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Die Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin ist für ihre hervorragende Sammlung europäischer Meisterwerke des 13. bis 18. Jahrhunderts bekannt. Jedes der zwölf Kapitel dieses Buches ist einem Gemälde aus der Sammlung gewidmet. In der Zusammenschau zeigt sich eine Malerei, wie sie sich selbst entdeckt und dabei zum Medium wird, um moderne Subjektivität auszudrücken. Die hier besprochenen Gemälde entfalten sich in ihren künstlerischen Fragen, die auch die unseren sind. In welchen Paradoxien entstehen Kunstwerke, die von Frauen geschaffen werden? Wie beeinflusst der alte Drang, Kunstwerke zu zerstören, den heutigen Diskurs über Kunst? Wo setzte der moderne Kampf der Malerei gegen das Bild ein und wie wirkte er sich aus? Warum sucht uns der Wilde Mann aus der deutschen Renaissance noch heute heim? Und warum ist es unwichtig zu wissen, ob Jan Vermeer beim Malen ein optisches Gerät verwendete oder nicht? "Zwölf Bilder" ist eine Hymne an die Aktualität der Alten Meister.
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Seitenzahl: 162
Zwölf Bilder
Tal Sterngast
Betrachtungen aus der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin
Redaktion
Lena Kiessler
Projektmanagement
Richard Viktor Hagemann
Übersetzung ins Deutsche und Lektorat
Ulrich Gutmair
Korrektorat
Martin Steinbrück
Englisches Lektorat
Kimberly Bradley
Grafische Gestaltung
Neil Holt
Umschlaggestaltung
studio stg
Lithografie und Verlagsherstellung
Vinzenz Geppert
© 2020 Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
www.smb.museum
© 2020 Hatje Cantz Verlag, Berlin,
und die Autorin
Erschienen im
Hatje Cantz Verlag GmbH
Mommsenstraße 27
10629 Berlin
www.hatjecantz.de
Ein Unternehmen der Ganske Verlagsgruppe
isbn 978-3-7757-4766-0 (Print)
isbn 978-3-7757-4906-0 (eBook)
isbn 978-3-7757-4908-4 (PDF)
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Für Amalia
Grußwort: Michael Eissenhauer
Einleitung:Tal Sterngast
Das Museum als Safe Space
Amor als Sieger (1601/02) von Caravaggio
Der Körper der Malerei
Susanna und die beiden Alten (1647) von Rembrandt van Rijn
Die Verschwörung der Malerei
Joseph und die Frau des Potiphar (1655) von Rembrandt van Rijn
Durch eine gläserne Wand
Junge Dame mit Perlenhalsband (1663–1665) von Jan Vermeer van Delft
Die Kreativität der Frauen
Prinz Heinrich Lubomirski als Genius des Ruhmes (1787/88) von Elisabeth Vigée-Lebrun
Der Schwindel der Zeit
Diptychon von Melun (um 1455) von Jean Fouquet
Die Architektur des Himmels
Die Madonna in der Kirche (um 1440) von Jan van Eyck
Ein Zoom aus der Ferne
Die Darbringung Christi im Tempel (um 1454) von Andrea Mantegna
Der Schatten der Existenz
Selbstportrait I und II (1649 und 1650) von Nicolas Poussin
Der Plan der Natur
Landschaft mit dem Evangelisten Matthäus und dem Engel (1640) von Nicolas Poussin
Die Sehnsucht nach dem Wilden Mann
Landschaft mit Satyrfamilie (um 1507) von Albrecht Altdorfer
Das wahre Bild
Das Heilige Antlitz Christi – Vera Icon (um 1420) von einem unbekannten westfälischen Künstler
Danksagung
Impressum
Tal Sterngast verbindet mit ihrer Analyse von zwölf herausragenden Werken der europäischen Malerei das Handwerk der Kunstkritik mit schonungsloser Gesellschaftsanalyse. In ihrer ganz eigenen Lesart erweitert und schärft die Filmwissenschaftlerin unsere Sichtweise auf die von ihr besprochene Kunst, indem sie in der Malerei der vergangenen Jahrhunderte die Bedeutungsschwere und Brisanz der Gegenwart erkennt. Hierbei bemerkt Sterngast nicht etwa eine Antiquiertheit der musealen Objekte, sondern betont ihre Aktualität und ihren hohen Stellenwert für sowohl kulturhistorische als auch sozial-politische Reflexions- und Erkenntnisprozesse, die heute vielleicht wichtiger sind als jemals zuvor. Es ist ein neuer Blick auf alte Werke, den uns die Autorin gewährt und den ich hiermit jedem ans Herz legen möchte.
Es war ein Moment des Zweifels und der Unsicherheit, der Tal Sterngast 2016 in die Gemäldegalerie führte. Die folgenschweren politischen Entwicklungen und Umwälzungen der vergangenen Jahre waren gerade in Gang gekommen und die sozialen und moralischen Konsequenzen, welche die bis dahin festgeglaubten Gefüge noch ins Wanken bringen sollten, waren damals nur schemenhafte Vorahnungen. Tal Sterngast kam in die Gemäldegalerie mit der Frage, ob ihre Auseinandersetzung mit diesen jahrhundertealten Werken dabei helfen könne, „besser gerüstet in die Gegenwart zurückzukehren“, wie sie es formulierte. Die Ergebnisse ihrer Suche, so freue ich mich zu verkünden, waren von Erfolg gekrönt und sind in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Die Autorin stellte sich Wohlbekanntem und fand dabei Außergewöhnliches.
Neben der Autorin, die erfreulicherweise meiner Bitte gefolgt ist, ihre Essays über die Sammlung der Gemäldegalerie in Buchform zu bringen, danke ich allen an dieser Publikation beteiligten Personen. Dies sind insbesondere alle Kolleginnen und Kollegen in der Generaldirektion und der Gemäldegalerie, die die vorliegende Veröffentlichung redaktionell und inhaltlich begleitet haben. Hierzu zählen weiterhin die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hatje Cantz Verlags, denen ich für ihre Zeit und Mühe meinen Dank aussprechen möchte.
Michael Eissenhauer
Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin
Direktor der Gemäldegalerie, Skulpturensammlung und des Museums für Byzantinische Kunst
Die Welt, wie ich sie bis dahin zu kennen geglaubt hatte, schien Ende des Jahres 2016 an ihr Ende gekommen zu sein. Das Ergebnis des Brexit-Referendums im Vereinigten Königreich im Juni registrierte mein Realitätsprinzip als Verzerrung. Der Sommer in Berlin war einmal mehr außergewöhnlich heiß. Kein Zweifel bestand mehr darüber, dass irreversible Veränderungen in globalem Maßstab von nun an unser Leben bestimmen würden. Schließlich wurde im November Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt. Das Gefühl, die Wirklichkeit habe sich in einen Alptraum verwandelt, war überwältigend. Sie schien sich verabschiedet zu haben, oder besser gesagt: ein Gespür der Unwirklichkeit bestimmte das Leben so stark, dass kategoriale Unterschiede verschwammen. Und doch ging das Leben weiter.
Diese Entwicklungen deuten einen Zusammenbruch der Rahmenbedingungen von Repräsentation in der Gegenwart an. Einen Kollaps, der durch die Diffusität gekennzeichnet ist, die sich in die Unterscheidung von Realität und »Reality« eingeschlichen hat. Er äußert sich in der Überschreitung des als menschlich Erachteten, die an den Schnittstellen zwischen dem Organischen und dem Anorganischen stattfindet, wird durch den invasiven Charakter der sozialen Medien erzeugt und zeigt sich schließlich als Variation der »Wiederkehr des Verdrängten« (die das Empfinden von Scham überflüssig macht und populistische Extravaganz befeuert) – entweder als Symptom der Krise oder als die Krise selbst. Damit nicht unverbunden weicht die Förderung und Anerkennung innerer Werte von Kunstwerken zunehmend externen Bewertungen, einem Insistieren auf äußeren politischen, kulturellen oder soziologischen Werten, das heute in fast allen Bereichen der Gegenwartskunst, des Ausstellungsmachens und der Kunstkritik vorherrscht. Misstrauen und der Verdacht gegenüber Bildern fallen mit einer Neudefinition dessen zusammen, was erlaubt und was nicht erlaubt ist, und also mit einer Form der moralischen Unterdrückung. Je weniger klar die Fakten der Wirklichkeit erscheinen, je vager, fremdartiger oder erschreckender die Aussichten sind, die sie eröffnen, desto weniger ist klar, was Bilder sind und wozu man sie braucht. Warum werden immer noch Kunstwerke geschaffen und ausgestellt? Wer ist ihr Betrachter?
Das Gefühl, von den aktuellen Zuständen abgestoßen zu sein, führte mich am Ende des Jahres 2016 in die Gemäldegalerie. Das von den Münchner Architekten Hilmer & Sattler und Albrecht fast eine Dekade nach dem Mauerfall im Jahr 1998 fertiggestellte Gebäude beherbergt die wiedervereinigte Sammlung europäischer Gemälde vom 13. bis zum 18. Jahrhundert der Staatlichen Museen zu Berlin. Es wurde auf dem Hügel des Kulturforums hinter einer steilen brutalistischen Fläche aus Beton und Granit platziert (der »Piazzetta«), die Passanten zum vormals West-Berliner Museumskonglomerat hinführt und zugleich wie eine Barriere zur Straße wirkt. Die Gemäldegalerie war der letzte Baustein im Museumskomplex für europäische Kunst, dessen Planung bereits Ende der 1960er-Jahre begonnen hatte, deren Ausführung aber von immer neuen Kontroversen begleitet wurde, die dem fragmentarischen Ensemble bis heute anzumerken sind.
Ein neues kulturelles Zentrum sollte am Rand von West-Berlin als westlicher Ersatz für die nach dem Krieg größtenteils im Ostteil der Stadt liegenden Museen und Bibliotheken dienen. Seine architektonischen Leuchttürme sollten darüber hinaus die Rückkehr Westdeutschlands in die Familie der freien Länder manifestieren und den Ansprüchen der DDR trotzen, das bessere Deutschland zu repräsentieren. Herausragendes Element dieses Ensembles ist die bereits im Jahr 1968 von Mies van der Rohe gebaute Neue Nationalgalerie, eine modernistische Ikone aus Stahl und Glas, welche die Kunst des 20. Jahrhunderts beherbergen sollte. Hans Scharouns ursprünglicher Vision einer organischen Stadtlandschaft folgend, schufen die Philharmonie (1963) und die Staatsbibliothek (1978) – durch ein goldenes Netz runder Formen optisch miteinander verbunden, das sich über beider Fassaden erstreckt – einen weichen Hintergrund, der sich harmonisch an den Tiergarten schmiegen soll. Zugleich eröffnen sie einen städtebaulich komplexen, aber jedermann zugänglichen Platz. Im Kontrast dazu steht der ebenfalls als fortschrittliche Topografie gedachte, brutalistische Entwurf Rolf Gutbrods von 1967, der eine gebaute Landschaft vorsah, deren Konstruktion in den wenigen vom ursprünglichen Plan übrig gebliebenen Gebäuden offengelegt wurde. Diesem städtebaulichen Kontext entzog sich die neue Gemäldegalerie, sie schottete sich von ihrer Umgebung eher ab.
Ihre Innenräume sind bewusst an Karl Friedrich Schinkels Altem Museum angelehnt und ähneln einem aristokratischen Palast, dessen Enfilade den Weg des Besuchers entlang der Nord-Süd-Achse auf einer Länge von zwei Kilometern parallel zur chronologischen Abfolge der Kunstwerke choreografiert. In insgesamt 72 Räumen werden die Bilder auf in farblich gehaltenem Samt und in einer salonartigen Hängung präsentiert. Eine große, leere Halle gliedert ihr Zentrum auf; sie verweist in einer räumlichen Geste, die vermutlich großzügig oder würdevoll wirken soll, aber etwas merkwürdig erscheint, auf die Grenzlinie der Alpen. Die Gemäldegalerie kam mir zugleich weltläufig und provinziell, prätentiös und bescheiden vor. Die architektonische Abkehr von der jüngeren Geschichte (mit ihren Wunden und Narben) schuf eine isolierte Insel, die sich, vielleicht wie die Sammlung selbst, nicht organisch in ihre Umgebung einfügt und sich eine augenfällige Künstlichkeit bewahrt.
Wenn sich die Gegenwart auf einen präzedenzlosen Abgrund von Veränderung zubewegt, was hat sie noch mit den älteren Welten gemein, die sich in der Gemäldegalerie präsentieren? Während der Corpus des Wissens und des Diskurses über die Gegenwartskunst sich nur auf die jüngere Vergangenheit zu beschränken scheint, beschäftigen sich mit den alten Meistern beinahe ausschließlich Wissenschaftler und Kunsthistoriker. Ich fragte mich, ob mir die Beschränkung auf diese spezifische lokale Sammlung Freiraum verschaffen würde. Ich wählte nach und nach zwölf Werke aus, die in der Gemäldegalerie hängen, um sie zum Gegenstand einer Beobachtung zu machen, die vielleicht helfen könnte, besser gerüstet in die Gegenwart zurückzukehren. Die aus dieser Auseinandersetzung entstandenen Essays, von denen sich jedes einem Gemälde widmet, wurden ab November 2017 im Abstand von jeweils ungefähr einem Monat in der Wochenendausgabe der Tageszeitung veröffentlicht.
In der Breite dieser Auswahl wird deutlich, wie sich die Malerei entlang der dichotomischen Koordinaten des Optischen und des Taktilen, des Geometrischen und des Organischen, des Illusionistischen und des Geistigen selbst entdeckt und zum Medium wird, durch das sich moderne Subjektivität formuliert. Jedes der ins Auge gefassten Gemälde entfaltet sein eigenes In-die-Welt-Kommen und seine spezifischen Anliegen, die zum Teil auch die unseren sind. Zwei zeitliche und räumliche Achsen kreuzen meine Auswahl: zum einen die das Mittelmeer durchquerende Ost-West-Achse, an der entlang Routen von der antiken zur modernen Welt, von der gräko-romanischen zur christlichen Hegemonie, vom Orient zum Okzident und zurück führen; zum anderen die kunsthistorische Nord-Süd-Achse, in deren Zentrum die Renaissance von Italien aus über die Alpen strahlt.
Jeder Maler müsse die Geschichte der Malerei rekapitulieren, schrieb Gilles Deleuze in seinem Buch über Francis Bacon (1981), und so kann auch jeder Autor die Rekapitulationen des Malers rekapitulieren. Ich habe mich den Gemälden wie der zeitgenössischen Kunst genähert, über die ich in den vergangenen 15 Jahren schrieb. Ich wollte sie wie eine Kunstkritikerin betrachten. Aus diesem Grund werden Überlegungen zu den Ideenfeldern angestellt, welche die Maler und ihre Werke umgeben, wechseln die Essays ihren Betrachtungsmodus von hoher zu niedriger Auflösung, springen von gewagten Generalisierungen zu sehr spezifischen Details. Der Wahl der Bilder lagen meine gegenwärtigen Interessen und ästhetischen Vorlieben zugrunde, sie reflektiert nicht notwendigerweise den Sammlungsschwerpunkt der Staatlichen Museen zu Berlin.
Als ihr Generaldirektor, Michael Eissenhauer, vorschlug, diese Essays in einem Buch zu versammeln, war das eine großzügige Einladung für mich als Autorin, aber auch für die Texte, die es ihnen nun erlaubt, mehr als eine sporadische Veröffentlichung in einer Tageszeitung zu sein. Ein Text eröffnet einen Raum, und Schreiben ist der Prozess, diesen Raum zu schaffen und zugleich in ihm verloren zu gehen. Der Text wird erst vom Leser vollendet, der ihn von außen betrachten kann. Diese Textsammlung ist also zuerst eine Art Protokoll meiner Erkundungen der Gemäldegalerie, darüber hinaus aber auch der Möglichkeiten, die sich meinem Schreiben und Denken über Kunst in der Auseindersetzung mit diesen Zwölf Bildern eröffnet haben.
Es war eine große Ehre und eine ebenso große Herausforderung, die Artikel zusammenzustellen und zu Kapiteln im Rahmen einer breiter angelegten Erzählung ausbauen zu dürfen. Das wäre nicht möglich gewesen ohne Ulrich Gutmair, der die Texte sorgfältig ins Deutsche übersetzt und zuerst für die Zeitung und für dieses Buch redigiert hat. Die Transformation der Zeitungsartikel, die ursprünglich auf Englisch geschrieben waren, zu den vorliegenden Essays wurde von der englischen Lektorin dieses Buchs, Kimberly Bradley, auf fachkundige Weise gemeistert. Ich danke beiden herzlich.
Michelangelo Merisi da Caravaggios Bild Amor als Sieger aus dem Jahr 1601 hat heute noch die Kraft, Museumsbesucher in seinen Bann zu ziehen. Hinter Amors nacktem Körper dirigiert seine Hand den Blick auf die andere Seite der Figur, ins Bild hinein. Obwohl es das Gemälde auf provokative Weise darauf anlegt, seine Betrachter zu adressieren und zu konfrontieren, lenkt es deren Blick auch hinter den Rücken der Figur.1 Es eröffnet einen Raum in eine illusionäre Ferne, der den realen Raum im Atelier und im Museum erweitert.
Am Ende seines radikalen Projekts einer Suche nach den Wurzeln der abstrakten Malerei kam der amerikanische Maler Frank Stella zu dem Schluss, dass Caravaggio eine neue Art des Bildraums erfunden habe, der sich jenseits der Bildoberfläche in den Raum des Betrachters hineinprojiziere, den er gleichsam einhülle und verschlinge. Wir sehen uns aufgehen in dieser Sphäre, deren Effekt mit einem Gyroskop verglichen werden kann, einem Kreiselinstrument, das von Bewegung und Neigung unbeeinflusst bleibt.2
Das Jahr 2017 wird als das Jahr erinnert werden, in dem die Kunst von innen angegriffen wurde. Im Sommer dieses Jahres verursachte das auf der Whitney Biennale in New York gezeigte Bild Open Casket (2016) der Malerin Dana Schutz einen Aufruhr in der Kunstwelt. Schutz’ Bild gibt eine Ikone des afroamerikanischen Kampfs für Gleichheit, die Fotografie des vierzehnjährigen Emmet Till, wieder, der 1955 einem Lynchmord zum Opfer fiel. Die Spuren der Gewalttat sind auf dem Körper des toten Jungen zu sehen. Seine Mutter hatte darauf bestanden, ihren Sohn bei der Beerdigung im offenen Sarg zu zeigen. Künstler und Kunstkritiker forderten nun, dass das Bild von Schutz nicht nur aus der Ausstellung entfernt, sondern zerstört werden müsse.
In der hitzig geführten Debatte über »schwarze Pein, weiße Schuld« und darüber, wer gewisse Bilder für seine Kunst benutzen dürfe und wer nicht, wurde kaum darüber gesprochen, was für ein Bild Schutz gemalt hatte.
Amor als Sieger, 1601/02 / Caravaggio (genannt), Michelangelo Merisi (Mailand 1571–1610 Porto Ercole) / Leinwand,156,5 × 113,3 cm / Kat. Nr. 369 / 1815 Ankauf der Sammlung der italienischen Adelsfamilie Giustiniani / Foto: Jörg P. Anders
Niemand schien sich darüber Gedanken zu machen, was das Bild jenseits seiner Absicht und der Verwendung eines kulturellen Zeichens sein könnte; etwas schien hier gelesen und interpretiert werden zu müssen. Die Frage, welche malerischen Eigenschaften das Bild besitzt und wie es seine Betrachter anspricht, schien in der allgemeinen Diskussion aufgehoben zu sein. Es ist bemerkenswert, dass eine besondere Eigenschaft von Open Casket, die absichtlich oder unabsichtlich den Furor entfacht hatte, gar nicht zum Gegenstand der Debatte wurde: Das Bild verhält sich auf eine gewisse Weise indifferent gegenüber seinem Gegenstand – trotz der gegenteiligen Behauptung der Künstlerin. Das Werk scheint auf dieselbe Weise gestaltet worden zu sein wie alle Bilder, die Schutz zuvor und danach gemalt hatte, als fröhliche und farbenfrohe expressionistische Illustration. Das Gemälde zirkulierte in den Medien, getrennt von seinem Ausstellungskontext; es wurde auf Facebook, Twitter und Instagram verbreitet.
Wenige Monate später verfassten zwei Schwestern Mitte zwanzig in New York eine Petition. Sie forderten das Metropolitan Museum of Art auf, Balthus’ Gemälde Thérèse Dreaming von 1938 nicht mehr oder nur eingeschränkt zu zeigen. Das Sujet des Bilds, das im MoMA seit den 1990er-Jahren ausgestellt wird, sitzt mit abgewandtem Gesicht und geschlossenen Augen, ein Knie an den Körper gezogen auf einer Bank, sodass der Blick auf seine Unterwäsche gelenkt wird. Auf dem Boden eine Katze, häufiges Motiv vieler Gemälde von Balthus, die Milch aus einer Schale trinkt. Das Bild ist mit kühnem Gestus, in warmen Brauntönen gemalt. Das pubertierende Modell Thérèse Blanchard, die ungefähr zwölf Jahre alt war, als sie Balthus Modell saß, war in Paris seine Nachbarin. Sie erscheint allein, mit ihrer Katze oder mit ihrem Bruder auf elf Bildern einer Serie, die zwischen 1936 und 1939 entstanden. Das Gemälde ist so schön wie unzüchtig. Die Wangen, Nase und Lippen des Mädchens sind rot durchblutet, ihre Arme sind erhoben, die Hände über dem Kopf verschränkt, ihr linkes Bein ruht auf der Bank. Diese enthüllende Position scheint auf absurde Weise entspannt zu sein. Strahlend und haptisch, taktil und geschmeidig erscheinen die Hände und Beine des Mädchens, unbewegt und lebendig zugleich. Sogar die Katze scheint wie geschnitzt, ebenso das Cezannesque Stillleben, das auf dem Holztisch hinter Thérèse arrangiert ist: Glasvasen, eine Dose und ein kubistisch gemaltes Tuch, in dem die locker sitzende weiße Unterhose aufgenommen wird, auf die unser Blick elegant gelenkt wird – das Herz des Skandals.
Mehr als 11.000 Unterschriften unterstützten die Petition der Schwestern, die unter anderem Rückenwind bekam durch den Aufschrei, der nach den Enthüllungen von Harvey Weinsteins Verfehlungen in Hollywood und infolge der #metoo-Kampagne zu hören war. Mia Merril, eine der beiden Initiatorinnen, die an der New York University Kunstgeschichte studiert hatte, warnte vor der Vergegenständlichung und Sexualisierung von Kindern, die das Gemälde ihrer Ansicht nach romantisiert.
Obwohl Balthus von bedeutenden Künstlern der Nachkriegszeit bewundert wurde, Pablo Picasso etwa erwarb in Paris ein Bild aus der Thérèse-Serie, noch während Balthus daran arbeitete, war es durchaus erwartbar, dass Balthus erneut zum Angriffsziel wurde. Im Verlauf seiner Karriere umgab den gefeierten und außergewöhnlichen polnisch-französischen Maler Balthasar Klossowski de Rola (1908–2001) eine Aura verbotener erotischer Sinnlichkeit, die mit einer unstrittig zeitlosen Qualität seines Werks verbunden ist. Über sechs Dekaden waren vor allem junge Mädchen das Sujet seiner figurativen Gemälde. Er malte sie in häuslichen Interieurs, in Straßenszenen oder Landschaften, in denen er Renaissancefreskos (Piero della Francesca und Andrea Mantegna kommen sofort in den Sinn) mit französischem Realismus aus dem 19. Jahrhundert und frühen modernistischen, zur Abstraktion tendierenden Gestaltungen überblendete.
Die neue Empfindlichkeit der Identitätspolitik, die sich in jüngster Zeit in der Sphäre der Kunst neu auflud und unverblümt äußerte, reduzierte die Gemälde von Schutz und Balthus (und möglicherweise die Malerei im Allgemeinen) zu selbstdeutenden, wörtlich zu nehmenden Symbolen, zu Bildern, die gleichberechtigt neben anderen medial zirkulierenden Bildern stehen und in ihrer Wirkung äquivalent zu Werbeaufnahmen erscheinen. Eine solchermaßen reduzierte Bewertung ist fragwürdig, wenn nicht schlicht heuchlerisch. In einer Calvin-Klein-Werbung finden sich mehr Sexualisierung, Anzeichen von Missbrauch und Verdinglichung als in jedem beliebigen Gemälde. Darüber hinaus werden die Bilder, die heute durch die sozialen Medien zirkulieren und unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, hergestellt, indem die Parameter der Verdinglichung internalisiert und zur Selbstdarstellung und als ökonomische Strategie genutzt werden. Diese neue Welle steht für einen Zeitgeist, der sich aus guten Absichten und einem Denken speist, das blind für Ambivalenzen ist und so eine mächtige Quelle des Interesses, die Schönheit, und eine Gravitationskraft abschafft, die über tausende von Jahren die bildenden Künste in Bewegung gesetzt hat. Thérèse Dreaming präsentiert eine Dualität innerhalb der komplexen Beziehung, die Balthus mit dem Betrachter seines Gemäldes herstellt: Zu ihr gehört die eigene Verwundbarkeit des Künstlers, eine offensichtliche Identifikation mit dem verführerischen Mädchen an der Schwelle zum Erwachsensein, die deutlich in diesem Gemälde ausgestellt wird.
In Jacques Lacans Entwicklungstheorie wird das Spiegelstadium als der Moment beschrieben, in dem das Kind seine Subjektivität entdeckt: seine Trennung nicht nur von der Umwelt, sondern auch der Mutter. In einen historischen Rahmen gesetzt ist Caravaggios »Spiegel-Bild« des Eros für den Kunsthistoriker Michael Fried ein »Moment« in der Geschichte, in dem die ursprüngliche Selbstverzauberung des künstlerischen Tuns mit Selbsterkenntnis konfrontiert wird. Der Künstler feiert die Entdeckung seines abgespaltenen künstlerischen Selbst und drückt zugleich die Traumatisierung aus, die diese Spaltung zur Folge hat.