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Tankred im Kampf gegen die Wikinger: Die Erfolgsserie mit brodelnden Machtkämpfen und klirrenden Schwertern geht weiter. Kann Tankred Paris retten? Herbst 885: Der dänische Heerkönig Siegfried hat die aus Friesland vertriebenen Dänen versammelt und fährt brandschatzend an der französischen Küste westwärts. Als er in die Seinemündung einläuft und eine Festung nach der anderen überrennt, wird klar: Er will Paris plündern. Graf Odo, der die Verteidigung leitet, bittet Tankred um Hilfe. Der erfahrene Kämpfer und Stratege kommt mit seiner dänischen Geliebten Alva gerade noch rechtzeitig, bevor Siegfried die Zugänge zur Stadt auf der Seine-Insel sperrt. Während die Dänen mit allen Kräften gegen die Mauern anrennen und die Zustände immer dramatischer werden, findet Tankred heraus, dass innerhalb der Stadtmauern ein Verräter sein Unwesen treibt, der Paris den Feinden ausliefern will. Der Verdacht fällt auf Alva. Tankred kämpft nun an drei Fronten zugleich: Er muss die Dänen zurückschlagen, Alva retten und den Feind in den eigenen Reihen stellen. Die ersten drei Bände der erfolgreichen Tankred-Reihe wurden mit dem Goldenen Homer 2024 ausgezeichnet.
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Seitenzahl: 590
Veröffentlichungsjahr: 2025
Michael Römling
Historischer Roman
Kann Tankred Paris retten?
Herbst 885: Der dänische Heerkönig Siegfried fährt mit seinen Schiffen brandschatzend an der französischen Küste westwärts. Als er mit seinen Truppen in die Seine-Mündung einläuft und eine Festung nach der anderen überrennt, wird klar: Er will Paris plündern. Graf Odo, der die Verteidigung leitet, bittet Tankred um Hilfe. Der erfahrene Kämpfer und Stratege kommt mit seiner dänischen Geliebten Alva gerade noch rechtzeitig, bevor Siegfried die Zugänge zur Stadt auf der Seine-Insel sperrt. Während die Dänen gegen die Mauern anrennen und die Zustände immer dramatischer werden, findet Tankred heraus, dass innerhalb der Stadtmauern ein Verräter sein Unwesen treibt, der Paris den Feinden ausliefern will. Der Verdacht fällt ausgerechnet auf Alva. Tankred muss nun an drei Fronten zugleich kämpfen: Kann er die Dänen zurückschlagen, Alva retten und den Feind in den eigenen Reihen stellen?
Schwerterklirren und Intrigen: Band 5 der Abenteuerserie um den Gelehrten und Kämpfer Tankred im Kampf gegen die Wikinger.
Pressestimmen zu «Tankred»:
«Der Leser fiebert gerne mit den Protagonisten mit, und da die Geschichte aus Tankreds Ich-Perspektive erzählt wird, ist man immer mittendrin in Schlacht und Taktik, was der Lektüre eine besondere Würze verleiht.» histo-couch.de
«Spannend wie die vorherigen Bände, und das Ende ist großartig!» goodreads.com zu «Adler und Dolch»
«Genau das Richtige für Fans von historischen Romanen.» Radio BRF zu «Weihrauch und Schwert»
Michael Römling, geboren 1973 in Soest, studierte Geschichte in Göttingen, Besançon und Rom, wo er acht Jahre lang lebte. Nach der Promotion gründete er einen Buchverlag und schrieb zahlreiche stadtgeschichtliche Werke und historische Romane. «Banner und Sturm» ist der fünfte Band der historischen Abenteuerserie um den Kämpfer und Bibliothekar Tankred aus dem 9. Jahrhundert. Die ersten drei Bände sind mit dem Goldenen Homer 2024 ausgezeichnet worden. Des Weiteren sind im Rowohlt Taschenbuch die Romane «Pandolfo» und «Mercuria» erschienen.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Copyright © 2025 by Michael Römling
Redaktion Susann Rehlein
Karte © Peter Palm, Berlin
Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Motivs von Midjourney
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-02122-8
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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«Zum Wohl.» Sigehard pustete den ekelhaften gräulichen Schaum von seinem Bier und stieß seinen Krug gegen meinen.
Ich trank und verzog das Gesicht.
«Sauer.»
«Sauer macht lustig», kommentierte er.
«Deine Mutter wieder?»
«Genau. Hat sie immer zu uns Kindern gesagt, wenn die Äpfel noch nicht reif waren.»
Graf Sigehard von Lüttich setzte eine Kennermiene auf, ließ das Bier im Mund hin und her schwappen und spürte dem Geschmack mit geschlossenen Augen eine Weile nach.
«Ein paar brackige Noten im Abgang. Vielleicht mit Pfützenwasser gestreckt.»
Das Gesöff hinterließ einen schlierigen Belag auf meiner Zunge. Ich spuckte auf den Boden.
«Was soll das sein?», fragte ich den fetten Wirt, der hinter dem Tresen auf einem Hocker saß und versuchte, mit einer Fleischgabel eine juckende Stelle an seinem Rücken zu kratzen.
«Bier», brummte er und kratzte weiter.
«Habt ihr den Schweinetrog vor dem Brauen nicht durchgespült?», fragte ich.
Er verdrehte die Augen und zeigte mit der Gabel in Richtung der Eingangstür.
«Was für ein Fluss ist das da draußen?»
«Die Mosel», sagte Sigehard.
«So. Und was trinkt man an der Mosel? Kommst du selbst drauf, oder?»
Sigehard verdrehte die Augen und stellte seinen Krug auf den Tresen.
«Dann mach uns halt zwei Rote.»
Der Wirt mühte sich hoch, legte die Gabel weg und zapfte aus einem anderen Fass.
«Wo kommt ihr her?», fragte er über die Schulter. «Lüttich?»
«Ziehen wir die Vokale so lang?», fragte Sigehard.
«Das auch. Und ihr bestellt Bier. An der Mosel.»
Er nahm die Bierkrüge weg und stellte uns zwei Becher mit Wein hin. Wieder tranken wir uns zu. Auch der Wein schmeckte säuerlich, aber ich sparte mir den Kommentar. An Sigehards Gesicht sah ich, dass er dasselbe dachte.
«Spätestens beim dritten schmeckt man’s nicht mehr», sagte er leise.
«Wir können uns nicht betrinken», warnte ich. «Wir haben noch was zu erledigen.»
«Was wir zu erledigen haben, würden wir auch sturzbesoffen noch hinkriegen.»
Ich sah mich um. Der Laden war nicht mehr als eine Spelunke: heruntergekommen, schmuddelig, schwach beleuchtet und schlecht gelüftet. Gondreville war kein Ort, an den man kam, um sich zu amüsieren. Betrieb herrschte hier nur, wenn der reisende Hof sich in der benachbarten Pfalz aufhielt. Der Kaiser war an diesem Abend zwar tatsächlich anwesend, aber er war mit kleinem Gefolge da und würde sich nicht lange aufhalten. Karl war nur hergekommen, um einen einzigen Gast zu empfangen. Und auf die Ankunft dieses Gastes warteten wir hier.
An die zwanzig Männer drängten sich im Gastraum, und viel mehr hätten auch nicht hineingepasst: ein paar Bewaffnete aus dem Geleitschutz des Kaisers, die keinen Dienst hatten, Trossleute, Händler und vielleicht der eine oder andere Bittsteller, der von der Anwesenheit des Hofes erfahren hatte und kurz entschlossen angereist war, um ein Gesuch loszuwerden. Es herrschte eine eher gelangweilte Stimmung.
Wir plauderten ein bisschen über dies und das. Ein leichtes Ziehen in meiner rechten Schulter erinnerte mich an den Pfeil, der mich um ein Haar das Leben gekostet hätte, als ich Ragnar verfolgt hatte, den Anführer einer dänischen Plündererbande, die wir vor einem halben Jahr in die Nordsee gejagt hatten. Inzwischen konnte ich den Arm wieder benutzen, aber vor jedem Wetterumschwung zwickte und spannte die Narbe. Ragnar war inzwischen tot, ebenso wie Gottfried, ein dänischer Heerkönig, der mit seinem Heer von Friesland aus den ganzen Norden von Lotharingien terrorisiert hatte und den wir auf einer Insel im Rhein in eine Falle gelockt hatten. Aber die Dänen machten immer noch Schwierigkeiten. Wir hatten sie nicht entscheidend schlagen können, und jetzt trieben sie mit ihrer Flotte unter der Führung von Gottfrieds altem Konkurrenten und Mitkönig Siegfried an der Schelde ihr Unwesen. Mit diesem Problem würden wir uns bald wieder befassen müssen.
Als Sigehard und ich gerade beim dritten Becher angekommen waren, öffnete sich die Tür, und einer der Posten, die wir am Ortsrand aufgestellt hatten, betrat den Gastraum. Er nickte uns zu und ging wieder. Die anderen Gäste hatten nichts bemerkt. Der Wirt kratzte sich wieder den Rücken.
«Sie sind gleich da», sagte ich. «Jetzt wird’s lustig.»
«Siehst du?» Sigehard hob seinen Becher und kippte den Wein in einem Zug herunter. «Es wirkt schon.»
Er warf ein paar Münzen auf den Tresen und wandte sich zur Tür. Ich folgte ihm.
Draußen wartete der Wachposten.
«Wie viele Männer hat er dabei?», fragte ich.
«Sechs. Beritten.»
«Lasst euch nicht sehen. Kommt erst raus, wenn er drin ist.»
«In Ordnung.»
Direkt hinter der Spelunke glänzte das Wasser der Mosel im letzten Licht der Dämmerung. Der Fluss schlängelte sich hier in mehreren flachen Armen durch das Land, durchsetzt von mit Büschen bewachsenen Inseln und flankiert von Kiesbänken. Unwillkürlich schätzte ich die Wassertiefe und die Breite der mäandrierenden Arme ein und kam zu dem Ergebnis, dass schon ein mittelgroßes Kriegsschiff hier auf Grund laufen würde. Die Dänen stießen fast immer über die Flüsse vor, und in den letzten Jahren hatte ich so oft mit ihnen zu tun gehabt, dass ich jeden Wasserlauf danach beurteilte, ob er für eine Invasionsflotte befahrbar war, wie er sich absperren ließ und wie viel Tiefgang ein Schiff höchstens haben durfte, um ihn passieren zu können. Hier, am Oberlauf der Mosel, eine Wegstunde östlich von Toul, waren wir sicher vor solchen Überraschungen.
Auf der Dorfstraße war niemand unterwegs. Sigehard und ich passierten zügig ein paar kleine Häuser, einen Anleger mit Ruderbooten an einem Steg und ein kleines Lagerhaus. Ein paar Hundert Schritte flussaufwärts hob sich die Kontur der Pfalzanlage gegen den dunkelblauen Himmel ab, umgeben von einer mannshohen Mauer mit hölzernen Türmen. Rechts und links vom Tor steckten Fackeln in den Wänden. Nur zwei Wachen standen auf dem Damm, der über den Graben führte. Gondreville war eine Residenz, in der der Kaiser Empfänge und Hoftage abhielt, keine Festung.
Wir überquerten den Damm. Die Wachen erkannten uns, öffneten wortlos das Tor, ließen uns ein und schlossen es wieder.
Der Hof war auf allen Seiten von Gebäuden und Stallungen umgeben. An der Innenseite der Mauer waren mindestens dreißig Pferde angepflockt, daneben stand eine Reihe von Packwagen. Auf dem Wehrgang und auf den Plattformen der Türme hoben sich die Silhouetten von Wächtern ab. Links erhob sich der Küchenbau, dessen Schornstein kräftig qualmte. Es roch nach Gebratenem. Zwei Bedienstete rollten im Fackellicht ein Fass über den Hof in Richtung des Hauptgebäudes, das quer zum Eingangstor stand. Alle Fenster waren erleuchtet. Dort saß jetzt der Kaiser, flankiert von seinem Kanzler Liutward von Vercelli und ein paar Hofschranzen, und wartete darauf, dass in Kürze der Mann vor ihm auf die Knie sinken würde, der ihm jahrelang Schwierigkeiten gemacht hatte.
Sigehard und ich stellten uns als Empfangskomitee in der Mitte des Hofes mit Blick zum Tor auf. Auf einen leisen Pfiff von mir stiegen ein paar der Bewaffneten vom Wehrgang herunter und huschten dicht an der Mauer entlang zum Tor.
Das gedämpfte Geräusch von Hufen wurde hörbar, dann Stimmen. Die Torflügel schwangen auf. Eine kleine Gruppe von Reitern passierte den Durchgang, allesamt in leichte Kapuzenmäntel gehüllt. Ob sie darunter Schwerter trugen, war nicht zu erkennen. Hinter ihnen wurde das Tor wieder geschlossen.
Ich nahm nicht an, dass es Ärger geben würde, aber man konnte nie wissen. Die Schemen unter dem Wehrgang gerieten kurz in Bewegung. Eine Klinge blitzte auf.
«Sind sie bewaffnet?», raunte Sigehard mir zu.
«Gleich nicht mehr.»
Der erste Reiter hielt sein Pferd ein paar Schritte vor uns an und sah sich um. Dass das Tor so schnell geschlossen worden war, machte ihn nervös, und wahrscheinlich hatte er die Bewaffneten entdeckt. Aber was erwartete er? Er hatte den Kaiser verraten, und jetzt war er gekommen, um sich auf Gedeih und Verderb auszuliefern. Es gab kein Zurück.
Nach einem letzten Blick in die Runde musterte er uns beide, schien zu überlegen. Vielleicht erkannte er mich wegen der Dunkelheit noch nicht, im Gegensatz zu Sigehard, den man schon wegen seiner riesigen Statur kaum verwechseln konnte.
«Willst du nicht absteigen, Hugo?», fragte Sigehard.
Der Angesprochene nickte kurz, schwang sich aus dem Sattel, trat auf uns zu. Hinter ihm saßen auch die anderen ab. Ich kannte keinen von ihnen, aber ihre Kapuzenmäntel waren aus teurem Stoff. Das waren keine Leibwächter, sondern wahrscheinlich Mitverschwörer, die auf Gnade hofften.
Jetzt erkannte er mich.
«Tankred», sagte er mit verwirrtem Gesichtsausdruck. «Du warst auf meiner Seite.»
Glaubte er das immer noch? Hatte ihm in der Zwischenzeit niemand gesteckt, dass ich mich ihm nur zum Schein angeschlossen hatte? Franco von Lüttich und ich hatten ihn drei Monate zuvor auf einem Weingut in der Nähe von Trier aufgesucht, um ihn über seine Aufstandspläne auszuhorchen. In seiner Verblendung hatte er uns für seine Komplizen gehalten.
Ich ging nicht auf seine Bemerkung ein, sondern streckte die Hand aus.
«Dein Schwert.»
Er zögerte, schielte zu den Wachen im Schatten der Mauer hinüber, schien mit dem Gedanken zu spielen, sich noch irgendwie nach draußen zu retten.
«Wird’s bald?», drängte Sigehard. Und zu Hugos Begleitern: «Ihr auch.»
Mit größtem Widerwillen fügten sie sich. Schnallen klimperten, als sie die Gurte abnahmen. Ich winkte einen der Wächter herbei, der die Waffen einsammelte.
Hugo suchte im Dämmerlicht meinen Blick. Endlich schien er begriffen zu haben. Seine Verwirrung schlug in Enttäuschung um und die Enttäuschung in Selbstmitleid.
«Du hast mich verraten», sagte er jämmerlich.
Ich lachte auf und sah zu Sigehard, der mit der Hand am Schwertknauf neben mir stand und nur darauf zu warten schien, dass Hugo im letzten Augenblick auf dumme Ideen kam.
«So klingt das, wenn der Ochse den Esel ein Hornvieh schimpft», sagte ich.
Hugo wollte etwas erwidern, aber Sigehard schnitt ihm das Wort ab.
«Rein da.» Er wies mit dem Kopf auf das Hauptgebäude der Pfalz und fasste Hugo am Arm.
Ich gab den Wachen beim Tor einen Wink, dann wandte ich mich um und ging voran. Hinter einem der Fenster des Saales war eine Gestalt erschienen. Ich erkannte Liutward von Vercelli, den Erzkanzler des Kaisers, an seiner schlanken Statur. Sein Gesicht war im warmen Gegenlicht der Kerzen im Saal nicht zu sehen. Der Kanzler nickte kurz, dann trat er vom Fenster zurück.
Auf der Treppe sagte niemand ein Wort. Hugo trottete die Stufen mit hängendem Kopf hinauf, seine sechs Begleiter folgten wie eine kleine verängstigte Schafherde, eingerahmt von ebenso vielen Wachen mit gezückten Schwertern.
Wir betraten den Saal durch eine Flügeltür an der Längsseite. Leuchter mit Dutzenden von Kerzen warfen ihr Licht auf eine Reihe von Wandteppichen. An der Stirnseite saß der Kaiser unter einem Baldachin auf dem Faltthron mit den Löwenfüßen, den ich bei unserem ersten Zusammentreffen drei Jahre zuvor in Worms gesehen hatte. Flankiert wurde er diesmal von Liutward von Vercelli auf der rechten Seite und Bischof Arnald von Toul auf der linken. Neben Liutward waren zwei weitere Stühle aufgestellt, auf der anderen Seite stand ein Pult, an dem ein Schreiber Platz genommen hatte. Obwohl er den Kopf über einen Stapel von Pergamenten gebeugt hatte, erkannte ich ihn wieder: Auch er war schon in Worms dabei gewesen, und er war mir wegen seines Detailwissens in Erinnerung geblieben. Er schien sämtliche Urkunden, Gerichtsurteile und Kapitularien der kaiserlichen Kanzlei im Kopf zu haben. Nur sein Name wollte mir nicht mehr einfallen. An den Wänden drückten sich flüsternd ein paar Höflinge herum.
Karl wirkte erschöpft. Der überstürzte Aufbruch aus Italien und die anstrengende Alpenüberquerung mochten ihm noch in den Knochen stecken, doch das war nicht alles: Die Last seines Amtes, das durch die Annahme der Krone von Westfranken noch schwerer geworden war, schien ihn niederzudrücken. Erstmals seit mehr als vierzig Jahren war das gesamte Reich seines Urgroßvaters wieder in einer Hand vereint, aber dieser Triumph hatte eher seine Sorgen vermehrt, als dass es seine Selbstgewissheit gefestigt hätte. Er blickte uns abwesend entgegen. Unter seinen in die Stirn gekämmten Haaren glänzte ein Schweißfilm. Ich selbst hatte in Worms einen seiner Krampfanfälle miterlebt, bei dem er sich um ein Haar die Zunge abgebissen hatte, und wie man hörte, war es nicht der letzte gewesen. Liutward tat, was er konnte, um die Zweifel an der Regierungsfähigkeit des Kaisers zu zerstreuen, aber irgendjemand tratschte immer. Und der Erzkanzler wusste: Wenn der Kaiser starb, abdankte oder abgesetzt würde, wären auch seine Tage als mächtigster Mann des Kontinents gezählt. Es nützte nichts, die Zügel in der Hand zu halten, wenn einem das Pferd unter dem Sattel krepierte. Man konnte nur hoffen, dass Karl nicht auf der Huldigungsfeier des westfränkischen Adels zusammenbrach, die für die kommende Woche in Ponthion anberaumt worden war.
«Da ist er ja.» Mit einem Nicken wies der Bischof Sigehard und mir die beiden Stühle zu seiner Rechten zu. Hugos Begleiter wurden von den Wachen in der Mitte der Halle zurückgehalten. Sie hatten die Kapuzen abgestreift, und erst jetzt erkannte ich die Grafen Stefan und Robert wieder, die wir schon im vergangenen Jahr als Mitverschwörer verdächtigt hatten. Hugo blieb allein vor dem Thron des Kaisers stehen. Er sah noch zerrütteter aus als in Trier, als hätte er sich drei Monate lang jeden Tag betrunken.
«Warum ist er nicht in Ketten?», fragte Liutward.
«Er wird keinen Ärger machen», sagte Sigehard ungerührt.
Liutward verzog das Gesicht und machte eine wegwerfende Handbewegung. Natürlich fürchtete er keinen Ärger. Die Ketten hätten allein der Demütigung dienen sollen.
Die Stille, die nun folgte, zog sich auf unerträgliche Weise in die Länge. Hugo schien zu erwarten, dass man ihn mit Vorwürfen konfrontieren und ihm anschließend Gelegenheit zur Rechtfertigung geben würde, aber Liutward hatte gar nicht die Absicht, sich auf eine Diskussion einzulassen. Urteil und Strafe und selbst der Termin für die Vollstreckung standen ohnehin fest. Was fehlte, war Hugos förmliche Unterwerfung. Liutward wollte ihn am Boden sehen.
Es dauerte eine Weile, bis Hugo das begriff. Ich sah, wie seine Begleiter im Hintergrund unruhig wurden. Natürlich war ihnen klar, dass auch ihr Schicksal hier auf dem Spiel stand. Stefans Blick wieselte hin und her, und Robert begann, mit der Fußspitze auf dem Boden herumzutippen, bis er einen Rippenstoß von einem der Bewacher kassierte.
Schließlich sank Hugo mit einem theatralischen Schluchzer vor dem Kaiser auf die Knie und beugte sich vor, bis seine Stirn den Boden berührte. Er zitterte.
«Ich bitte um Gnade», sagte er leise.
Liutward erhob sich und legte eine Hand an sein rechtes Ohr. «Geht’s etwas lauter?», fragte er ungnädig. «Hier vorne kommt kein Wort an.»
Hugo wiederholte seine Bitte, lauter, aber mit bebender Stimme.
«Gnade? Warum sollten wir die gewähren?», fragte Liutward. Es war bezeichnend, mit welcher Selbstverständlichkeit er diese Formulierung benutzte. Gnade konnte der Kaiser allein gewähren, aber dieses wir machte wieder einmal deutlich, dass hier ohne Liutwards Zustimmung gar nichts geschah.
«Du hast dich zum wiederholten Mal gegen den Kaiser verschworen, um die Macht in Lotharingien an dich zu reißen», fuhr Liutward fort. «Du hast deinen Treueschwur gebrochen und andere angestiftet, dasselbe zu tun. Und was das Schlimmste ist: Du hast dich mit den Dänen verbündet und ihnen Land angeboten, das dir nicht gehört und nie gehört hat!»
Auch diese Wendung sprach für das diplomatische Geschick des Kanzlers. Indem er Hugo beschuldigte, seine Mitverschwörer nur angestiftet zu haben, ließ er eine Hintertür für ihre Rehabilitierung offen. Auf diese Weise würde es leichter sein, auf die Bestrafung von Hugos früheren Unterstützern zu verzichten und sie auf diese Weise gefügig zu machen.
Hugo hob den Kopf. «Das habe ich nicht», sagte er.
Liutward schnaubte verächtlich. «Wir haben bei Gottfried Briefe gefunden, die das beweisen.»
Natürlich stimmte das nicht. Wir hatten Gottfrieds Leiche auf der Betuwe zurückgelassen, ohne sie zu durchsuchen, und selbst wenn es solche Briefe gegeben hätte, hätte er sie mit Sicherheit nicht bei sich getragen. Liutward wollte Hugo nur aus der Reserve locken. Fast wäre es ihm gelungen.
«Wir hatten …», fing Hugo an, dann biss er sich auf die Zunge.
«… vereinbart, dass es keine schriftlichen Aufzeichnungen geben soll?», vollendete Liutward den Satz.
Hugo schwieg ertappt. Wie hatte ein derart unbedarftes Gemüt es eigentlich geschafft, eine so bedrohliche Verschwörung anzuzetteln?
Es wäre nun an Karl gewesen, das Wort zu ergreifen, doch der Kaiser schwieg weiterhin. Er schien durch Hugo hindurchzublicken. Als ich in Worms vor ihn getreten war, um meine eigene Begnadigung zu erwirken, hatte er nach einer Weile lebhaftes Interesse am Sachverhalt gezeigt. Diesen Fall aber wollte er offenbar schnell erledigt wissen. Er überließ Liutward das Reden und war in Gedanken schon woanders.
Für einen Augenblick sah ich mich noch einmal selbst vor diesen Thron treten. Es war, als durchlebte ich meinen eigenen Auftritt in Worms ein zweites Mal aus der Perspektive des Beobachters, und ich hatte Mitleid mit diesem Mann, der auf Gedeih und Verderb der Willkür des Kanzlers ausgeliefert war. Doch das Gefühl verflog so rasch, wie es gekommen war. Ich war um mein Erbe gebracht worden, weil der Sohn einer Konkubine meines Vaters es mir weggenommen hatte. Hugo, selbst Sohn einer Konkubine, hatte ein Erbe an sich zu reißen versucht, das ihm nie zugestanden hatte. Ich war der Betrogene gewesen, der sein Recht gefordert hatte. Hugo war der Betrüger, der das Recht gebrochen und das ganze Land um ein Haar ins Verderben gestürzt hatte. Hier und heute würde das Urteil über ihn verkündet werden, und das war richtig so.
Wie aufs Stichwort sagte Liutward: «Die Erbansprüche, auf die du dich bei deiner Verschwörung berufen hast, entbehren überdies jeder Grundlage.»
Diese Anschuldigung, so korrekt sie dem Inhalt nach auch sein mochte, traf Hugos Selbstverständnis bis ins Mark und kam überdies einer Beleidigung seiner Mutter gleich. Bei aller Zerknirschtheit wollte er das nicht auf sich sitzen lassen.
«Die Rechtmäßigkeit der Ehe meiner Eltern wurde von den Synoden in Aachen und Metz bestätigt», sagte in einer Aufwallung von Trotz. Seine Mitverschwörer tauschten panische Blicke. Im Gegensatz zu Hugo hatten sie begriffen, dass dessen bockiges Pochen auf die Rechtmäßigkeit seiner Geburt alles nur noch schlimmer machen würde. Robert öffnete den Mund, um etwas dazwischenzurufen, riss sich aber im letzten Augenblick zusammen.
«Die Bestätigung wurde noch im selben Jahr von Rom wieder kassiert», bellte Liutward. «Die Erzbischöfe von Köln und Trier, die für diesen Irrsinn verantwortlich waren, wurden abgesetzt. Komm uns nicht mit den alten Märchen. Wir werden das heute ganz bestimmt nicht noch einmal verhandeln. Du bist nur hier, um deine Strafe zu empfangen.»
Hugo sah ein, dass es keinen Sinn hatte, den Kanzler noch weiter zu reizen. Er senkte den Kopf wieder und murmelte: «Mir wurde die Begnadigung versprochen.»
«Versprochen wurde gar nichts.»
«In Aussicht gestellt», korrigierte Hugo sich.
«Eine Begnadigung setzt Reue und Demut voraus», belehrte ihn Liutward. «Bisher hören wir hier nur Rechtfertigungsversuche und Wortklaubereien. Peinliche Situationen sind wie Treibsand. Man zappelt nicht herum, sondern legt sich flach auf den Boden.»
Das war zu viel für den armen Hugo. Er ließ sich auf den Bauch fallen, streckte die gefalteten Hände vor und begann, hemmungslos zu schluchzen. Er beschwor den Erlöser und alle Heiligen, bekannte seine Schuld und seine Nichtswürdigkeit in einem Gestammel, das sich wörtlich kaum wiedergeben lässt. Sigehard, der neben mir Platz genommen hatte, warf mir einen entnervten Blick zu. Der Kaiser begann, mit den Fingern auf seinem Knie herumzutrommeln, aber Liutward machte keine Anstalten, Hugos Selbstbezichtigungen zu unterbrechen. Wie lange wollte er sich diese peinliche Darbietung noch ansehen? Genoss er sie?
Schließlich ebbte das Gewinsel ab. Hugo blieb regungslos liegen wie ein erlegtes Tier.
«Der Kaiser wird jetzt das Urteil sprechen», verkündete Liutward. «Damit alles seine Richtigkeit hat, sind zwei lotharingische Grafen als Beisitzer anwesend. Zwei Männer, deren Besitz du an die Heiden verschachern wolltest.»
Mit diesen Worten setzte Liutward sich wieder, sah zu Karl hinüber und machte eine auffordernde Geste in Hugos Richtung. In seinen Augen erkannte ich eine Spur von Ungehaltenheit. Das kann ich dir nicht auch noch abnehmen, schien sein Blick zu sagen.
Der Kaiser nickte kaum merklich, hob den Kopf und fragte: «Bekennst du dich schuldig, die Verschwörung geplant zu haben, die dir hier vorgeworfen wird?»
«Ja», sagte Hugo leise.
«Hast du die hier anwesenden Herren Stefan, Robert, Thiebold, Alberich, Gero und Ansgar angestiftet, dir dabei zu helfen?»
Thiebold. So hieß auch der Schreiber, wie mir in diesem Augenblick wieder einfiel. Er saß an seinem Pult und notierte die Fragen und Antworten, ohne aufzublicken.
«Ja», murmelte Hugo.
«Hast du den Bischof von Lüttich aufgefordert, dir in Aachen die Krone von Lotharingien aufzusetzen?»
«Ja.»
«Und hast du Gottfried angeboten, ihm die Hälfte des Reiches zu überlassen, wenn er dir bei deinem verbrecherischen Vorhaben hilft, und dabei in Kauf genommen, dass er das ganze Land mit Krieg überzieht?»
Diesmal zögerte Hugo kurz, dann murmelte er widerwillig: «Ja.»
Karl nickte fast unmerklich. Es folgte eine Pause. Der Kaiser schien sich zu sammeln, als müsste er sich überwinden, das auszusprechen, was nun folgte.
«Du wirst zum Tod durch Enthaupten verurteilt», sagte er schließlich mit müder Stimme.
Als Hugo jetzt den Kopf hob, stand in seinem Blick das nackte Entsetzen – kein Wunder, denn trotz seiner unehelichen Geburt war er von königlicher Abstammung. Seine Hinrichtung hätte allen bisher üblichen Gepflogenheiten widersprochen. Doch in seiner Todesangst kam Hugo nicht in den Sinn, worauf das hier gleich hinauslaufen würde. Das Urteil war Teil der Inszenierung, die Liutward sich ausgedacht hatte, um die Demütigung auf die Spitze zu treiben.
«Ich bin der Sohn eines Königs», sagte Hugo mit zitternder Stimme.
«Und das heißt?», fragte Liutward amüsiert.
«Es hat noch nie …»
«Hat es nicht?», fiel Liutward ihm ins Wort. «Bernhard von Italien, Sohn König Pippins, wurde im vierten Jahr der Regierung des frommen Kaisers Ludwig wegen einer Verschwörung gegen seinen Onkel zum Tod verurteilt.»
«Im fünften», korrigierte Thiebold von seinem Pult aus, während er ungerührt weiterschrieb.
«Von mir aus», sagte Liutward. «Karlmann, Sohn des Königs und späteren Kaisers Karl, wurde ebenfalls wegen Verschwörung zum Tod verurteilt. Von seinem eigenen Vater übrigens. Thiebold? In welchem Jahr?»
«Kommt drauf an, wie man rechnet», antwortete der Schreiber, immer noch, ohne den Kopf zu heben. «Die Urkunde ist auf das vierunddreißigste Regierungsjahr datiert, wenn man allerdings die Regierungszeit mit dem Vertrag von Verdun einsetzen lässt …»
«Erspar uns die Einzelheiten», unterbrach ihn Liutward. «Zwei Beispiele genügen.» Er wandte sich wieder an Hugo, der sich aufgerichtet hatte, sodass er jetzt vor dem Thron kniete. «Aber wie du vielleicht weißt, wurden Bernhard und Karlmann begnadigt.»
Er machte eine bedeutungsvolle Pause. In Hugos Augen keimte Hoffnung auf.
Arnald von Toul, ein bleicher Mann mittleren Alters, dem das Bischofsgewand zu groß war und dessen schräg stehende Augenbrauen seinem Gesicht einen diabolischen Ausdruck verliehen, räusperte sich. «Nun ja», sagte er. «Bernhard starb allerdings an den Folgen der Begnadigung.»
«Ach ja?», fragte Liutward scheinheilig. «Was kann denn da schiefgehen?»
«Allerhand kann da schiefgehen», erklärte Arnald redselig und zog die Augenbrauen noch ein Stück höher. «Wenn der Kopf nicht fest genug angebunden ist und der Begnadigte zu viel zappelt, kann das Eisen bis ins Gehirn vordringen. Oder der Schädelknochen bricht durch die Hebelwirkung, wenn der Henker zu viel stochert. Oder, und das ist der häufigste Fall, die Wunden entzünden sich, weil sie nicht sachgerecht ausgebrannt wurden. Bei Bernard …»
«Das reicht», unterbrach der Kaiser die Ausführungen des Bischofs. Die Vorstellung der unappetitlichen Prozedur schien ihn ebenso abzustoßen wie die demonstrative Ungeniertheit des Wortwechsels zwischen den beiden Bischöfen.
Sigehard und ich tauschten einen Blick. Wir waren den Ablauf vorher durchgegangen, aber der abgesprochene Wortwechsel war dann doch ein bisschen zu viel der lustvollen Grausamkeit.
Karl wandte sich an Hugo, der ihn mit offenem Mund anstarrte. «Kraft der mir von Gott verliehenen Gewalt begnadige ich dich zur Blendung und zu lebenslanger Klosterhaft», sagte er in bemühter Feierlichkeit, die seinen Widerwillen kaum verhüllte.
«Das Urteil wird nächste Woche in Ponthion vollstreckt», ergänzte Liutward.
Während Hugo zu beten begann, gab der Kanzler den Wachen einen Wink. Zwei von ihnen traten vor, packten Hugo unter den Achseln und führten ihn aus dem Saal. Er ließ es widerstandslos geschehen. Die anderen trieben die Mitverschwörer mit ihren Schwertern zum Eingang.
«Das hätten wir», sagte Liutward befriedigt, nachdem die Türen sich hinter ihnen geschlossen hatten. «Niemand kann sich beschweren. Der Bastard bekommt die versprochene Begnadigung und der westfränkische Adel eine kostenlose Lektion.» Er betrachtete uns, und sein Blick wurde fürsorglich. «Ihr müsst hungrig sein. Nebenan haben wir einen kleinen Imbiss vorbereitet. Spanferkel und einen kräftigen Bordeaux. Für irgendwas muss es ja gut sein, dass wir jetzt in Westfranken regieren. Den Roten von der Mosel kann man nicht trinken, und der Weiße passt nicht zum Braten.»
«Was passiert mit den anderen?», fragte Sigehard mit einem Nicken in Richtung Tür.
«Die lassen wir noch ein bisschen schmoren. In Ponthion können sie vor der Versammlung öffentlich Buße tun, und dann lassen wir sie laufen.»
«Was für eine Buße?», fragte ich.
Liutward lächelte füchsisch. «Wenn ich euch das vor dem Essen erzähle, vergeht euch der Appetit.»
«Amen», hallte es eine Woche später aus Hunderten von Kehlen zur Tribüne herauf.
Liutward von Vercelli schlug das Kreuz und sprach den Segen. Damit war die Zeremonie zu ihrem Abschluss gekommen und die Wiedervereinigung von Ostfranken, Lotharingien und Westfranken besiegelt. Fünfundvierzig Jahre voller Bruderkriege, Erbstreitigkeiten, Vertragsbrüche und Teilungen waren vorerst zu Ende, fast ein ganzes Menschenleben, in dem das Land kreuz und quer zerschnitten und Kräfte und Mittel verbraucht worden waren, die man besser zur Abwehr der Invasoren aus dem Norden aufgewendet hätte.
Ich blickte über das Meer von Köpfen, das sich unter uns ausbreitete. In Kettenhemden mit farbigen Überwürfen standen sie da, die Helme unter die Arme geklemmt, hingetupfte Gesichter wie Blumen auf einer Wiese, bleich, gebräunt, rund, oval, mit und ohne Bärte. Hier und da ragte eine Lanze mit Standarte auf, die sich im schwachen Wind bauschte. Im Westen schlängelte sich ein kleiner Fluss davon, davor lange Reihen von angepflockten Pferden am Ufer, Braune, Füchse, Rappen und Schimmel. Knechte, die Wassereimer und Hafersäcke schleppten, als ginge sie das Geschehen auf der Tribüne nichts an. Darüber die Sonne, ein milchiger Ball, der den Schatten der Pfalz als schwache Kontur auf das Ufergras zeichnete. Tauben gurrten, Singvögel zwitscherten. Das frühsommerliche Grün war satt und saftig.
Ponthion lag drei Tagesritte von Gondreville entfernt südwestlich von Reims auf westfränkischem Gebiet. Hierher hatte der Kanzler die Grafen und Herren des Westreiches bestellt, um dem Kaiser den Huldigungseid zu leisten. Sie kamen aus Aquitanien und Neustrien, aus Septimanien und Burgund, aus der Gascogne, der Auvergne, dem Limousin und der Picardie; sie waren zu Schiff auf der Marne und auf der Aisne angereist, auf der Loire und auf der Rhône, waren durch die Weinberge des Beaujolais und durch die Schluchten der Dordogne geritten, hatten in den Wäldern um Compiègne und Fontainebleau übernachtet und in den Burgen der reichen Champagne; sie sprachen das kultivierte Romanisch der neustrischen Städtelandschaft, den langsamen, näselnden Dialekt von Burgund und das beinahe unverständliche Provenzalisch. Sie waren so verschieden wie die Regionen und Landschaften, aus denen sie kamen, und doch hatten sie sich zusammengerauft, um das kopflose Reich beieinanderzuhalten, weil es nun einmal nicht anders ging.
Dabei war dieser Kaiser keineswegs der Wunschkandidat des westfränkischen Adels gewesen.
Fast ein halbes Jahr lang war der Thron unbesetzt geblieben. Zwar gab es einen Erben, doch angesichts der Gefahr einer dänischen Invasion konnte man es sich nicht leisten, diesem fünfjährigen Kind die Krone aufzusetzen, das dann unweigerlich zum Spielball von Einflussnahme und Anfechtungen konkurrierender Seilschaften geworden wäre. Über Generationen hinweg hatten Könige und Kaiser mit zu vielen Frauen zu viele uneheliche Nachkommen gezeugt, die jederzeit aus ihren Löchern kriechen und Ansprüche anmelden konnten. Die Bretagne war aus dem Reichsverband ausgeschieden, die Provence hatte sich Boso unter den Nagel gerissen, ein Usurpator, der keinen Deut besser war als Hugo. In Bayern sammelte Arnulf von Kärnten seine Getreuen, die ihm auf den ostfränkischen Thron helfen sollten, sobald der Kaiser ins Straucheln geriet. Und in Italien kämpften alle gegen alle: Päpste, Byzantiner, Sarazenen und eine verkommene Mischpoke aus fränkischen und langobardischen Grafen und Bischöfen, die sich nur dann noch auf die kaiserliche Autorität beriefen, wenn es ihnen in den Kram passte. Wenn man es genau nahm, gab es also recht wenig zu feiern.
Die rund dreihundert Herren aus Westfranken, die hier versammelt waren, hatten sich nur deshalb auf Karl geeinigt, weil sie erwarteten, im Kampf gegen die Invasoren auf die Ressourcen der anderen Teilreiche zurückgreifen zu können. Sie hatten ihm die Krone verschafft, damit er ihnen die Dänen vom Hals hielt. Was diese Männer zusammenhielt, war nicht die Ergebenheit gegenüber dem Urenkel des großen Karl, sondern die Einsicht in die Tatsache, dass sie es sich nicht erlauben konnten, sich gegenseitig zu zerfleischen, solange dänische Flotten über Schelde, Somme, Seine und Loire ins Binnenland vorstießen und ihre Länder verwüsteten. Hugo Abbas, der Schwager des längst verstorbenen frommen Kaisers Ludwig, war mit den Regierungsgeschäften betraut worden, aber er war krank und hatte nicht kommen können.
Sigehard und ich standen neben Liutward unter dem Baldachin beim Thron, von dem Karl sich nun erhob, um in den Jubelrufen zu baden, die ihm von unten entgegenschallten. Er trug einen goldbestickten Purpurmantel, und auf seinem Kopf glitzerte die mit Edelsteinen übersäte Krone in allen Farben des Regenbogens.
Die Tribüne war vor den Mauern der Pfalz von Ponthion aufgebaut worden, weil der Innenhof die Masse der Männer nicht fassen konnte. Liutward hatte schon vor der eigentlichen Huldigung durch großzügige Bewirtung für die richtige Stimmung gesorgt. Dennoch war er den ganzen Morgen über sichtlich nervös gewesen, und die Angespanntheit fiel erst jetzt von ihm ab. Die Zeremonie war ohne Störungen und Zwischenfälle über die Bühne gegangen; der Kaiser hatte mit klarer Stimme gesprochen, den Versammelten die versprochene Unterstützung in Aussicht gestellt und damit vor allem die Herren aus Neustrien zufriedengestellt, deren Gebiete von den Dänen besonders bedroht waren.
Unter den Anwesenden erblickte ich nicht ein einziges bekanntes Gesicht. Mit Westfranken hatten wir bisher kaum zu tun gehabt. Bald würde ich mit diesen Herren in den Krieg ziehen müssen: Dass Siegfried die Männer, die nach Gottfrieds Tod zu ihm übergelaufen waren, nur würde halten können, wenn er ihnen Beute verschaffte, war klar. Er würde angreifen. Und man musste kein Prophet sein, um zu ahnen, dass es Reibereien geben würde, weil die Westfranken sich von Liutward von Vercelli keine ostfränkischen oder lotharingischen Anführer vor die Nase setzen lassen wollten.
Liutward trat vor und wartete, bis sich die Unruhe gelegt hatte. Auf seine geistliche Tracht hatte er verzichtet, stattdessen trug er ein enges blaues Gewand und einen Schwertgurt. Er sprach als Kanzler zu ihnen, nicht als Bischof; er wollte nicht Milde und Vergebung predigen, sondern das Urteil verkünden, das der Kaiser eine Woche zuvor gesprochen und das Sigehard und ich als Beisitzer bestätigt hatten.
Als es so leise geworden war, dass man ein Blatt hätte zu Boden fallen hören, erhob Liutward endlich die Stimme. Sein Romanisch war tadellos, ohne jeden Akzent. Liutward war einer der begabtesten Redner, die ich jemals erlebt hatte.
«Bevor wir mit dem Festbankett beginnen, gibt es noch eine Sache zu erledigen», begann er. «Wie ihr alle wisst, hatten wir auch in Lotharingien in der vergangenen Zeit viel Ärger mit den Heiden, die von Friesland aus unsere Länder heimgesucht haben. Muss ich euch erzählen, was sie Monat für Monat, Woche für Woche, Tag für Tag bei uns angerichtet haben? Heribert von Vermandois!» Liutward streckte den Zeigefinger aus und wies mitten in die Menge, als hätte er den Grafen zufällig dort entdeckt. «Soll ich dir die Klöster in der Eifel und in den Ardennen aufzählen, die sie niedergebrannt haben? Die verwüsteten Kirchen, die verwaisten Händlersiedlungen?»
Der Angesprochene rief einen wütenden Satz zur Tribüne herauf, der nicht zu verstehen war.
«Natürlich nicht, denn an deiner Küste haben sie ja dasselbe getan.» Liutwards ausgestreckter Finger wanderte ein Stück nach rechts. «Matfried von Orléans! Willst du hören, welche Städte am Rhein sie dem Erdboden gleichgemacht haben? Wie viele Frauen sie dort vergewaltigt und wie viele Kinder sie ihren Eltern entrissen haben, um sie in die Sklaverei zu verkaufen? Natürlich nicht, denn sie waren ja auch auf der Loire. Und Ramnulf von Poitou!» Liutwards Finger schwang nach links. «Willst du hören, wie viel Silber und Gold wir ihnen in den Rachen geworfen haben, nur um sie uns vom Hals zu halten? Natürlich nicht, denn du hast ja selbst bezahlt und gesehen, wie dieses Gesindel die Verträge gebrochen hat, sobald wir das Geld abgeliefert hatten. Ihr alle seid immer wieder Zeugen geworden, wie sie uns betrogen, ausgeraubt und verhöhnt haben! Wie lange sollen wir noch zulassen, dass sie unsere Geduld missbrauchen?»
Und so ging es weiter. Liutward ließ einen Hagel von Anklagen auf seine Zuhörer niederprasseln, in dem ich immer wieder Wendungen aus Ciceros Reden gegen Verres und Catilina erkannte. Der Kanzler verband seine Belesenheit und sein Gespür für die Stimmung der Zuhörer zu einem Meisterwerk der Redekunst, das Perikles und Hortensius zur Ehre gereicht hätte. Und als er sie richtig in Fahrt gebracht hatte, kam er zum eigentlichen Zweck seines Auftritts.
«Seit Monaten sind wir damit beschäftigt, dieses Pack wieder ins Meer zu jagen, in ihre Länder ohne Sonne, in ihre armseligen Dörfer ohne Kultur und Lebensart, in ihre Hütten, die gleichzeitig Ställe für das Vieh sind, das sie wahrscheinlich kaum von ihren ungewaschenen Frauen unterscheiden können, wo sie rohes Robbenfleisch fressen und vergorene Obstschalen aus Rinderhörnern saufen. Und wisst ihr was? Wir wären damit schon sehr viel weiter, wenn nicht ein verdorbener Haufen von nichtsnutzigen, selbstsüchtigen und unwürdigen Gesellen aus unseren eigenen Reihen mit ihnen paktiert hätte und uns in den Rücken gefallen wäre. Während wir die Dänen von der Küste vertrieben haben, haben sie diesen Gottfried, dessen Name allein schon eine doppelte Unverschämtheit ist, weil er weder Gott noch Frieden kennt, diesen selbst ernannten König aus der Jauchegrube eingeladen, einen Keil in unser Land zu treiben. Und warum? Damit der Mann, der sie dazu angestiftet hat, sich in aller Ruhe auf den Aachener Thron setzen kann!»
Während Liutward gesprochen hatte, waren die empörten und wütenden Rufe immer lauter geworden. Unterdessen hatten hinter unserem Rücken einige Leibwächter des Kaisers die Tribüne über eine steile Rampe erstiegen. Sie zerrten einen Mann hinter sich her, dessen Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Er war barfuß und trug ein Leinenhemd, und obwohl sie ihm einen Sack über den Kopf gezogen hatten, wusste ich natürlich, um wen es sich handelte: Hugo.
«Und dieser Mann», fuhr Liutward fort, «dieser Mann, dessen Namen auszusprechen mir widerstrebt, weil mir dabei die Galle hochkommt, dieser Mann, der es gewagt hat, seinen Treueeid gegenüber dem Kaiser zu brechen, der bereit war, unser Land an die Heiden zu verscherbeln wie einst Judas das Leben unseres Erlösers für dreißig Silberstücke, dieser Mann …» – Liutward machte eine kleine Kunstpause, in der das Geschrei fast vollständig erstarb – «… ist heute unser Gast.»
Hier und da wurde gelacht. Hugo war inzwischen von den Leibwächtern weiter nach vorn geschoben worden, sodass er für gut sichtbar nur ein paar Schritte von uns entfernt am Rand der Tribüne stand. Auf der Rampe erschienen nun weitere Gestalten: ein Kerl mit Lederweste und einer speckigen Filzhaube, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte, flankiert von zwei Gehilfen, die einen trommelförmigen Hackklotz heraufrollten, dahinter zwei weitere Männer mit dicken Handschuhen, die ein Kohlebecken schleppten. Die Luft darüber waberte schlierig, als schwebte ein Geist über der Glut, der sich jeden Augenblick verdichten würde. Aus dem Becken ragte eine rußgeschwärzte Eisenstange.
Weiter hinten trottete eine zweite Gruppe aus einem halben Dutzend Männern, flankiert von ebenso vielen Wachen, durch das Tor: Es waren die Herren, die Hugo nach Gondreville begleitet hatten und von deren Bestrafung Liutward uns nicht vor dem Essen hatte erzählen wollen. Sie trugen Mützen mit großen angenähten Ohren aus Pelzresten und Kutten, an deren Hinterteil jeweils ein Fuchsschwanz angenäht war. Auf der Hälfte der Rampe blieben sie stehen. Jeder von ihnen hatte einen Hund auf dem Arm. Die Tiere, leichte Jagdhunde mit scheckigem Fell, blickten teilnahmslos um sich, und einer leckte seinem Träger die Hand. Für die dreihundert Zuschauer waren sie noch nicht sichtbar, doch offenbar hatte sich herumgesprochen, dass dort hinten etwas im Gange war, denn die Männer stießen sich an und reckten die Hälse.
Liutward wandte sich an Hugo, der hilflos den Kopf hin und her drehte, während ihm wahrscheinlich bewusstwurde, dass er für den Rest seines Lebens niemals mehr sehen würde als jetzt unter diesem Sack. Das Entsetzen über diese Erkenntnis und die Angst vor den bevorstehenden Schmerzen ließen ihn zittern.
Der Kanzler zählte noch einmal die Vorwürfe auf, die er Hugo schon in Gondreville entgegengeschleudert hatte, diesmal aber hielt er sich nicht lange bei dessen Pakt mit den Dänen auf, sondern betonte die Schwere des Verrats am Kaiser und die Schande des Treuebruchs. Jetzt, nachdem er die Wut der Versammelten auf den Verurteilten gelenkt und sie von der Notwendigkeit einer unnachgiebigen Bestrafung überzeugt hatte, führte er ihnen vor, was allen Verrätern und Verschwörern blühte, ganz gleich, ob sie sich mit den Dänen einließen oder nicht. Falls einer der Anwesenden mit dem Gedanken spielte, nach der Krone zu schielen oder irgendjemand anders bei einem Umsturzversuch zu unterstützen, würde er nicht anders behandelt werden.
Die Schergen hatten den Hackklotz auf die Tribüne gerollt und aufgestellt. Der Kerl mit der Lederweste war erstaunlich alt, seine Arme waren gebräunt, und unter der ledrigen Haut zeichneten sich mehr Sehnen als Muskeln ab. Offensichtlich hatte man bei der Wahl des Henkers der Erfahrung den Vorzug vor der Körperkraft gegeben. Er beugte sich über das Kohlebecken, ließ sich einen Handschuh reichen und fuhrwerkte mit der Eisenstange in der Glut herum, dass die Funken aufstoben.
Liutward verkündete das Todesurteil, was das Publikum mit Befriedigung, aber ohne Begeisterung zur Kenntnis nahm. Natürlich hatte sich längst herumgesprochen, was nun folgen würde. Die meisten von ihnen sahen so etwas nicht zum ersten Mal.
«Wie wir festgestellt haben, hat dieses Subjekt nichts anderes verdient als den Tod. Doch der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Philipper: Lasset eure Milde kund sein allen Menschen. Und daher haben wir» – da war es wieder, dieses anmaßende Wir – «beschlossen, den Verurteilten zu Blendung und lebenslanger Klosterhaft zu begnadigen. Die Blendung wird hier und heute vor euren Augen vollzogen. Zur Verbüßung der Haft wird der Verurteilte anschließend nach Fulda verbracht.»
Ausgerechnet Fulda, dachte ich. Die Abtei hatte eine der reichsten Bibliotheken in ganz Ostfranken, besser noch als Corvey, Echternach und Lorsch, übertroffen allenfalls von Reichenau und Sankt Gallen. Hugo war das wahrscheinlich noch nicht einmal bewusst; ich dagegen hätte eine solche Strafe als doppelt grausam empfunden: ohne Augen an einem Hort solcher Schätze der Weisheit zu sitzen. Während meiner Klosterhaft in Prüm hatte ich wenigstens lesen können, und nur das hatte mich am Leben erhalten. Vor meiner Flucht hatte ich die Bücher gerettet, als die Dänen das Kloster angesteckt hatten, und dass sie später durch die Nachlässigkeit der Brüder trotzdem verbrannt waren, wird mich wohl noch bis an mein Lebensende wütend machen. Ich versuchte, nicht daran zu denken.
Liutward hatte es tatsächlich geschafft, Hugo während seiner gesamten Ansprache nicht ein einziges Mal beim Namen zu nennen. Der Kaiser selbst hatte kein Wort gesagt. Der bemüht entschlossene Blick verriet, wie unangenehm ihm die rohe und entwürdigende Gewalttätigkeit war. Die Schergen, die Hugo nun den Sack vom Kopf zogen, um ihm einen letzten Blick auf die Zeugen seiner Schande zu gewähren, sah er nicht ein einziges Mal an.
Hugo hatte offenbar beschlossen, die Prozedur so würdevoll hinter sich zu bringen, wie das eben möglich war. Er flehte nicht um Gnade und versuchte auch nicht noch einmal, sich zu rechtfertigen. Sein Blick war leer, während die Schergen ihn zum Hackklotz führten, ihn davor auf die Knie zwangen und seinen Kopf nach hinten bogen, sodass er mit dem Blick zum Himmel auf dem Holz zu liegen kam. Schweigend zogen sie ihm zwei Lederriemen über Mund und Stirn und schnallten sie an zwei tiefe Kerben fest, die in den Klotz geschlagen worden waren. Dann nickten sie dem Henker zu.
Hugo stöhnte und schloss die Augen. Seine Lippen murmelten ein Gebet. Die Arme von zwei Leibwächtern legten sich um seinen Rumpf. Sie verschränkten die Hände und wandten die Gesichter ab.
«Halt dir die Nase zu», sagte Sigehard leise zu mir.
Der Henker drehte das Eisen ein letztes Mal in der Glut, und als er es heraushob, zog das Metall einen Schweif aus Funken hinter sich her. Jetzt konnte man sehen, dass das Ende wie eine Gabel mit zwei Zinken geformt war. Sie glühten orangefarben wie zwei zum Ausschmieden vorbereitete Klingen.
Und dann senkten sich die beiden Spitzen über Hugos Gesicht. Unten stöhnten sie auf, doch keiner der dreihundert Männer gab sich die Blöße, den Blick abzuwenden. Ich kniff unwillkürlich die Augen zu, die Wachen verzogen vor Anstrengung und Ekel die Münder. Der Kaiser zwang sich zu einem unbeteiligten Gesichtsausdruck, schließlich war es sein Urteil, das hier vollstreckt wurde; dabei sah er aus, als müsste er sich übergeben. Nur Liutward schien das Ganze tatsächlich nicht zu berühren. Er betrachtete den unnatürlich verrenkten Körper von Hugo wie ein Stück Wild, das für ein Festmahl zerwirkt wurde. Das Wissen, dass diese mitleidlosen Augen beim Anblick von kunstvoll bestickten Seidenstoffen und beim Lesen von eleganten Hexametern eine ähnliche Befriedigung ausdrücken konnten, trieb mir einen Schauder über den Rücken.
Als die glühenden Spitzen Hugos Augenlicht mit einem schmurgelnden Geräusch und in einer Qualmwolke für immer auslöschten, brüllte der Verurteilte auf, wie ich noch nie jemanden hatte brüllen hören. Er bäumte sich auf, sein Kopf ruckte unter den Lederriemen, Adern und Sehnen an seinem Hals traten hervor, sein ganzer Körper stemmte sich gegen die Gewalt, doch schon nach wenigen Augenblicken zog der Henker die glühende Gabel wieder heraus und legte sie zurück in das Kohlebecken. Hugos Brüllen ging in einen gurgelnden Laut über und verstummte. Die Ohnmacht war die einzige Gnade, die ihm an diesem Tag zuteilwurde. Die beißende Wolke streifte meine Nase, dann trieb der Wind das, was die Glut aus Hugos Augen gemacht hatte, als Qualm und Gestank in Richtung des Flusses davon. Vor der Tribüne setzten die ersten Gespräche ein. Die Helfer des Henkers lösten die Riemen, hoben Hugos leblosen Körper von den Brettern auf und trugen ihn zur Rampe wie einen Gegenstand. Hackklotz und Kohlebecken wurden ebenfalls weggebracht.
«Saubere Arbeit», kommentierte Sigehard. Seine Kaltschnäuzigkeit wirkte ein bisschen aufgesetzt, fast so, als wollte er Liutward damit gefallen.
Ich antwortete nicht. Die Vollstreckung meines eigenen Urteils fünfzehn Jahre zuvor kam mir in den Sinn. Statt Blendung war mein Strafmaß das Abhacken der rechten Hand gewesen. Dass ich sie am Ende behalten hatte, war nur dem glücklichen Umstand zu verdanken gewesen, dass der Henker zu betrunken gewesen war, um seine Arbeit richtig zu machen, und die Klinge statt in mein Handgelenk in sein eigenes Schienbein geschlagen hatte, was als Gottesurteil gewertet worden war.
Ein letztes Mal wandte sich Liutward an die Menge. Ich hörte kaum, was er sagte. Die Erinnerung an jenen Tag in Maastricht war plötzlich sehr lebendig: das Entsetzen, als der Henker das Beil gehoben hatte, die Erwartung der unerträglichen Schmerzen und des Anblicks meiner zu Boden fallenden Hand, die Ohnmacht und die Gewissheit, nie wieder Herr meiner Entscheidungen zu sein, und dann, beim Anblick des schreienden Henkers, das unwirkliche Gefühl, dass alles bis dahin Geschehene nur ein Traum gewesen war. Solche Umstände waren es, die über das weitere Leben eines Menschen entschieden. Kam dabei wirklich jedes Mal der Wille Gottes zum Ausdruck?
Das schadenfrohe Lachen der Zuschauer drängte sich in meine Erinnerungen, sodass ich für einen kurzen Augenblick der Täuschung erlag, es gälte mir selbst. Doch Liutward hatte verkündet, dass die sechs zusammen mit Hugo gefangen genommenen Männer zur Hundestrafe verurteilt worden waren. Für Männer, die noch vor wenigen Wochen damit gerechnet hatten, bald selbst neben dem Thron zu stehen und Befehle zu erteilen, war diese Strafe die schlimmste nur denkbare Demütigung, und manch einer hätte vielleicht lieber zumindest ein Auge hergegeben, als mit Fuchskappe und Schwanz vor dreihundert johlenden Standesgenossen das zu erdulden, was hier nun folgen würde.
Die Gruppe auf der Rampe setzte sich in Bewegung. Widerwillig nahmen die sechs mit den Hunden unter den hämischen Kommentaren der Zuschauer Aufstellung am Rand der Tribüne. Auf einen Wink von Liutward hoben sie die Hunde hoch, als wollten sie sie der Sonne opfern. Auch das ließen die Tiere sich ohne Widerstreben gefallen; wahrscheinlich hatte man ihnen irgendein Kraut ins Futter gemischt, um sie für das befremdliche Ritual ruhigzustellen.
«Der Hund ist ein treues Tier», rief Liutward. «Er verrät seinen Herrn niemals. Falschheit und Niedertracht sind ihm fremd, anders als dem Fuchs, der voller Hinterlist nur auf seinen eigenen Vorteil schielt.»
Die Verurteilten starrten über die lachende Menge hinweg und mahlten mit den Kiefern. Sie wussten, dass sie keine Wahl hatten, dass jeder Widerstand gegen die Bestrafung sie das Leben kosten konnte, denn anders als Hugo waren sie keine Söhne von Königen. Liutward hätte sie ohne Weiteres hinrichten lassen können.
«Was kann man also tun, um dem Fuchs seine Nichtswürdigkeit vor Augen zu führen? Wie zeigt man ihm, dass er in der Hierarchie der Kreaturen weit unterhalb des Hundes steht, irgendwo zwischen Kellerassel und Blindschleiche? Wie erweist er dem Hund seine Reverenz?»
«Na los!», schrie einer aus der Menge. «Küsst ihnen die Ärsche!»
Die Menge lachte.
Liutward lachte nicht. Die Hundestrafe war für ihn ein wirksames Verfahren zur Maßregelung der Verschwörer, aber sie amüsierte ihn keineswegs. Für derbe Vergnügungen dieser Art war er zu kultiviert; sie waren nur ein Mittel, um Männern, denen ihre Ehre über alles ging, durch die größte denkbare Erniedrigung härter zu züchtigen, als Schmerzen das jemals ermöglicht hätten. Mit gleichgültigem Gesichtsausdruck machte er eine unwirsche Geste in Richtung der Verurteilten, dann wandte er sich ab, weniger aus Ekel als aus Verachtung – nicht nur gegenüber den Verrätern, sondern auch gegenüber denen, die sich an einem dermaßen primitiven Schauspiel weideten.
Also taten die sechs, was sie tun mussten. Sie führten die Hinterteile der Hunde wie große Trinkgefäße zu ihren Mündern und machten sich ans Werk, begleitet von Hohn und Gelächter.
«Richtig abschlecken!»
«Nase rein!»
«Achtung! Der da kotzt gleich!»
Tatsächlich war es für einen der Armen zu viel: Er ging in die Knie, setzte den Hund ab – ihn einfach fallen zu lassen, traute er sich wohl nicht – und übergab sich auf die Bretter.
Liutward trat neben mich und beugte sich zu mir herüber. «Weißt du, wer das ist?»
«Nein», sagte ich.
«Das ist Thiebold», sagte Liutward, und zum ersten Mal trat nun doch ein amüsierter Ausdruck auf sein Gesicht. «Hugos Schwager, Ehemann seiner Schwester Berta und Sohn von Theutbergas Bruder Hukbert. Pikant, oder?»
Ich verstand. Sigehard, der gelauscht hatte, fragte: «Na und?»
«Wie, na und?», fragte Liutward. «Theutbergas Neffe ist mit Waldradas Tochter verheiratet. Der Neffe von König Lothars Ehefrau mit der Tochter seiner Konkubine.»
«Das sind mir zu viele Namen», sagte Sigehard schulterzuckend, während Thiebold einen Rest Galle hochwürgte und auf den Boden spie.
Liutward verdrehte die Augen. «Denk mal nach. Wenn Thiebold mit Berta einen Sohn zeugt, wäre der gleichzeitig der unrechtmäßige Enkel und der rechtmäßige Großneffe von König Lothar. Oder eben umgekehrt, wenn man Hugos damaliger Argumentation folgt.»
«Ist mir zu kompliziert», sagte Sigehard.
«Lothar hat versucht, seine Ehe annullieren zu lassen, indem er Theutberga und Hukbert ein inzestuöses Verhältnis angedichtet hat. Um den Erbanspruch seines Schwagers und später vielleicht sogar den seiner eigenen Nachfahren zu begründen, müsste Thiebold also der Behauptung zustimmen, dass sein Vater es mit der eigenen Schwester getrieben hat. Wenn das nicht pikant ist, dann weiß ich es auch nicht. Wollen wir ihn mal fragen?»
«Der kann gerade nicht antworten», sagte ich, hin- und hergerissen zwischen der Befriedigung über die Bestrafung und dem Abscheu gegenüber der Art, wie sie vollzogen wurde. Der Hund, den Thiebold vorhin noch im Arm gehabt hatte, leckte inzwischen auf, was Thiebold ausgespuckt hatte.
«Ich hab’s immer noch nicht verstanden», sagte Sigehard, schien aber kein Interesse an weiteren Erklärungen zu haben.
Liutward sah zum Kaiser hinüber, der sich auf dem Thron umgewandt hatte und eine Sonnenuhr an der Südmauer der Pfalz betrachtete. Der schwache Schatten des Polstabes zeigte an, dass Mittag vorbei war.
«Deswegen haben wir ja den ganzen Ärger», sagte Liutward mehr zu sich selbst. «Weil in dieser verkommenen Sippschaft wirklich jeder mit jedem im Bett war.»
Die Darbietung war zu Ende. Die sechs Verurteilten wurden von den Wachen über die Rampe nach hinten gescheucht.
«Zeit zum Essen», sagte Liutward. «Danach besprechen wir mal, wie wir Siegfried unschädlich machen können.»
Drei Stunden später fanden Sigehard und ich uns im großen Saal der Pfalz wieder, wohin Liutward etwa zwanzig westfränkische Grafen und andere Herren bestellt hatte. Der Raum nahm die ganze Breite des Hauptgebäudes ein; auf der Südseite ging eine Fensterreihe auf den Innenhof hinaus, auf der Nordseite eine weitere auf den Fluss.
In der Mitte des Saales war ein großer Tisch aufgestellt worden, an dessen Kopfende der Kaiser auf seinem Thron mit den Löwenfüßen saß. Auf seiner rechten Seite hatte Liutward Platz genommen, links saß ein auffallend gut aussehender junger Mann, den Liutward mir als den Grafen Odo von Paris vorgestellt hatte. Die meisten anderen waren mir nicht bekannt, und Heribert von Vermandois und Matfried von Orléans erkannte ich nur wieder, weil Liutward sie von der Tribüne aus direkt angesprochen hatte. Aus Lotharingien waren nur Sigehard und ich anwesend, aus Ostfranken niemand. Heinrich von Babenberg war mit den Resten des Heeres, das er im Herbst nach Ostfriesland und im Frühjahr an die Schelde geführt hatte, im Norden geblieben. Hier und heute sollte es nun darum gehen, den nächsten Feldzug gegen die Dänen zu planen und die Kontingente zu bestimmen, die Westfranken zu Heinrichs Verstärkung schicken sollte.
Ich ahnte schon, dass uns hier ein ähnliches Geschacher bevorstand wie ein halbes Jahr zuvor in Köln: Diejenigen unter den Anwesenden, deren Besitzungen unmittelbar bedroht waren, würden darauf bestehen, dass die Herren aus den abgelegeneren Gebieten einen möglichst großen Beitrag leisteten; diese wiederum würden ihre Kontingente kleinrechnen und versuchen, möglichst viele Männer zurückzuhalten. Erschwert würde die Diskussion wahrscheinlich dadurch, dass die westfränkischen Herren wenig Lust hatten, sich einem ostfränkischen Anführer unterzuordnen. In Köln hatte Heinrich die Versammlung geleitet, dessen unbestreitbare Fähigkeiten seine Autorität gestärkt hatten und den die meisten der damals Anwesenden mit dem Schwert in der Hand in der vordersten Reihe hatten kämpfen sehen. Hier dagegen führte Liutward von Vercelli das Wort, ein alemannischer Geistlicher, der keinerlei militärische Verdienste vorzuweisen hatte und im Namen eines Kaisers sprach, dessen Entschlussfähigkeit alle bezweifelten, auch wenn niemand es hier wagen würde, das auszusprechen. Liutwards Urteilskraft und sein Scharfsinn waren allgemein bekannt, aber das half ihm in dieser Versammlung nicht, sondern nährte bei den Westfranken eher den Verdacht, dass er sie übervorteilen wollte.
Liutward hatte eine kleine Glocke vor sich auf den Tisch gestellt, um für Ruhe zu sorgen. Wann immer er danach griff, trafen ihn ungehaltene Blicke. Dass sie sich von einem arroganten Bischof mit penetrantem Gebimmel das Wort abschneiden lassen mussten wie die Zöglinge in der Kathedralschule, war für die Grafen schwer erträglich. Wenn ich nicht gewusst hätte, in welchem Maße Liutward den Mangel an militärischen Fähigkeiten durch seinen scharfen Verstand wettmachte, hätte ich vielleicht ähnlich gedacht.
Nachdem Liutward alle Anwesenden noch einmal vorgestellt hatte, erteilte er mir das Wort, um die Runde über die Situation im Norden in Kenntnis zu setzen. Bei meinem Namen hatten einige der Männer wissend genickt. Wie ich in den vergangenen Jahren immer wieder festgestellt hatte, war es vor allem die von mir organisierte Trockenlegung eines Nebenarms der Maas bei der Festung Asselt vor drei Jahren gewesen, die meinen Ruf begründet hatte.
Ich erhob mich also und schilderte die Vorkommnisse im Norden, von der Rückkehr unseres Heeres aus Ostfriesland bis zu Gottfrieds Ermordung. Alles, was in den wenigen Wochen seitdem passiert war, wusste ich nur aus den Meldungen der Boten, die uns täglich erreichten.
«Wir hatten gehofft, dass Gottfrieds Heer sich nach seinem Tod in alle Winde zerstreuen würde», erklärte ich. «Aber das ist nicht eingetroffen. Er hat die Leute mit der Aussicht auf Reichtümer ins Land geholt, und jetzt wollen sie nicht ohne Beute wieder abziehen, nur weil er tot ist. Sie wollen sich offenbar Siegfried anschließen, jedenfalls melden die Späher, dass immer mehr Schiffe rheinabwärts aufs Meer und dann an der Küste entlang nach Südwesten zur Scheldemündung fahren. Siegfried hat sein Lager in Löwen an der Dijle. Wir haben zweimal versucht, ihn dort anzugreifen, aber er war jedes Mal schneller und ist flussabwärts entwichen. Wir haben die Palisaden abgebrannt, aber sie bauen sie gerade wieder auf. Sie schaufeln den ganzen Tag, heben Gräben aus, spitzen Pfähle an, bauen Türme. Siegfried scheint da noch eine Weile bleiben zu wollen.»
«Wie viele Männer hat er denn?», fragte ein Kahlkopf mit Specknacken.
«Eigentlich nur vierhundert», antwortete ich. «Aber Gottfried hatte mindestens fünfmal so viele. Und wenn die sich jetzt alle Siegfried anschließen, hat der von uns nicht mehr viel zu befürchten, solange wir keine Verstärkung bekommen.»
«Und diese Verstärkung sollen wir schicken», stellte ein gnomenhaftes altes Männchen mit riesigen Segelohren fest, das eine mit Silberfäden bestickte blaue Kappe vor sich abgelegt hatte und sie mit knochigen und von Altersflecken übersäten Fingern hin und her drehte. Dem Akzent nach kam er aus dem Süden. «Was schickt ihr mir denn gegen die sarazenischen Piraten?»
Ein paar der anderen pflichteten ihm bei, wenn auch halbherzig. Es war klar, dass der Alte nur stänkern wollte; die sarazenischen Piraten waren in Süditalien ein Problem, aber an die Küsten Septimaniens und der Provence verirrten sie sich nur selten, und im Gegensatz zu den Dänen drangen sie nicht über die Flüsse ins Land ein, sondern betrieben Piraterie auf dem Meer.
Heribert von Vermandois meldete sich zu Wort. «Danke für deinen wertvollen und inspirierenden Beitrag», sagte er mit einer spöttischen Verbeugung in Richtung des Alten. «Aber wir sind heute hier, um über die Dänen zu reden.» Er wandte sich an mich: «Wie lange wird es dauern, bis Siegfried alle Gefolgsleute von Gottfried gesammelt hat?»
«Nicht lange», sagte ich. «Wir haben in Friesland neue Grafen eingesetzt. Für die Dänen wird es da jetzt ziemlich ungemütlich. Die Ländereien, die Gottfried an seine Leute verteilt hat, werden wieder eingezogen. Ich schätze, die raffen gerade alles zusammen, was sie auf die Schiffe schleppen können, und in einem oder zwei Monaten sind alle verschwunden.»
«Um dann in Siegfrieds Gefolge wieder aufzutauchen», sagte Heribert.
«So sieht’s aus.»
«Was will der mit so vielen Leuten?», fragte Matfried von Orléans. «Soweit ich weiß, ist Brabant schon ziemlich ausgelaugt. Wenn Siegfried über zweitausend Männer versorgen muss, kann er da nicht bleiben. Er wird sich wieder einschiffen und irgendwo anders weiterplündern, wo es mehr zu holen gibt.»
«Es sei denn, wir bieten ihm etwas an», sagte der Kaiser plötzlich.
Einen Augenblick lang war es totenstill, dann regte sich Getuschel. Ungläubige und entsetzte Blicke gingen hin und her. Hatte Karl das wirklich gesagt? Fehlte ihm so vollständig das Gespür für die Stimmung unter den Anwesenden? Glaubte er nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre immer noch, dass man die Dänen loswurde, indem man ihre unverschämten Forderungen erfüllte?
Während das Gemurmel anschwoll, ließ ich mich wieder auf meinen Stuhl sinken. Stattdessen erhob sich nun Liutward von Vercelli.
«Was denn?», fragte der Kanzler mit mühsam unterdrückter Gereiztheit. Niemand anders hätte es gewagt, dem Kaiser in diesem Ton zu antworten. Liutward atmete einmal tief durch, als müsste er sich selbst zur Mäßigung mahnen, dann fuhr er fort: «Geld hat Siegfried schon genug bekommen, und was passiert, wenn man diesen Leuten Land gibt, haben wir gerade bei Gottfried gesehen.» Er wies in die Runde. «Mit Verlaub, aber diese Männer hier wollen kämpfen. Sie wollen den Dänen kein Silber geben, sondern Stahl.»
Seine Bemerkung wurde mit anerkennendem Raunen quittiert. Die feindselige Stimmung gegen den Kanzler schwang zu seinen Gunsten um, jedenfalls bei denen, deren Gebiete von dänischen Überfällen bedroht waren. Auf einmal war Liutward der Vertreter ihrer Interessen und der Verteidiger ihrer Ehre, der starke Mann, der sich nicht demütigen ließ, auch dem Kaiser widersprach und am Hof dafür sorgte, dass die richtigen Entscheidungen getroffen wurden.
«Man sollte es zumindest in Betracht ziehen», merkte der Kaiser an, ohne richtig überzeugt zu klingen. «Wir würden Zeit gewinnen.»
Liutward schüttelte den Kopf. «Im Gegenteil», sagte er entschieden. «Nicht wir würden Zeit gewinnen, sondern sie. In zwei Monaten weiß ganz Dänemark, dass der nächste Geldsegen bevorsteht, und noch vor dem Winter wird man die Flüsse vor lauter Schiffen nicht mehr sehen.»
Der Kaiser sagte nichts mehr, sondern machte eine Handbewegung, die man als Aufforderung verstehen konnte, die Diskussion fortzusetzen.
«Noch mal zurück zu Siegfried», sagte Matfried. «Will er sich wirklich die ganze Gefolgschaft von Gottfried aufbürden? Ein so großes Heer wird seine Bewegungen verlangsamen, und er wird Beute und Lösegelder teilen müssen.»
«Er wird sie alle übernehmen», sagte ich. «Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Siegfried durfte immer nur die zweite Geige spielen, und das hat ihn schon in Asselt gewurmt. Gottfried hatte mehr Männer und die größere Flotte, Gottfried ist ein Fürst geworden, während Siegfried ein Pirat geblieben ist. Jetzt ist Gottfried tot, und Siegfried kann endlich aus seinem Schatten treten. Er ist gierig und eitel. Dass er das wahrscheinlich größte dänische Heer befehligen wird, das auf diesem Kontinent jemals unter einem einzigen Anführer versammelt worden ist, schmeichelt ihm. Er stellt sich vor, dass später Lieder darüber gesungen werden.»
«Du redest, als würdest du ihn kennen», sagte der Specknacken.
«Er ist Siegfrieds Taufpate», bemerkte Sigehard trocken.
«Bitte?», fragte Heribert. «Siegfried ist getauft?»
Ich verdrehte die Augen. Noch so eine Anekdote, auf die man mich noch Jahre später ansprechen würde, wie meine Tanzeinlage mit Gottfried im Bärenkostüm oder die Behauptung, ich hätte den Papst umgebracht, der während einer Audienz in meiner Anwesenheit vergiftet worden war.
«Er ist nicht getauft, und ich bin auch nicht sein Pate», stellte