.

»Scht, du alte Nörglerin.« Kosara sah auf ihre Karten. Die Kreuzdame, kam es ihr, eine Frau mit schwarzem Haar und schwarzen Augen – das muss ich sein. Außerdem hatte sie einen Kreuzkönig und eine Karofünf auf der Hand. Wenn sie aus der Fünf ein Ass machen könnte, hätte sie das zweitstärkste Blatt im Kral.

Kosara warf einen Blick auf die Scheite im Kamin. Gefühlt glommen sie dort seit Stunden, zischten bloß dann und wann und verbreiteten einen Hauch von Rauch. Sie könnte sie sanft entfachen, aber war es das Risiko wert?

Für einen quälend langen Moment war nichts weiter zu hören als das leise dudelnde Grammophon im Winkel und das sachte Gluckern von Roksanas Pfeife.

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Unter dem Tisch schnippte Kosara heimlich mit den Fingern. Das Feuer knackte. Helle Flammen leckten aus den Scheiten.

Sie sah sich um. Roksana sog mit gesenkten Lidern an ihrer Pfeife. Die obersten Knöpfe ihrer Bluse standen offen, und ihre vielen Ketten mit den Glöckchen aus Messing und den Bösen Blicken aus blauem Emaille schauten darunter hervor. Malamir und der Fremde hingen ihren eigenen Gedanken nach, bissen sich auf die Lippen, sortierten ihre Karten neu und zählten ihre Marken.

Kosaras Schatten zu ihren Füßen wuchs. Er wurde größer, dunkler und stärker, die Flammen nährten ihn. Sie gab sich Mühe, ihm mit dem Blick nicht zu folgen, als er sich unter den Tisch stahl.

»Oh mein Gott!«, sagte Kosara und heftete den Blick ans vergitterte Fenster. Draußen wirbelte der Schnee, die Suchscheinwerfer stachen in den Himmel, darunter der Schatten, den die Mauer warf. Aus der Entfernung wirkte sie wie aus Granit, dunkel und hart. Kam man näher, schien sie etwas Lebendiges zu sein, wirbelnd und wogend, als würden auf der anderen Seite Tausende Finger versuchen, sie zu durchstoßen.

An jedem anderen Tag hätten Kosaras Mitspieler ein solches Ablenkungsmanöver durchschaut. In dieser Nacht folgten alle ihrem Blick.

»Sie sind schon da?« Behutsam lösten Roksanas Finger ihre Pistole aus dem Holster. Sie wirkte seltsam klein in ihrer Hand.

Malamirs Lederhose quietschte, er rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Beinahe fühlte Kosara sich schuldig, als sie die Panik in seinen Augen sah. Beinahe.

»Das kann nicht sein«, murmelte er. »Es ist zu früh.«

Der Fremde nestelte an seinem gepunkteten Halstuch, als säße es auf einmal zu eng. Sein Blick huschte zum Fenster, zu Roksanas Pistole und zurück. Sein Mund stand halb offen, als fiele gleich eine Frage heraus, die er schließlich mühsam runterschluckte.

Kosaras Schatten streckte einen dunklen Finger über die Tischkante und blätterte flirrend schnell durch den Stapel, bis er die richtige Karte fand. Dann tauchte er wieder unter den Tisch.

»Ich sehe da gar nichts«, sagte Malamir. Er zwinkerte heftig, seine großen Augen wirkten hinter den dicken Brillengläsern noch größer.

»Nein.« In Roksanas Stimme schlich sich ein Verdacht. »Ich auch nicht.«

Unter dem Tisch reichte der Schatten Kosara das Ass. Schnell tauschte sie es gegen die Fünf.

»O, nein, tut mir leid.« Sie versuchte, ehrlich nervös zu klingen. Groß verstellen musste sie sich dafür in dieser Nacht nicht. »Ich muss es mir eingebildet haben. Vielleicht war’s eine streunende Katze.«

Über den Goldrand seiner Brillengläser warf ihr Malamir einen strengen Blick zu. Sie hätte sich schlecht gefühlt, wäre sie sich nicht sicher gewesen, dass auch er betrog. Genau wie der Fremde: Niemand hatte so viel Glück. Und wenn alle betrogen, sagte sie sich, war es, als betrüge keiner.

»Tut mir leid«, sagte sie noch einmal. »Wir sind alle ein bisschen angespannt heute Nacht, nicht wahr?«

Roksanas Pfeife wippte in ihrem Mund, während sie darüber nachdachte. Der Rauch war jetzt so dicht, dass Kosaras Augen tränten. Es roch nach verschüttetem Bier, übervollen Aschenbechern und zu vielen Leuten auf engem Raum, doch darunter lag der süße Duft von Seher-Salbei. Kosara hätte ihn überall erkannt – ein mächtiges Sedativ, das sie in all ihre Tränke für schöne Träume mischte. Jedes Mal, wenn Roksana an ihrer Pfeife sog, wallte der Geruch auf, stieg ihr in die Nase und machte ihre Augenlider schwer.

Sie hätte Roksana vorwerfen können, sie alle einzulullen, aber sie hütete sich, mit der Kartengeberin zu streiten.

»Spielen wir also weiter?« Kosara warf ihr ein gewinnendes Lächeln zu.

Roksana seufzte und verstaute die Pistole wieder im Holster. »Du steigst also nicht aus? Ich weiß es immer noch nicht.«

»Ich bin dabei.«

»Das war aber schwer. Oder, Malamir?«

»Es ist schon spät.« Die Uhr rutschte aus Malamirs zitternden Fingern und pendelte an ihrer Kette hin und her.

Sieh an! Eine Hypnose-Uhr. Es war die erste, die Kosara in freier Wildbahn sah. Sie spürte den Drang, ihren Einsatz zu verdoppeln.

»Wo hast du die denn her?«, fragte sie.

Malamir grinste und zeigte seine schimmernd weißen Zähne. »Die Uhr? Hübsch, oder? Ich hab sie beim Kartenspiel gewonnen.«

Kein Wunder, dass es für den alten Halunken so gut lief. Wäre er nicht schon ausgestiegen, Kosara hätte ihn mit Freuden bei der offenbar nichts ahnenden Roksana verpfiffen. So behielt sie die Information für sich. Sie könnte sich noch einmal als nützlich erweisen.

»Na dann«, sagte Roksana. »Und was ist mit Ihnen, Herr …?«

»Mein Name ist nicht von Bedeutung«, sagte der Fremde.

Kosara verdrehte die Augen. Er gab den »geheimnisvollen Finsterling« viel zu bemüht. Nannte er nicht gerade seinen Einsatz, sprach er kein Wort. Schaute er nicht in seine Karten, starrte er Kosara an, als warte er auf etwas. Als hätte er noch nie eine Hexe gesehen.

»Also, Herr Nicht-von-Bedeutung.« Roksana kicherte über ihren Witz. »Sind Sie dabei?«

»Möglicherweise.« Der Fremde lockerte den Knoten seines Halstuchs. Mit der Spitze seines roten Halbschuhs tippte er auf den staubigen Fußboden. »Möglicherweise bin ich dabei. Wenn wir das Ganze etwas interessanter machen.«

Kosara sah auf den Stapel ihrer Marken. Es war gut gelaufen für sie. Die Silbernen würden reichen, um einen Monat lang wie eine Königin zu speisen. Mit den Bronzenen könnte sie das Kleid kaufen, das sie im Fenster des Schneiders gesehen hatte: Samt und schwarz wie die Mitternacht. Und mit denen aus Eisen könnte sie morgen eine Runde schmeißen – um zu feiern, dass sie diese Nacht überlebt hatten.

Sie fuhr über die Narbe auf ihrer Wange, drei üble Schrammen. Jede Hexe, die etwas auf sich hielt, hatte ein paar Narben aus der Schlacht. »Wie viel?«

»Ich will dein Geld nicht«, sagte der Fremde.

»Was willst du dann?«

Langsam nahm er das Halstuch ab. Roksana stieß einen Pfiff aus.

Um seinen Hals hing eine Kette aus schwarzen Perlen. Er strich mit der Handfläche darüber, und sie zitterten wie Kerzenflammen im Wind.

Kosara biss sich fest auf die Lippe, beinahe bis aufs Blut. Der Fremde trug eine Halskette aus Hexenschatten.

»Ich will deinen Schatten«, sagte er.

Im Dunst von Seher-Salbei und Alkohol witterte Kosara Gefahr. Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Haar ihre Wangen peitschte. »Nein. Das kann ich nicht.«

»Denk drüber nach. Du setzt bloß einen Schatten. Ich hingegen biete« – er wog sie in der Hand – »elf. Das ist ein gutes Geschäft.«

»Ich bin eine Hexe. Ohne meinen Schatten bin ich nichts.«

»Du bist eine mittelmäßige Hexe. Ich biete dir echte Macht.«

Eine mittelmäßige Hexe. Sie wäre beleidigt gewesen, hätte es nicht gestimmt. Sie konnte mit einem Fingerschnipsen ihren Kaffee aufwärmen und ihren Schatten bitten, den Mantel zu holen. An einem guten Tag brachte sie auch ein Feuerwerk zustande oder zwei. Wohnzimmertricks.

Würde sie gewinnen, würde sie eine richtige Hexe werden wie die aus den alten Märchen. Sie würde in allen Kneipen, Cafés und Restaurants mit Alchemistengold bezahlen. Sie würde sich ein Kleid aus Mondlicht weben. Sie würde den Fluss in Wein verwandeln und der ganzen Stadt einen ausgeben.

Aber wenn sie verlieren würde …

Jeder wusste, was mit Hexen geschah, die ihren Schatten eingebüßt hatten: Langsam verwandelten sie sich selber in Schatten. Es konnte Jahre dauern oder sogar Jahrzehnte, aber es war unausweichlich. War die Chance auf eine fast unbeschränkte Macht es wert, ihren Körper aufs Spiel zu setzen?

»Komm schon, Kosara«, sagte der Fremde. »Stell dir nur vor, was du mit so viel Magie anstellen könntest. Du könntest die Mauer überwinden und dieser verfluchten Stadt entkommen. Wäre das nicht wunderbar?«

Kosara nagte an ihrer Lippe. Der Fremde machte sich eine völlig falsche Vorstellung. Sie wollte die Mauer gar nicht überwinden, was in Chernograd ziemlich selten vorkam. Sie konnte nicht zusehen, wie ihre Stadt von Monstern verwüstet würde, während sie fröhlich auf der anderen Seite weiterlebte.

Nein, was sie wirklich wollte, war die Monster erledigen, ein für alle Mal. Und mit einer solchen Macht könnte ihr das endlich gelingen.

»Mach keine Dummheiten, Schätzchen.« Malamirs erschrockener Blick suchte ihren.

»Wer nicht wagt« – Roksana feuerte eine Rauchwolke auf sie ab –, »kann nicht gewinnen.«

»Also?«, sagte der Fremde. »Ich habe gehört, du könntest einem guten Spiel nicht widerstehen.«

»Wer hat dir das gesagt?«, fragte Kosara.

»Ein Freund von dir.«

Kosara musterte Roksana und Malamir. »Freunde« hätte sie die beiden nicht genannt. Eher waren sie Bekannte.

Roksana feixte, halb verborgen hinter einem Vorhang aus Rauch. »Ich war’s nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Malamir schnell. »Würde ich nie machen.«

»Wie viele Jahre kennen wir uns jetzt?«, fragte Roksana. »Und nie habe ich ein schlechtes Wort über dich verloren.«

»Ich auch nicht«, ergänzte Malamir. »Niemals.«

Kosara schnaubte. Dreckige Lügner. Die beiden hatten Glück, dass sie sie mochte.

Sie sah auf die Karten in ihren zitternden Fingern. Ihr Blatt war beinahe unschlagbar. Der Fremde konnte nur gewinnen, wenn er König, Königin und ein Pikass hatte.

Kosara hatte schon auf viel schlechtere Blätter gesetzt, allerdings war der Einsatz noch nie so hoch gewesen.

»Komm schon, Kosara«, sagte der Fremde wieder.

Er würde nicht so einfach aufgeben. Man konnte einen Hexenschatten nicht stehlen – er musste freiwillig gegeben werden. Er hatte schon elf Hexen dazu gebracht.

Kosara stürzte ihren Pflaumenbrand herunter. Er brannte auf der Zunge und versengte ihren Rachen, ihre Nerven beruhigen konnte er leider nicht.

»Kosara.« Malamir legte ihr die Hand auf die Schulter. Seinem Blick wich sie aus. Aus dem Augenwinkel sah sie seine Hypnose-Uhr. Halb verborgen, schwang sie in der Höhle seines Mantelkragens. »Ich glaube nicht, dass das schlau ist …«

»Lass sie in Ruhe, verdammt«, schnappte Roksana. »Das ist ihre Entscheidung. Unsere Kosara weiß schon, was sie tut.«

Weiß ich das? Kosara versuchte, ihre Hände zu beruhigen. Ihr Herzschlag wummerte in ihren Ohren, so laut, dass sie beinahe überhörte, wie die Uhr schlug.

Es war Mitternacht.

Für einen bizarren Moment fühlte sich Kosara erleichtert – heute Nacht musste sie sich nicht entscheiden. Es war zwölf.

»Also?«, sagte der Fremde. »Was sagst du?«

Kosara sah ihn finster an. »Wir müssen wann anders weiterspielen.«

»Wieso?«

»Es ist Mitternacht.«

»Und?«

Er musste scherzen. Es war unmöglich, dass er es nicht wusste.

»Was ist denn los? Worum geht’s?«

Kosara deutete mit dem Kinn zum Fenster. Für den Augenblick war es noch still. Man hörte nichts außer dem fernen Zischen und Platzen des Feuerwerks jenseits der Mauer. Chernograd schlief unter seiner Decke aus Schnee.

Dann begann der Albtraum.

Die Scheinwerfer strahlten heller, bewegten sich schneller und schneller, suchten hektisch den schwarzen Himmel ab. Eine Sirene erklang, so laut, dass nicht einmal der Schnee ihr Wehklagen dämpfen konnte.

Die Monster sanken auf die ummauerte Stadt herab. Ihre öligen Schwingen schimmerten im Mondlicht und ihre Augen leuchteten wie Laternen. Wenn sie landeten, kreischten ihre Krallen auf den Kopfsteinen.

Hektisch tastete Kosara ihre Taschen ab, ob auch alle Talismane waren, wo sie sein sollten. Den aus Hasenpfote und Junghahnenkamm einzusetzen, reizte sie besonders – er würde erdrosseln, wer oder was auch immer auf ihr landen wollte.

Sollen sie doch kommen. Sie fixierte das Fenster. Die Straßenlaternen flackerten, legten die dunklen Schatten der Monster bloß und verbargen sie dann wieder. Sollen sie doch kommen.

Es kratzte an der Tür, etwas schnurrte.

»Ist das eine streunende Katze?«, fragte der Fremde sich beinahe verhaspelnd. »Bitte, sagt mir, dass das bloß …«

Aus dem Schnurren wurde ein Grollen. Etwas Schweres rammte die Tür. Die Angeln quietschten, ächzten unter dem Druck. Krallen schnitten ins Holz, tief genug, dass ihre scharfen Spitzen auf der anderen Seite hervortraten.

Malamir bekreuzigte sich. Roksana entsicherte ihre Waffe.

»Was zur Hölle ist das?«, schrie der Fremde.

Kosaras Finger schlossen sich um den Talisman in ihrer Tasche, die magischen Worte schon auf den Lippen. Nur falls der Schutzkreis, den sie vor der Tür gezogen hatte, versagte …

Ein schrilles Kreischen, als hätte sich ein Tier plötzlich böse verbrannt.

Kosara grinste. Der Schutzkreis hatte getan, was er sollte. Die heutige Nacht war ein erster Test gewesen, zweifellos der erste von vielen. Auf Zehenspitzen näherte sie sich dem Fenster, vorsichtig darauf bedacht, hinter dem Vorhang zu bleiben.

Ein paar pelzige Gestalten jagten über die Straße und hinterließen tiefe Spuren im frischen Schnee. Im Dunkeln hätte man sie für Kinder halten können – so klein waren sie –, wären da nicht ihre Zähne gewesen, lang wie Dolche. Als sie beim Hutmacher vorbeiliefen, zersprangen sämtliche Spiegel im Schaufenster.

»Karakonjuln«, sagte sie, zurück an ihrem Platz. »Sie sind jetzt fort. Bestimmt haben sie irgendwo leichtere Beute gewittert.«

»Kara-was?«, fragte der Fremde. »Was soll das sein? So was wie verwilderte Hunde?«

Roksana lachte laut auf, ihr Goldzahn blitzte. »Schon mal einen gehörnten, blutsaugenden Hund gesehen? Die Varkolaks sind die Hunde.«

»Nein, sind sie nicht«, schnappte Kosara. »Die Varkolaks verwandeln sich in Wölfe. Jesus, Roksana, als Monsterjägerin solltest du das wissen.«

Wieder drang Lärm von außen herein. Der Fremde sprang auf. »Und was war das?«

Etwas trampelte über das Dach, die Lampe schwang hin und her. Von der Decke rieselte Staub.

»Eine Ruba höchstwahrscheinlich. Manchmal nisten sie auf Dächern.« Der Fremde sah immer noch aus wie versteinert, also fügte sie hinzu: »Nichts, weswegen du dir Sorgen machen müsstest, es sei denn, sie ruft deinen Namen.«

»Was?«

»Das würde dann heißen, dass du sterben musst. Hast du denn den Leitfaden nicht gelesen?«

»Den was?«

Einfach unglaublich. Der Bund der Hexen und Hexenmeister gab jedes Jahr einen heraus. Er enthielt detaillierte Informationen über die verschiedenen Monster und die Methoden ihrer Bekämpfung. Kosara hatte Stunden damit verbracht, die Umschläge anzulecken, bevor sie an jeden Haushalt in Chernograd verschickt worden waren.

Doch Jahr für Jahr stellte sie fest, dass sich niemand auch nur die Mühe machte, den Leitfaden zu lesen.

Chernograd würde seine Monster niemals loswerden, wenn es sich weigerte, auf seine Hexen zu hören. Es war ja so viel einfacher, irgendeinem Scharlatan eine »Anti-Ungeheuer«-Kette abzukaufen, als Espenpfähle zu schnitzen und heiliges Wasser zu destillieren. Der Unterschied war bloß, dass Letzteres funktionierte und Ersteres nicht.

Der Fremde schluckte, sein Adamsapfel wanderte auf und ab. »Augenblick, du willst mir weismachen, dass da so ein großer prophetischer Vogel …«

»Halb Frau, halb Vogel.« Kosara spitzte die Ohren. Genau genommen klang das gar nicht wie eine Ruba. Es schienen eher Hufen als Krallen zu sein, die da auf die Dachziegel trommelten. »Es könnte aber auch eine Samodiva sein. Die reiten auf Hirschen mit goldenen Geweihen und machen vor gar nichts halt.«

Den letzten Satz musste sie förmlich brüllen, weil der Wirt mit dem Kolben seines Gewehrs gegen die Decke hieb, bis das, was da auf dem Dach gelandet war, endlich fortflog.

Der Fremde sah sich um, als könnte er nicht fassen, dass niemand sonst die Fassung verlor. Die übrigen Gäste tranken in aller Stille weiter.

»Was zum Teufel ist eine Samodiva?«

»Schöne Frauen, die dich zwingen, mit ihnen zu tanzen.«

»Das klingt so übel nicht.«

»Bis du vor Erschöpfung stirbst.«

»Oh.« Ein Schweißtropfen rann über die Stirn des Fremden und landete in seinem Auge. Er zwinkerte heftig. »Aber wieso? Wieso sind all diese Monster hier?«

Roksana lachte. »Es ist Neujahr. Vergessen?«

»Was hat das damit zu tun?«

»Die Schmutzigen Tage sind angebrochen«, sagte Malamir bedeutungsvoll, als zitiere er eine uralte Grabinschrift. Vor Ewigkeiten hatte er sich einmal kurz als Schauspieler versucht und war den Hang zum Dramatischen nie ganz losgeworden. »Das neue Jahr ist geboren, aber noch nicht getauft. Die Monster streifen ungehindert durch die Straßen.«

Kosara sah aus schmalen Augen auf den Fremden hinab. »Du hast noch nie von den Monstern gehört? Im Ernst?«

»Doch«, sagte der Fremde. »Doch, natürlich. Aber mir war nicht klar, dass sie einfach so vom Himmel fallen. Als hagelte es plötzlich Zähne.«

»Das tun auch nicht alle«, sagte Kosara. »Das sind nur die Eindringlinge. Die Karakonjuln, die Samodiven, die Ruba … Oh, und die Rusalken.«

»Die Rusalken?«

»Fischleute«, warf Roksana ein.

»Nicht ganz«, sagte Kosara. »Aber so ungefähr.«

»Aha«, sagte der Fremde. »Das sind also die Eindringlinge.«

Malamir fuhr in seinem bedeutungsschwangeren Ton fort. »Sie finden nur während der Schmutzigen Tage hierher, wenn die Grenze zwischen unserer und ihrer Welt haarfein ist.«

»Und die anderen?«, fragte der Fremde.

»Kommen von hier«, sagte Kosara. »Sie werden in den Schmutzigen Tagen bloß aktiver – und mächtiger. All die Upire erheben sich aus ihren Gräbern, all die Gespenster erwachen, all die Varkolaks verwandeln sich in Wölfe …«

»Ich weiß nicht mal, wie ihr die alle auseinanderhaltet.«

»Das ist eigentlich ziemlich einfach.« Kosara musterte den Fremden. Das ging weit über ungelesene Aufklärungsschriften hinaus. Hatte er jede Neujahrsnacht seines Lebens verschlafen? »Ich kann kaum glauben, dass du nichts darüber weißt.«

»Ich habe Gerüchte gehört, sicher. Aber ich bin davon ausgegangen, dass euer Völkchen übertreibt. Ihr seid für euren Aberglauben bekannt. Nicht böse gemeint.«

Wenn es um Leben oder Tod geht, wärst du auch abergläubisch. Ein Amulett sollte man nicht mit einem Talisman verwechseln, wenn es galt, beim Angriff eines Monsters die eigene Haut zu retten.

Dann ging Kosara auf, was der Fremde da gerade gesagt hatte. Euer Völkchen …

»Du bist von der anderen Seite der Mauer, oder?«, fragte sie.

Als der Fremde stumm blieb, wusste sie, dass sie richtiglag.

Jetzt, wo sie drüber nachdachte, war es offensichtlich, dass er nicht von hier stammte. Er schien älter als sie zu sein, Mitte dreißig vielleicht, aber seine Haut war glatt und nicht vernarbt. Er trug einen leichten Mantel – mitten im Winter! Statt in Stiefeln steckten seine Füße in Halbschuhen aus Wildleder. Er würde sie sich abfrieren draußen im Schnee.

Armer Kerl. Ausgerechnet an Neujahr war er nach Chernograd gekommen. Entweder war er sehr mutig oder vollkommen ahnungslos. Zurzeit tippte Kosara auf ahnungslos.

»Von der anderen Seite der Mauer?« Mit seinem langen Zeigefinger schob Malamir sich die Brille wieder die Nase hoch. »Wie bist du hierhergekommen?«

»Das geht dich gar nichts an«, schnappte der Fremde.

Kosara musterte ihn mit einem prüfenden Blick. Genau, wie? Wie war ein ahnungsloser Fremder auf dieser Seite der Mauer gelandet, mit elf Hexenschatten um den Hals?

Die Mauer zu überwinden, war gefährlich. Ihre Tentakel ragten hoch in den Himmel, sodass niemand darüber zu fliegen vermochte. Ihre Wurzeln reichten tief in die Erde, sodass sich niemand durchgraben konnte.

Doch gefährlich hieß nicht, dass es unmöglich war. Es gab Amulette, die einen auf die andere Seite teleportierten, und Talismane, die einen vor dem Zorn der Mauer bewahrten. Billig aber war das alles nicht. Kosara kannte Leute, die ihren gesamten Besitz gegeben hatten, um Chernograd zu entkommen.

Die Reichen überquerten die Mauer ständig, hatte sie gehört, und kehrten in fremdartigen Seidenkleidern zurück, mit seltsam duftendem Alkohol, den sie auf ihren feinen Partys ausschenkten. Kosara hatte wenig Gelegenheit, die Reichen selbst danach zu fragen. In Chernograd waren sie so selten wie ein nüchterner Mann in einer Freitagnacht.

Jemandem aber, der die Mauer in entgegengesetzter Richtung überquert hatte, war sie noch nie begegnet. Jemandem aus Belograd.

Alle Belograder waren Feiglinge. Deshalb hatten sie die Mauer ja überhaupt gebaut: um die Monster aus ihrer hübschen Stadt zu halten. Zum Teufel mit denen, die sie mit ihnen eingesperrt hatten.

Tatsächlich hegte Kosara den Verdacht, dass das den Belogradern eher zupassgekommen war. Gab es eine bessere Methode für das reiche Belograd, seine armen Nachbarn ein für alle Mal loszuwerden? Chernograd war ein Krebsgeschwür, das man isolieren musste, bevor es streute.

Der Fremde setzte sich auf. »Und was macht ihr jetzt?«

Kosara zuckte mit den Schultern. »Was wir in jeder Neujahrsnacht tun. Wir warten, dass es vorübergeht.«

»Wir versuchen zu überleben«, sagte Malamir.

Roksana hob ihr Glas. »Ich für meinen Teil beabsichtige, mich total abzuschießen.«

»Wie gesagt …«, Kosara warf ihr einen Blick zu, »… was wir in jeder Neujahrsnacht tun.«

»Für wie lang?«

»Bis zum ersten Hahnenschrei am Jordanstag«, sagte Malamir. »Dem Tag der Taufe.«

»Zwölf Tage«, fügte Kosara hinzu, weil der Fremde noch immer verwirrt schien.

»Zwölf Tage!« Die Stimme des Fremden klang immer schriller.

»Ihr wollt mir weismachen, dass hier die nächsten zwölf Tage Monster die Straßen unsicher machen, während ihr hier bloß hockt und sauft?«

»Ist kein ganz schlechter Ort, um sich zu verbarrikadieren«, sagte Kosara. »Jede Menge Schlafsäcke, Dosenfutter, helles Licht, um die Ruba fernzuhalten und Knoblauch gegen die Upire.«

»Jede Menge Stoff«, fügte Roksana hinzu.

Der Fremde ließ den Blick durch die Kneipe schweifen. »Ihr seid ja alle völlig wahnsinnig! Wie könnt ihr so ruhig bleiben?«

Glaub mir, ich bin alles andere als das. Kosara war freudig überrascht, dass der Fremde ihr Herz nicht schlagen hörte.

Roksana klopfte dem Fremden auf die Schulter, dass er schwankte. »Du hast dich bald dran gewöhnt.«

»Das glaube ich kaum.«

»Dir wird nichts geschehen«, sagte Kosara. »Uns allen nicht.«

Ja, die Monster waren furchterregend, unschlagbar aber waren sie nicht. Sie hatten alle ihre Schwächen: Karakonjuln hassten Rätsel, die sie nicht lösen konnten, Ruba ertrugen ihr eigenes Spiegelbild nicht, Samodiven wurden von Musik leicht abgelenkt. Am Ende lief es darauf hinaus, diese Schwächen zu kennen, und niemand kannte sie besser als eine Hexe. Kosara hielt für jede mögliche Wendung einen Talisman bereit, für jeden erdenklichen Gegner …

Für jeden, mit einer Ausnahme. Eines der Monster konnte nicht besiegt werden, wie sie aus eigener schmerzvoller Erfahrung wusste. Eines von ihnen ließ ihr Schauer über den Rücken laufen und trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Eines würde sie liebend gern niemals wiedersehen …

»Das sind dann alle Monster, ja?«, fragte der Fremde, die Faust noch immer fest um sein Halstuch geschlossen. Er musste es in Kosaras Miene gelesen haben. »Sie sind jetzt alle da?«

»Nein«, sagte Kosara. »Nicht alle.«

»Und welches fehlt noch?«

»Wer fehlt noch.« Kosara holte tief Luft. Lachhaft, aber selbst für seinen Namen musste sie sich erst wappnen. Als könnte allein sein Name ihn heraufbeschwören. »Der Zmey. Der Zar der Monster.«

Sie konnte nicht anders, als zum Fenster zu sehen, wo sie halb erwartete, sein bleiches Gesicht zu erblicken, eingerahmt von der dunklen Straße.

Aber da war er nicht. Natürlich war er da nicht. Der Zmey kam immer als Letzter.

Manchmal fragte sich Kosara, ob er das bloß tat, um sie zu quälen. Ob er es jedes Jahr ein bisschen länger hinauszögerte, weil er wusste, dass sie sich jedes Mal der Hoffnung hingab, dass er diesmal, vielleicht ja diesmal, gar nicht käme.

Aber gewiss doch hatte der Zar der Monster Wichtigeres zu tun, als sie zu quälen?

»Und was ist so besonders an ihm?«, fragte der Fremde. »An diesem Zmey? Ist er der Größte und Monströseste?« Er kicherte nervös.

Wie schön, dass du dir deinen Humor bewahrst, Mann aus Belgograd.

»Nein.« Kosara umklammerte den Talisman in ihrer Tasche noch fester. »Er ist der Menschlichste.«

2

Früher am Tag hatte Kosara die Locke des Zmey hervorgeholt. Sie hatte sie sorgsam zwischen den Seiten einer alten Zauberspruchsammlung verwahrt. Vor lauter Angst, dass die Locke verschwinden könnte, wenn sie sie nur allzu lange aus den Augen ließe, hatte das Buch das ganze Jahr über auf ihrem Nachttisch gelegen.

Es war nicht leicht gewesen, an die Locke zu kommen.

Seit sie vor sieben Jahren seinen Palast verlassen hatte, hatten Kosara und der Zmey ein jährliches Ritual entwickelt. Jedes Jahr gab sie alles, um ihm aus dem Weg zu gehen. Und jedes Jahr spürte er sie dennoch auf. Dann lächelte er sein hübsches Lächeln und sagte mit seiner süßesten Stimme: »Wie wäre es mit einem Kartenspiel?«

Der Einsatz? Eine Haarlocke.

Sie war nicht bloß ein sentimentales Andenken. Für eine Hexe bedeutete eine Haarlocke Macht. Sie bedeutete, eine Waffe gegen ihn zu haben – falls Kosara das Kartenspiel gewann. Keine Waffe, die mächtig genug gewesen wäre, ihn zu verletzen, vielleicht aber eine, die mächtig genug war, ihn auf Distanz zu halten.

Weshalb der Zmey das Spiel so genoss. Er hatte jedes Mal gewonnen – außer im vergangenen Jahr.

Kosara lief treppab in die Küche und hängte ihren Kessel über das Feuer. Die Flammen erhellten den Raum und spiegelten sich in den kupfernen Töpfen und Pfannen an den Wänden. Je heller das Feuer strahlte, desto dunkler wurden die Schatten, um die ihr eigener Schatten tanzte.

Schweiß trat auf Kosaras Stirn, die Flammen spiegelten sich in den Tropfen, als loderten Hunderte kleine Feuer auf ihr. Sie zog sich bis auf die Unterwäsche aus, das Unterkleid klebte an ihrer feuchten Haut. Statt das Feuer zu bändigen, schürte sie es. Sie brauchte alle Kraft, die sie kriegen konnte.

Im Haus war niemand, der sich über die Hitze hätte beschweren können. Kosara lebte allein.

In einem der Schlafzimmer oben klopfte es laut.

Im Haus war niemand Lebendiges, korrigierte sich Kosara. Oben, in einem der Schlafzimmer, ging der Geist ihrer toten Schwester um.

Es klopfte immer noch. Komisch, so aktiv war Nevena sonst nicht. Vielleicht spürte sie die Hitze ja doch. Oder den Zauber, den Kosara heraufbeschwor.

»Nevena!«, brüllte Kosara. »Lässt du das bitte? Ich versuche mich zu konzentrieren.«

Es klopfte immer noch. Kosara stieß einen Seufzer aus. Es war sinnlos, mit Kikimoren zu streiten.

Zuerst fischte Kosara in einem Eimer mit Salzwasser nach zwei Rusalken-Tintenbeuteln. Sie stach mit dem Messer hinein und ließ die dunkle Flüssigkeit in den Kessel tropfen. Es zischte, als sie auf das heiße Kupfer traf.

Dann stöberte sie zwischen den vielen in ihrer Küche verstreuten Gläsern und Flaschen nach den restlichen Zutaten. Der Saft der Espe diente als Bindemittel, ein rostiger Nagel, mit dem ein Karakonjul getötet worden war, als Beize, Thymianöl und wasserfreies Soda als Konservierungsmittel. Schließlich warf sie die Locke des Zmey in den Kessel.

Die Mixtur erreichte schnell ihren Siedepunkt, an der Oberfläche stiegen große Blasen auf und platzten, sodass die klebrig-schwarze Flüssigkeit bis an die Wände spritzte.

Kosara sah zu. Sie fragte sich, ob sie gerade einen Fehler machte. Was, wenn der Versuch, ihn auf Distanz zu halten, seinen Zorn nur schürte?

Sollte sie sich ihm noch einmal widersetzen, hatte er gesagt, würde er sich mehr von ihr nehmen als bloß eine Locke. Er würde sie sich ganz nehmen. Er würde sie wieder unter seine Herrschaft zwingen. Er gab ihr nur allzu gern zu verstehen, dass ihre Freiheit von seinem Wohlwollen abhing.

Nein. Sie hatte sich entschieden. Sie ging bis an die Grenze, doch sie überschritt sie nicht. Er würde es als Herausforderung begreifen – als Teil ihres Katz-und-Maus-Spiels. Ein Jahr später würde er auf ihren Zauber vorbereitet sein, doch bis dahin hätte sich Kosara einen neuen ausgedacht.

Womöglich war ihr Zauber ohnehin zu schwach und konnte ihn gar nicht aufhalten. Vielleicht würde er bloß sein irritierend angenehmes Lachen lachen, das nach Hunderten klingender Glöckchen klang, und sie würde sich trotz allem zu ihm setzen und ein weiteres Kartenspiel überstehen müssen.

Dann würde sie sich stundenlang unter seinem eiskalten Blick winden, während er immer bessere Karten ausspielte. Und schließlich würde sie sich eine Haarlocke abschneiden und sie ihm geben müssen – und die fehlende Strähne würde sie an ihn erinnern, wann immer sie in den Spiegel sah.

Kosara seufzte. Ihr Zauber musste einfach wirken. Sie hatte das ganze Jahr damit verbracht, ihn vorzubereiten: einen Bann, der stark genug war, den Zmey auf Abstand zu halten. Sie hatte jedes Buch zu dem Thema gelesen, das sie in die Finger kriegen konnte. Sie hatte sich mit sämtlichen Runen vertraut gemacht. Der Bann würde halten.

Es sei denn, jemand lud den Zmey ein. Aber wer sollte so etwas tun?

Schließlich nahm Kosara den Kessel vom Feuer und goss die Flüssigkeit in ein Glasfläschchen. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Dann löschte sie mit einem Fingerschnipsen das Feuer.

Die Küche wurde dunkel, nur die Gaslampen flackerten noch. Die Kälte kroch sogleich durch die Wände.

Kosara zog sich an: schwarze Wollhose, ein warmer Pullover, ihr langer Mantel, Lederstiefel, die sie so oft getragen hatte, dass die Sohlen langsam durchgelaufen waren. Sie konnte den Bann nicht hier ausprobieren – das Haus wäre der erste Ort, an dem der Zmey nach ihr suchen würde, wenn er um Mitternacht kam.

»Wiedersehen, Nevena!«, rief Kosara.

Keine Antwort. Manchmal fragte sich Kosara, ob ihre Schwester sie überhaupt verstehen konnte.

Die meisten Geister unterschieden sich nicht groß von den Menschen, die sie im Leben gewesen waren. Aber Nevena war nicht wie die meisten Geister. Sie war eine Kikimora, ein Gespenst, das sich aus dem Blut der ermordeten Nevena erhoben hatte. Von der Schwester, an die Kosara sich erinnerte, waren nicht mehr als ihr Schmerz und ihre Wut übrig geblieben.

Kosara seufzte und öffnete die Tür. Das Kinn in den Pullover vergraben, stemmte sie sich gegen den Winterwind. Aus der warmen Küche nach draußen zu treten, fühlte sich an, als spränge man kopfüber in einen eiskalten Pool.

Sie stolperte durch den schmutzigen Schnee, an dunklen Häusern und schneebedeckten Gärten vorbei, das Fläschchen mit der tintigen Flüssigkeit fest umschlossen. Die Tasche, vollgestopft mit Notizen und aus den Zauberspruchsammlungen kopierten Skizzen, baumelte ihr schwer von der Schulter.

Über ihr ragten die Turmspitzen hoch in den Himmel, Eiszapfen hingen von ihrem kunstvoll gearbeiteten Strebewerk, das an Chernograds bessere Tage erinnerte, bevor die Mauer gebaut worden war. Jetzt waren die Türme und Fassaden von Dreck und Ruß geschwärzt, und ihre Bögen zerfielen.

Die magischen Fabriken am Horizont husteten dunklen Rauch, scharf zeichneten sich ihre Schornsteine gegen die weißen Straßen und den fahlen Himmel ab. In den meisten Fabriken wurden Medikamente, Kosmetika oder Parfüms für den Export über die Mauer nach Belograd hergestellt. Pikanterweise konnten sich in Chernograd nur wenige diese Produkte leisten.

Menschen in dunkler Kleidung hasteten an Kosara vorbei, ihre grimmigen Gesichter lugten aus hässlichen, selbst gestrickten Schals und noch hässlicheren, selbst gestrickten Pullovern. Ihre Mäntel sahen wie Patchworkdecken aus, für noch einen Winter zusammengeflickt. Dann und wann flog eine Kutsche vorbei und spritzte Schmutzwasser auf den Bürgersteig. Die Flüche der durchnässten Passanten gingen im Donnern der Pferdehufe unter.

Kosara drängte sich durch die Menge, die vor den Läden in der Hauptstraße anstand. Es war der letzte Tag des Jahres: die letzte Chance, sich in Friedenszeiten mit Weihwasser und Espenpfählen einzudecken, alte Erbstücke zu Silberkugeln zu schmelzen oder eine Hexe anzuheuern, die einen Bannkreis um Türen und Fenster zog. Kunden und Kaufleute verhandelten heiser flüsternd, so als würde ein lautes Wort den fragilen Frieden brechen, der ihnen noch bis Mitternacht blieb. Manche klammerten sich an Becher mit dampfendem Kaffee, braun und zähflüssig wie Schlamm, andere waren gleich zum Wein übergegangen, ihr säuerlicher Atem kristallisierte in der Kälte.

Endlich erreichte Kosara die Schenke. Bayan, der Wirt, wartete vor der Tür, zwischen seinem Schal und dem Hut aus Karakonjul-Pelz war sein Gesicht kaum mehr als ein Schlitz. Er begrüßte sie mit einem fragenden Blick.

Kosara nickte ihm zu, und er sperrte die Tür auf.

Sie kniete sich auf den vereisten Boden. Dann schraubte sie das Fläschchen auf, tauchte ihren Finger hinein und begann zu malen.

»Kosara!«, rief kurz nach Mitternacht eine vertraute Stimme draußen.

Obwohl er nicht schrie, übertönte er dennoch das Geheul des Windes, das Gebrüll der Monster und das Geschrei der Menschen. »Kosara!«

Das Blut schoss Kosara in den Kopf. Ihre Fingernägel stanzten Halbmonde in die weiche Haut ihrer Handflächen.

Er war schon da. Wie hatte er sie so schnell gefunden?

Sie sah auf den Bannkreis, den sie vor Stunden gezogen hatte. Seine innere Hälfte verlief über den Fußboden der Schenke und spannte einen Bogen um Tür und Fenster: Rune an Rune, in schwarzer Tinte. Draußen schloss sich der Kreis. Wenn Kosara alles richtig gemacht hatte, würden ihm für die nächsten zwölf Tage weder Schnee noch Hagel noch Schuhwerk etwas anhaben können.

Allerdings hatte sie gehofft, ihn ein oder zwei Stunden lang an harmloseren Monstern testen zu können, an Karakonjuln vielleicht. Ihn ausbessern zu können, falls das nötig würde, oder ein anderes Rezept zu probieren, falls er sich als zu schwach erwies. Doch der Zmey war schon da.

»Kosara!« Seine Stimme kam näher und näher. Kalt lief sie ihr über den Rücken.

Beruhige dich, Herrgott nochmal. Es würde wie jedes Jahr sein. Er erschien, sorgte dafür, dass sie sich klein, schwach und hilflos fühlte, und dann verschwand er wieder.

In ihr wuchs die Wut.

»Kosara!«

Sein Schatten huschte am Fenster entlang. Mit der Hand rieb er den Raureif weg und spähte herein.

Seine Augen waren von jenem leuchtenden Blau, wie man es nur im Zentrum einer Flamme fand, sein Haar war wie geschmolzenes Gold. Sein Blick fiel in den Spiegel über dem Tresen, und der Spiegel zersprang.

»Da bist du ja.«

Der Türknauf quietschte.

Kosara atmete scharf ein. Wie versteinert sah sie zu, wie sich die Linie ihres Banns bog und bis zum Zerreißen spannte. Aber sie hielt.

Für den Moment hielt sie.

Nach ein paar Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, gab der Türknauf Ruhe. Noch wagte es Kosara nicht, wieder Luft zu holen. Der Zmey warf sich gegen die Tür.

Der Bannkreis erzitterte, als würde er kaum noch halten. Als könnten die Runen jeden Moment tauen, wie Schmelzwasser in die Dielenritzen rinnen und in der Gosse auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Kosara konnte den Blick nicht abwenden. Sie saß wie festgeklebt auf ihrem Stuhl. Sie fühlte sich schwer und unbeweglich, die Luft war dick wie Sirup.

Wieder warf sich der Zmey gegen die Tür. Wieder verschob sich der Bannkreis auf dem Boden.

Doch er brach nicht.

Er brach nicht.

Kosara stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Der Bann hielt. Sie sah sich im Gastraum um: in die verstörten Gesichter der Stammkunden, auf ihre nervösen Begleiter, auf Bayan, den Wirt, der den Daumen reckte.

Nach einer Weile ließ der Zmey von der Tür ab. Auf einmal wurde es für lange Zeit still.

Und dann lachte er. Kosara schrumpfte in ihrem Stuhl, während seine Stimme in ihren Ohren klingelte.

»Nicht schlecht, meine kleine Kosara. Nicht schlecht.«

»Ich bin nicht klein«, zischte Kosara, in erster Linie, um sich zu versichern, dass sie überhaupt noch eine Stimme hatte. »Und deine bin ich auch nicht. Was willst du?«

»Wie wäre es, wenn du mich hereinbitten würdest? Hier draußen ist es schrecklich kalt.« Er ließ seine Stimme beben, als würde er vor Kälte zittern. Kosara glaubte ihm nicht eine Sekunde lang. Sie hatte gesehen, wie Schneeflocken, die auf seine Haut fielen, zischend verdampften.

»Was willst du?«, wiederholte Kosara, ängstlich um eine feste Stimme bemüht. Sie war eine Hexe. Hexen hatten keine Angst vor Monstern.

Eine nutzlose Hexe. Die Stimme in ihrem Kopf klang verdächtig nach der des Zmey. Eine schwache Hexe. Ohne mich bist du nichts, Kosara.

Der echte Zmey, der außerhalb ihres Kopfs, lachte wieder. Als wären sie bloß zwei Freunde, die Witze miteinander rissen. »Und du hältst es wirklich für eine gute Idee, mich zu betrügen? Das erklär mir doch mal.«

Kosaras Mund füllte sich mit dem metallischen Geschmack von Blut.

Er wusste es. Guter Gott, er wusste es.

Natürlich hatte sie ihn letztes Jahr beim Kartenspiel übers Ohr gehauen – anders hätte sie niemals gewonnen –, aber sie hatte jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme getroffen, dass er sie nicht dabei erwischte. Und das hatte er auch nicht. Bis jetzt. Jetzt, ein Jahr später, wusste er es.

Kosara hatte niemandem erzählt, dass sie betrogen hatte. Zumindest war sie sich ziemlich sicher, dass sie es nicht erzählt hatte. Sie neigte dazu, zu viel zu reden, wenn sie ein bisschen über den Durst getrunken hatte, aber das hätte sie doch niemandem erzählt. Oder?

Sie warf einen Blick auf Malamir, der mit seinen Ärmelaufschlägen spielte, und auf Roksana, die hastig an ihrer Pfeife sog und Wolke um Wolke süßlichen Rauchs ausatmete.

»Wer hat es dir gesagt?«, fragte Kosara den Zmey, während der Talisman heiß und schwer in ihrer Hand lag. Wenn er einen von ihnen beim Namen nannte, würden sie keinen Moment zögern. Sie würde den Talisman gegen sie verwenden.

»Das musste mir niemand sagen, meine liebe Kosara. Ich bin der Zar der Monster, schon vergessen? Ich weiß alles, was in meiner Stadt passiert.«

Das ist nicht deine Stadt.

Kosara lockerte den Griff um den Talisman. Womöglich sagte der Zmey die Wahrheit. Vielleicht war sie letztes Jahr nicht ganz so schlau gewesen, wie sie gedacht hatte. Dass sie sich täuschte, kam ja durchaus vor.

»Jetzt komm schon, du betrügerisches Aas.« Der Zmey hob die Stimme. Er verlor langsam die Geduld. »Bitte mich hinein.«

Die Gäste starrten Kosara an. Sie erwarteten ihren nächsten Schritt, auf ihren Gesichtern milde Neugier, als wäre all das nur ein Theaterstück. Aber sie hatten den Zmey ja auch nicht wütend gemacht. Und tatsächlich war er nicht wie die anderen Monster, die bloß nach Menschenfleisch gierten und blind vor Blutdurst waren. Stellten sich die übrigen Gäste ihm jetzt nicht in den Weg, dann würde er sie in Ruhe lassen.

»Also gut«, sagte der Zmey, als klar war, dass sich Kosara nicht von ihrem Stuhl erheben würde. »Da Kosara so unhöflich ist, würde mich einer von euch guten Leuten hineinbitten?«

Ein Raunen ging durch die Schenke. Kosara wurde von Blicken förmlich durchbohrt. Sie schlang die Arme um ihren Leib, als würde sie das unsichtbar machen.

»Du, Stamen!«, rief der Zmey einem großen Mann zu, der neben dem Feuer hockte. »Warum bist du allein? Wo ist die Frau?«

Stamens Finger umklammerten das Glas so fest, dass Kosara fürchtete, es würde zerbrechen. Sein Mund war ein kleines, bebendes O.

»Warte, lass mich raten«, sagte der Zmey. »Ihr habt euch wieder gestritten, richtig? Sie ist bei ihrer Schwester. Das Haus in der Iglikastraße mit den Rosen auf dem Balkon? Vielleicht statte ich ihr später einen Besuch ab. Es sei denn, du lässt mich hinein.«

Stamen sah Kosara an. Seine Finger krallten sich in die Armlehne. Er machte Anstalten aufzustehen.

»Nein, Stamen, warte …«, fing Kosara an, beendete den Satz aber nicht. Sie konnte ihm nicht drohen – einen Rest Anstand hatte sie noch.

Wie hatte sie eine solche Situation nicht vorhersehen können? Sie war davon ausgegangen, dass alle in der Schenke den Zmey so verzweifelt draußen halten wollten wie sie. Doch leider wusste außer ihr niemand, wozu der Zmey fähig war. In ganz Chernograd war Kosara die Einzige, die ihn wirklich kannte.

Die Einzige, die diese intime Bekanntschaft nicht mit dem Leben bezahlt hatte, jedenfalls.

»Du bleibst, wo du bist«, knurrte Bayan Stamen an. »Ich will ihn nicht in meiner Schenke.«

Stamen schwankte. Er starrte auf das Gewehr in Bayans Händen. Kosara schenkte dem Wirt ein dankbares Lächeln. Er erwiderte es nicht.

In einer benebelnden Wolke aus Pfeifenrauch beugte sich Roksana zu ihr herüber. »Vielleicht machst du diese Tür auf, bevor der Zmey jemandem wehtut?«

Kosara sah sie verdutzt an. »Er tut mir weh, wenn ich die Tür aufmache.«

»Tut er nicht. Du kennst ihn. Er mag dich.«

»Der Zmey mag niemandem außer sich selbst, Roksana.«

Roksana zuckte mit den Schultern und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, ihre Finger wie beiläufig am Griff ihrer Pistole.

»Du verstehst das nicht«, sagte Kosara. »Er ist wütend auf mich. Du warst nie dabei, wenn er wütend auf mich war.«

»Wieso? Was soll er schon tun?«

Kosaras Finger wanderten unwillkürlich zu ihrem Hals. Die Wunden waren lange verheilt, aber die gespenstische Berührung des Zmey konnte sie noch immer spüren. »Er würde mich wieder in seinen Palast bringen.«

»Nicht gegen deinen Wi…«

»Doch.«

Endlich schwieg Roskana still.

»Und was ist mit dir, Maria?« Diesmal wandte sich der Zmey an eine Frau, die in einem Winkel saß und strickte. Das Klappern ihrer Nadeln erstarb abrupt. »Dein kleines Mädchen ist heute Abend bei seinem Papa, nicht wahr? Für anständige Bannkreise hat dein Ex sein Geld sicher nicht ausgegeben. Deshalb hast du ihn ja überhaupt erst verlassen …«

Maria sprang aus ihrem Stuhl. »Wag es nicht …«

»Was? Lädst du mich etwa ein?«

Der Wirt packte Maria am Unterarm, damit sie nicht zur Tür ging. Guter alter Bayan, Kosara wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte …

Bayan drehte sich zu Kosara um, das Gewehr im Anschlag. »Du hast sechzig Sekunden, um von hier zu verschwinden.«

Gottverdammt.

»Verschwinden?« Sie versuchte es mit einem entwaffnenden Lächeln, aber ihr Gesicht war wie versteinert. Wahrscheinlich sah es aus, als bleckte sie die Zähne. »Komm schon, Bayan, du kannst mich doch nicht diesen Hunden da draußen …«

»Neunundfünfzig, achtundfünfzig, siebenundfünfzig …«

»Bayan, bitte …«

»Bayan«, kam eine Stimme vom Nachbartisch. »Das kannst du nicht machen.« Kosara erkannte eine junge Frau, die sich kürzlich bei ihr als Lehrling beworben hatte. Kosara hatte abgelehnt – sie war eine mittelmäßige Hexe. Was konnte sie einer Schülerin schon beibringen?

Zu Kosaras Überraschung stimmten ein paar andere an den umliegenden Tischen der jungen Frau zu.

»Das Mädchen hat recht«, sagte Sava, der Bäcker, erhob sich von seinem Stuhl und verschränkte die starken Arme vor der Brust. »Das kannst du nicht machen.«

»Das geht euch gar nichts an«, blaffte Bayan. »Ist ja nicht euer Laden, den er in Brand steckt.«

»Du hast uns allen hier Schutz geboten.« Sava machte einen Schritt nach vorn. Kosara gestikulierte wild, damit er sich wieder setzte. Er war ein großer Mann und hätte einschüchternd gewirkt, wenn er denn ohne die Umschläge, die ihm Kosara jede Woche machte, auf seinen kaputten Knien hätte stehen können. Käme es zum Kampf, würde er völlig hilflos sein.

Bayan musterte ihn über den Gewehrlauf hinweg. »Die Umstände haben sich verändert.« Und dann fügte er jede Silbe betonend hinzu: »Sechs-und-fünf-zig, fünf-und-fünf-zig, vier-und-fünf-zig …«

Der Fremde hustete in seine Faust. Kosara zuckte zusammen. Sie hatte ihn fast vergessen.

»Ich glaube, ich kann helfen«, sagte er.

»Und wie?«

»Ich kann dich über die Mauer schaffen. Drüben kriegt er dich nie. Aber das kostet dich was.«

Meinen Schatten.

Kosaras erster Impuls war abzulehnen. Sie konnte Chernograd nicht verlassen. Mit jedem Jahr wurden es weniger Hexen, die noch den Kampf gegen die Monster aufnahmen. Es war ein Beruf mit hoher Sterblichkeit.

Außerdem brauchten die Menschen sie hier, um sie vor dem Zmey zu beschützen. Sie kannte ihn. Wann immer er auf ein neues Stadtviertel losging, war sie vor ihm da, um Menschen und Tiere zu evakuieren. Wann immer er einen Blick auf ein junges Mädchen warf, war es Kosara, die die Familie warnte.

Auch wenn das nicht immer half.

»… sechsundvierzig, fünfundvierzig …«

Nevena konnte sie auch nicht zurücklassen. Ein Teil ihrer Schwester war noch da, wie klein er auch sein mochte. Nevena würde so einsam sein ohne Kosara.

»… zweiundvierzig, einundvierzig …«

Und ihren Schatten verlieren? Ohne ihn würde sie sterben. Für ein paar Jahre oder Jahrzehnte würde sie eine nutzlose, hilflose Hexe sein und dann selbst zu einem Schatten verblassen.

»… neununddreißig, achtunddreißig …«

Andererseits – wenn der Zmey sie kriegte, war sie so gut wie tot. Sie konnte nicht in seinen Palast zurück. Nie wieder.

»Nicht, Kosara …«, entfuhr es Malamir.

»Lass sie«, zischte Roksana ihn an. »Es ist ihre Entscheidung.«

Kosara kniff die Lider so fest zu, dass bunte Punkte vor ihren Augen tanzten. Die Zähne des Zmey konnte sie immer noch sehen, so spitz wie die eines Hundes und lächelnd gebleckt. Sie konnte seinen schwefeligen Atem riechen, er schickte ihn wolkenweise in die eisige Nacht. Sie konnte seine brühend heißen Hände spüren, die sich um ihren Hals legten, zudrückten und nicht abließen, ganz egal, wie flehentlich sie darum bat.

Am Ende würde ihr Blick verschwimmen, jeder Atemzug brennen, und dann würde ein allerletzter Gedanke in ihr aufleuchten: Jetzt sterbe ich.

Kosara sah auf ihren Schatten. Tu es nicht, rief ein verzweifeltes Stimmchen in ihrem Kopf, du wirst es bereuen.

Aber da war noch diese andere Stimme, die in der Endlosschleife: Jetzt sterbe ich, jetzt sterbe ich, jetzt …

Ihre Stadt würde ohne sie klarkommen müssen. Wahrscheinlich hielt sie sich selbst ohnehin für viel zu wichtig – Chernograd war eine Überlebenskünstlerin. Eine Hexe weniger würde nicht reichen, um diese Stadt kaputt zu machen.

Und Nevena? Nevena war tot.

»… neunundzwanzig, achtundzwanzig, siebenundzwanzig …«

Kosara schloss die Faust um ihren Schatten. Zunächst wehrte er sich, wand sich und zappelte und glitt durch ihre Finger. Dann wurde er ganz still. Sie rollte ihn auf ihrer Handfläche zusammen, bis er so klein und schwarz wie eine Glasperle war.

Ohne lange zu zögern, legte sie ihn in die ausgestreckte Hand des Fremden. Kaum dass sie ihn losgelassen hatte, riss etwas so heftig an ihrem Nabel, dass sie beinahe hingefallen wäre. Sie stand mitten im Schankraum, umgeben von Licht. Sie hob den Arm – an der Wand war kein Schatten zu sehen, der seinen hätte heben können.

Was. Habe. Ich. Getan.

Sie hatte getan, was sie tun musste.

»… siebzehn, sechzehn, fünfzehn …«

Der Zmey trommelte mit den Fäusten gegen die Tür. »Wenn du mich nicht sofort reinlässt, wirst du es bereuen.«

Der Fremde warf ihr sein Halstuch zu. »Bind dir das vor die Augen.«

Sie glaubte, Stunden dafür zu brauchen, so heftig zitterten ihre Hände.

»Ich lege jetzt etwas um deinen Fuß«, sagte er. Er zog ihr den linken Stiefel aus. Sie spürte die kalte Luft an ihren Zehen. »Reich mir deine Hände.« Er nahm sie, und dann zog er sie hinter sich her, es kam ihr vor wie ein absonderlicher Tanz. Dann murmelte er etwas. Einen Zauberspruch?

»… fünf, vier, drei …«

Plötzlich begriff sie: Sie war dabei, Chernograd zu verlassen. Warte!, wollte sie rufen. Ich bin nicht so weit! Ich habe es mir anders überlegt!

Doch es war zu spät.

Ihr Körper bebte. Ihre Ohren klingelten. Für einen Moment hing sie schwerelos in der Luft. Dann landeten ihre Füße auf hartem Boden. Eine warme Brise blies ihr ins Gesicht. Es roch nach fremden Gewürzen und exotischen Blumen, nach fernen Winden und nach salzigem Meer.

Belograd.

Der Fremde hob ihren Fuß an und löste das Amulett, das er ihr umgelegt hatte. Kosara stützte sich auf seine Schulter, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Für einen Moment lag sein Arm um ihre Hüfte, dann trat er einen Schritt zurück. Kosara, die Augen noch immer verbundenen, taumelte, blieb aber irgendwie auf den Beinen.

»Kann ich es jetzt abnehmen?«, fragte sie. Ohne seine Antwort abzuwarten, riss sie sich das Halstuch vom Gesicht.

Ihr linker Stiefel lag neben ihr auf den weißen Pflastersteinen. Der Fremde war verschwunden.

Im Himmel über ihr leuchtete Feuerwerk auf. Die Trommeln waren ohrenbetäubend. Kosara fand sich in einem Strom lachender, hell gekleideter Menschen wieder.

Sie spürte das Fehlen ihres Schattens in den Fingerspitzen, die jetzt frei waren von allem magischen Gefühl.

Was habe ich getan …

Kosara wich taumelnd zurück, bis sie gegen etwas Hartes stieß. Eine Mauer. Die Steine an ihrem Rücken waren feucht und kalt. Sie lehnte sich dagegen, schloss die Augen und atmete so lange tief ein, bis ihr Herz nicht mehr wie ein verschrecktes Kaninchen umhersprang.

Das hier war ein schrecklicher Fehler. Diese Stadt – alles hier fühlte sich falsch an. Es roch sogar falsch. Sie gehörte nicht hierher. Sie hatte hier nichts verloren. Sie war eine Hexe – sie gehörte nach Chernograd.

Aber konnte sie sich überhaupt eine »Hexe« nennen, jetzt, da sie ihre Magie verkauft hatte?

Wäre sie doch nur nicht so ein Feigling gewesen. Hätte sie doch nur die Kraft gehabt, sich dem Zmey zu stellen. Tränen sammelten sich hinter ihren geschlossenen Augenlidern.

Reiß dich zusammen, befahl sie sich streng. Schwäche konnte sie sich in dieser neuen, sonderbaren Stadt nicht leisten.

Sie war eine Hexe und hatte gegen zahllose Monster gekämpft. Sie würde auch mit Belograd fertigwerden, auch ohne Magie. Lange bleiben wollte sie sowieso nicht.

In einem Moment der Verzweiflung hatte sie eine spontane Entscheidung getroffen, aber es hatte funktioniert, oder etwa nicht? Sie war dem Zmey entkommen. Jetzt musste sie nur noch den Fremden wiederfinden und ihn überreden, sie zurück nach Chernograd zu bringen. Außerdem würde sie ihn überzeugen, ihr ihre Zauberkraft zurückzugeben. Wie, das war ihr noch ein bisschen unklar, aber es musste einfach etwas geben, das er dafür eintauschen wollen würde.

Und wenn nicht? Dann würde sie ihren Schatten einfach stehlen. Sie hatte jahrelang beim Kartenspiel betrogen, ihre Finger waren mittlerweile sehr geschickt.

Und danach würde sie sich so lange vor dem Zmey verstecken, bis die Schmutzigen Tage vorüber waren. Von da an blieb ihr ein ganzes Jahr Zeit, sich zu überlegen, wie sie sich gegen ihn wehren könnte.

Tolle Idee – das mit dem Verstecken hat ja eben erst ganz prima geklappt, sagte die Stimme in ihrem Kopf.

Halt die Klappe, hielt sie in Gedanken dagegen.

Sie riss die Augen wieder auf. Die hellen Lichter von Belograd stürzten aufs Neue auf sie ein. Die Menschenmenge strömte an ihr vorüber. Laute Stimmen schepperten in ihren Ohren. Vom Duft der schweren Parfüms wurde ihr schwindelig.

Jemand drückte ihr ein Glas Glühwein in die Hand und rief: »Frohes neues Jahr!«

3

Erster Tag

Kosara schob sich durch die Menge. Blank polierte Schuhe traten ihr auf die Füße, in Seide gewandete Ellbogen stießen ihr in die Rippen. Dann und wann griff ein Fremder nach ihrer Hand und wollte mit ihr tanzen. Ständig brüllten die Leute ihr etwas zu – Neujahrswünsche höchstwahrscheinlich –, aber das Feuerwerk knallte und prasselte so laut, dass sie kein Wort verstand. Ringsum leuchteten die Gesichter: blau, grün, lila, wieder blau, grün …

Lieber würde ich gegen eine Karakonjul-Armee kämpfen.

Ihr Adrenalinpegel sank, und plötzlich fror sie. Der Wind fuhr geradewegs durch ihre Kleider und nistete sich tief in ihren Knochen ein. Sie murmelte einen Zauberspruch und klatschte in die Hände, ganz sicher, dass eine Flamme auflodern und ihr die Finger wärmen würde. Sie fluchte leise, als nichts geschah.

Richtig. Sie hatte ihren Schatten verkauft.

Zum Glück sah sie niemand wie eine Irre in die Hände klatschen. Kosara kam sich ohnehin schon schrecklich verdächtig vor – in ihren schwarzen Klamotten war sie der einzige dunkle Fleck weit und breit. In Belograd waren helle Farben angesagt, Stickereien, Perlen und kostbare Steine. Es fiel ihr schwer, die Leute nicht anzustarren.

Wie konnte es sein, dass keines dieser Kleidungsstücke über die Mauer gelangt war? Chernograd importierte die meisten seiner Stoffe aus Belograd. Schickten sie mit Absicht nur die hässlichsten Sachen rüber?

Kosara ging weiter. Weil sie sich ständig umsah, war ihr Hals schon ganz steif. Sie kam sich vor wie in einer Parallelwelt. Die Häuser mit ihren hohen Fenstern und spitzen Dächern sahen genauso aus wie in Chernograd, nur waren ihre Fassaden nicht verdreckt und verrußt, sondern frisch verputzt und in hellen Farben gestrichen. Das Pflaster glänzte vor Sauberkeit. Die Menschen sahen so glücklich aus. Was wahrscheinlich am größten Unterschied von allen lag: Es gab hier keine Monster.

Das war … komisch. Kosara hatte noch nie eine Neujahrsnacht ohne Monsterinvasion erlebt.

Zugegeben, es war eine Erleichterung, nicht in jeder dunklen Ecke einen lauernden Karakonjul zu vermuten oder ständig stehen zu bleiben und zu horchen, ob da eine Ruba mit den Flügeln schlug. Doch sie kannte den Preis für den Frieden auf dieser Seite der Mauer. Er war mit dem Leid auf der anderen Seite erkauft. Dem Leid ihrer Leute.

Sie musste wieder nach Hause.

Ein Windstoß traf sie, und sie zitterte vor Kälte. Seufzend gestand sie sich ein, dass die Suche nach dem Fremden bis morgen warten musste. Es gab Dringenderes – wenn sie nicht auf der Straße erfrieren wollte, brauchte sie einen Platz für die Nacht.

Und vorher musste sie etwas essen. Die wabernden Gerüche der Buden, die an jeder Ecke standen, ließen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen: heiße Schokolade und geröstete Kastanien, Kardamombrot, Honigkekse, brutzelnde Köfte und Schisch Kebab. Manche Gerüche erkannte sie nicht – Gewürze, die sie nie probiert hatte, und Kräuter, die in keinem ihrer Kräuterbücher erwähnt waren. In den Auslagen türmten sich bunte Früchte, Kuchen, von denen der Sirup tropfte, und Bonbons, die wie Edelsteine glänzten. In Bayans Schenke hätte sie Sülzfleisch aus der Dose bekommen.

Vorsichtig näherte sie sich einer Bude. Ein Stück Lamm, so lang wie ihr Arm, drehte sich am Spieß über der glühenden Kohle. Die Verkäuferin formte Fladenbrote über einem runden Stein. Zwischendrin rieb sie sich mit der Schürze den Schweiß von der Stirn.

»Wie viel?«, fragte Kosara.

»Zwei Groschen für ein Kleines, drei für ein Großes.«

Kosara unterdrückte einen Fluch. Ihr Magen knurrte flehentlich. Hinter ihr bildete sich schon eine Schlange.

»Also?«, fragte die Verkäuferin.

Kosara musterte sie. Dünne Fältchen rahmten den Mund der Frau. Ende fünfzig, Anfang sechzig. An ihrer Linken leuchtete ein goldener Ring. Verheiratet. Mit der Rechten rieb sie sich die Schläfe, ihre Augen waren blutunterlaufen, weil sie zu wenig schlief. Und nicht gesund.

»Wie wäre es, wenn ich Ihnen stattdessen die Zukunft weissage?«, fragte Kosara.

»Wie wäre es, wenn Sie den zahlenden Kunden Platz machen?«

»Ihre Sicht ist verschwommen. Sie haben Kopfschmerzen. Und allein beim Gedanken an Essen wird Ihnen übel. Was doppelt elend ist, weil Sie schon die ganze Nacht kochen. Habe ich recht?«

Die Verkäuferin fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

Eine Frau in der Schlange hinter Kosara klatschte. »Das ist ja toll. Was stimmt denn nicht mit ihr?«

Sie hat Migräne.

»Es ist ein Fluch«, sagte Kosara. »Jemand ist neidisch auf sie und hat eine Hexe bezahlt, damit sie sie verflucht.«

»Warum sollte jemand neidisch auf mich sein?« Mit einer vagen Geste wies die Verkäuferin auf ihre Bude. »Ich bin nicht gerade auf Rosen gebettet.«

Kosaras Blick fiel wieder auf den Ehering. »Ihr Partner.«

»Das stimmt, der macht schon was her, Mariam«, sagte die Frau in der Schlange. Andere stimmten ihr zu. Kosara hätte sich kein besseres Publikum wünschen können.

Mariam ignorierte die Leute demonstrativ. »Und was soll ich dagegen machen?«

Schlafen, genug trinken, zum Beispiel eine schöne warme Tasse Tee. »Drei Tage Mahnwache. Zünden Sie eine Kerze in Ihrem Schlafzimmer an und achten Sie darauf, dass die Flamme kein einziges Mal ausgeht. Sie dürfen die Kerze nicht mal eine Minute aus den Augen lassen.«

»Drei Tage zu Hause bleiben! Und was ist mit meinem Stand?«

»Finden Sie jemanden, der sich drum kümmert. Es gibt keinen anderen Weg.«

»Dein Mann soll sich drum kümmern, Mari!«, rief die Frau in der Schlange. »Ich komme dann schon mal doppelt so oft.«

Mariam warf ihr einen finsteren Blick zu. Die Frau kicherte und prostete ihr mit einem halb leeren Glühweinbecher zu.

»Eine Kerze anzünden.« Mariam wandte sich wieder an Kosara. »Und das ist alles?«

»Nein. Sie müssen auch einen Trank brauen. Kochen Sie ein daumengroßes Stück Ingwer in einem halben Liter Weihwasser. Das trinken Sie morgens und abends.«

»Und Sie sind sicher, dass das den Fluch bricht?«

»Unbedingt.«

Mariam zögerte kurz. Dann säbelte sie eine Scheibe vom Lamm ab und wickelte das Fleisch in ein dampfendes Fladenbrot. Bevor sie es Kosara reichte, träufelte sie Knoblauchjoghurt darüber. »Vielleicht brauche ich wirklich mal eine Pause«, sagte sie. »Danke.«

»Danke Ihnen.« Kosara lief der Speichel derart im Mund zusammen, dass sie kaum sprechen konnte.

»Oooh, und jetzt ich«, sagte die Frau in der Schlange. So hilfreich, wie sie gewesen war, konnte Kosara sie schlecht abweisen.

»Danach bin ich dran«, kam die nächste Stimme aus der Menge.

»Und ich!«

Die folgende halbe Stunde verbrachte Kosara damit, Tränke zu verschreiben, Flüche zu brechen und die Ankunft großer dunkelhaariger Fremder vorherzusagen. Am Ende hatte sie die Taschen voller Groschen. Die Fladenbrotverkäuferin hatte ihre Bude lange dichtgemacht und war nach Hause gegangen, um Ingwertee zu trinken, aber die Schlange wurde immer länger. Eine echte Hexe aus Chernograd, die ihnen weissagen würde, lockte ständig neue Leute an.

Der Fleck auf der weißen Weste zu sein, schien auch Vorteile zu haben. Es zog eine Menge Kunden an. Kosara wusste, dass Hexen auf dieser Seite der Mauer selten waren, aber sie hatte sich keine Vorstellung davon gemacht, wie dringend die Belograder eine brauchten.

Gut, dass Vila mich so nicht sieht! Kosaras alte Lehrerin wäre schrecklich enttäuscht gewesen, ihre Lieblingsschülerin als Scharlatanin in den Straßen von Belograd zu erleben.

Für einen Augenblick rumorte etwas Halbvergessenes in Kosaras Eingeweiden. Schuldgefühle. Sie unterdrückte sie schnell. Hexe war ihr Beruf, einen anderen hatte sie nicht gelernt, und wie jeder Mensch musste sie essen.

Für richtige Hexen hatte Belograd ohnehin keinen Bedarf. Es gab hier keine Monster. Und diese verwöhnten Gören mit ihren unbedeutenden Problemen wussten nicht mal, wie gut sie es hatten. »Hilfe, Frau Hexe, meine Schwiegertochter vergisst ständig meinen Namenstag!« Oder: »O nein, nächsten Mittwoch soll es regnen, dabei wollte ich mit ihm doch zum Sternegucken gehen!« Warum denn nicht mal im romantischen Sternenlicht gegen Upire kämpfen? Oder ein paar Varkolaks als Überraschungsgäste am Namenstag?

Leider war Kosara ohne ihren Schatten genau die Richtige für solche Probleme. Und wäre sie nicht so müde gewesen, sie hätte diese Leute die ganze Nacht lang um ihr Geld erleichtert. Nur wurden ihre Lider mit jedem Wimpernschlag schwerer.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie schließlich. »Leider muss ich jetzt Schluss machen für heute Abend. Es ist schon spät.«

»Wo können wir Sie denn morgen finden?«, rief ein großer Mann am Ende der Schlange. Er stand gebückt, die Hand am schmerzenden Rücken. Teufelskralle würde die Schmerzen lindern, dachte Kosara automatisch, genau wie weiße Weidenrinden.

»Ich weiß es noch nicht«, sagte sie. »Ich bin gerade erst angekommen. Ich habe noch keine Unterkunft.«

Daraufhin wurde es auffallend still. So ist das also. Man bat sie gern um Hilfe, aber zu sich nach Hause lud niemand eine Hexe aus Chernograd ein.

»Die Straße runter ist ein Hotel …«, murmelte jemand.

Kosara griff nach ihrer Börse. Sie war erheblich dicker als vor einer halben Stunde, aber reichen würde das Geld nicht.



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