Preis der Leidenschaft - Susanne Scheibler - E-Book

Preis der Leidenschaft E-Book

Susanne Scheibler

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Beschreibung

Scheibler schickt die Leserschaft auf eine Reise in das Hollywood der 80er Jahre. Hinter der schillernden und verlockenden Fassade der Traumfabrik und des American Dream findet sich eine Welt, in der Menschen bereit sind, für Geld und Erfolg alles zu tun. Eine Welt des exzessiven Konsums und der Gier nach mehr. Mittendrin treffen sich Rocky und Helen, die eine leidenschaftliche Anziehungskraft verspüren, welche auf Gegenseitigkeit beruht. Wird es in einer Stadt der Oberflächlichkeit und Schnelllebigkeit möglich sein, eine wahrhaftige Liebe zueinander zu entwickeln?-

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Susanne Scheibler

Preis der Leidenschaft

 

Saga

Preis der Leidenschaft

 

Preis der Leidenschaft

Copyright © 2021 by Michael Klumb

vertreten durch die AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 1989 im Lübbe Verlag erschienen

DocuSign Envelope ID: FAB33925-605C-4FCA-89EA-4C4B7E622594

Copyright © 1989, 2021 Susanne Scheibler und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726961287

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

1.

Himmel, ging ihm die Alte auf den Geist! Er war müde, und ihm war übel. Es waren die verdammten Wodkatinis, die er auf der Party bei Jack Holeman in sich hineingeschüttet hatte.

Warum, zum Teufel, hatte er so viel getrunken! Er wußte doch, daß er nichts vertrug, vor allem nicht, wenn er sich vorher einen Druck gesetzt hatte.

Und jetzt wollte die Alte auch noch Sex im Auto!

Rocky schloß die Augen. Er spürte, wie Pat Morris an ihm herumfummelte. Sie hatte lange rotgefärbte Nägel, die unter sein Hemd glitten und über seine Brust strichen. Dann ging die Hand tiefer.

Rocky unterdrückte den Impuls, sie einfach wegzuschieben und aus dem parkenden Auto zu springen.

Schließlich hatte die Alte dafür bezahlt. Und – verdammt noch mal –, er brauchte die Kröten.

Vierhundert Dollar ...

»Was ist denn, Rocky-boy?« keuchte Pat Morris. Sie lag halb über ihm und bewegte die Hüften. »Na los, komm schon. Gib mir einen Kuß.«

Er spürte ihre feuchten, offenen Lippen, die Zunge zwischen seinen Zähnen, und seine Übelkeit wuchs.

Pat Morris behauptete, zweiundvierzig zu sein, aber das war eine faustdicke Lüge. Zehn Jahre mehr hatte sie bestimmt auf dem knochigen Rücken. Sie war Fotografin, eine ziemlich bekannte sogar, und vierhundert Dollar mochten für sie ein Pappenstiel sein. Für Rocky bedeuteten sie Überleben. Essen, Miete – und vor allem H.

Vor einem halben Jahr hatte er mit Heroin angefangen, und er bildete sich ein, noch immer jederzeit damit aufhören zu können. Er brauchte das Zeug nur, um die ganze Scheiße zu ertragen, in der er steckte. Andere ließen sich vollaufen, er setzte sich ab und zu einen Schuß.

Lenny Hutchkin hatte ihn an Pat vermittelt. Sie war eine regelmäßige, gut zahlende Kundin für das, was Lenny schlicht ›Party-Service‹ nannte.

Eine Zeitlang war Pat Morris mit Stan Rileigh herumgezogen, aber jetzt hatte sie mal jemand anderen gewollt. »Stan war ihr zu intellektuell«, hatte Lenny am Telefon gesagt. »Sie steht mehr auf Naturburschen wie dich. Such dir ’n paar anständige Klamotten raus, sie will zuerst mit dir zu irgend ’ner Party in Beverly Hills.« Er hatte gelacht. »Wer weiß, vielleicht triffst du ein paar Leute, die was für dich tun. Pat kennt ’ne Menge, die beim Film was zu sagen haben.«

Ach, verdammt! Wer in diesem lausigen Hollywood kannte keinen, der beim Film was zu sagen hatte! Oder wenigstens einen, der wieder jemanden kannte. Nur brachte das nichts, wenn man Rocky Marfield war.

Er kannte das bis zum Erbrechen: »Wer ist denn Ihr Agent? Wo haben Sie gespielt? Ach, und was machen Sie jetzt?«

Und da Rocky auf keine dieser Fragen eine befriedigende Antwort geben konnte, fiel die Klappe. Das Hollywood-Zahnpasta-Reklamelächeln erlosch auf den ewig braungebrannten, ewig grinsenden Gesichtern, und man ließ ihn stehen. Kategorie uninteressant.

Heute auf der Party bei Jack Holeman, Studioboß bei irgendeiner Filmgesellschaft, war Rocky ein paarmal versucht gewesen, auf die obligatorische Frage: »Was tun Sie jetzt?« zu antworten: »Ich bumse für vierhundert Dollar alte Weiber wie Pat Morris.«

Um es nicht zu sagen, hatte er einen Wodkatini nach dem anderen in sich hineingeschüttet.

Und jetzt war ihm übel. Gott, war ihm übel!

Rocky spürte, wie sich Speichel in seinem Mund sammelte.

»Laß uns weiterfahren«, murmelte er, während ihm der Schweiß in kleinen Bächen über Stirn und Nacken lief. »Wir können doch bei dir ...«

Pat kicherte. »Später, Honey. Erst mal will ich’s jetzt und hier. Ich tu’s gern im Auto, weißt du ... Also komm schon.«

Ihre Hände waren heiß und lüstern, und der Ekel in ihm wuchs. Verdammt, er konnte nicht!

Rocky spürte, wie sie ihn zwischen den Beinen berührte, und dachte: Los doch, Junge. Denk an die vierhundert Dollar. Oder bilde dir ein, es wäre ein junges knackiges Mädchen, das wild nach dir ist. Vergiß Pat, vergiß die ganze Scheiße, in der du steckst. Stell dir eine süße Blonde vor mit weicher Haut und festen Brüsten. So eine, die nach Jugend riecht und Sauberkeit. Bei der du weißt, daß nicht schon eine Legion von Kerlen drübergerutscht ist. Eine, die es nicht bloß macht, weil sie geil ist und dich bezahlen kann, sondern weil sie dich gern hat und in dich verliebt ist – so richtig mit allem, was dazugehört ...

Für ein paar Sekunden war seine Phantasie stark genug, daß er eine Erektion bekam. Aber dann hörte er Pat aufstöhnen, spürte, wie sie ihn gierig betastete, und alles war vorbei.

»Was ist denn?« fragte Pat mit einem hysterischen Unterton. »Sag bloß, du kannst nicht.«

»Ich will nicht«, sagte Rocky sehr klar und plötzlich ganz nüchtern. »Hau ab, verschwinde! Du kotzt mich an.«

Es war eine sehr klare, warme Nacht. Der Mond schien, und in Pats Wagen, den sie irgendwo am Mulholland Drive geparkt hatte, war es hell genug, daß Rocky ihr Gesicht sehen konnte.

Irgendwie sah sie dümmlich aus, fand er, mit halb offenem Mund, bei dem der Lippenstift verschmiert war, und blaßblauen Augen, in denen erst Nichtbegreifen, dann Überraschung und zu guter Letzt Wut standen.

Eine dümmliche, alternde Frau, die gleich zu zetern anfangen würde.

»Du Bastard«, sagte Pat Morris. »Du dreckiger kleiner Hurenbengel!« Rocky rollte sich zur Seite, als sie nach ihm schlagen wollte, und sie traf nur seinen Hinterkopf.

Sie kroch über ihn und öffnete die Autotür. »Raus!« schrie sie. »Raus! Raus!«

Und als er nicht sofort reagierte, trat und stieß sie nach ihm. Eine Flut von Beschimpfungen ergoß sich über ihn, und Rocky schaffte es nicht mehr, sich hochzusetzen und auszusteigen.

Er kippte einfach aus dem Wagen auf das Straßenpflaster und dachte nur noch: Ich muß mich zur Seite rollen, sonst fährt sie über mich weg.

Er schaffte es knapp, während schon der Motor des Mercedes aufheulte, und kroch auf Knien und Händen weiter auf eine Mauer zu.

Als Pat Morris anfuhr, spritzten ein paar Steine hoch, und eine Wolke aus Staub und Sand hüllte Rocky ein. Er ließ sich aufs Gesicht fallen und atmete keuchend. Dann fing er an sich zu erbrechen.

Er würgte und brach, daß ihm die Tränen kamen, und als er den Kopf hob, drehte sich alles um ihn, und ihm wurde so schlecht, daß er das Bewußtsein verlor.

 

Das Haus mit der Nummer 37 am Mulholland Drive gehörte Helen DeCorey. An diesem 24. Juni war sie allein in ihrem Schlafzimmer.

Es war kurz vor zwei Uhr nachts. Helen DeCorey trug ein fliederfarbenes, mit Marabufedern besetztes Negligé und hatte das Haar aus der Stirn gekämmt. Sie war abgeschminkt und betrachtete ihr Gesicht in einem der in die Wände eingelassenen bodenlangen Kristallspiegel.

Es war ein nicht mehr junges, aber immer noch sehr schönes Gesicht, da es seine Konturen behalten hatte. Eine hohe, gewölbte Stirn unter dem spitzen Haaransatz, große grau-grüne Augen, die gerade, edel geformte Nase, hohe Wangenknochen und ein voller Mund.

Helen DeCorey gehörte zu den Schauspielerinnen Hollywoods, die von Natur aus schön waren. Es hatte keiner kosmetischen Operation oder anderer Korrekturen bedurft, um das Ebenmaß ihrer Gesichtszüge herzustellen. Sie hatte auch noch kein Facelifting vornehmen lassen, ebensowenig wie eine Brust- oder Bauchstraffung. Lediglich das Haar war getönt. Helen trug es halblang und stufig geschnitten, in einem weichen Mittelblond mit helleren Strähnen.

Im übrigen verdankte sie ihr gutes Aussehen – sie war vor ein paar Wochen fünfundvierzig geworden, wirkte aber immer noch wie Mitte Dreißig – ihrer Disziplin.

Wenig Alkohol, viel Schlaf, eine fast spartanische Ernährung, tägliche Gymnastik – und das alles seit über zwanzig Jahren.

Trotzdem, dachte Helen, ich bin fünfundvierzig, und kein Mensch würde auf die Idee kommen, mir die Rolle eines jungen Mädchens anzubieten. Aber niemand kam überhaupt auf die Idee, ihr eine Rolle zu geben, die ihrem Alter entsprach.

Sie war Helen DeCorey, der Superstar, die blonde, damenhafte, zeitlose Schönheit, elegant bis in die Fingerspitzen und von keinem wie auch immer gearteten charakterlichen Makel entstellt.

Das war ihr Image, und entsprechend waren auch die Drehbücher, die man ihr anbot.

An diesem Abend hatte Helen mit Lee J. Bannister, ihrem Agenten, im Ma Maison gegessen. Er hatte sie für eine Filmkomödie interessieren wollen. »Eine todsichere Sache, Helen, etwas, das du mit links machst.«

Sie hatte abgewinkt. »Ich will aber nichts mit links machen, Lee, verdammt noch mal! Ich will endlich eine Rolle, in der ich schauspielerisch gefordert werde. Nicht so ein seichtes Blabla, sondern irgend etwas, das mir den Durchbruch ins Charakterfach verschafft. Katherine Hepburn, Bette Davis, die Bergman und ein halbes Dutzend andere haben es doch geschafft, und ich bin mit der richtigen Rolle und dem richtigen Regisseur nicht schlechter als sie. Das weißt du doch, Lee.«

»Klar weiß ich’s. Und eines Tages habe ich auch den geeigneten Stoff für dich. Aber willst du denn bis dahin gar nichts anderes machen?«

Sie hatte den Kopf geschüttelt. »Ich glaube nicht. Ich habe die Nase voll von den glatten, faden Salon-Schönheiten. Und ich habe genug verdient, um mir eine längere Pause leisten zu können. Ich gehe erst wieder ins Atelier, wenn ich mit etwas ganz Neuem herauskomme.«

Bannister hatte geseufzt. »Du bist eben zu schön, Helen-Darling, zu sehr Dame, das ist es! Dir traut man keine inneren Abgründe oder sonstwie gearteten Seelenkrämpfe zu. Aber ich bleibe am Ball, das verspreche ich dir. Irgendwann haben wir die Superrolle für dich.«

Zu schön ... Helen betrachtete stirnrunzelnd ihr Gesicht im Spiegel. Verdammt, sie konnte doch nicht in irgendwelche Alkohol- oder Drogenexzesse verfallen, die in ihrem Gesicht Spuren hinterließen und ihr Image zerstörten! Wozu war sie Schauspielerin? Mußte man eine Schlampe sein, um eine spielen zu können? Oder psychisch krank, kriminell, auf irgendeine Weise kaputt, um einen solchen Charakter glaubhaft darzustellen?

Helen wandte sich ab. Sie ging zur Fensterwand und öffnete per Knopfdruck die Glastüren zur Terrasse. Sofort strömte schwüle Hitze in den klimatisierten Raum.

Als sie die Stufen zum Pool hinunterging, tauchten aus einem Seitenweg zwei der insgesamt vier Schäferhunde auf, die nachts frei auf dem Grundstück herumliefen, um es zu bewachen. Sie waren auf den Mann dressiert, und vor einem halben Jahr hatten sie ein paar jugendliche Rowdys, die über die Mauer geklettert waren, übel zugerichtet, bevor der Wachmann dazugekommen war und die Hunde zurückgepfiffen hatte.

Die Tiere kannten jeden, der zum Haus gehörte, und als Helen sie anrief, kamen sie hechelnd auf sie zu und ließen sich von ihr die Köpfe tätscheln.

Während sie langsam weiterging, liefen sie voraus, die Nasen am Boden, und verschwanden zwischen den Sträuchern, die einen Weg in Richtung der Parkmauer begrenzten. Von dort hörte Helen sie plötzlich wütend bellen.

Im Näherkommen sah sie, wie die Tiere aufgeregt an der Seitenpforte hochsprangen, die in die Mauer eingelassen war und in der Regel vom Personal oder den Lieferanten benutzt wurde.

Die beiden anderen Schäferhunde kamen von irgendwoher über den Rasen gerannt, und gleich darauf tauchte ein uniformierter Wachmann auf. Ein Pfiff, und die Hunde waren still.

Helen hörte, wie draußen auf der Straße eine Frauenstimme irgend etwas schrie. Dann heulte ein Automotor auf, Reifen kreischten über den Asphalt, und ein Wagen fuhr in halsbrecherischem Tempo davon.

Der Wachmann war zur Pforte gelaufen und leuchtete mit einer starken Halogenlampe nach draußen.

»Was ist los?« fragte Helen, während sie näher kam.

Der Mann richtete sich auf. »Da draußen liegt jemand, Miß DeCorey. Scheint bewußtlos zu sein, der Kerl. Oder total betrunken.«

Er richtete den Strahl seiner Lampe auf die Gestalt, die Helen durch die schmiedeeisernen Gitterstäbe erkennen konnte. Sie sah dunkle Hosen und ein helles Jackett.

»He, Sie!« rief der Wachmann. »Was ist los? Sind Sie verletzt? Können Sie aufstehen?«

Der Mann bewegte sich, versuchte, sich auf den Händen aufzurichten, und sackte stöhnend wieder zusammen.

Helen hörte, wie er würgte.

»Vielleicht ist er angefahren worden. Schließen Sie doch das Tor auf, und sehen Sie nach.«

Der Wachmann warf ihr einen zögernden Blick zu. »Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich besser die Polizei rufen. Die kann sich um ihn kümmern.«

»Aber wenn er einen Arzt braucht? Was kann denn groß passieren. Die Hunde sind ja hier. Also machen Sie schon.«

»Auf Ihre Verantwortung, Miß DeCorey.« Der Wachmann hatte einen Hauptschlüssel, der für sämtliche Türen des Grundstücks paßte.

Er schloß die Pforte auf und beugte sich über den Mann, der auf dem Pflaster lag. Die Hunde blieben auf seinen Befehl hin zurück. Helen hörte, wie er mit dem Mann sprach.

»Brauchen Sie einen Arzt? Oder soll ich die Cops rufen? Was ist überhaupt passiert?«

Er drehte ihn an den Schultern herum und fluchte unterdrückt. »Verdammt, das Schwein ist vollgek... Ich meine, er hat sich übergeben, Miß DeCorey. Ich hab’s ja gesagt, er ist betrunken. Lassen wir ihn liegen, da kann er seinen Suff ausschlafen.«

Helen kam nun doch auf die Straße. Sie sah einen jungen schwarzhaarigen Mann. Gesicht und Arme waren aufgeschürft und blutig. Der säuerliche Geruch von Erbrochenem stieg ihr in die Nase.

In diesem Moment schlug Rocky stöhnend die Augen auf. »Verdammtes Frauenzimmer«, murmelte er. »Hat mich ... aus dem Auto geschmissen und fast überfahren.« Er stieß zischend die Luft aus, als er sich aufstützen wollte. »O Scheiße, mein Arm ...«

»Haben Sie Schmerzen?« fragte Helen. »Vielleicht ist er gebrochen.«

Halb benommen blickte Rocky sie an. »Weiß nicht. Kümmern Sie sich nicht um mich. Lassen Sie mich eine Weile hier liegen. Wenn mir besser ist, verschwinde ich.«

»Das ist das Beste, was du tun kannst, Junge«, sagte der Wachmann. »Und zwar so schnell wie möglich.«

Helen widersprach. »In diesem Zustand kann er unmöglich draußen bleiben. Wir müssen ihn ins Haus bringen. Wo ist denn Ihr Kollege? Sie sind doch immer zu zweit hier.«

»Joey hat sich ein Stündchen aufs Ohr gelegt. Normalerweise genügt es, wenn einer von uns wach ist und seinen Rundgang macht. Aber ich kann ihn per Sprechfunk herbeirufen.«

»Dann tun Sie das.« Helen blickte Rocky an, und etwas in seinem aufgeschürften, zerschundenen Gesicht mit den verzweifelten Augen traf sie mit sonderbarer Intensität.

Eben noch hatte sie sich zum Gotterbarmen gelangweilt. Und sie hatte ein wenig Angst vor der Nacht gehabt. Sie schlief schlecht, aber sie vermied es, schwere Schlafmittel zu nehmen.

Andererseits – wovon sollte sie müde sein? Ihren letzten Film hatte sie vor einem halben Jahr gedreht. Danach hatte sie ein paar Talkshows und einige Fototermine gemacht, ein bißchen PR eben, sie hatte Filmpremieren besucht, Partys, und sie war hin und wieder ausgegangen, so wie heute abend mit Lee Bannister. Aber wovon, um Himmels willen, sollte sie müde sein?

Von einem bißchen Fitneßtraining, Packungen und Massagen in Roger Kerrs Beautycenter?

Außerdem war sie allein, zum Heulen allein!

Helen war kein Typ für schnellen Sex. Sie hatte ein paar Affären hinter sich, die ernsteste mit Lee J. Bannister, als sie noch eine unbekannte junge Schauspielerin namens Elsie Gray gewesen war, danach drei Ehen, die schiefgegangen waren, und nach ihrer letzten Scheidung vor zwei Jahren hatte sie im Grunde die Nase voll gehabt.

Deshalb hatte sie die meisten Möglichkeiten, die sich ihr boten, vorübergehen lassen. Drei- oder viermal hatte sie mit Stan Russel, dem Regisseur ihres vorletzten Films, geschlafen, später mit einem Newcomer in der Musikszene, der hinreißende Filmmusiken schrieb, Helen aber hauptsächlich dazu benutzte, um an lukrative Aufträge heranzukommen, und zuletzt mit dem steinreichen Hauptaktionär eines Elektronik-Konzerns, der sie unbedingt hatte heiraten wollen.

Aber Helen hatte weder zu einer vierten Ehe Lust verspürt, noch dazu, dem erfolgreichen Manager als Aushängeschild zu dienen, worauf die Sache letztendlich hinausgelaufen wäre.

Und da war nun dieser Junge, der Rocky Marfield hieß ... Das erfuhr Helen eine halbe Stunde später, nachdem er in einem Badezimmer ihres Hauses geduscht und sich und seine Kleidung von Straßenschmutz, Blut und Erbrochenem gesäubert hatte.

Er war fünfundzwanzig, also genau zwanzig Jahre jünger als sie. Er trug teure Designer Jeans und ein Jackett von Armani, allerdings nicht von neuestem Schnitt und schon ziemlich abgewetzt, und er hatte die blauesten Augen, die Helen jemals gesehen hatte. Sie hatten wirklich die Farbe von Veilchen, mit einem dunkleren Kranz um die Iris.

Seine Hände waren kräftig, aber gut geformt. Irgendwie vertrauenerweckende Hände, fand Helen, obwohl die Verhältnisse, in denen dieser Rocky Marfield lebte und über die er erstaunlich offen sprach, nicht dazu angetan waren, ihn für einen harmlosen Zeitgenossen zu halten.

»Haben Sie Hunger?« fragte Helen. »Ich kenne mich zwar in der Küche nicht besonders aus, aber irgend etwas Eßbares werde ich schon auftreiben. Oder wollen Sie einen Drink?«

Rocky verzog den Mund. »Bloß nichts essen. Aber wenn Sie vielleicht einen Schluck Milch hätten ... «

Sie gingen miteinander in die Küche, und dort fand Helen tatsächlich eine Tüte Milch und in einem der Schränke ein Glas.

Rocky riß die Tüte auf und trank in langen Zügen. Dann wischte er sich über den Mund. »War verdammt nett von Ihnen, daß Sie mich ins Haus geholt haben, Miß DeCorey«, sagte er. »Sie sind doch Helen DeCorey?«

Sie nickte. »Und jetzt sagen Sie bloß nicht, daß schon Ihre Mutter für mich geschwärmt hat und jeden meiner Filme kennt.«

»Nee. Meine Mutter hat mit Schauspielerinnen überhaupt nichts am Hut. Und mit Schauspielern auch nicht. Das war einer der Gründe, warum ich von zu Hause abgehauen bin. Eigentlich bin ich nämlich auch Schauspieler.«

Er fing ihren skeptischen Blick auf und fügte hinzu: »Ich weiß, ich weiß, hier in Hollywood gibt es fast nur Schauspieler. Der Tankwart, die Kassiererin bei Safeway, der Botenjunge vom Blumenladen, die Leute von der Müllabfuhr – alles solche wie ich, die mal hergekommen sind, um Karriere zu machen. Aber ich hab’ wirklich in New York die Schauspielschule besucht und meinen Abschluß gemacht. Danach hab’ ich ein paar Rollen an einem Off-Broadway-Theater gespielt, war sogar schon mal in einer TV-Serie, und dann bekam ich ein Angebot nach Hollywood. Eine recht gute Nebenrolle in einem Western, aber der Film wurde nie zu Ende gedreht, weil der Produzent pleite ging. Aber ich hatte in New York City alle Brücken hinter mir abgebrochen, und seitdem sitze ich hier. «

Er trank wieder und starrte auf die Tischplatte.

»Und wie lange ist das schon her?« fragte Helen. Sie sah ihn an und erkannte den Ausdruck in seinem Gesicht – diese Mischung aus Wut, Hoffnungslosigkeit, Bitternis und Nichtbegreifenwollen.

Sie hatte dasselbe empfunden, damals vor über zwanzig Jahren, als sie in dieses dreimal verfluchte, zauberische Hollywood gekommen war. Sie hatte dieselben Träume gehabt wie dieser Junge da, und dieselben Rückschläge erlebt.

Als sie Lee Bannister begegnet war, war sie am Ende gewesen, ein süßes blondes Ding, wie es Hunderte in Hollywood gab, dessen Illusionen von der großen Karriere Stück um Stück abgeblättert waren wie schlechter Verputz von einer alten Mauer.

»Anderthalb Jahre und zwölf Tage«, sagte Rocky, und es klang, als spräche er von einem halben Jahrhundert. »Zuerst hatte ich noch ein paar Jobs, eine Nebenrolle in einer Seifenoper, ein bißchen Edelkomparserie, hin und wieder einen Fernsehspot, aber irgendwann ging gar nichts mehr. Zwischendurch habe ich alles mögliche gemacht. Autos gewaschen, für eine Wäscherei gefahren, war Möbelträger, Nachtportier in einer Absteige–so Aushilfsjobs eben, weil man ja nichts Festes annehmen mag, sondern sich immer noch einbildet, eines Tages riefe irgendwer von irgendeinem Besetzungsbüro an, und man kriegte ein Superangebot. Was soll ich Ihnen das erzählen? Wahrscheinlich langweile ich Sie damit nur. Oder finden Sie es mal ganz lustig, Hollywood von der anderen Seite als Ihrer kennenzulernen?«

»Ich kenne diese Seite«, sagte Helen, und er blickte auf.

»Ehrlich? Moment mal, es heißt doch immer, Sie wären vom Julliard Drama Center weg für Ihre erste Filmrolle ausgesucht worden.«

»Das ist die offizielle Version.« Helen lächelte. »In Wirklichkeit habe ich mich genauso durchschlagen müssen wie Sie.«

Er runzelte die Stirn. »Na, das ist bestimmt übertrieben.«

Er hatte ihr vorhin von Lenny’s Partyservice erzählt und warum Pat Morris ihn aus dem Auto geworfen hatte.

»Was Ihren letzten ... Job betrifft – allerdings«, erwiderte Helen kühl. »Ich habe auch nicht für Nacktfotos posiert, falls Sie das meinen. Aber die üblichen Schwierigkeiten, wenn man als Miß oder Mister Unbekannt hierherkommt, kenne ich aus eigener Anschauung.«

»So was hab’ ich auch gemacht«, sagte Rocky fast trotzig. »Nacktfotos, meine ich. So, und jetzt haben Sie vermutlich die Nase voll, und ich verschwinde besser. Trotzdem – vielen Dank für Ihre Hilfe, Miß DeCorey. Sie waren sehr nett zu mir. «

Er schob sich hinter dem Tisch hervor, und als er vor ihr stand, mußte sie den Kopf in den Nacken legen, so groß war er.

Sie mochte große Männer. Und diese unwahrscheinlich blauen Augen ...

»Sie sind ein gutaussehender Bursche, Rocky«, sagte Helen. »Und wenn Sie nur halbwegs begabt sind, verstehe ich eigentlich nicht, daß Sie hier keine Chance bekommen haben.«

»Vielleicht kriege ich sie noch.« Er grinste schief. »Wie heißt es doch so schön: Talent setzt sich immer durch. Man darf nur nicht den Mut verlieren und nie aufgeben ... Ach, Scheiße!«

»Haben Sie denn einen vernünftigen Agenten?«

»Randy Donovan. Noch nie davon gehört, was? Das ist keine Bildungslücke, Madame. Wer kennt schon Donovan! Er ist eine absolute Null. Aber etwas Besseres habe ich nicht für mich interessieren können. Und glauben Sie ja nicht, daß ich es nicht versucht hätte. Ich habe bei allen Agenturen, die nur ein bißchen mitmischten, Klinken geputzt – mit dem Ergebnis, daß ich bei Donovan hängengeblieben bin. Er war der einzige, den ich breitschlagen konnte, mich in seine Kartei aufzunehmen. Und da ruhe ich nun in Frieden.«

»Tja, ohne einen guten Agenten ist es schwer ...«

»Und wo soll ich den hernehmen, bitte schön? Ich sag’ Ihnen doch, ich war bei fast allen. Und ich hab’s mit jeder Masche versucht. Ich hab’ sogar ein paar Tippsen gebumst, um an ihren Boß heranzukommen. Zwei- oder dreimal hat man mich gnädig empfangen. Irgend so’n Typ im Cerrutti-Anzug, mit ’ner Patek-Philippe-Uhr am Handgelenk. ›Haben Sie gute Bilder? Wo haben Sie bisher gedreht? Ach, Sie sind noch ganz am Anfang? Ja, dann ... Tut uns leid, aber ein paar Sachen müßten Sie wenigstens gemacht haben. Für völlige Newcomer sind wir nicht die Richtigen. Es fehlt uns die Zeit, verstehen Sie, um jemanden wie Sie aufzubauen. Übrigens – Ihre Fotos sind auch nicht das, was einen vom Hocker fegt. Lassen Sie sich neue machen, am besten von Bruce Koplin.‹ Wissen Sie, was eine Fotosession bei Koplin kostet? Ich kann den nicht bezahlen. Und ich habe auch keine Ahnung, wie man an eine Scheißrolle kommen soll, damit man für so einen hochkarätigen Scheißagenten etwas vorzuweisen hat! Ich war so naiv, zu glauben, daß die dazu da sind, einem die Jobs zu beschaffen. Wenn man erst mal im Geschäft ist, braucht man keinen Agenten mehr. Dann läuft die Sache von selbst, Lady. Weil man nämlich keinen Steigbügelhalter mehr nötig hat, wenn man schon im Sattel sitzt. Oder ist das zu hoch für Sie, Miß DeCorey?«

Er war ziemlich laut geworden, und Helen runzelte die Stirn. »Himmel, Sie brüllen das ganze Haus zusammen. Was soll das? Ich bin kein Agent, der Sie abwimmeln will.«

»Verzeihung«, murmelte Rocky. »Aber ich geh’ einfach hoch, wenn ich bloß daran denke.«

»Okay, okay«, sagte sie begütigend. »Und nach New York wollen Sie auch nicht wieder zurück?«

»Warum?« fragte er mürrisch. »Glauben Sie, die warten dort auf mich? Nach anderthalb Jahren bin ich weg vom Fenster. Und bei meinen Eltern unterkriechen und kleine Brötchen backen – nein, danke! Mein Vater ist Bankbeamter, aber einer von der subalternen Sorte. Er war immer dagegen, daß ich Schauspieler werde, genau wie meine Mutter. Wenn ich jetzt als Versager heimkomme, werden sie triumphieren. Und die Genugtuung gönne ich ihnen nicht.«

»Lieber lassen Sie sich von diesem ... diesem Lenny an Frauen wie die Morris vermitteln?«

»Ja«, sagte er grob. »Es ist mein Leben, und es geht niemanden was an, was ich damit mache! Auf die ›Na-das-haben-wir-ja-kommen-sehen-Tiraden‹ kann ich verzichten.«

»Und was werden Sie in Zukunft tun?« fragte sie. »Ich fürchte, nach dem heutigen Zwischenfall wird Ihr Gönner Lenny keinen Finger mehr für Sie rühren.«

»Kann schon sein. Dann muß ich mich eben nach was anderem umsehen.«

»Und wonach?«

»Ich weiß nicht, warum Sie das interessiert! Lassen Sie mich lieber gehen. Ich hab’ Sie lange genug aufgehalten.«

»Wo wohnen Sie denn? Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«

»Danke, aber das ist im Budget nicht drin. Ich bin sowieso schon mit sechs Wochen Miete im Rückstand. Ich dachte, ich könnte mit dem Geld von der Morris wenigstens einen Teil bezahlen. Damit ist es nun Essig. Meine Wirtin schmeißt mich raus, wenn ich ihr nicht bald etwas gebe. Aber was soll’s! Das Loch in der Fulton Street, in dem ich hause, ist sowieso das Letzte.«

»Fulton Street«, wiederholte Helen. »Das liegt doch ganz am anderen Ende von Hollywood. Da sind sie ja mindestens zwei Stunden unterwegs.«

»Wollen Sie mich etwa hinfahren?« erkundigte er sich spöttisch.

Sie blieb ernst. »Nein. Aber Sie könnten hierbleiben, jedenfalls bis morgen früh. Und wenn Sie Arbeit wollen – mein Gärtner sucht, glaube ich, eine Aushilfskraft. Der junge Mann, der das bisher gemacht hat, hatte vor ein paar Tagen einen Unfall und liegt mit eingegipstem Bein im Hospital. Also, was ist?«

Rocky blickte sie ungläubig an. »Sagen Sie mal, sind Sie ein Scout? Von wegen – jeden Tag eine gute Tat tun?«

Sie lachte. »Nehmen Sie es ganz einfach mal an, Rocky.«

 

Helen erwachte, weil ihr die Sonne ins Gesicht schien. Sie hatte in der Nacht vergessen, die Vorhänge zuzuziehen.

Es war halb elf, und Helen erinnerte sich daran, daß sie zum Lunch mit Linda, der Frau ihres langjährigen Filmpartners Frank Patucci, im Bistro Gardens verabredet war.

Während sie noch überlegte, was sie anziehen sollte, erschien Martha Bronsky mit dem Frühstück.

Martha war Mitte Fünfzig, fett und plattfüßig und Helens Garderobiere. Sie war von Anfang an bei ihr gewesen, als Helen ihre erste große Filmrolle bekam – eine Komödie mit dem Titel ›The President’s Daughter‹, die sie über Nacht bekannt gemacht hatte. Martha wußte fast alles von ihr, liebte sie und verhätschelte sie wie das Kind, das sie nie gehabt hatte. Sie war durch und durch integer, verschwiegen und zuverlässig.

»Da sind ein paar Anrufe gekommen«, sagte sie, während sie das Tablett mit Orangensaft, Kaffee und gebuttertem Toast auf einen Marmortisch stellte. »Harper’s will eine Home-Story von dir machen. Ich hab’ sie an Joe verwiesen. Mrs. Hunter gibt am Freitag ein Essen im Beverly Hills und fragt, ob du kommen kannst. Und dieser Bloomington von Paramount wollte schon wieder wissen, ob du endlich das Drehbuch gelesen hast.«

Helen setzte sich auf und reckte die Arme. »Habe ich nicht«, erwiderte sie fröhlich. »Und heute werde ich es bestimmt auch nicht tun.«

Sie blinzelte in die Sonne. »Häng mir das cremefarbene Galanos-Kleid raus, Martha-Darling. Das mit den braunen Applikationen, du weißt schon. Und dann laß mir ein Bad ein.«

»Und was ist mit dem Essen im Beverly Hills? Du solltest hingehen.«

»Gina soll nachsehen, ob ich kann, und dann zusagen. Notfalls muß sie eine andere unwichtigere Verabredung absagen.«

Gina Barclay war Helens Sekretärin. Außer ihr gehörten noch Joe Leclerque, ihr Pressemanager, Jane Chong, ihre Visagistin, und Chuck Marton, der als Chauffeur und Leibwächter fungierte, zu ihrem Haushalt.

Martha Bronsky beobachtete Helen, wie sie das Bett verließ und zu frühstücken begann. »Was war denn heute nacht los? Und wer ist der Mann, der oben im Gästezimmer schläft?«

Helen setzte das Glas mit Orangensaft zurück. »Er heißt Rocky Marfield ...«

»Und?«

»Nichts – und. Er war ein bißchen unpäßlich, deshalb habe ich ihn eingeladen, hier zu übernachten.«

»Woher kennst du ihn? Hat er gestern mit dir und Mr. Bannister gegessen?«

»Nein«, erwiderte Helen einsilbig. »Vergiß mein Bad nicht, Martha-Darling.«

Die ältere Frau blieb in der Badezimmertür stehen. »Warum hast du mich heute nacht nicht gerufen? Du kannst doch nicht einen Wildfremden ins Haus lassen. Chuck hat mit den Wachmännern gesprochen. Der eine sagt, der Kerl hätte betrunken vor der Tür gelegen.«

»Er hatte einen Unfall«, sagte Helen nervös. »Tu mir den Gefallen und kümmere dich nicht weiter darum. Es ist ein armer Teufel, und er tat mir leid.«

»L. A. ist voll von armen Teufeln«, knurrte Matha. »Du kannst nicht alle ins Haus lassen. Das war sehr leichtsinnig von dir.«

»Warum? Hat er etwas gestohlen?«

»Das wird sich noch herausstellen. Im Augenblick schläft er wohl noch.«

»Na also.« Helen lächelte ihr berühmtes strahlendes Filmlächeln. »Diebe und sonstige Kriminelle pflegen nicht bis in den Vormittag zu schlafen, wenn sie etwas im Schilde führen.«

Nachdem sie gefrühstückt, gebadet und sich angezogen hatte, schlief Rocky immer noch, und Helen stieg ein wenig zögernd die Treppe zu seinem Zimmer hinauf.

Die riesige Villa verfügte über zwanzig Gästezimmer mit dazugehörigen Bädern. Rocky hatte eines, dessen Fenster zur Rückseite auf die Terrasse und den Pool hinausgingen.

Helen klopfte an und hörte ein schwaches »Herein«.

Rocky lag noch im Bett. Als er Helen erkannte, fuhr er hoch. »Entschuldigung, ich dachte, es wäre ein Hausmädchen oder so...«

Er hatte nackt geschlafen, und Helen sah seine kräftigen Schultern, den breiten behaarten Brustkorb und die muskulösen Arme. Als Rocky ihren Blick auffing, zog er das Laken höher.

»Entschuldigung«, sagte er nochmals.

Er war phantastisch gebaut, und Helen empfand ein leises Bedauern, daß er nun bis zum Hals verhüllt war. Sie räusperte sich.

»Haben Sie gut geschlafen? Wollen Sie Frühstück?«

»Nein«, sagte Rocky, »vielen Dank. Ich zieh mich gleich an und verschwinde.«

»Warum? Sie haben doch Zeit, oder?«

Verdammt, er hatte keine Zeit. Er mußte nach Hause, wo er sein Spritzenbesteck und den Stoff hatte. Er brauchte einen Druck.

Es war das erste Mal, seit er spritzte, daß er sich so miserabel fühlte. Bis jetzt hatte er manchmal einen oder zwei Tage clean sein können, ohne unter Entzugserscheinungen zu leiden. Deshalb war er auch so sicher gewesen, jederzeit mit dem Heroin aufhören zu können. Er hatte es nur genommen, weil man sich danach so fabelhaft fühlte. Weil man das Empfinden hatte, nichts, aber auch gar nichts könne einem noch etwas anhaben.

Die Realität hatte die scharfen Konturen verloren. Man war ein toller Kerl, stark, ein Sieger eben, und schwebte gleichsam über der Misere der gewöhnlichen Menschen.

Aber heute, gestand Rocky sich ein, war er zum ersten Mal auf Turkey.

Ihm war speiübel, er fror und schwitzte gleichzeitig, seine Hände zitterten, und in seinem Mund sammelte sich Speichel.

Er schluckte ihn hinunter, aber es kam sofort welcher nach. Er schluckte und schluckte und starrte Helen DeCorey an. Verdammt, sie sollte gehen! Er mußte hier weg.

»Also was möchten Sie zum Frühstück? Saft? Gebratene Eier? Kaffee oder Tee?«

»Nichts«, würgte Rocky hervor. »Vielen Dank.«

Helen trat einen Schritt näher. Sie trug helle Sandaletten und hatte die Fußnägel rot lackiert. Die Farbe tat seinen Augen weh. Sie war feindselig, fand er, und irgendwie fühlte sich Rocky plötzlich bedroht. Das Rot schien zu wachsen, sich auszubreiten ...

»Was ist los mit Ihnen?« fragte Helen. »Sind Sie krank?«

Er riß den Blick von ihren Füßen. »Ich bin ganz okay.« Dabei merkte er selbst, daß er viel zu schnell und keuchend atmete.

Helen hatte nie Rauschgift genommen. Aber sie kannte sich mit den Symptomen aus. In den Studios, auf Partys – überall gab es Leute, die von dem Zeug abhängig waren.

Sie betrachtete Rocky und entdeckte, daß seine Pupillen riesig waren, ein ziemlich sicheres Zeichen.

»Sind Sie süchtig?« Ihre Stimme klang erschrocken und auch ein bißchen angewidert. Sie hatte im Grunde kein Verständnis für Menschen, die sich selbst zerstörten. Helen schätzte Selbstdisziplin, Vernunft, klares Denken.

Rocky ließ sich zurückfallen. »Wie kommen Sie auf so was? Bitte, ich möchte aufstehen ...«

Natürlich wäre es vernünftig gewesen, jetzt zu gehen. Warum tat sie es nicht, verdammt noch mal? Es war doch so einfach: Na schön, dann alles Gute für Sie. Vielleicht trifft man sich mal wieder.

Und wenn sie vom Lunch mit Linda zurückkam, war dieser Rocky Marfield verschwunden.

Herrgott, er war doch nicht der einzige gutaussehende Bursche mit glatter Haut und kräftigen Muskeln! In Hollywood wimmelte es von ihnen. Man traf sie auf jeder Party, man sah sie auf den Straßen, in den Studios, in jedem Lokal und jeder Bar. Und überhaupt – seit wann interessierte sie sich für Fünfundzwanzigjährige?

Helen hatte nie jüngere Liebhaber gehabt in der sicheren Erkenntnis, daß sie selbst das alt gemacht hätte. Nur alternde Frauen nahmen sich einen hübschen braungebrannten Jungen, hielten ihn aus, ließen sich von ihm ausnutzen und bildeten sich ein, alle Welt würde glauben, daß er aus lauter Liebe mit ihnen herumzog.

Helen DeCorey hatte für solche Frauen immer nur ein mit Verachtung gemischtes Mitleid empfunden.

Aber jetzt blieb sie stehen und betrachtete Rocky, wie er vergeblich gegen sein Zittern ankämpfte, während ihm der Schweiß in Bächen über Gesicht und Hals lief.

Geh, dachte etwas in Helen. Verdammt noch mal, so geh doch endlich! Kümmere dich nicht weiter um ihn.

Statt dessen fragte sie: »Was nehmen Sie? Tabletten, Kokain–oder was sonst?«

»Scheren Sie sich zum Teufel«, quetschte Rocky hervor. »Ich muß nach Hause.«

»Haben Sie dort ...«

»Ja«, sagte er, plötzlich jeden Widerstand aufgebend. Ihm war zu elend, um noch länger den starken Mann spielen zu können. Er brauchte einen Schuß! Und wie er ihn brauchte!

Sein Hals wurde mit einem Mal ganz trocken. Er hustete und würgte und bewegte krampfhaft die Lippen, um wenigstens ein bißchen Speichel in den Mund zu bekommen.

Helen wandte sich zur Tür. »Ziehen Sie sich an. Ich fahre Sie hin. Kommen Sie runter, wenn Sie fertig sind. Der Wagen steht vor dem Portal.«

 

Sie chauffierte selbst, etwas, das sie in den letzten Jahren fast nie getan hatte. Sie hatte immer Chuck fahren lassen, weil es vernünftiger war. Chuck war ein Bulle von einem Mann, ein wahres Muskelpaket. Früher war er Catcher gewesen, und Helen fühlte sich in seiner Begleitung sicher.

Chuck war ziemlich konsterniert gewesen, als Helen sich selbst hinter das Steuer des Ferrari gesetzt hatte.

»Das ist schon okay, Chuck«, hatte sie gesagt. »Mr. Marfield begleitet mich. Ich bin also keineswegs ohne Schutz.«

Chuck war etwas schwerfällig im Denken, aber jetzt sah man ihm sofort an, was ihm durch den Kopf ging. Der Typ von heute nacht? Aber der ist doch selbst nicht ganz sauber ... Komische Geschichte, wie der ins Haus gekommen ist.

»Schon gut, Chuck«, wiederholte Helen ungeduldig. »Ich brauche Sie wirklich nicht.«

Der Chauffeur blieb neben dem Wagen stehen, bis Rocky aus dem Haus kam. Helen war erleichtert, als sie sah, daß er sich einigermaßen in der Gewalt hatte. Zwar schwitzte er immer noch, und seine Augen hätten ihn verraten, wenn Chuck ihn genau angesehen hätte. Aber Rocky ging wenigstens gerade und ziemlich rasch.

Als er neben ihr in den weißen Lederpolstern des roten Testa Rossa saß, fuhr Helen an. »Wenn Sie rauchen wollen – im Handschuhfach sind Zigaretten.«

»Danke.« Er versuchte ein schiefes Grinsen. »Vor dem Frühstück rauche ich nicht.«

Helen lächelte. »Sehr vernünftig.«

Die Fulton Street lag in einer ziemlich miesen Wohngegend. Hochhäuser mit schmutzigen Balkons, auf denen Wäsche hing, ein paar verstaubte Palmen am Straßenrand zwischen überquellenden Mülltonnen, grell-bunte Reklameplakate, da und dort eine Bar, vor der Halbwüchsige herumgammelten, und Scharen von Kindern, die auf der Straße spielten.

Der rote Ferrari erregte in dieser Gegend Aufsehen. Helen hatte kaum vor dem Haus gestoppt, das Rocky ihr bezeichnet hatte, als der Wagen schon von Kindern und Jugendlichen umringt war.

»Mannomann«, sagte ein Junge. »Was für’n Schlitten! Das muß ’ne Luxusnutte sein, wenn die sich den leisten kann.«

»Oder sie hat’n Macker bei der Mafia«, rief ein anderer.

Rocky hatte die Bemerkungen aufgeschnappt und reagierte wütend. »Verschwindet! Los, haut ab!« Er wandte sich Helen zu. »Tut mir leid. Sie hätten mich eben nicht herfahren sollen. Aber da Sie’s nun mal getan haben – vielen Dank und auf Wiedersehen.«

Es war ihre zweite Chance, Rocky Marfield loszuwerden. Und Helen nahm sie wieder nicht wahr.

»Ich müßte mal dringend telefonieren«, sagte sie. »Kann ich das bei Ihnen tun?«

Es ging mittlerweile auf zwölf. Sie würde es kaum schaffen, pünktlich zu ihrer Verabredung mit Linda Patucci im Bistro Gardens zu sein.

»Klar«, erwiderte Rocky nach kurzem Zögern. »Aber Sie sollten die Karre nicht auf der Straße stehen lassen. Was glauben Sie, was hier geklaut wird. Stellen Sie sie drüben bei der Tankstelle ab.«

Er wartete neben der Haustür, bis Helen zurückkam.

»Ich hab’ dem Tankwart zwei Dollar gegeben, damit er aufpaßt«, erklärte sie.

Rocky nickte nur. Es schien ihm wieder schlechter zu gehen, und im Lift lehnte er sich erschöpft gegen die Wand.

Der Fahrstuhl war wie das ganze Haus: schmutzig, mit abgeblätterter Farbe an den Wänden und kaputtem Fußbodenbelag.

Sie fuhren in den sechsten Stock, und Rocky ging über den kahlen Flur voran. Sein Apartment lag am Ende, und Helen war angenehm überrascht, als sie es betrat.

Trotz der billigen, verwohnten Möbel war es sauber und aufgeräumt.

Rocky deutete auf das Telefon auf der Fensterbank. »Bedienen Sie sich. Und wenn Sie was zu trinken wollen – nebenan ist die Küche. Im Kühlschrank finden Sie Cola oder Orangenjuice.«

Dann verschwand er hastig in dem dahinterliegenden Raum, offenbar seinem Schlafzimmer.

Helen wählte die Nummer der Patuccis. Linda war selbst am Apparat.

»Du kannst nicht kommen?« fragte sie mit ihrer hohen, immer ein wenig piepsig klingenden Stimme. »Wie schade! Was ist denn passiert?«

Helen erfand irgendeine Geschichte, daß sie zu ihrem Strandhaus nach Malibu hinaus müsse. Das dortige Hausmeisterehepaar habe angerufen, es sei in der letzten Nacht eingebrochen worden.

»Ich melde mich wieder«, versprach sie. »Wir holen unseren Lunch auf jeden Fall nach.« Dann legte sie auf.

Es dauerte eine Weile, bis Rocky zurückkam. Er hatte geduscht und sich umgezogen. Sein Haar war noch naß. Das blaue T-Shirt, das er zu einer weißen Leinenhose trug, hatte genau die Farbe seiner Augen.

Er wirkte völlig verändert; ruhig, freundlich, regelrecht heiter.