Tanja und die Zarin - Susanne Scheibler - E-Book + Hörbuch

Tanja und die Zarin E-Book und Hörbuch

Susanne Scheibler

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Beschreibung

Tanja ging den langen Weg von der jungen Leibeigenen zur Gräfin und lebt nach dem Tod ihres Mannes auf Gut Bjely Dom an der Wolga. Als plötzlich ihre Jugendliebe Andrej auftaucht und sie auffordert ihre Heimat zu verlassen, um ihn zu begleiten, spielt das Schicksal nach seinen ganz eigenen Regeln...Russland zur Zeit Katherina der Großen: Ein junges Mädchen kann vor seinem bösartigen Gutsherren fliehen und findet sich bald am Hof der Kaiserin wieder. Für Tanja beginnt eine Reise durch die Welt der Liebe und zu sich selbst.

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Zeit:15 Std. 59 min

Sprecher:Lisa Rauen

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Susanne Scheibler

Tanja und die Zarin

ROMAN

Saga

Tanja und die Zarin

 

Tanja und die Zarin – Band 2 der Tanja Trilogie

Copyright © 2021 by Michael Klumb

vertreten durch AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 1979 im Molden Verlag erschienen

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1979, 2021 Susanne Scheibler und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726961140

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

Der Schneesturm hatte acht Tage lang gewütet. Jetzt, am frühen Morgen des Tatjanatages, schwieg er. Sein Heulen erstarb, dieser wilde Gesang, der Mensch und Tier unruhig gemacht hatte. Und der Schnee war keine weiße, wirbelnde, undurchdringliche Wand mehr, sondern wandelte sich in sanfte Flocken, die still zur Erde schwebten.

Tanja erwachte von der jähen Lautlosigkeit. Es war noch finster draußen; das Zimmer mit den Fellen auf dem Boden und den hellen Möbeln aus Birkenholz erhielt nur wenig rötliche Helligkeit durch den Flammenschein, der aus den Ritzen der Ofentür drang.

Tanja stand auf und lief barfüßig zum Fenster. Sie schob die schweren Samtportieren zur Seite und hauchte gegen das Eis der Scheiben, bis ein kleines rundes Loch entstand, durch das sie hinausschauen konnte. Ihr Schlafzimmer lag im ersten Stock, und der Schnee türmte sich hoch bis zu den Fenstern zu ebener Erde. Aber der Himmel wurde klar; einzelne Sterne blitzten schon hinter ziehenden Wolkenfetzen hervor, und der Mond hatte einen Hof. Das bedeutete, daß es kalt werden würde.

Es war ein strenger Winter in diesem Jahr 1772. Die alten Leute in den zu Bjely Dom gehörenden Dörfern sagten, sie könnten sich nicht erinnern, daß jemals zuvor die Wolga Anfang Oktober schon eine so dicke Eisdecke getragen hätte, und jetzt, im Februar, ertrank das Land im Schnee. Die Steppenwölfe wagten sich aus Hunger bis an die Ansiedlungen der Menschen heran, und ihr heiseres Heulen klang so nahe wie nie zuvor in den Nächten.

Wölfe... Tanja konnte die Winternächte nicht zählen, in denen sie ihre Stimmen gehört hatte. Als Kind im fernen Sarodnaja, wenn sie neben Väterchen Iwan und Mütterchen Olga auf dem warmen Ofen geschlafen hatte. Während ihrer Flucht mit Pawel, der Leibeigener des Grafen Gjurin gewesen war wie sie und den sie hatte heiraten wollen... Damals hatten die Wölfe sie verfolgt. Immer näher waren sie dem Schlitten mit dem einzigen, erschöpften Pferdchen gekommen, und Pawel hatte sich ihnen entgegengeworfen, um sie, Tanja, zu retten. Seitdem konnte sie das Heulen der Wölfe nicht mehr hören, ohne das vor sich zu sehen: Pawels Körper und über ihm die grauen Tiere, wie sie ihn hechelnd zerrissen.

Selbst hier, hinter den schützenden Mauern von Bjely Dom, in der Sicherheit ihres Hauses, war es in vielen Nächten geschehen, daß sie hochgefahren war aus ihrem Bett, verstört und schlafbefangen, und sich nach nebenan geflüchtet hatte, in Boris’ Arme, sobald die Stimmen der Wölfe die nächtliche Stille durchbrachen: »Es ist schrecklich, es macht mir Angst! Laß mich bei dir bleiben, bitte!«

Die Tür zu Boris’ Schlafzimmer stand noch immer offen des Nachts, und obwohl mehr als anderthalb Jahre seit seinem Tod vergangen waren, hatte Tanja nichts darin verändern lassen. Das Bett war sauber bezogen, in den schweren Silberleuchtern steckten frische Kerzen, und Boris’ Kleider hingen in den Schränken. Manchmal ging Tanja hinüber, öffnete die Türen und streichelte die Stoffe aus feinem Tuch, als streichele sie Boris’ Arm.

Tanja Tutscharewa wandte sich vom Fenster ab. Sie hörte, wie im Haus eine Tür klappte. Dann kamen leise Schritte die Treppe herunter. Jemand klopfte: »Euer Gnaden, seid Ihr wach?« Es war Pelageja Ossipowna, die schon in Petersburg dem Tutscharewschen Haushalt vorgestanden hatte und die Tanja, als sie die Hauptstadt verließ, nach Bjely Dom mitnahm.

Tanja holte einen bodenlangen, mit weißem Eichhörnchenfell gefütterten Morgenmantel aus dem Schrank und warf ihn sich über. »Komm herein, Pelageja. Ich habe nur nach dem Wetter gesehen. Es hört auf zu schneien. Sobald die Schneedecke fest genug ist, schicke ich einen Boten nach Zarizyn zu Oberst Zipletow um die Militäreskorte, die er mir für meine Fahrt nach Jaizk zugesagt hat.«

Pelageja Ossipowna trat ein und schloß die Tür hinter sich. »Ihr seid also immer noch entschlossen, Bjelkin und Sidurin zum Pferdemarkt zu begleiten? Ach, Euer Gnaden, wenn Ihr es Euch doch anders überlegen wolltet! Es sind unruhige Zeiten. Der Krieg hat die Leute verrückt gemacht, und man ist seines Lebens nicht mehr sicher auf den Straßen.«

Tanja warf das lange schwarze Haar zurück. »Ich habe zuverlässige Nachricht, daß in Jaizk drei Pferde aus der berühmten Zucht des Khans der Krim versteigert werden sollen.«

»Aber Fedja Sidurin...«

»Sidurin ist ein tüchtiger Stallmeister. Trotzdem wird er nie begreifen, daß man für ein Pferd ein Vermögen auszugeben vermag. Er würde spätestens bei zehntausend Rubel aufhören zu bieten.«

»Und Ihr nicht?«

Tanja lachte, »Nein, Pelageja, ich nicht. Wenn ich die Pferde bekomme – eine Stute und zwei Hengste sollen es sein –, wird die Bjely Domer Zucht bald so berühmt werden wie die von Khan Sahib Girej öder des Beylerbey von Tunis.«

Pelageja schlug hastig ein Kreuz. »Ihr werdet doch nicht mit Heiden und Türken, Gott schlage sie mit den sieben Heimsuchungen, in Wettstreit treten wollen, Euer Gnaden! Ihr solltet bedenken, wer Ihr seid, eine Prinzessin Tutscharewa, und ich habe schon vor vierzig Jahren, als ich in die Dienste des Vaters unseres seligen Herrn Boris Semjonowitsch trat, sagen hören, die Tutscharews seien so reich, daß sie ganz Moskau und Petersburg kaufen könnten...«

»Reich oder nicht, Pelageja«, unterbrach Tanja sie, »ich kann deshalb nicht herumsitzen und die Hände in den Schoß legen. Ich muß etwas tun, verstehst du? Und jetzt sieh zu, daß ich Frühstück bekomme und daß Holz im Ofen nachgelegt wird. Hinterher will ich baden. Ach ja, und Bjelkin soll gegen neun zu mir kommen. Ich habe einiges mit ihm zu bereden.«

Schweigend schlurfte Pelageja Ossipowna zur Tür, und in ihrer Haltung war etwas, das Tanjas leichte Gereiztheit sofort besänftigte.

»Begreif mich doch, Pelageja«, sagte sie versöhnlich, »ich bin eben nicht wirklich eine Dame von Stand, sondern eine Bauerntochter. Ich schwöre dir, ich werde verrückt, wenn ich nichts zu tun habe, nichts Sinnvolles, meine ich.«

Am nächsten Tag und an allen darauffolgenden Tagen schien die Sonne von einem klarblauen Himmel, und der Wind, der von Osten kam, war so kalt, daß er wie mit Nadelspitzen in die Haut stach.

Die Soldaten, die Oberst Zipletow Tanja als Geleitschutz mitgeben wollte, trafen in Bjely Dom ein. Zwölf Berittene mit einem Leutnant waren es, allerdings keine Kosaken, denn, so hatte Zipletow in einem Begleitbrief an Tanja geschrieben: ›Zwar habe ich meine kosakischen Regimenter noch gut in Zucht. Trotzdem weiß man nicht, was geschieht, wenn die Burschen dem strengen militärischen Reglement entkommen sind. Man hört immer wieder Nachrichten vom Widerstand der freien Kosaken, von bewaffneten Unruhen und räuberischen attaques auf friedliche Reisende. Deserteure und Banditen, vor allem die Gaidamaks aus der Saporoger Sitsch, treiben sich in der Steppe und den Wäldern herum, und ich bin nicht sicher, ob meine cossaques, nur weil sie die Uniform Ihrer Majestät tragen, auf ihre Freunde und Stammesbrüder schießen werden, so man Sie, Madame, an Leib und Leben bedroht. Ergo ist es besser, Sie begeben sich unter den Schutz von Leutnant Gawrilow und seinen Leuten.‹

Lydia. Wassiljewna, seine Frau, hatte Tanja noch einen Tulup mitgeschickt, einen großen, bis zum Boden reichenden Schafspelzumhang, der bei Schlittenfahrten getragen wurde, um sich vor der eisigen Kälte zu schützen.

Am anderen Morgen brach Tanja nach Jaizk auf. Sie führte dreißig Pferde aus der Bjely Domer Zucht mit, die sie in Jaizk verkaufen wollte. In der Halle verabschiedete sich Tanja von Pawel, ihrem Sohn. Der Siebenjährige bemühte sich, knabenhafte Unbekümmertheit zur Schau zu tragen, doch es gelang ihm nur unvollkommen. Er hatte Angst. Es war das erstemal, daß seine Mutter eine Reise unternahm und ihn allein ließ. Einmal nur hatte sein Vater das getan. Pawel war damals fünf gewesen, und er sprach nie darüber. Doch jetzt war alles wieder gegenwärtig: Das Landgut der Hendrikows – und wie sein Vater eines Mittags mit bleichem Gesicht zu ihm in die Kinderstube gekommen war: »Ich habe Nachricht, daß deine Mutter in Moskau ist, und fahre hin, um sie zu holen. Sei brav und hab keine Angst, bald sind wir bei dir.«

Es waren Wochen vergangen, eine Ewigkeit für die angstvolle Ungeduld eines Fünfjährigen, und dann war seine Mutter allein gekommen. Und hatte ihm gesagt, daß sein Vater an der Pest gestorben sei. Das also war der Tod – jemand reiste ab und kam nicht wieder.

Pawel schluckte an seinen Tränen. Man hatte ihm gesagt, daß er danach trachten müsse, ein kleiner Mann zu werden, tapfer und beherrscht. Nur Mädchen heulten wegen jeder Kleinigkeit, wie beispielsweise Anfisa, seine Milchschwester. Ein Mann müsse auf die Zähne beißen und lächeln, gleichgültig, ob ihm danach zumute war oder nicht. Aber das war so schwer, daß Pawel meinte, Mädchen hätten es um vieles leichter mit ihrem ewigen Geheule.

Tanja malte mit dem Daumennagel ein Kreuz auf seine Stirn. »Ich bring’ dir auch was Schönes mit, Pawelitschka. Gott schütze dich. Und sei immer folgsam, wenn Malascha, Lisa oder Monsieur Brancourt dir etwas sagen.«

Pierre Brancourt war seit einem halben Jahr auf Bjely Dom, ein junger französischer Schulmeister, der Pawel in Rechnen, Schreiben, Lesen und Französisch unterrichtete.

Seitdem nannte Pawel seine Mutter ›Maman‹ und ›Sie‹, weil Monsieur ihm beigebracht hatte, daß sich das so gehörte. Als er es zum erstenmal sagte, hatte Tanja nasse Augen bekommen. Sie... Natürlich war die Anrede korrekt für einen wohlerzogenen Knaben, und Tanja wollte, daß Pawel eine ausgezeichnete Erziehung erhielte. Und dennoch, dieses ›Sie‹ schaffte soviel Distanz... Es entwuchs ihr, dieses Kind, und dabei meinte sie oft, es sei gerade gestern gewesen, daß sein erstes Lächeln sie getroffen und es die ersten Schritte auf sie zu getan habe.

Tanja umarmte Pawel, ehe sie sich von einem Diener in den Tulup helfen ließ und den hohen Kragen über ihrer Zobelmütze zusammenschlug. Rodja Grigorjewitsch, der Kutscher, saß auf dem Bock, auch er in einem Fellmantel, zu doppelter Breite ausgestopft, um Tanja vor dem eisigen Fahrtwind zu schützen. Die drei Troikapferde stampften den Schnee.

Aus dem Wirtschaftshof klangen Kommandorufe und Pferdegewieher. Fedja Sidurin und Jewgenij Aronowitsch Bjelkin fuhren in einer zweiten Troika vor. Malascha Andrejewna Sidurina und Irina, die Verwaltersfrau, umarmten ihre Männer und schlugen das Kreuz über sie. Malascha heulte. Sie war weichherzig und eine Spur zu fantasievoll; jedesmal wenn ihr Mann eine Reise antrat, und sei es nur nach Zarizyn oder Saratow, malte sie sich die schrecklichsten Dinge aus, die ihm zustoßen mochten. »Seht sie euch an!« rief Fedja, ein vierschrötiger, rotgesichtiger Mann mit lustigen jettschwarzen Knopfaugen. »Seht sie euch an! Da flennt sie in ihre Schürze, als ginge es in den Krieg wider die Türken. Und als ich vor drei Tagen Magendrücken hatte und es mit ein paar Gläschen Brombeerschnaps auskurieren wollte, hat sie mich aus dem Schlafzimmer gesperrt. Einen stinkenden Teufel hat sie mich genannt, und sie würde lieber neben einem Schwein liegen als bei mir.«

»Ach Gott, Fedorenka«, schluchzte Malascha, »man sagt so manches, wenn man zornig ist. Wenn du nur gesund wiederkommst.«

Der Rest ihrer Worte ging in Peitschenknallen und Hufgetrappel unter. Im Wirtschaftshof waren die zwölf Husaren und Leutnant Gawrilow aufgesessen und preschten über die Allee, die zur Straße führte, gefolgt von den dreißig Pferden, die in Jaizk versteigert werden sollten. Vier Zureiter, dick in Pelze vermummt und die Gesichter durch Wolltücher geschützt, saßen auf kleinen stämmigen Gäulchen und führten die Tiere an langen Lederleinen hinter sich her. »Hoj-hoh!« schrien die Reiter und legten sich flach über die Pferdehälse. »Vorwärts, Brüder!«

»Hoj-hoh!« schrie auch Rodja und ließ die Peitsche um die Ohren des Leitpferdes schnalzen. Die Troika zog mit einem so heftigen Ruck an, daß Tanja in die Pelze gedrückt wurde. Pawels kleine Gestalt auf der Freitreppe, Malascha, die noch immer in ihre Schürze weinte, Irina, Pelageja, die weißen Mauern von Bjely Dom, alles blieb zurück. Die Sonne hatte sich über den Horizont geschoben, eine runde gelbweiße Scheibe, die den Schnee aufblitzen ließ, so daß es aussah, als führen sie über eine Fläche von Millionen Kristallen.

 

Es war am Mittag des zweiten Reisetages. Sie befanden sich etwa hundert Werst vor Tschapojewo, einem kleinen Marktflecken am Jajk, der hauptsächlich Pelzjägern und nomadisierenden Kalmükkenstämmen als Umschlagplatz diente. Leutnant Gawrilow hielt mit seinen Husaren die Spitze des Trupps, danach folgten die Troikas, den Schluß bildeten die Zureiter mit der Pferdeherde. Sie hatten gerade ein kleines Waldstück passiert und jagten nun auf die Ebene des Flusses Kuschum zu.

Die Reiter, die ihnen entgegenkamen, wirkten zuerst wie kleine schwarze Punkte auf dem weißen Schneefeld, aber sie wurden rasch größer. Nachdem Leutnant Gawrilow die Näherkommenden durch sein Fernrohr beobachtet hatte, ritt er neben Tanjas Schlitten. »Es mögen an die zwanzig Männer sein, und sie halten genau auf uns zu. Soldaten sind es nicht, das habe ich sehen können, aber sie scheinen bewaffnet.«

»Banditen, meinen Sie?« fragte Tanja.

»Warten wir’s ab, bis sie hier sind, Madame, und richten wir uns für alle Fälle auf Unannehmlichkeiten ein.«

Es waren Banditen. Noch ehe sie auf Schußweite herangekommen waren, schwärmten sie in langer Kette aus, um dann von drei Seiten anzugreifen. Vier von Gawrilows Leuten deckten Tanjas Schlitten, Gewehrschüsse dröhnten, Pferde wieherten schrill, und Tanja sah, wie drei der Banditen sich schreiend in ihren Sätteln hoben und dann langsam seitlich in den Schnee kippten.

Die Troika schwankte wie ein Schiff im Sturm. Als eine Kugel über sie hinwegpfiff, duckte sich Tanja tiefer. Sie hatte plötzlich das Empfinden, daß dies das Ende sei. Sie würde sterben, hier, irgendwo in der Weite der Flußlandschaft, alle würden sie sterben, und in der Nacht würden Wölfe kommen und sich um ihre Leiber balgen.

Pawel, dachte sie. Und dann: Andrej... Sie hatte sich nicht oft gestattet, an Graf Andrej Dobrynin zu denken, und das Jahr in Bjely Dom war vorübergegangen, ohne daß sie irgend etwas von ihm gehört hätte.

Andrej, ihr Geliebter – und der Komplize ihrer Schuld. Sie hatte mit ihm gelebt, während Boris sie in allen Moskauer Pesthäusern und Spitälern gesucht hatte. Darüber war er krank geworden. Und in all den Monaten, die vergingen, war Tanja sich nicht sicher gewesen, ob sie jemals wieder mit Andrej Dobrynin leben könnte. Aber jetzt, an diesem weißgoldenen Wintertag, der vielleicht ihr letzter war, sprang ein so heißer, urtümlicher Widerstand gegen das Sterben in ihr auf, daß sie verzweifelt wünschte: Wenn ich doch nur eine Waffe hätte, ein Messer, ein Schwert, eine Pistole! Ich würde mich schon zu wehren wissen. Ich will leben, und ich will Andrej wiedersehen. O Gott, mach, daß ich ihn wiedersehe...

Auf dem Kutschbock schrie Rodja auf. Einer der Banditen hatte zwei der Husaren abgedrängt und galoppierte mit geschwungenem Säbel neben der Troika her. Er hob sich in den Steigbügeln, die Säbelklinge sauste auf Rodja nieder, doch der Hieb verfehlte ihn. Im nämlichen Augenblick rammte einer der Zureiter von Bjely Dom dem Kerl sein eigenes Krummschwert in den Rücken.

Wenige Minuten später war der ganze Spuk vorüber. Mehrere Gaidamaks lagen tot am Boden, die anderen rissen ihre Pferde herum und flüchteten. Auch von Tanjas Begleitern waren drei getötet worden; Leonid Denissowitsch Kulaikow, einer der Bjely Domer Zureiter, war darunter. Zwei Husaren hatten Verletzungen erlitten. Den einen hatte eine Banditenkugel gestreift, der andere einen Säbelhieb über den linken Arm bekommen.

»Dafür habe ich mindestens zwei der Hurensöhne in die Hölle befördert«, sagte er zu Tanja. Sie blickte auf den toten Leonid Denissowitsch hinab, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Gerade 22 Jahre alt war er geworden, und an Ostern hatte er Lisa Westmann, Pawels Kindermädchen, heiraten wollen. Lisa war Deutsche. Sie stammte aus Sarepta, der Siedlung Herrnhuter Brüdergemeine, die vor ein paar Jahren in der Nähe von Bjely Dom gegründet worden war. Die strenggläubigen Eltern des Mädchens hatten sich lange dagegen gewehrt, daß es einen Russen griechisch-orthodoxen Glaubens liebte, und es hatte Tanjas ganzer Fürsprache bedurft, um Georg Westmann, Lisas Vater, und den Vorsteher der Gemeinde, Friedrich Köhler, umzustimmen. Lisa hatte geweint vor Glück, als sie endlich die Erlaubnis bekam, Leonid zu heiraten. Und nun war er tot, gestorben um eines der widerwärtigsten Dinge auf dieser Welt, der menschlichen Habgier. Tanja kniete neben dem toten Leonid Denissowitsch und drückte ihm die Augen zu. Das gleiche tat sie bei den beiden gefallenen Soldaten. »Wir nehmen sie mit«, entschied sie. »Sie sollen in Bjely Dom begraben werden. In der nächsten Posthalterei lassen wir sie einsargen und auf dem Rückweg von Jaizk...«

Sie wandte sich um, weil hinter ihr einer der Soldaten einen überraschten Schrei ausstieß. Er war im Begriff gewesen, den toten Gaidamaks die Waffen abzunehmen. »Hölle und Teufel, der Halunke atmet ja noch!« Er versetzte dem am Boden Liegenden einen Tritt. »Wirst du wohl aufstehen, Hundesohn!«

Es war ein blutjunger Bursche, fast ein Kind noch, mit bartlosen Wangen und erschreckend wissenden Augen. Die Augen eines bösen, haßerfüllten alten Mannes in einem jungen Gesicht. Der Soldat, der ihn entdeckt hatte, zog seine Pistole, »Das hast du dir fein ausgedacht, Bürschchen! Den Toten spielen und warten, bis wir fort sind, was?«

Gawrilow fiel ihm in den Arm. »Nein... nicht! Der Kerl gehört vor ein Gericht. Er muß gestehen, wer seine Spießgesellen sind und wo sie ihren Unterschlupf haben. Fesselt ihn. Wir bringen ihn zum nächsten Gendarmerieposteri.«

Die wilden, bösen Augen des Jungen verfolgten Tanja, als sie längst wieder in der Troika saß. Wenn es wahr ist, daß die Augen der Spiegel der Seele sind, wie mußte es in dieser Seele aussehen! Und er war doch ein halbes Kind, vielleicht siebzehn Jahre alt...

Die nächste Posthalterei hieß Seljonoja Roschtscha. Sie lag einsam am Rande eines Birkenwäldchens, und der Postmeister sagte, daß die Gendarmeriestation gut zwanzig Werst entfernt sei, in Kalynow. Und es sei ein Umweg, wenn die hohen Herrschaften nach Tschapajewo wollten.

»Um so besser«, murrte Bjelkin mit zornigen Augen. »Dann knüpfen wir das Bürschchen gleich hier an einen Baum, und die Sache ist erledigt. Wozu Umstände machen?«

Der junge Gaidamak lag quer über dem Hals eines Soldatenpferdes. Der es geritten hatte, stieg ab und schlug in der kalten Luft die Arme um sich. Abwartend blickte er Gawrilow an. »Was befehlen Sie, Gospodin? Soll er baumeln?«

Gawrilow zögerte, und da sagte Tanja rasch: »Nein. Es bleibt dabei, er kommt vor ein Gericht. Wir übernachten hier und brechen morgen vor dem Hellwerden auf.« Sie wandte sich an den Postmeister. »Du kannst uns doch Quartier geben, Väterchen?«

Der Alte verbeugte sich ein um das andere Mal. »Gewiß, Euer Gnaden. Gerade vor einer Stunde sind drei Hochwohlgeborene abgereist. Die Zimmer sind noch warm; ich werde sogleich Feuer nachlegen lassen. Schöne Zimmerchen sind es, mit Fellen auf dem Boden und guten Betten. Ihr werdet dort schlafen wie in Gottes Arm.«

Es war eine armselige Herberge, armseliger noch als die meisten in diesem Teil Rußlands, und vielleicht auch schmutziger. Tanja schauderte zusammen, als sie das für sie bestimmte Zimmer betrat. Eine Magd hatte ihr mit einer Kerze die dunkle, knarrende Treppe hinaufgeleuchtet. Die Wände waren aus rohem Holz, vom Alter geschwärzt. Ein Schaffell lag vor dem schmalen Bett, das Bettzeug bestand aus groben, übelriechenden Wolldecken. Aber in dem großen Lehmofen prasselte ein helles Feuer und verbreitete Wärme.

»Wünschen Euer Wohlgeboren etwas zu essen?« fragte die Magd. »Es gibt Fischblinis, Fleischpiroggen, Borschtsch und Soljanka aus frischen Barben, die Pantelej Fomitsch heute früh aus einem Eisloch des Kuschum geholt hat. Und natürlich Pökelfleisch, Brot und eingelegte Gurken.«

»Bring mir nur heißen Tee«, sagte Tanja. Seit dem Hellwerden hatte sie nichts mehr gegessen; dennoch verspürte sie keinen Hunger.

Rodja kam die Treppe heraufgestampft. Er hatte sich seines schweren, ausgestopften Kutschermantels entledigt und trug nur noch den leichteren, dreiviertellangen Schafspelz über Hose und Fellstiefeln. »Wir haben die Toten in den Schuppen gebracht, Euer Gnaden. Der Postmeister sagt, sein Sohn könne Särge für sie machen. Er ist Tischler in Kalynow.«

Tanja lächelte ihm zu. Guter, treuer Rodja... Er war Andrejs Kutscher gewesen, aber als sie den Prinzen Tutscharew heiratete, war er zu ihr gekommen. Niemand wußte so viel von ihr wie Rodja. Er hatte miterlebt, wie sie sich in Andrej Dobrynin verliebte. Zu ihm war sie geflüchtet in jener Nacht, als sie Andrej verließ, und er war in Moskau bei ihr gewesen, als sie ihn wiedertraf. Er kannte sie als das arme, unwissende sibirische Bauernmädchen, das mit leidenschaftlicher Verbissenheit Lesen und Schreiben, Rechnen und Französisch gelernt hatte, um Andrej zu gefallen. Er kannte sie als strahlende, gefeierte Schönheit auf dem Moskauer Parkett – während der Krönungsfeierlichkeiten Katharinas II., als Andrej sie als seine Verlobte und angebliche Komtesse ausgab, er hatte ihre Ehejahre mit Boris in Bjely Dom und später in St. Petersburg miterlebt, und er wußte mehr als jeder andere um den selbstquälerischen Kummer ihrer frühen Witwenschaft. Er hatte mit ihr gelacht und gelitten, und er hing an ihr mit der bedingungslosen Treue eines Hundes.

»Rodja, mein Lieber«, sagte Tanja, »ich bin froh, daß dir vorhin nichts geschehen ist. Ich dachte schon, es sei aus mit uns allen.«

»Pah... Räuberisches Kosakengesindel. Gott hat ihre Hirne leergepustet, daß sie uns überhaupt angegriffen haben.« Er wischte sich die in der Stubenwärme schmelzenden Eiskristalle aus dem Bart. »Sie haben den Gefangenen in den Stall gebracht. Einer von Gawrilows Leuten bewacht ihn.«

Tanja setzte sich an den Ofen, zog die Stiefel aus und hielt die Füße gegen die warmen Steine. Die Magd kam mit dem dampfenden Samowar und stellte ihn auf den Tisch. »Wollt Ihr wirklich nichts essen, Hochwohlgeboren?« fragte sie.

»Vielleicht später. Aber sorg dafür, daß meine Begleiter eine anständige Mahlzeit bekommen. Und der Junge im Stall auch.«

Das Mädchen riß die Augen auf. »Ihr meint den gefangenen Mörder?«

»Ja. Bring ihm Brot und Fleisch und eine kräftige Kascha.«

Der Junge war an einen der Holzpfosten gebunden worden, die die niedrige Stalldecke trugen. Ein Soldat hockte vor ihm im Stroh und hatte seine Pistole auf den Knien liegen. Es war fast dunkel, nur ein wenig mattes Schneelicht fiel durch die mit Stroh und Lumpen verklebten Fensterluken. Der warme Dunst von Pferdeleibern, der Geruch von Schweiß und Leder schlug Tanja entgegen. Sie sah, daß vor dem Gefangenen ein vom Herdfeuer geschwärzter Eisentopf mit einer dicken, längst kalt gewordenen Kascha, ein Holzbrett mit Brot und Fleisch und ein Krug Wasser standen. »Willst du nicht essen?« fragte sie.

Er schwieg und hob nicht einmal den Kopf. Der Soldat antwortete statt seiner: »Er ist gefesselt, er kann nicht...«

»Und warum hast du ihm die Hände nicht losgebunden?«

»Der braucht nichts zu fressen!«

Tanja trat näher an den Jungen heran. »Bist du hungrig?« Wieder antwortete er nicht, aber sie sah, daß er schluckte, und seine Lippen zitterten. Sie wandte sich dem Soldaten zu. »Schneide die Stricke an seinen Handgelenken durch. Na los, worauf wartest du?«

»Es ist gegen die Vorschrift... Und überhaupt, so ein Dreckskerl...«

Tanja zog das kurze Messer, das er am Gürtel trug, aus der Scheide. Dann zerschnitt sie die Handfesseln des Jungen. »So – nachher kannst du ihn wieder festbinden.« Der Junge versuchte, sich nach dem Topf mit der Kascha zu bücken, aber die Stricke, die ihn an Brust und Hüften an den Pfosten banden, hinderten ihn. Tanja hob den Topf und gab ihn dem Gefangenen. Es fehlte ein Löffel, und er fuhr mit der rechten Hand in den Topf hinein und aß gierig, fast ohne zu kauen, als fürchte er, man würde ihm die Kascha wieder fortnehmen.

Als der Topf leer war, gab Tanja ihm Brot und Fleisch. Er riß große Stücke davon ab und stopfte sie in den Mund. Er war mager, mit hohlen Wangen und dünnen Kinderhänden. Er sah aus, als habe er seit langem nicht genug zu essen bekommen.

»Wie heißt du?« fragte Tanja, und der Soldat lachte. »Aus dem werdet Ihr nichts herausbekommen, Wohlgeboren. Der schweigt sich aus, ob man ihm die Nase blutig schlägt oder ihn in den Hintern tritt.«

Der Junge schluckte einen Brocken Fleisch hinunter. Er blickte Tanja an, noch immer feindselig und angstvoll zugleich, wie ein Tier in der Falle, das bereit ist, seinem Peiniger die Zähne in die Hand zu schlagen, sobald er zu nahe kommt. »Frol«, sagte er dann. »Ich heiße Frol Sacharowitsch Minajew.«

»Und woher kommst du?«

»Aus... aus einer Staniza in der Nähe von Jaizk... Koloschewska...«

»Und warum bist du nicht mehr dort? Warum bist du mit den Banditen gegangen?«

»Ich sollte in den Krieg.«

»Da hört Ihr es, Euer Gnaden!« schrie der Soldat. »Ein Deserteur ist er, ein aufrührerisches Schwein, das lieber raubt und mordet, als die Uniform Ihrer Majestät zu tragen!«

»Mein Bruder hat sie getragen«, sagte der Junge dumpf. »Und mein Vater auch... Sie sind tot, alle beide. Der Vater ist bei Choczin gefallen, Fedka bei Perekop. Jetzt sollte auch ich zum Sterben geholt werden. Die Mutter hat geweint, weil ich doch ihre einzige Hilfe war auf dem Hof, denn meine Schwester Polina ist noch klein, gerade fünf Jahre alt, und weil ich das Pferd hätte mitnehmen müssen, das sie zum Pflügen brauchte. Und woher hätte ich das Geld nehmen sollen, ein Gewehr und Munition zu kaufen und mich und mein Gäulchen auf dem Feldzug durchzubringen? Schon mein Vater und mein Bruder haben keinen Sold bekommen, und als meine Mutter deshalb beim Ältesten war, hat er sie mit der Nagaika aus dem Haus geprügelt.«

»Lügner!« fuhr der Soldat auf. »Daß dir die Zunge im Rachen verfault. Jeder Kosak, der in den Krieg zieht, bekommt ein Handgeld und dazu die Löhnung von 15 Rubeln.«

»Einen Dreck haben wir gekriegt!« schrie der Junge. »Betrogen hat man uns! Eines Tages sind Kosaken aus Saporoshje in unser Dorf gekommen; sie haben es gesagt. Die Atamane haben schon jahrelang alles für sich behalten, das Handgeld und die Löhnung. Unsere frei gewählten Führer sollten sie sein, dabei sind sie unter Waffengewalt von der Regierung eingesetzt worden, und mit Waffengewalt werden sie für ihre Betrügereien beschützt und in ihren Ämtern belassen – von solchen wie du. Und solche wie du, die nichts anderes können, als den Herren die Stiefel lecken, solche sind es auch, die auf freie Kosaken schießen, sie gefangennehmen und wie Verbrecher nach Sibirien treiben.«

»Und? Bist du etwa kein Verbrecher, du Kosak?«

Der Junge lehnte den Kopf gegen den hölzernen Pfosten und schloß die Augen. Tanja sah, daß er weinte. Es war ein schreckliches hartes Schluchzen, das seinen mageren Knabenkörper stieß. »Ja«, sagte er, und seine Stimme klang dünn und schrill. »Weil ich nicht zu den Soldaten wollte, nicht in diesen verfluchten Krieg. Weil meine Mutter und meine Schwester Hunger litten, denn die letzte Ernte war schon schlecht, und wir hatten unsere einzige Ziege hergeben müssen, um ein wenig Saatgut zu bekommen. Ich wollte es in die Erde bringen, als sie kamen und sagten, ich müsse zu den Rekruten. Die Mutter wäre verhungert und meine Schwester Polina auch. Darum bin ich fortgegangen.«

»Wohin?« fragte Tanja ruhig.

»Zuerst habe ich mich in den Wäldern versteckt. Es waren auch noch andere desertiert, nicht nur aus unserer Staniza. Auch aus Tjutkowa, Prestbinsk, Irgutowsk und sogar Jaizk. Alles arme Hunde wie ich. Ein paar davon haben sich bis Saporoshje zur Sitsch durchgeschlagen. Dort haben sie sich den Gaidamaks angeschlossen. Bis in unsere Gegend sind sie gekommen, und eines Tages bin ich zu ihnen gegangen und habe gesagt, daß ich bei ihnen bleiben will, wenn sie mich brauchen können.«

Tanja hatte Mitleid mit dem Jungen. Vergeblich suchte sie aufs neue die heiße Empörung in sich zu wecken, die sie empfunden, als sie Leonid Denissowitsch und den beiden toten Soldaten die Augen zugedrückt hatte. Aus Habgier ermordet, hatte sie da gedacht.

Aber so einfach war es nicht. Es gab nicht nur Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Es gab Aktionen und Reaktionen, und das Übel war ein Gewächs mit vielen Trieben.

Frols Geschichte war stellvertretend für viele. Noch vor Ausbruch des Türkenkrieges hatten die Kosaken in relativ freier Selbstverwaltung gelebt, ihre Ältesten und Atamane gewählt, ihre Höfe bewirtschaftet, Fischfang betrieben und Schafe gezüchtet. Einige hatten sogar beträchtlichen Wohlstand erworben, so daß sie in der Lage waren, Leibeigene zu kaufen und wie Herren zu leben. Diesen hatte auch der Krieg kein Elend gebracht. Wenn ihre Söhne einberufen wurden, stellten sie Ersatzmänner aus den Reihen der Armen. Sie zahlten dafür eine geringe Summe, rüsteten sie mit Waffen, Kleidern und einem Pferd aus, und hinter den dicken Mauern ihrer Chutors, in ihren Steinhäusern mit den prächtig eingerichteten Zimmern, ging das Leben weiter seinen ruhigen, satten Gang.

Aber da waren die Armen, solche wie Frol Minajew. Aufgewachsen in einer Lehm- oder Holzkate, ein paar Deßjatinen Land, ein kleiner Gemüsegarten hinter dem Haus, ein paar Hühner, eine Ziege, ein Pferd. Jede Dürreperiode des Sommers, wenn der Glutwind aus der Steppe über die Felder wehte und das Korn am Halm verdorren ließ, jedes Unwetter, das die so mühsam bestellte Erde zu einer Schlammwüste machte, in der nichts mehr wachsen und gedeihen konnte, jeder Frost, der im Frühling das junge Saatgrün vernichtete, bedrohte ihre kärgliche Sicherheit, ließ Hunger, grinsend und bleich wie ein Gespenst, vor ihren Türen aufstehen. Hunger, der den Kindern die Bäuche auftrieb, die Gesichter hohlwangig machte, die Eingeweide zusammenpreßte. Hunger, der die Stillen verzweifeln ließ und Haß in den Rebellischen weckte, Haß auf jeden, der satt war.

»Möchtest du noch etwas essen?« fragte Tanja. Der Junge schüttelte stumm den Kopf, und der Soldat lachte. »Da seht Ihr, wie er ist, der Hundesohn! Nicht einmal danke sagen kann er!«

Sie wandte sich ab. »Ich gehe jetzt. Und hör zu: Ich will nicht, daß du ihn schlägst oder sonstwie quälst. Er wird für das, was er getan hat, abgeurteilt werden, und damit ist es genug.«

Tanja hatte fast die Veranda vor der Posthalterei erreicht, als sie lautes Schreien hörte und gleich darauf einen Schuß. Die Stalltür flog auf, und Frol Minajew stürzte heraus. Er glitt auf dem Schnee aus, raffte sich wieder hoch und rannte auf das hölzerne Tor zu, das vom Hof nach draußen führte. Hinter ihm tauchte der Soldat auf. Er hatte die linke Hand auf den Leib gepreßt. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, die Rechte hielt die rauchende Pistole. »Haltet ihn!« schrie er. »Der Dreckskerl hat mich mit meinem eigenen Messer angegriffen!« Er wollte Frol nach, brach aber nach ein paar Schritten in die Knie.

Als Tanja zurücklief und sich über ihn beugte, grinste er mit verzerrten Lippen. »Da seht Ihr, was Ihr von Eurer Wohltätigkeit habt! Ich wollte ihm die Hände binden, da hat er mir das Messer aus dem Gürtel gerissen und in den Bauch gerannt. Ehe ich auf den Beinen war, hatte er seine Fesseln durchgeschnitten und war weg.«

Der Schuß hatte die Soldaten in der Herbergsstube alarmiert. Sie rannten ins Freie, gerade als Frol das Tor erreicht hatte. Mit verzweifelter Anstrengung mühte er sich, den schweren Querbalken anzuheben, der es verschloß. Die Soldaten rissen ihn zurück und warfen ihn in den Schnee. Frol schrie hell und gellend auf, als sie auf ihn einschlugen und ihn mit ihren Stiefeln traten. »Mutter!« schrie er, »Mutter!« Dann wurde er still.

Einer riß ihn hoch und setzte ihm den Lauf seiner Pistole an die Schläfe. Tanja preßte die Hände auf den Mund. »Nein... nicht...« Ihre Stimme ging in dem Knall des Schusses unter.

 

Die Straße nach Jaizk führte durch Koloschewska, und die armselige Kate der Minajews lag etwas oberhalb hinter einem halbzerbrochenen Knüppelzaun. Tanja ließ den Schlitten halten und ging die paar Schritte hinauf. Einen Augenblick zögerte sie anzuklopfen, doch da hörte sie schon von drinnen einen Schritt, und der Türriegel wurde zurückgeschoben. Die Minajewa hatte die gleichen dunklen Augen wie ihr Sohn. Aber sie blickten mißtrauisch, angstvoll, als erwarte sie eine schlimme Nachricht. Vielleicht hatten Frols entkommene Kumpane ihr schon gesagt, daß ihr Sohn entweder in die Hände der Soldaten gefallen oder getötet worden sei. Vielleicht aber war es auch nur die Furchtsamkeit der Armen, die das Leben gelehrt hatte, daß selten Gutes in die Bedrängnis ihres Daseins kam.

Wie sagte man einer solchen Frau, daß ihr Sohn tot war?

Gegen die Falten ihres Rockes drängte sich ein kleines Mädchen, es mußte Polina sein, von der Frol gesprochen. Ein Kindergesicht, ursprünglich hübsch, aber von den weißen, häßlichen Narben der Skrofulose entstellt.

»Guten Abend...« Tanja hörte selbst, wie unsicher ihre Stimme klang. »Darf ich hereinkommen, Mütterchen?«

Die Minajewa gab die Tür frei. Scheu musterte sie den langen Tulup der Besucherin, die Zobelmütze, das schöne, scheinbar von allem Elend des Lebens unberührte Gesicht. »Wer seid Ihr?«

»Tanja Iwanowna.« Sie mochte nicht ihren ganzen Namen nennen, ihren Titel. »Ich... wollte dir etwas bringen.« Sie holte einen Lederbeutel hervor. Er enthielt ein paar hundert Rubel; für sie war es nicht viel, aber für die Frau vor ihr mochte es den Weg zum Weiterleben bedeuten.

»Was ist das?« fragte die Minajewa. »Geld? Und warum?«

Jetzt hätte Tanja es ihr sagen müssen, und sie nahm all ihre Kraft zusammen. »Es ist von Frol. Er ...«

Die Minajewa wandte den Blick nicht von ihr. »Er ist tot, nicht wahr?« Und als Tanja die Lider senkte, stumm, ohne ein Wort hervorzubringen: »Ich habe gewußt, daß es so kommen würde. Tag um Tag habe ich hier gesessen und darauf gewartet, daß jemand es mir sagt. Und manchmal habe ich mir gewünscht... Aber das versteht Ihr wohl nicht, daß man wünscht, es tritt etwas ein, nur damit es endlich geschehen ist. Weil man das Warten darauf, die Angst davor nicht mehr aushält.«

Sie setzte sich auf die Bank und schlug ein Kreuz. Sie weinte nicht, und das war schlimm. »Er war ein guter Sohn«, sagte sie nur. Dann deutete sie auf den Lederbeutel. »Was darin ist – reicht es, um ihm ein Begräbnis zu bezahlen?«

»Er... er ist begraben worden«, antwortete Tanja stockend. Es war eine Lüge. Die Soldaten hatten ihn in ein Eisloch des Kuschum geworfen, und sie hatte es nicht verhindern können. »Das Geld... Du wirst dir dafür einiges kaufen können, genug, daß du keine Not mehr leiden mußt.«

»Not ...« wiederholte die Minajewa und zog das Kopftuch tiefer in die Stirn. »Was wißt Ihr schon von Not! Ihr mit Euren Pelzen, Euren weißen, glatten Händen!«

»Ich habe Glück gehabt im Leben, Frol nicht«, sagte Tanja und wandte sich zur Tür. »Gott mit dir...«

Dämmerung zog am Horizont auf, als Tanja und ihre Begleitung das südliche Stadttor von Jaizk passierten. Holzhäuser säumten die Straße, ärmlich in der Vorstadt und mit schön bemalten Fassaden und geschnitzten Fensterläden und Türen, je mehr sie sich dem Stadtkern näherten. Jaizk war Garnison. Auf einem großen Platz erhob sich das Kommandanturgebäude, dahinter zogen sich langgestreckte steinerne Kasernen den Berg hinauf, umgeben von Festungsmauern mit Zinnen und Bastionen.

Rodja fragte eine Schildwache nach einem Gasthof. »Aber es muß der beste der Stadt sein, Söhnchen, für Ihre Gnaden, die Prinzessin Tutscharewa. Sie hat in St. Petersburg bei Hof gelebt und täglich mit der Kaiserin geredet, verstehst du? Also schick uns nicht in irgendein dreckiges Loch, in dem selbst die Wanzen vor Verzweiflung heulen. Sonst, bei Gott, komme ich zurück und nagle dich mit deinen abstehenden Ohren an dein Schilderhaus.«

Das Gasthaus, das der Soldat empfahl, lag hinter der Kommandantur am Bladwinnij-Prospekt. Und es war wirklich beinahe luxuriös zu nennen. Das Zimmer, in das der Wirt Tanja unter Verbeugungen hinaufgeleitete, hatte Fenster mit Samtportieren davor, den Boden bedeckte ein Teppich, und im Kamin prasselte ein helloderndes Feuer. Ein sechsarmiger Kandelaber verbreitete warmes, gelbes Kerzenlicht. Zwei Mägde holten die Badewanne aus dem Schrank und kamen mit Krügen voll dampfendem heißen Wasser.

Tanja genoß dieses erste warme Bad nach der Reise. Sie lag lange im Wasser, wusch sich das Haar und ließ es am Kaminfeuer trocknen. Sie hatte zwei Kleider mitgenommen und wählte das elegantere davon aus veilchenfarbener feiner Wolle, dessen Säume mit Schwanenpelz besetzt waren. Bevor sie es anzog, setzte sie sich vor den Spiegel, um sich zu frisieren.

Sie war jetzt 27, aber ihr Äußeres hatte noch den Schmelz der Mädchenjahre. Das sanfte Oval des Gesichts, der zärtliche Mund, Augen, die in ihrer Bläue einen so überraschenden Kontrast zu dem schwarzen Haar bildeten-all dies strahlte Frische und Gesundheit, den Zauber der Jugend aus. Zwar war ihre Haut nicht so magnolienweiß, wie es dem augenblicklichen Schönheitsideal entsprach, sondern leicht gebräunt, selbst im Winter, aber samten und glatt. Sie hatte Pawel geboren und eine Tochter, die gestorben war, kaum, daß sie auf der Welt war, doch ihre Brust spannte sich straff und voll unter dem weißen Batistleibchen, ihre Taille war noch immer so schmal, daß sie sich kaum zu schnüren brauchte, und sie hatte lange, feste Schenkel und weich gerundete Hüften.

Ja, sie war schön, und früher hatte sie sich daran gefreut. Aber als sie nun vor dem Spiegel saß, dachte sie, wie nutzlos diese Schönheit doch sei, da es seit über einem Jahr niemanden gab, den sie damit hätte glücklich machen können.

Tanja schob die Hände unter ihr Haar. Es war lang und schwer und ganz glatt. Sie verzichtete darauf, es in modische Löckchen zu brennen, sondern steckte es am Hinterkopf zusammen. Dann stieg sie in den Reifrock und schlüpfte in das Kleid. Während sie sich noch abmühte, die vielen Haken an der Taille zu schließen, klopfte es an die Tür, und auf Tanjas »Herein« betrat die Magd das Zimmer. »Unten ist ein Offizier, er hat eine Botschaft für Euer Gnaden...«

Der junge Leutnant wartete am Fuß der Treppe. Er stellte sich als Adjutant des Generalmajors von Trauenberg vor und überreichte Tanja ein Billett. »Von Seiner Exzellenz, dem Herrn Generalmajor, Madame.«

›Chère princesse‹, schrieb von Trauenberg, ›ich bin entzückt, in dieser gottverlassenen Gegend jemanden wie Euer Liebden anzutreffen. Werden Sie die Güte haben, mit mir zu soupieren? Ihre Einwilligung voraussetzend, habe ich alles vorbereiten lassen. Leutnant Tscheperow wird Sie zu mir bringen.‹

Tanja blickte den jungen Offizier an. Sie kannte von Trauenberg aus St. Petersburg. Er war ein stiernackiger, untersetzter Mann um die Vierzig, ein beschränktes Soldatengehirn, das ohne Rücksicht auf sich oder andere durchführte, was man ihm auftrug. »Wo ist Seine Exzellenz?«

»Er wartet hier im Salon.«

Von Trauenberg sprang bei Tanjas Eintritt von einem der mit blaßgrünem Samt bezogenen Stühle auf. »Meine liebe Madame Tutscharewa, welche Freude! Und wie geht es Ihnen? Oh, man braucht gar nicht zu fragen, man sieht es. Obwohl ich es kaum für möglich gehalten hätte – Sie sind noch schöner geworden.«

Er küßte ihr die Hand und führte sie zu dem bereits gedeckten Tisch. Dann wies er den Leutnant an, dafür zu sorgen, daß in einer Viertelstunde das Essen aufgetragen werde. Tscheperow entfernte sich mit einer Verbeugung, und von Trauenberg schenkte aus einer Karaffe roten Wein in zwei bereitstehende Gläser. »Er stammt aus Ungarn, ich habe ihn eigens von Petersburg mitgeführt. À votre santé, Madame...«

Sie trank ihm zu und stellte das Glas auf den Tisch zurück. »Ich bin überrascht, Sie ausgerechnet in Jaizk anzutreffen, Exzellenz. Was tun Sie hier? Und wie haben Sie so rasch von meiner Anwesenheit erfahren?«

Trauenberg strich sich über seinen Schnauzbart. Der flaschengrüne, goldbetreßte Uniformrock spannte sich prall über seinem mächtigen Bauch. Er trug eine schlechtfrisierte weiße Perücke, seine tiefliegenden blauen Augen über buschigen Brauen funkelten. »Die hiesige Garnison und das gesamte Jajk-Gebiet unterstehen seit Oktober vorigen Jahres meinem Oberkommando. Kriegsminister Graf Tschernyschew hat mich mit sämtlichen Vollmachten ausgestattet, um hier für Ordnung zu sorgen, nachdem der hiesige Ataman offenbar nicht mehr Herr der Lage war.« Er leerte sein Glas und füllte es wieder nach. »Ich sage Ihnen, es vergeht kaum eine Woche, in der ich nicht ein paar von den kosakischen Halunken auspeitschen oder in Eisen legen lassen muß und ihre Wortführer zur Zwangsarbeit nach Sibirien schicke... Ja, und woher ich weiß, daß Sie hier sind? Ich habe Order gegeben, daß mir jeder Reisende gemeldet wird, der in einem Gasthof oder einer Posthalterei im Umkreis von dreißig Werst absteigt. Aus Sicherheitsgründen, verstehen Sie, Madame?«

»Nicht ganz«, sagte sie. »Natürlich habe ich von der Unzufriedenheit unter den Kosaken gehört und daß sich immer mehr dagegen wehren, wenn man ihnen ihre alten Privilegien beschneidet. Aber muß man deshalb mit staatlicher Gewalt einschreiten? Warum gibt man den Leuten nicht, was ihr gutes Recht ist?«

»Ihr gutes Recht!« Trauenbergs Gesicht rötete sich. »Man hat ihnen vor zweihundert und mehr Jahren eine gewisse Autonomie zugestanden, Madame. Aber wo steht geschrieben, daß dies für alle Ewigkeit gelten soll?« Er beugte sich über den Tisch. »Wissen Sie, was hier im vergangenen Herbst geschehen ist? Zweitausend Jajk-Kosaken haben den Militärdienst verweigert. Und die Begründung: Sie unterlägen nicht der Disziplin regulärer Truppen und man dürfe sie nicht für die Moskauer Husaren-Legion ausheben, da sie seit alters her ihre eigenen Regimenter gestellt hätten. Außerdem hätten ihre Eltern ihnen den herkömmlichen Segen vorenthalten – hören und staunen Sie, Madame – wegen der angeblich gottlosen neuen Kleidermode und weil es für Altgläubige, zu denen die meisten hier am Jajk gehören, unannehmbar sei, sich die Bärte abnehmen zu lassen. Da zitieren sie ihren Glauben, die Halunken! Aber wenn es ums Morden und Brennen geht, lassen sie ihn in ihren schmutzigen Hütten zurück wie ein Paar alte Stiefel. Glauben Sie mir, meine Liebe, man wird nur mit ihnen fertig, wenn man mit eiserner Faust dazwischenschlägt.«

»Und das haben Sie zweifellos getan, Exzellenz.« Tanjas Stimme klang spöttisch, aber er merkte es nicht.

»So wahr ich Alexander Karlowitsch heiße! Ein paar Hundert wurden ausgepeitscht und die Rädelsführer in die Fabriken jenseits des Ural zu lebenslänglicher Zwangsarbeit geschickt. Ha, Sie hätten sehen sollen, wie die anderen darauf zu Kreuze gekrochen sind. Wie eine Herde Lämmer sind sie in die Kasernen getrottet, haben sich die Bärte scheren und die ›gottlosen‹ Uniformen verpassen lassen. Gewalt – das ist die einzige Sprache, die die Burschen verstehen.«

Tanja dachte an die Zarin, an ihr ehrliches, heißes Wollen, dieses Volk durch Güte zu regieren, nachdem es so lange nichts anderes als Furcht und Haß und Grausamkeit gekannt. Eine rasche, zornige Erwiderung drängte sich ihr auf die Lippen: »Mir scheint, Sie handeln nach dem Sprichwort: Ein sanftes Schaf ist des Wolfes Leckerbissen? Aber ich glaube nicht, daß es im Sinn der Kaiserin ist, ihre Untertanen in Schafe und Wölfe aufzuteilen. Vor allem aber sollte niemand, der in ihrem Auftrag kommt, den Ehrgeiz haben, zu den Wölfen zu gehören.«

Von Trauenberg lachte. »Sie sind reizend, wenn Sie sich so ereifern, Madame. Aber, verzeihen Sie, von der harten Wirklichkeit verstehen Sie nichts. Um bei Ihrem Exempel...«

Er unterbrach sich, weil die Tür geöffnet wurde. Es war Leutnant Tscheperow. »Eine dringende Nachricht, Euer Exzellenz. Von Hauptmann von Durnow.« Damit überreichte er dem Generalmajor ein Kuvert. Von Trauenberg erbrach hastig das Siegel, und während er las, griff er nach seinem Glas und stürzte den Wein hinunter. »Da haben wir es! Ein promptes Beispiel, wohin unangebrachte Milde diesen schlitzohrigen Teufeln gegenüber führt. Vor zwei Tagen ging ein Gefangenenkonvoi von hier ab, zweiundvierzig Sträflinge, wegen Unruhestiftung und Gehorsamsverweigerung zur Zwangsarbeit in den Gruben von Werchne Uralsk verurteilt. Leutnant Kostrowskij hat den Transport begleitet. Er gehört auch zu denen, die meinen, mit Nachgiebigkeit könne man mehr erreichen als mit Strenge. Hat verrückte Ideen im Kopf, faselt von Bruderliebe und daß nur Menschlichkeit die Welt verbessern könne. Und was hat er nun davon? In einem Eisloch haben sie ihn ertränkt, nachdem der Gefahgenenkonvoi von einer bewaffneten Rebellenbande befreit wurde.«

Er sprang auf. »Entschuldigen Sie mich für einige Minuten, Madame. Ich muß dem Leutnant einige Instruktionen für Hauptmann von Durnow mitgeben.«

Als er zurückkam, folgten ihm der Wirt und die Hausmagd, die die Speisen auftrug. Hühnerpastete, gefüllter Stör, Wildschweinbraten in Rahmsoße, Kaviarpiroggen.

Von Trauenberg setzte sich an den Tisch und entfaltete die Serviette. »Bring frischen Wein, Nikolaj Wladislawowitsch, du siehst doch, daß die Karaffe leer ist.«

Er trank viel während der Mahlzeit, schwadronierte und prahlte, und Tanja bedauerte immer mehr, seine Einladung angenommen zu haben. Er habe veranlaßt, daß aus den umliegenden Stanizen fünfzig Männer als Geiseln geholt und ins Gefängnis geworfen werden sollten. Falls man die befreiten Kosaken und ihre Helfershelfer nicht finde, werde man die Geiseln hinrichten. Außerdem habe er einen Kurier nach Orenburg zu General Reinsdorp gesandt und um sofortige militärische Verstärkung gebeten. »Ich bin ein alter Soldat, Madame. Ich rieche die Gefahr wie der Hund einen Braten. Die Hurensöhne werden die Geiselnahme nicht stumm hinnehmen. Rebellion liegt in der Luft. Aber sollen sie nur! Wenn Reinsdorp mir ein paar hundert Mann schickt, werde ich dazwischenfahren, daß ihnen ein für allemal die Lust nach blutigen Köpfen vergeht.«

»Und Sie sind sicher, daß die Kaiserin Ihnen dafür Dank wissen wird?« fragte Tanja.

»Warum, glauben Sie, hat man mich sonst hergeschickt? Unsere allergnädigste Zarin ist nicht zimperlich, wenn es um Ruhe und Ordnung geht. Da denkt und handelt sie wie ein Mann, Gott sei es gedankt.« Er nahm ein Stück Brot und tunkte es in die Rahmsoße mit Pilzen. »Aber nun zu Ihnen, Madame. Sie sind zum Pferdemarkt gekommen. Er beginnt morgen, und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, erledigen Sie Ihre Geschäfte so schnell wie möglich und reisen Sie ab. Vermutlich wird Jaizk in den nächsten Tagen kein geeigneter Aufenthaltsort für eine Dame sein. Wenn Sie gestatten, werde ich Sie morgen zum Markt begleiten. Auch kann ich Ihnen behilflich sein, wenn sich Ihre Geschäfte hinauszögern.«

Er war penetrant, er war Tanja widerlich, aber er war nicht loszuwerden.

Sie atmete auf, als das Dessert gebracht wurde, und aß nur ein paar Löffelchen von der Kissel aus gezuckerten Beeren und frischer Sahne. Dann erklärte sie, keinen Bissen mehr hinunterzubringen. »Außerdem bin ich so schläfrig, Exzellenz, daß mir fast die Augen zufallen. Die lange Reise, Sie verstehen...«

Doch als sie dann in ihrem Zimmer zwischen den Leintüchern und Pelzdecken lag, konnte sie nicht einschlafen. Wie ein Rad drehte es sich in ihrem Kopf: von Trauenberg, die toten Soldaten, Leonid Denissowitsch, Frol, die Minajewa... Auspeitschungen hier am Jajk, Deportationen, Hinrichtungen, Gewalt und Haß. Gab es nicht schon genügend Unglück auf der Welt, Krankheit und Tod, Hitze, die alles verdorren, Kälte, die alles erstarren ließ? Mußten auch noch die Menschen ihr Teil beitragen, um das Maß des Elends vollzumachen? O Gott, dachte Tanja. Wie machst du es uns manchmal schwer, an deine Güte zu glauben.

 

Der Pferdemarkt fand auf einem weiten Feld jenseits des nördlichen Tores von Jaizk statt. An seinem Rande hatten die tatarischen und kosakischen Pferdehändler eine kleine Zeltstadt errichtet. Für die Tiere gab es Mietställe, flache Gebäude, aus Holzstämmen zusammengefügt und mit Schindeln gedeckt. Sidurin und Bjelkin hatten die Bjely Domer Pferde schon am Vortag dorthin gebracht und waren gleich am Morgen wieder zu ihnen hinausgeritten.

Tanja kam in Begleitung von Generalmajor Trauenberg. Er hatte sie mit einer Eskorte von sechs Berittenen in seinem Schlitten abgeholt. Bettler drängten sich ihnen in den Weg, Zigeunerinnen, die Amulette und angebliche Zaubertränke feilboten oder die Zukunft aus der Hand lesen wollten, Händler mit Pasteten, Blinis oder Zukkerwerk, heißem Tee und Branntwein.

Auf dem freien Platz in der Mitte wurden die Pferde von ihren Besitzern herumgeführt, damit jedermann sie begutachten könne. Der Auktionator, ein kleines, o-beiniges Männchen mit spitzer Pelzmütze und einem Wolfsfellmantel, schrie mit hoher, sich überschlagender Stimme die Angebote. »Fünfzig Rubel für den Falben... wer bietet mehr? Brüder, Freunde, das ist ein Gäulchen bester kosakischer Zucht! Seht, wie es den Kopf zurückwirft und mit den Augen rollt. Sechzig Rubel? Hat Gott euch die Hirne vernebelt? Oh, die Pest über euch Knicker und Geizhälse.«

Von Trauenberg ließ den Schlitten halten und half Tanja heraus. »Schaff uns Platz!« befahl er einem Soldaten seiner Begleitung, der sich sogleich mit den Ellenbogen durch die Menge drängte. »Platz für Seine Exzellenz! Auseinander, Leute! Steht nicht da wie die Ochsen. Seine Exzellenz kommt.«

Eben noch waren die Leute fröhlich gewesen, hatten geschwatzt und gelacht, doch nun schwiegen sie, und Tanja empfand ihre Stummheit feindselig und bedrückend.

»Sechzig Rubel für den Falben!« sagte der Auktionator in die Stille hinein. Ein dicker Mann in einem langen Schafspelz zahlte die Summe und führte das Pferd weg. »Und nun... wer ist der nächste? Michail Platonowitsch? Oder du, Anastas Ossipowitsch?«

Niemand trat vor mit seinem Pferd am Zügel. Sie standen und starrten Tanja und von Trauenberg an. Seht ihn, da ist er... Der Schinder, der uns Mütterchen Jekaterina auf den Hals geschickt hat. Was will er? Pferde kaufen und jeden aufs Maul schlagen, der ihn überbietet? Oder sogar ein paar Gäulchen requirieren, einfach so... Haltet euch zurück, Brüder. Wartet ab, was er vorhat. Ein schiefes Wort, eine unbedachte Handlung, und schon kriegst du fünfzig mit der Knute. Darin ist er nicht kleinlich, der Herr Generalmajor.

Von Trauenberg lächelte, ein zynisches, befriedigtes Lächeln. Er genoß es, daß man ihn fürchtete, denn er hatte schon seit langem aufgehört zu wünschen, man möge ihn lieben.

Gut, dachte er, gut so, und wandte sich dem Auktionator zu. »Wie heißt du?«

Das Männchen haschte nach seiner Hand, um sie zu küssen. »Anatolij Tarpelowitsch Tschirin, Hochwohlgeboren.«

»Wo sind die Pferde aus der Zucht des Krim-Khans? Wer verkauft sie?«

»Ein... ein gewisser Dserschinskij, Euer Gnaden, und er verkauft sie im Auftrag des Fürsten Sassulitsch. Die besten Pferde werden immer bis zum Schluß zurückgehalten, wie Ihr wißt, man wird sie erst morgen vorführen.«

»Du irrst, Hundesohn«, sagte von Trauenberg. »Laß sie herbringen. Wenn sie so schön sind, wie man behauptet, wird die Prinzessin Tutscharewa sie kaufen.«

Tanja wollte etwas einwerfen, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Außerdem hat Ihre Gnaden selbst Pferde zum Verkauf mitgeführt. Die werden zuerst versteigert. Aber beeil dich, sonst wirst du wegen Aufsässigkeit zu fünfzig Knutenhieben verurteilt.«

Tschirin stürzte davon. Im Laufen warf er die Arme hoch und schrie mit heller Stimme: »Ihr habt es gehört, Leute! Die besten Pferde zuerst. He, Mischa, Ljoschka, Gennadij, zu den Stallungen. Sagt es allen und laßt die Gäulchen holen. Und ihr da, bringt eure Zwanzig-Rubel-Schindmähren fort. Beleidigt Seine Exzellenz nicht mit ihrem Anblick. Fort, sage ich, fort, zur Hölle mit euch!«

»Das mußte nicht sein, Exzellenz!« sagte Tanja leise, aber ärgerlich. »Ich bin nicht hergekommen, um irgendwelche Sonderrechte in Anspruch zu nehmen.«

»Aber mir liegt daran, daß Sie so rasch wie möglich Ihre Geschäfte abwickeln, das sagte ich ja schon!«

Über das weite Schneefeld kamen Bjelkin und Sidurin auf zwei Bjely Domer Goldfüchsen geritten. Sie parierten die Tiere vor Tanja durch. »Ist es wahr, Euer Gnaden? Unsere Tiere sollen heute schon versteigert werden?«

»Es scheint so«, erwiderte sie, und ihre hübschen blauen Augen waren immer noch zornig. »Ein Wunsch Seiner Exzellenz.« Sie ließ von Trauenbergs Arm los und tätschelte den beiden Füchsen die langen, edlen Hälse. »Haben Sie schon die Pferde des Krim-Khans gesehen?«

Der Stallmeister wandte sich im Sattel zurück. »Dort kommen Sie, Euer Gnaden. Es sind die drei ersten.« Er hätte das gar nicht zu sagen brauchen. Ungefähr sechzig Pferde wurden zum Vorführplatz gebracht, aber die drei an der Spitze waren so, daß Tanja scharf den Atem einzog. Knechte führten sie am Zügel, eine lohfarbene Stute, deren Mähne und Schweif wie Seide glänzten, einen schneeweißen Hengst und einen Rappen mit tiefdunklen, feurigen Augen.

»Mein Gott«, murmelte Tanja. »Und wenn es mich ein Vermögen kostet, ich will sie haben.«

Allmählich drängten sich wieder Leute um das Feld. Kavallerieoffiziere waren darunter, Gutsbesitzer, Männer, die im Auftrag ihrer adeligen Herrschaft kauften oder verkauften, und bunt gekleidete Tataren und Kosaken. Die Feuer, die man ringsum entzündet hatte, um dem Wintertag ein wenig Wärme zu geben, wurden neu geschürt. Halbwüchsige schleppten Holz heran und betätigten große Blasebälge, um die Flammen anzufachen. Auch Tschirin tauchte wieder auf, begleitet von vier Tataren in langen Fellmänteln. Sie schleppten zwei mit Pelzdecken ausgeschlagene Sessel für Tanja und von Trauenberg, die sie aus dem Zelt eines ihrer Stammesfürsten herbeigeholt hatten, und stellten sie in der Nähe eines Feuers auf. »Nehmt Platz, Hochwohlgeboren«, rief Tschirin unter mehrfachen Verbeugungen. »Und befehlt, wie die Versteigerung fortgesetzt werden soll! Es ist alles bereit, wie Ihr seht.«

»Zuerst die Pferde Ihrer Gnaden«, sagte von Trauenberg. »Und daß du mir den Zuschlag nicht zu rasch gibst. Ich wünsche, daß jedes einen anständigen Batzen bringt. Haben wir uns verstanden, Hundesohn?«

Die Bjely Domer Pferde wurden, eines nach dem anderen, von Bjelkin, Sidurin und den Zureitern am Zügel herumgeführt, damit jeder sie begutachten konnte. Tanjas Verärgerung über von Trauenbergs penetrante Einmischung verflog, als sie die Tiere betrachtete. Die Reise hatte ihnen keinen Schaden getan, sie waren frisch, temperamentvoll und von guter Rasse.

Als Tschirin mit der Auktion begann, kamen die Angebote rasch und von allen Seiten, hauptsächlich von Kavallerieoffizieren, die für ihre Eliteregimenter einkauften, und einige Pferde erzielten mehr, als Tanja erwartet hatte. Tschirin kam durch den Schnee zu ihr und von Trauenberg gerannt. »Befehlen Euer Gnaden jetzt die Pferde des Krim-Khans vorzuführen? Oder sollen wir zuerst die anderen Gäulchen versteigern?« Er war heiser, denn er hatte in seinem Eifer, die Bjely Domer Pferde anzupreisen, so geschrien, als hinge sein Leben von seiner Stimmkraft ab.

»Natürlich die Pferde des Khans, Dummkopf«, sagte von Trauenberg. »Muß man erst in dich hineinprügeln, was ich vorhin erklärt habe? Also, mach schon, es ist Mittagszeit, und mein Magen schmerzt, weil er leer ist. Und wenn mein Magen schmerzt, kann ich Langsamkeit und dumme Fragen noch weniger ausstehen als sonst.«

Bevor er mit der Auktion fortfuhr, bekreuzigte Tschirin sich hastig. Gott und alle Heiligen im Himmel, möge doch niemand die Stirn haben, Ihre Gnaden die Prinzessin Tutscharewa zu überbieten! Was soll aus mir werden, wenn die Gäulchen jemand anders ersteigert und Seine Exzellenz mich dafür verantwortlich macht?

Noch einmal führten die drei Knechte die Pferde rund um den Platz, während Dserschinskij, der Beauftragte des Fürsten Sassulitsch, sich neben Tschirin stellte. Der Auktionator hob den Arm. »Wir beginnen mit dem Rappen! Ein Vollblut aus der Zucht des Khans Sahib Girej...« Die blumenreiche Sprache, mit der er vorhin noch die Bjely Domer Pferde angepriesen hatte, war ihm klugerweise abhanden gekommen. Was hatte es für einen Sinn, diese drei Gäulchen in den höchsten Tönen zu loben? Man trieb damit nur den Preis hinauf – und das mochte nicht den Wünschen Seiner Exzellenz entsprechen.

Vier Männer hatten sich aus der Schar der Umstehenden gelöst und waren zu dem Rappen hinübergeschlendert, ein höherer Offizier in goldbetreßter Uniform und einem bodenlangen Zobelmantel und drei reich gekleidete Aufkäufer. Auch Tanja hatte ihren Platz verlassen und kam auf Dserschinskij zu. »Fünftausend Rubel!« rief sie mit heller Stimme.

»Sechstausend!« überbot sie sofort der Offizier.

»Siebentausend!« Das war einer der Aufkäufer, ein hochgewachsener junger Mann mit dunklem Haar. Er war im Auftrag des Prinzen Obolenskij hier.

»Acht«, bot Tanja, und endlich gelang es Tschirin, zu Wort zu kommen. Er wiederholte das Angebot »...zum ersten, zum zweiten ...«

»Zehntausend!« fiel ihm der Offizier ins Wort.

»Elftausend...« – »Zwölf...« – »Dreizehn...« kamen die Gebote nun Schlag auf Schlag, und Tschirin brach der Schweiß aus. Diese Narren! Wie konnten sie es wagen, gegen den Schützling Seiner Exzellenz zu bieten!

»Vierzehntausend Rubel von der Prinzessin Tutscharewa!« schrie er, so laut er konnte, und sah aus den Augenwinkeln, wie von Trauenberg aufstand und rasch auf ihn zuging. Heilige Gottesmutter, er wird mich erschlagen! Zertreten wird er mich wie einen Mistkäfer! Das ›zum ersten‹ ließ er weg und haspelte, so schnell er konnte »zum zweiten und dritten« herunter. Der Rappe gehörte Tanja.

Dserschinskij machte ein wütendes Gesicht. »Das Pferd ist das Doppelte wert! Die Pest an Ihren Hals, Tschirin. Warum haben Sie schon den Zuschlag gegeben?«

Tanja hatte seine Worte gehört. »Sie haben recht, und es tut mir leid, daß Herr Tschirin so voreilig war. Ich hätte bis zwanzigtausend mitgeboten, und das zahle ich Ihnen auch. Und bei dem weißen Hengst fange ich mit fünfzehntausend an.«

»Fünfzehntausend zum ersten!« schrie Tschirin und wurde von dem Generalmajor unterbrochen.

»Das ist zuviel. Warum so voreilig, du Wanze? Ihre Gnaden hat noch kein offizielles Gebot gemacht.«

»Doch!« sagte Tanja, und ihre blauen Augen funkelten vor Zorn. »Und Ihnen, Exzellenz, wäre ich zu Dank verpflichtet, wenn Sie mich endlich meine Geschäfte allein abwickeln ließen. Ich will niemanden schädigen oder betrügen, nur weil Sie mir eine Protektion einräumen, um die ich nicht gebeten habe.«

Sie verstummte, weil quer über den Platz Leutnant Tscheperow gesprengt kam. Vor von Trauenberg sprang er aus dem Sattel. »Exzellenz, am östlichen Tor haben sich bewaffnete Kosaken versammelt. Von allen Seiten kommen sie, und auch aus der Stadt haben sie großen Zulauf. Sie weigern sich auseinanderzugehen und verlangen, daß die Geiseln freigelassen und ihre offiziellen Führer aller Ämter enthoben werden. Sie wollen neue wählen, Leute aus ihrer Mitte, und sie behaupten, Sie, Exzellenz, hätten im Auftrag des Kriegsministers einen Befehl der Zarin unterdrückt, der dem Jajk-Gebiet die Selbstverwaltung habe zurückgeben sollen. Man will, getreu diesem angeblichen Befehl, Ihre sofortige Abreise erzwingen.«

Von Trauenberg verfärbte sich. »Das... das ist Rebellion! Reiten Sie sofort in die Stadt zurück, Leutnant. Veranlassen Sie, daß die Tore geschlossen werden. Die Militärs haben sich in Alarmbereitschaft zu halten, sämtliche Regimentskommandeure erwarte ich in einer halben Stunde im Kanzleigebäude.« Er wandte sich nach seiner Eskorte um. »Wachtmeister Miljukin! Meinen Schlitten! Und du, Tschirin, hör zu. Alle öffentlichen Versammlungen sind bis auf weiteres verboten. Der Markt hat augenblicklich geräumt zu werden. Wer in einer Stunde noch hier ist, wird in Eisen gelegt!«

Als der Schlitten vorfuhr, bot der Generalmajor Tanja den Arm. »Kommen Sie, ich sorge dafür, daß Sie einen Passierschein bekommen und unbeschadet aus der Stadt gelangen.«

Tanja war seiner Berührung ausgewichen. »Ich wäre Ihnen dankbar, Exzellenz, wenn Sie statt meiner Herrn Sidurin und Herrn Bjelkin mitnähmen. Mein Kutscher wartet im Gasthof; er wird sofort kommen und mich hier abholen.«

»Aber...«

Sie lächelte kühl. »In einer Stunde, sagten Sie, muß der Markt geräumt sein? Dann habe ich noch Zeit, zu erledigen, weshalb ich hier bin. Und den Passierschein lasse ich später abholen.«

Seine Augen wurden schmal. »Sie sind leichtsinnig, Madame, und das mag Sie teuer zu stehen kommen. Aber natürlich kann ich Sie nicht zwingen, mich zu begleiten.«

»Gewiß nicht«, erwiderte sie, noch immer mit jenem leichten, kühlen Lächeln. »Adieu, Exzellenz.«

Er verneigte sich knapp und stieg in den Schlitten. Noch bevor er sich ganz in die Felldecken gewickelt hatte, schrie er dem Kutscher zu: »Fahr los, du Esel.«

Tanja wandte sich Dserschinskij zu. »Ich will den Hengst und die Stute haben. Nennen Sie mir den Preis.«

Der Offizier – Gorkow hieß er – war ebenfalls zurückgeblieben, während die drei Aufkäufer sofort nach Leutnant Tscheperows Meldung zu den Stallungen gehastet waren. Sie hatten dort bereits ersteigerte Pferde stehen, mit denen sie schleunigst die Stadt verlassen wollten.

»Ich biete achtzehntausend für die Stute und tausend mehr für den Hengst«, sagte Oberst Gorkow. »Einverstanden, Herr Dserschinskij?«

Tanja verfluchte ihn im stillen. Wollte er hier eine private kleine Versteigerung abhalten? Nun gut. »Zwanzigtausend für jedes von ihnen. Und dasselbe für den Rappen, das sagte ich Ihnen ja schon. Aber dafür müssen Sie mir nun auch entgegenkommen.« Sie lächelte Dserschinskij zu und warf die Kapuze ihres flauschigen Blaufuchsmantels zurück. »Die Tiere sind zu schade, um bei Troikarennen zuschanden gejagt zu werden. Ich will sie für die Zucht.« Sie winkte den beiden Knechten, die die Pferde immer noch herumführten. Der Hengst schnaubte und scharrte mit den Hufen, als sie die Hand ausstreckte, um ihm die glänzende Kruppe zu klopfen. Leise redete sie auf ihn ein, bis er kam und sich die Berührung gefallen ließ. Die lohfarbene Stute drängte sich von der anderen Seite an Tanja, und als sie sie streicheln wollte, schmiegte sie ihr die weichen Nüstern in die Hand. »Nun, Herr Dserschinskij?« fragte Tanja lächelnd.

Sie war hinreißend, wie sie da stand, und Dserschinskij wäre kein Mann gewesen, wenn er es nicht empfunden hätte. Nur Gorkow hatte keinen Blick dafür; hatte die Pferde im Kopf und blickte mürrisch drein, als Dserschinskij sagte: »Es ist wahr, Ihre Gnaden ist sehr großzügig gewesen, daß Sie mir für Takshir, den Rappen, sechstausend Rubel mehr bezahlt, als Sie nach dem Zuschlag des Auktionators zahlen müßte. Darum soll Sie auch Feofar und Sajida, die beiden anderen Pferde, haben.« Er zögerte und fügte hinzu: »Für je zweiundzwanzigtausend.«

»Das soll gelten. Wenn Sie mich in meinen Gasthof begleiten, schreibe ich Ihnen eine Anweisung auf das hiesige Handelshaus Adamowitsch aus. Oder ist Ihnen eine Anweisung auf mein Petersburger Bankhaus lieber?«

»Offen gestanden, ja. Es sind unsichere Zeiten, da reist man nicht gern mit soviel Geld. Nach allem, was ich vorhin gehört habe, müssen wir froh sein, wenn wir noch unbeschadet aus der Stadt kommen.«