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Ein verflucht schwieriger Fall: Hauptkommissar Hirschberg steht im Wald.
Am Nikolaustag liegt der wohlhabende Großbäcker Alfons Gerstl auf einer idyllischen Waldlichtung am See - tot! Ihm wurde der Schädel eingeschlagen. Wer könnte dem Bäckerei-Mogul Böses wollen? Stimmt etwa tatsächlich die Legende von dem Fluch, nach der alle hundert Jahre an diesem Tag ein Mitglied der Familie Gerstl gewaltsam zu Tode kommen müsse? Hauptkommissar Hirschberg begibt sich auf Spurensuche in der Krindelsdorfer Vergangenheit - und deckt so manches Geheimnis auf ...
Urkomisch, spannend, bayrisch - Hauptkommissar Hirschbergs fünfter Fall!
ERSTE LESER-STIMMEN:
"Ein sehr spannender und humorvoller Krimi mit einigem Lokalkolorit und überraschenden Wendungen! Absolute Leseempfehlung!" (Sandyebt78, Lesejury)
Alle Krimis mit Hauptkommissar Hirschberg in der richtigen Reihenfolge:
1. Eisenhut und Apfelstrudel
2. Weihnachtsgans und Krippenmord (ein kurzer Bayern-Krimi)
3. Leberkäs und Hackebeil
4. Edelweiß und Heckenschere
5. Enzian und Trüffeltod
6. Tannengrün und Semmelmord
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Seitenzahl: 361
Cover
Über dieses Buch
Titel
Prolog
1.
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Impressum
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Am Nikolaustag liegt der wohlhabende Großbäcker Alfons Gerstl auf einer friedlichen Waldlichtung am See – tot! Ihm wurde der Schädel eingeschlagen. Wer könnte dem Bäckerei-Mogul Böses wollen? Stimmt etwa tatsächlich die Legende von dem Fluch, nach der alle hundert Jahre an diesem Tag ein Mitglied der Familie Gerstl gewaltsam zu Tode kommen müsse? Hauptkommissar Hirschberg begibt sich auf Spurensuche in der Krindelsdorfer Vergangenheit – und deckt so manches Geheimnis auf ...
Urkomisch, spannend, bayrisch – Hauptkommissar Hirschbergs fünfter Fall!
Jessica Müller
Tannengrün und Semmelmord
Ein Bayern-Krimi
Alfons Gerstl warf einen Blick aus dem Fenster der Backstube. Noch war Krindelsdorf nicht erwacht, und ein eisiger Dezemberwind fegte durch den Ort. Im zaghaften Licht der Morgendämmerung konnte er dicke Schneeflocken tanzen sehen. Die weihnachtlichen Aromen von Zimt, Vanille, Gewürznelken und Orangen lagen in der Luft. Seine Kunden waren ganz versessen auf seine selbst gemachten Lebkuchen und seine raffinierten Plätzchenvariationen. Ganz zu schweigen von seinem Krindelsdorfer Christstollen, der nach einem Geheimrezept seiner Großmutter gebacken wurde. Nicht nur für das Tagesgeschäft in seinen Bäckereien mussten er und seine Mitarbeiter heute sorgen, sondern auch für den Krindelsdorfer Weihnachtsmarkt, auf dem Gerstl wie jedes Jahr mit einem Stand vertreten sein würde.
Voller Anerkennung betrachtete er die perfekten Halbmonde, die Vanillekipferl, die sein Azubi gezaubert hatte, und seine Mundwinkel wanderten nach oben. Er klopfte Leon Eisner anerkennend auf die Schulter, und der Junge lächelte. Dessen Start ins Leben war holprig gewesen: Sein Vater hatte sich noch vor seiner Geburt aus dem Staub gemacht, seine Mutter war überfordert und kämpfte seit Jahren mit ihrer Alkoholsucht. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, ließ seine stockkatholische Großmutter ihn auch nie vergessen, dass er in ihren verkniffenen Augen ein Kind der Sünde war. Den Schulabschluss hatte Leon zwar mehr schlecht als recht bestanden, doch Gerstl wollte dem Jungen dennoch eine Chance geben. Und sein neuer Lehrling hatte sich in Windeseile als Multitalent entpuppt. Dank Leons Einfallsreichtum klingelte die Kasse in dieser Adventszeit noch süßer als all die Jahre davor.
Gerstls Bäckereien liefen aber das ganze Jahr über hervorragend, denn er beschäftigte nur die besten »Teigmanager«, wie er seine Leute scherzhaft nannte. Seine Ansprüche waren hoch, und die Kunden wussten das zu schätzen. Der Konkurrenz ließ er keine Chance, dachte er selbstgefällig, als er frische Semmeln und Laugenbrezeln aus dem Ofen holte. Kettler, dieser talentbefreite Teigakrobat, hatte das seinerzeit zu spüren bekommen.
Er legte die Schürze ab und wandte sich an seine Mitarbeiter, um ihnen Anweisungen zu geben. Der Vorteil daran, der Chef zu sein, war, dass er kommen und gehen konnte, wie es ihm beliebte. Auf seine Leute konnte er sich verlassen. Gerstl selbst hatte an diesem Morgen andere Pläne.
Seit Generationen nämlich war es Tradition in seiner Familie, frühmorgens am Nikolaustag in den Krindelsdorfer Wald zu gehen, um einen Weihnachtsbaum zu schlagen. Nach einem kurzen Abstecher in die Backstube nahm er sich deshalb den Rest des Tages frei, um in Ruhe die perfekte Tanne zu finden.
Der Winterwind ließ seine Augen tränen, als er die Bäckerei am Krindelsdorfer Marktplatz verließ und in seinen Wagen mit Anhänger stieg. In den frühen Stunden des Sonntagmorgens waren die Straßen wie leer gefegt, und eine dünne Schneeschicht bedeckte den Asphalt.
Am Waldrand angekommen, nahm Gerstl seine Axt aus dem Kofferraum und machte sich auf die Suche nach dem diesjährigen Weihnachtsbaum. Die Stimmung hatte etwas Märchenhaftes. Für den Bäcker war in der Stille des am Ortsausgang gelegenen Forsts der Zauber der Weihnacht fast körperlich spürbar. Es war dieser eine Morgen im Dezember, an dem er die Sorgen der vergangenen Monate losließ und sich auf einen friedvollen Jahresausklang einstimmte. Er konnte fühlen, wie sein Körper und Geist sich regenerierten, während die kalte Schneeluft seine Lungen füllte. Schon im Sommer freute sich Gerstl auf diesen Tag, weshalb er Indira Wiesners Warnung, er werde heute im Wald den Tod finden, auch in den Wind geschlagen hatte. Diese Verrückte sollte ihn mit ihren Prophezeiungen und Visionen gefälligst in Ruhe lassen!
Schneeflocken wirbelten um ihn herum, als er auf der Lichtung im Wald ankam und seine Axt auf den Boden fallen ließ. Der zugefrorene See, auf dem er als Kind so manchen Winternachmittag mit seiner Mutter Schlittschuh gelaufen war, zog ihn wie magisch an. Viele schöne Erinnerungen verband er mit diesem verschwiegenen Ort, und er schloss einen Moment lang die Augen.
So tief war er in der Welt seiner Kindheit versunken, dass er alles um sich herum vergaß. Als er zurück ins Hier und Jetzt kehrte, bemerkte er zu spät, dass er nicht allein war. Die Axt traf ihn, und Gerstl ging zu Boden.
Susan Waters-Hirschberg öffnete die Tür zu ihrer Küche, und das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Die Wangen ihres angeheirateten Onkels Vincent waren gerötet, seine dunkelblaue Schürze mit Mehl bestäubt. Der erfolgreiche Geschäftsmann, der sein Vermögen in der Pornoindustrie gemacht hatte und mittlerweile auch stolzer Inhaber des Gourmetlokals Vincobel's in München war, war ganz in seinem Element. Kochen und Backen waren neben seiner Frau Isobel seine große Leidenschaft, wie er gern augenzwinkernd betonte. Der Pornomillionär genoss es, Familie und Freunde mit den exquisitesten Gaumenfreuden zu verwöhnen. Heute hatte er daher seinen Mitarbeitern die Regie im Vincobel's überlassen, weil er sich am Nikolaustag ganz der Weihnachtsbäckerei widmen wollte. Seine Lieblingsmenschen mit Plätzchen und Lebkuchen zu versorgen, würde er sich unter keinen Umständen nehmen lassen. Das hatte er schon vor Wochen angekündigt.
Isobels und Vincents Domizil in Krindelsdorf machte dank Bauunternehmer Schreibers Effizienz große Fortschritte, dennoch würde es noch ein paar Wochen dauern, bis die beiden einziehen konnten. Wenn Tante und Onkel sich aufgrund von Dornbergs geschäftlichen Verpflichtungen in Krindelsdorf aufhielten, nahmen sie deshalb wie gehabt die Gastfreundschaft ihrer Nichte und ihres Mannes, Hauptkommissar Alexander Hirschberg, in Anspruch. Zur großen Freude ihres zehn Monate alten Sohnes Julian, der Tante Isobel und Onkel Vincent abgöttisch liebte. Der Kleine saß in seinem Babyhopser und begann, auf und ab zu hüpfen, als er seine Mutter erblickte. Susan sah das untere Milchzähnchen blitzen, das der Grund für die schlaflosen Nächte der letzten Zeit gewesen war.
»Ah, Susan! Da bist du ja!«, rief Vincent erfreut. »Konntest du dich ein wenig ausruhen?«
»Ich bin tatsächlich eingeschlafen«, lächelte sie. Isobel und Dornberg hatten ihr angeboten, sich um Julian zu kümmern, damit sie ein Nickerchen machen konnte. Ein zweiter Zahn kündigte sich an, was ihn besonders nachts quengeln ließ. »Hast du auch schön heia gemacht, mein Schatz?«, wollte sie wissen, als sie ihren Sohn aus dem Hopser hob.
»Bis vor einer halben Stunde«, übernahm Dornberg Julians Erwiderung, bevor er wie von der Tarantel gestochen herumfuhr. »Oh Gott! Die Himbeerherzen verbrennen ja schon fast!«
»Bitte nicht!«, flehte Susan. Die Butterplätzchen mit Himbeergelee waren ihre Lieblingsplätzchen.
»Gerettet!«, beruhigte sie Dornberg, während er das Blech aus dem Ofen holte. »Das sind jetzt die Letzten. Nur noch mit Gelee bestreichen und mit Puderzucker bestäuben, und dann bin ich fertig für heute.«
»Du backst ja auch schon seit einer Ewigkeit.«
»Seit knapp elf Stunden«, präzisierte Vincent mit einem Blick auf die Küchenuhr. Dornberg war heute Morgen fast wie ein richtiger Bäcker um halb fünf aufgestanden und hatte die Küche in Beschlag genommen. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, fand Susan, als sie um die zwanzig Plätzchendosen zählte.
»Wie viele Sorten hast du denn gebacken?«
»Zimtsterne, Kokosplätzchen mit Aprikosenmarmelade, Vanillekipferl, Spitzbuben und die Himbeerherzen. Wenn ich in den nächsten Tagen dazu komme, werde ich neben den Stollen noch die Schneeflöckchen backen«, kalkulierte er. »Aber es ist sehr viel zu tun im Vincobel's. Du glaubst ja gar nicht, wie viele Firmen bei uns ihre Weihnachtsfeier veranstalten«, freute er sich, und er deutete auf das Weinregal. »Susan, möchtest du mir bitte den blauen Zweigelt reichen? Es ist jetzt schon fast fünf Uhr, und ich finde, es ist an der Zeit für einen Punsch. Nach der ganzen Arbeit habe ich mir das auch redlich verdient.« Er ging zum Schrank und holte einen Topf. »Heute Abend wollte ich übrigens Spaghetti aglio e olio machen. Das geht recht schnell, und zum Nachtisch gibt es selbst gemachtes Zimteis.«
»Vincent, wenn du so weiterkochst, wird Alex sich von mir scheiden lassen und dich heiraten«, lachte Susan, die keine Ahnung hatte, wie Dornberg es schaffte, sich um die Weihnachtsbäckerei zu kümmern, Zimteis zu zaubern und obendrein die Küche aufzuräumen. Sie und ihr Mann genossen das Dornbergsche Verwöhnprogramm, musste sie zugeben. Die Hirschbergs legten, wenn sie nicht aufpassten, auch stets ein paar Pfunde zu, wenn Onkel Vincent bei ihnen tagelang den Löffel schwang.
»Da musst du dir keine Sorgen machen, Susan! Das würde Isobel zu verhindern wissen«, grinste er, während er den Punsch mit weihnachtlicher Gewürzmischung und einem Schuss Rum verfeinerte.
»Apropos: Wo ist Tante Isobel überhaupt?« Susan blickte sich suchend um.
»Nicole ist vorhin vorbeigekommen, und die beiden sind mit Picasso an die frische Luft gegangen. Dr. Moser und der Tierarzt haben doch betont, wie wichtig regelmäßige Bewegungseinheiten für ihn sind. Sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht«, erinnerte er sie mit erhobenem Zeigefinger. Der Mops musste dringend Gewicht verlieren. Nachdem Dornbergs Bekannte Antonia von Hohenburg auf der Eröffnungsgala des Vincobel's vor gerade einmal zwei Monaten ermordet worden war, hatten Isobel und er beschlossen, deren verzogenen Schoßhund Picasso zu adoptieren. Mit der Hilfe von Dr. Moser, einem Schweizer Hundepsychologen, waren die Dornbergs nun dabei, Picasso zu einem artigen Hund zu erziehen. Der Mops schien Mutterinstinkte in Susans Tante wachzurufen. Sie hatte gar den Architekten Lars Baumann und Bauunternehmer Schreiber gebeten, für ihn ein eigenes Spielzimmer in ihr Krindelsdorfer Anwesen zu integrieren. »Sie wollten einen Waldspaziergang machen, um über Isobels Dessouskollektion zu sprechen. Aber sie müssten jetzt eigentlich jede Sekunde zurück sein. Immerhin bekommt Julian jetzt seinen gefüllten Strumpf vom Nikolaus, nicht wahr?« Er nahm Susan ihren Sohn ab. Der Kleine jauchzte fröhlich, als Dornberg ihn in die Luft stemmte.
»Dann wird es jetzt also ernst mit Isobels Kollektion.«
Susans Tante war vor einigen Wochen auf die Idee gekommen, eine Dessouskollektion mit Mopsmotiven zu designen, der sie den Namen Picassous gegeben hatte. Die Lebensgefährtin von Landrat Seitlbach und erfolgreiche Dessousdesignerin Nicole Reinhardt zeigte sich begeistert von Isobels Vorschlägen. Viele ihrer Kundinnen besaßen eigene Hunde und würden hingerissen sein. Außerdem versuchten die geschäftstüchtigen Freundinnen Susan noch immer dazu zu überreden, für Reinhardts Suzie H-Kollektion selbst als Model zu posieren. Diese sei schließlich nur entstanden, weil Picasso Susans Lieblings-BH zerfetzt hatte. Isobel und Dornberg hatten darauf bestanden, Susan zu entschädigen und ihr von Reinhardt neue Dessous entwerfen zu lassen. Die Designerin hatte mit Begeisterung Maß genommen und letztlich beschlossen, eine ganze Linie mit dem Namen Suzie H daraus zu machen. Die von Susans Formen inspirierten Entwürfe könnten laut Isobel und ihrer Freundin schon bald Millionen von Frauen zieren. Die junge Mutter dachte jedoch nicht im Traum daran, sich halb nackt vor der Kamera zu präsentieren. Sie war Lehrerin, und man würde sie ganz sicher nicht weitgehend entblößt in Modemagazinen oder noch schlimmer auf Plakaten zu sehen bekommen. Wenn ihre Tante sich nun aber um ihre Picassous-Linie kümmerte, würde sie vielleicht endlich aufhören, ihre Nichte zu einem Karrierewechsel zu drängen. Zumindest hoffte Susan das inständig.
»Deine Tante kann es kaum erwarten, in Produktion zu gehen.« Dornberg klang überschwänglich. »Ich bin so unglaublich stolz auf sie! Ich finde ihren Geschäftssinn und ihre Kreativität in jeder Hinsicht stimulierend«, schwärmte der Pornotycoon. »Es soll schon im Januar losgehen, und im Frühjahr werden die Geschäfte beliefert. Und trotz der vielen Arbeit kümmert sich deine Tante auch noch rührend um Picasso. Er hat schon gut abgenommen, und sein Benehmen ist auch schon wesentlich besser geworden! Findest du nicht?«
»Er hat sich durchaus ein wenig gemacht«, antwortete Susan ausweichend. Noch immer mussten sie auf der Hut sein, denn Picasso schlug seine Zähne gern in ihre Wäsche und verging sich bevorzugt an Julians Stofftieren. Zumindest mit seinem geänderten Speiseplan aber schien er sich abgefunden zu haben. Von Hohenburgs Kost hatte ihm eine Fettleber beschert, doch seine Adoptiveltern waren fest entschlossen, das Leben des Mopses zu verlängern. Auch sein Tierarzt war mittlerweile mit Picassos Gesundheitszustand zufrieden.
»Seine Fortschritte sind wirklich beachtlich, meint der Tierarzt, und vor Weihnachten werden wir nochmals nach Zürich zu Dr. Moser fahren. Apropos: Wir feiern doch dieses Jahr alle gemeinsam in London, oder?« Dornberg war ein Familienmensch. Er freute sich wie ein Schneekönig darauf, mit Julian den Weihnachtsbaum zu schmücken.
»Ja, natürlich«, versicherte ihm Susan lächelnd. »Wir fliegen am 20., und Alex' Eltern kommen am 23. in London an. Mum und Dad haben auch den Weihnachtsbaum schon aufgestellt, aber schmücken darfst, wie abgemacht, du ihn mit Julian.«
»Hast du gehört, mein Süßer? Du wirst mit Onkel Vincent den Baum schmücken!« Der Kleine quietschte vor Vergnügen, als Dornberg seinen Bauch kitzelte. »Isobel und ich haben in Paris den perfekten Christbaumschmuck gefunden! Ihr werdet begeistert sein!«
»Susan?« Die Haustür fiel ins Schloss, und kurz darauf erschien Hirschberg in der Küche. Seine Wangen waren rot von der Kälte, und er rieb seine Hände aneinander, um sie aufzuwärmen. Eigentlich hatte er am Nikolaustag nicht arbeiten wollen. In der vergangenen Nacht war jedoch den österreichischen Kollegen ein flüchtiger Mörder, der seit Monaten mit internationalem Haftbefehl gesucht wurde, ins Netz gegangen. Hirschberg musste diesen in Empfang nehmen und dem Haftrichter vorführen.
»Das ging schneller, als ich gedacht hatte«, freute sich seine Frau und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss zu geben.
»Möchtest du eine Tasse Punsch, Alex? Du siehst aus, als könntest du einen vertragen«, urteilte Dornberg. »Es ist eiskalt draußen. Ich verstehe gar nicht, wo Isobel und Nicole so lange bleiben.« Er klang besorgt.
»Ist Isobel nicht hier?«, erkundigte sich Hirschberg, der seinen lachenden Sohn zur Begrüßung an sich drückte.
»Sie und Nicole sind mit Picasso im Wald spazieren«, ließ Dornberg ihn wissen, während er drei Tassen mit Punsch füllte.
»Und du, Vincent, warst auch fleißig, wie ich sehe.« Susan hörte die Bewunderung in der Stimme ihres Ehemanns. »Die Plätzchen sehen toll aus!«
»Wie wäre es, wenn ich uns einen Teller richte?«, schlug der Hobbybäcker vor. »Und sobald Tante Isobel hier ist, werden wir nachsehen, was der Nikolaus uns gebracht hat und Plätzchen essen«, versprach er an Julian gewandt. »Ich habe ein paar ganz weiche Plätzchen extra für ihn gebacken. Die sollte er eigentlich schon essen können.«
Bevor Susan oder ihr Mann etwas hätten entgegnen können, läutete Hirschbergs Smartphone.
»Du musst doch nicht noch mal weg?« Susan war enttäuscht.
»Es ist nur Isobel.« Er zeigte ihr das Display. »Vielleicht soll ich sie irgendwo abholen. Immerhin ist es schon recht dunkel und klirrend kalt. Isobel?« Er drückte auf den Lautsprecher.
»Bist du schon zurück in Krindelsdorf, Alex?«, konnte Susan ihre Tante schrillen hören, und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Die sonst so gelassene englische Lady schien außer sich.
»Ja, aber was ...«
»Du musst sofort in den Wald kommen, und ruf die Kavallerie!«
»Isobel, beruhige dich«, bat Hirschberg sie. »Was ist denn passiert? Geht es dir und Frau Reinhardt gut?«
»Uns ja, aber diesem Bäcker, diesem Herrn Gerstl nicht!«
»Ist er verletzt? Braucht er einen Krankenwagen?«
Susan griff nach dem schnurlosen Telefon auf dem Küchentisch und wechselte einen Blick mit ihrem Mann.
»Alex, wenn er einen Krankenwagen bräuchte, hätten wir längst einen gerufen. Dann würde ich jetzt ganz sicher nicht mit dir telefonieren.« Sie holte ungeduldig Luft. »Aber du solltest Dr. Meißner verständigen. Jemand scheint diesem Gerstl mit einer Axt den Schädel gespalten zu haben. Picasso, der Ärmste, hat ihn auf der Lichtung am See gefunden. Ich hoffe sehr, der grauenvolle Fund wirft ihn in seiner Entwicklung nicht um Längen zurück!«
»Großer Gott!«, entfuhr es Dornberg, und Susan konnte es ihm nicht verdenken.
»Ich kann mir zwar gut vorstellen, dass ihr mittlerweile durchgefroren seid, aber geht bitte zum Waldrand, und wartet dort bei der allein stehenden großen Tanne auf mich«, bat Hirschberg Isobel und Nicole Reinhardt. »Ich rufe Dr. Meißner und die Spurensicherung an und bin gleich bei euch.« Der Hauptkommissar legte auf und wandte sich an seine Frau. »Susan, weißt du, wo die Taschenlampe ist? Es ist schon ziemlich dunkel draußen, und ich muss in den Wald. Dass sich die beiden in dieser Finsternis noch dort herumtreiben, verstehe ich nicht«, fügte er murmelnd hinzu.
»Tante Isobel ist unerschrocken, und sie liebt nächtliche Waldspaziergänge. Sie hat mich als Kind weiß Gott wie oft nach Einbruch der Dunkelheit durch sämtliche Wälder der britischen Inseln geschleppt, um mir zu zeigen, dass man sich vor nichts fürchten muss«, erinnerte sich Susan kopfschüttelnd. »Die Taschenlampe ist im Garderobenschrank, oberstes Fach.«
»So sehr ich auch die Unerschrockenheit deiner Tante bewundere, muss ich Alex doch recht geben: Mir gefällt das nicht, dass Isobel und Nicole allein bei dem Wetter mit einer Leiche im Wald sind.« Dornberg klang nahezu panisch. »Was ist, wenn der Mörder noch in der Nähe ist, und ...«
»Die beiden warten bestimmt schon am Waldrand an der Straße, und ich bin jetzt sofort bei ihnen«, beschwichtigte ihn Hirschberg. »Der Mörder ist mit Sicherheit längst über alle Berge. Und wenn sich im Falle eines Falles jemand zur Wehr setzen kann, dann ist das deine Frau, Vincent.«
»Dein Wort in Gottes Ohr, Alex.« Dornberg öffnete den Küchenschrank, um eine Thermoskanne und zwei Plastiktassen herauszunehmen. »Nimm ein wenig Punsch für die beiden mit. So können sie sich aufwärmen, und den Schock besser verarbeiten.«
»Ist gut. Susan, könntest du bitte Frau Hansen verständigen?«, bat Hirschberg sie, als er die Thermoskanne entgegennahm. »Mit Dr. Meißner und der Spurensicherung telefoniere ich unterwegs.«
»Natürlich.«
»Julians ersten Nikolaustag hatte ich mir ganz anders vorgestellt«, seufzte Dornberg erschüttert, nachdem Hirschberg verschwunden war und Susan dessen Kollegin Hansen informiert hatte.
»Allerdings«, pflichtete Susan ihm bei. »Ich fürchte, es wird ein langer Abend für Alex.«
***
Hirschberg konnte Isobel und Nicole Reinhardt im Scheinwerferlicht seines Wagens unter der allein stehenden großen Tanne warten sehen, als er wenige Minuten später am Krindelsdorfer Forst ankam. Ein Wagen mit Anhänger war am Waldrand geparkt, und der Hauptkommissar vermutete, dass es sich um Gerstls Fahrzeug handelte. Dank der Räumfahrzeuge waren die Straßen frei, doch er zweifelte keine Sekunde daran, dass er sich im Wald durch den Schnee würde kämpfen müssen. Passend zum Nikolaustag wirbelten dicke Schneeflocken auf sie herab. Hirschberg zog den Reißverschluss seiner Winterjacke nach oben, als er aus dem Wagen stieg. Die Adventszeit schien in Krindelsdorf wenig besinnlich zu sein. Seine Gedanken wanderten zurück zu Anton Bierbichler, der letztes Jahr um diese Zeit ermordet worden war.
»Da bist du ja endlich, Alex!« Die englische Lady, die ausnahmsweise keine High Heels, sondern vernünftige Winterstiefel trug, kam mit einem missmutig knurrenden Picasso auf dem Arm auf ihn zu. »Nicole und ich holen uns hier noch den Tod! Und Picasso erst recht. Sein Immunsystem ist nach Jahren der Fehlfütterung noch immer nicht ganz auf der Höhe. Er sollte längst in seinem warmen Körbchen liegen!«
»Es ist schon gut, Isobel«, beschwichtigte sie Reinhardt, deren Hände in einem schwarzen Muff steckten. »So etwas Unverhofftes kann nun einmal passieren. Allerdings war der Anblick für uns doch ein ziemlicher Schock, Herr Hauptkommissar«, gestand die sonst wenig zimperliche Geschäftsfrau. »Ich habe mich noch gewundert, dass Fonsis Wagen noch hier war. Er schlägt jedes Jahr an Nikolaus seinen Weihnachtsbaum, müssen Sie wissen. Und das aber schon in aller Herrgottsfrühe. Ich habe Günther angerufen, er müsste auch jeden Moment hier sein. Er ist am Boden zerstört. Fonsi ist ... war einer seiner ältesten Freunde.«
Hirschberg stöhnte innerlich. Wenn Landrat Seitlbach hier auftauchte, würde er darauf bestehen, dass er und kein anderer die Ermittlungen übernahm. Die Kollegen von der Kripo würden also nicht ausrücken müssen und konnten den Nikolausabend vor dem Kamin verbringen, dachte er mit einem Anflug von Neid. Seitlbach lag gewiss viel daran, dass Kollegin Hansen und er den Mörder seines Freundes schnell hinter Schloss und Riegel brachten. Gerstl gehörte zur Lokalprominenz, im gesamten Landkreis besaß er mehrere florierende Bäckereien und Konditoreien und war außerdem Mitglied im Gemeinderat. Sein Tod würde sich schon bald wie ein Lauffeuer verbreitet haben.
»Es tut mir sehr leid, dass ihr warten musstet«, bedauerte Hirschberg und griff nach der Thermoskanne und den beiden Plastiktassen. »Vincent hat Punsch gemacht und mir welchen für euch mitgegeben. Dann könnt ihr euch aufwärmen.«
»Er ist ein so wundervoller Mann!« Isobels Stimmung hob sich sogleich, als Hirschberg die Tassen für sie und Reinhardt füllte.
»Du hast wirklich den perfekten Mann, Isobel. Ihr seid ohnehin ein Traumpaar«, stimmte die Dessousdesignerin ihr zu, und Picasso bellte. Wenn er die Gelegenheit hätte, würde der Mops ebenfalls eine Tasse Glühwein ausschlabbern, vermutete Hirschberg. Er erinnerte sich daran, wie Susan vor ein paar Tagen ein Glas umgestoßen hatte und der Wein über die Tischkante hinweg auf den Boden geflossen war. Noch bevor einer von ihnen die Pfütze hatte aufwischen können, hatte Picasso den Wein restlos aufgeleckt. Er käme ganz nach seiner Adoptivmutter, hatte Susan ihm ironisch zugeflüstert.
»Picasso, aus!«, rief sein Frauchen, als dieser versuchte, seine Schnauze in ihre Plastiktasse zu versenken. »Das letzte Mal hast du auf Wein Durchfall bekommen und in der Nacht vor unser Gästebett gemacht!«
»Was?« Hirschberg starrte sie angewidert an.
»Vincent und ich haben natürlich sofort sauber gemacht und alles desinfiziert.« Sie verdrehte die Augen. »Kein Grund, in Panik zu verfallen. So etwas kommt nun einmal vor, wenn man einen Hund hat. Das werdet ihr schon noch sehen, wenn Julian erst einmal sein eigenes Haustier bekommt.«
»Ja, das werden wir noch sehen«, erwiderte Hirschberg zähneknirschend. »Aber jetzt erzählt bitte«, forderte er sie auf. »Ihr habt also Alfons Gerstls Leiche gefunden? Und ihr seid sicher, dass er mit einer Axt ermordet worden ist?«
»Davon gehen wir stark aus«, nickte Reinhardt. »Die Axt liegt neben ihm und ist zwar schneebedeckt, aber ich könnte mir vorstellen, dass man im Labor trotzdem Spuren seines Bluts darauf findet. An seinem Schädel klafft außerdem eine riesige Wunde.« Sie schüttelte sich und nahm einen Schluck Punsch.
»Ihr habt nichts angefasst, nehme ich an? Und auch Picasso hat nicht ...«
»Wo denkst du denn hin?«, brach es ungeduldig aus Isobel heraus. »Glaubst du etwa, ich hätte ihn sein Bein an Gerstls gefrorenen Körper oder der Axt heben lassen? Ich möchte ihn doch gar nicht erst in der Nähe eines Mordopfers haben! Das ist nicht gut für ihn!«
»Natürlich würdest du das nicht, aber es hätte immerhin sein können, dass Picasso Gerstl doch näher gekommen ist, als es dir lieb ist«, schoss Hirschberg zurück, bevor er sich an Reinhardt wandte. »Frau Reinhardt, würden Sie bitte hier auf meine Kollegin Hansen, Dr. Meißner und die Spurensicherung warten und sie dann zum Tatort führen? Sie sind längst unterwegs und müssten schon bald hier sein. Die Straßen sind frei.«
»Natürlich, Herr Hauptkommissar«, versprach Reinhardt. »Ich wollte ohnehin auch nach Günther Ausschau halten.«
»Ich danke Ihnen. Isobel, würdest du mir bitte zeigen, wo ihr Herrn Gerstl gefunden habt?«
»Wir müssen zu der Lichtung im Wald.« Sie bedeutete ihm, mit der Taschenlampe voranzugehen. »Er liegt am Ufer des zugefrorenen Sees. Weiß der Himmel, was er dort gewollt hat!«
»Das werden wir schon herausfinden, Isobel. Viel mehr würde mich allerdings interessieren, wer die Axt gegen ihn erhoben hat.« Hirschberg richtete den Strahl der Taschenlampe geradeaus, damit sie nicht vom Weg abkamen. Um auf die Lichtung zu gelangen, mussten sie genau dem Pfad folgen. Bei dieser Dunkelheit und dem heftigen Schneefall war das kein allzu einfaches Unterfangen. Wenige Minuten später erreichten sie zu Hirschbergs Erleichterung ihr Ziel, ohne sich verlaufen zu haben, und Picasso begann zu bellen.
»Hörst du, Alex? Der Ärmste steht noch immer unter Schock.« Isobel klang gequält. »Er hat so gute Fortschritte gemacht, und jetzt kann ich nur hoffen, dass er nicht retraumatisiert worden ist! Gott sei Dank haben wir vor Weihnachten noch einen Termin bei Dr. Moser! Ich kann dir sagen, er ist die 200 Schweizer Franken wirklich wert!«
»Etwa pro Sitzung?«, fragte Hirschberg. »Du gibst einen solchen Betrag für nichts und wieder nichts aus?« Die Worte platzten aus ihm heraus, ohne dass er sich hätte bremsen können.
»Für nichts und wieder nichts? Dr. Moser hat wahre Wunder an Picasso gewirkt!« Isobels Stimme triefte vor Empörung, und sie nahm einen Schluck Punsch. »Er hat bereits ordentlich abgenommen, seine Werte haben sich stabilisiert, und er ist viel ausgeglichener. Dass du seine positive Entwicklung nicht bemerkst, spricht wieder einmal Bände! Du bist ein hervorragender Ermittler, aber du musst dich auch mehr um dein Privatleben kümmern und um das, was um dich herum vor sich geht!«
»Erst heute Morgen hat Picasso eines von Julians Babyschühchen bis zur Unkenntlichkeit zerkaut«, erinnerte Hirschberg sie ungeduldig. »Und weißt du, wie viele Küchentücher er auf dem Gewissen hat, seit ihr hier seid?«
»Er ist doch noch lange nicht austherapiert.« Isobel zuckte die Schultern. »Die enorme emotionale Verwahrlosung, die er bei seinem früheren Frauchen erfahren hat, löst sich nicht über Nacht in Luft auf! Das nimmt einige Zeit in Anspruch. Geduld, Zuwendung und liebevolle Strenge ist das, was er braucht!«
»Und ganz viele Schweizer Franken.«
»Hör nicht auf den Griesgram, Picasso. Du bist auf dem besten Weg. Dass du den armen Mann heute gefunden hast, war hervorragende Arbeit! Eines Tages wird er noch ein richtig guter Wach- und Spürhund und wird so manchen Polizeihund in den Schatten stellen«, tönte die englische Lady im Brustton der Überzeugung.
»Euch ist nichts weiter aufgefallen?« Hirschberg wechselte das Thema und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf den reglosen Körper vor sich auf dem Boden.
Gerstl lag auf dem Rücken, und seine weit aufgerissenen Augen starrten ins Leere. Das Entsetzen stand ihm noch im Tod ins Gesicht geschrieben. Der Mörder hatte wohl das Überraschungsmoment auf seiner Seite gehabt, spekulierte Hirschberg. Der Bäcker hatte sich nicht mehr zur Wehr setzen können, als sein Henker die Axt geschwungen hatte. Diese lag neben ihm und wurde wie die Leiche weiter mit Schnee berieselt. Sollte das Labor, wie Reinhardt vermutete, Blut auf der Schneide finden, bestand auch für Hirschberg kein Zweifel, dass es sich um Gerstls handeln musste. Er ging in die Hocke und nahm die Wunde an der Seite seines Kopfes in Augenschein. Zwar musste er Dr. Meißners Urteil abwarten, aber für ihn sah es ganz danach aus, als sei die Schneide der Axt seitlich in die Schläfe eingedrungen. Hirschberg glaubte nicht, dass man außer dem Blut verwertbare Spuren auf der Axt finden würde. Der Täter hatte mit Sicherheit schon aufgrund der Kälte Handschuhe getragen, und womöglich war die Axt durch viele Hände gegangen.
»Glaubst du, jemand ist ihm in den Wald gefolgt, als er einen Weihnachtsbaum schlagen wollte?«, fragte Isobel, als er sich wieder aufrichtete und herannahende Stimmen hörte. Die Kollegen schienen eingetroffen zu sein.
»Das mag durchaus sein«, nickte er. »Oder jemand wusste, was er vorhatte, und hat ihm aufgelauert.«
»Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, dass ein Fluch auf diesem Fleckchen Erde lastet, der die Dorfbewohner dazu bringt, sich gegenseitig umzubringen.« Isobel fröstelte theatralisch.
»Chef.« Hansen stapfte, gefolgt von Dr. Meißner und den Kollegen der Spurensicherung, auf die Lichtung. Nicole Reinhardt gesellte sich sogleich zu Isobel, um ihr Punsch nachzuschenken, während ihr Lebensgefährte, Landrat Seitlbach, der ebenfalls eingetroffen war, auf Hirschberg zusteuerte.
»Ich kann es nicht glauben.« Er klang fassungslos, und noch bevor Hirschberg etwas erwidern konnte, erhellte die Tatortbeleuchtung die Lichtung. Seitlbach erstarrte, als er seinen alten Freund erblickte. »Um Gottes willen!«, brach es aus ihm heraus. Reinhardt erschien hinter ihrem Lebensgefährten und reichte ihm den Becher Glühwein. »Das ist auch noch seine eigene Axt.« Der Landrat deutete auf die Tatwaffe. »Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich sie ausgeliehen habe«, brabbelte Seitlbach fassungslos vor sich hin. »Wer macht denn so etwas?«
»Es tut mir sehr leid, Herr Seitlbach«, versicherte ihm Hirschberg aufrichtig. »Ich weiß, dass Sie sehr gut mit Herrn Gerstl befreundet waren.«
»Von klein auf«, wisperte der Landrat, nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte. »Als wir Kinder waren, sind wir jeden Winter hier auf dem See Schlittschuh gelaufen. Oft war seine Mutter auch dabei. Er und Traudl haben ein sehr enges Verhältnis. Sie wird am Boden zerstört sein. Ich weiß gar nicht, wie ich ihr das beibringen soll.« Er blickte Hirschberg in die Augen. »Herr Hauptkommissar, Sie müssen denjenigen finden, der das getan hat! Und kommen Sie mir bloß nicht damit, dass Sie irgendwelche Kollegen von der Kripo rufen wollen! Wenn hier jemand ermittelt, dann nur Sie und Ihre Kollegin! Ich bin morgen ohnehin mit Herrn Krämer zum Mittagessen verabredet, da werde ich das mit ihm besprechen.«
»Sie treffen sich mit ihm zum Essen?« Hirschberg gefiel es nicht, wenn der Herr Landrat sich mit dem LKA-Präsidenten traf. Er wusste, dass Isobel und Dornberg seine Karriere vorantreiben wollten, und er verabscheute Vetternwirtschaft.
»Günther und er haben viel zu besprechen«, schaltete sich die englische Lady wie auf Knopfdruck dazwischen. »Und es wird ganz sicher dein Schaden nicht sein.«
»Isobel ...«, hob Hirschberg an, und er hörte, wie Hansen sich überrascht räusperte. Die Kommissarin musste Isobels Worte gehört haben und warf Hirschberg einen fragenden Blick zu, als dieser sich zu ihr drehte.
»Günther, der Verlust deines Freundes tut mir unendlich leid«, bedauerte Isobel an den Landrat gewandt. »Aber du kannst dir sicher sein, dass Kommissarin Hansen und Alex alles in ihrer Macht Stehende tun werden, um den Mörder schnellstens zu fassen.«
»Das weiß ich doch, Isobel«, versicherte ihr Seitlbach. »Ich habe bedingungsloses Vertrauen in die beiden.«
»Ich muss Ihnen den Herrn Hauptkommissar leider abspenstig machen, fürchte ich.« Hansen lächelte entschuldigend und bedeutete ihm, ihr zu folgen.
»Das war Rettung in letzter Sekunde, Frau Kollegin«, dankte er ihr leise.
»So wie sich das anhört, sind wir vielleicht nicht mehr allzu lange Kollegen«, entgegnete sie abschätzend. »Aber ehrlich gesagt finde ich, dass Sie sich eine Beförderung wirklich verdient hätten.«
»Aber nicht auf diese Weise«, wehrte er ab. »Nicht, wenn die Tante meiner Frau nur ihren Snobismus befriedigt sehen will.«
»Ich verstehe Sie sehr gut, Chef! Glauben Sie mir, ich arbeite verdammt gern mit Ihnen zusammen, aber bevor irgendein dahergelaufener, unfähiger Bürokrat in eine hohe Position kommt, wäre es doch erheblich besser, wenn die Wahl auf Sie fiele.«
»Danke, Frau Hansen. Aber noch bin ich Hauptkommissar, und wir haben einen Mord aufzuklären.«
»Das wird nicht allzu einfach.« Doris Michels von der Spurensicherung kam auf sie zu. »Es sieht nicht danach aus, als hätte der Täter nennenswerte Spuren hinterlassen«, erstickte sie jegliche Hoffnung auf Hinweise im Keim. »Dazu kommt, dass der Schneefall etwaige Fußspuren zunichtegemacht hat. Die Axt ist bereits sichergestellt, aber ich glaube kaum, dass sie Sie groß weiterbringen wird.«
»Es ist also alles so aussichtsreich wie immer, wenn sich ein Mord in Krindelsdorf ereignet.« Die Ironie in Hansens Stimme war nicht zu überhören.
»Genau das habe ich schon befürchtet«, seufzte Hirschberg und ging auf den Rechtsmediziner zu. »Können Sie mir etwas Erhellendes sagen, Dr. Meißner?«
»Bedaure.« Der Angesprochene schloss seinen Koffer und richtete sich auf. »Die Axt ist definitiv die Tatwaffe, aber das haben Sie sicher bereits vermutet. Der Todeszeitpunkt ist wegen der Temperatur und der Witterung schwer einzuschätzen. Aber vielleicht können Sie ja herausfinden, wann er vorhatte, in den Wald zu gehen«, schlug er vor und warf suchende Blicke um sich. »Wenn wir davon ausgehen, dass er einen Baum fürs Fest schlagen wollte, dann ist er wohl nicht mehr dazu gekommen. Also hat man ihn vermutlich kurz nach seiner Ankunft hier im Wald getötet. Genaueres kann ich natürlich erst nach der Autopsie sagen, aber auf den ersten Blick deutet nichts auf einen Kampf hin. Entweder hat er dem Täter die Axt freiwillig ausgehändigt, oder er hat sie kurz abgelegt, und der Mörder hat die Gunst des Augenblicks genutzt und sie sich gegriffen.«
»Er muss sich sicher gefühlt haben«, überlegte Hirschberg.
»Mit einem derart brutalen Angriff hat er bestimmt nicht gerechnet«, stimmte Meißner ihm zu und winkte die Sanitäter zu sich. »Ich lasse ihn jetzt in die Rechtsmedizin bringen. Sie bekommen meinen Bericht so schnell wie möglich.«
»Danke, Dr. Meißner. Ich ...«
»Herr Hauptkommissar!« Seitlbach kam mit gezücktem Smartphone auf ihn zu. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. »Das war Traudl Gerstl, Alfons Mutter. Sie hat mich alarmiert, weil ihr Sohn noch immer nicht nach Hause gekommen ist. Sie ist bei ihrer Schwiegertochter und ihrer Enkelin, denn sie feiern jedes Jahr Nikolaus zusammen und stellen den Baum auf. Vroni und Daniela sind auch gerade erst nach Hause gekommen und wundern sich, wo Alfons ist. Ich habe sie vertröstet und gesagt, dass ich gleich zurückrufe, und ...«
»Sagen Sie Herrn Gerstls Familie bitte, dass meine Kollegin und ich gleich bei ihnen sein werden.« Der Hauptkommissar ließ die Schultern hängen. Anstatt mit seinem Sohn die Geschenke vom Nikolaus auszupacken, musste er den Angehörigen des Bäckers die schrecklichste aller Nachrichten überbringen.
»Ich werde Sie begleiten«, bestimmte Seitlbach. »Ich kenne die Familie, seit ich denken kann, und ich möchte in dieser schweren Stunde bei ihnen sein.«
»Das ist keine schlechte Idee«, stimmte Hirschberg zu. Seitlbachs Anwesenheit würde der Familie vielleicht ein wenig Trost spenden. »Aber bitte lassen Sie uns auch die unangenehmen Fragen stellen. Wir machen nur unsere Arbeit, wie Sie wissen.«
»Ich werde Ihnen keine Steine in den Weg legen«, versprach Seitlbach.
Die Arbeit der Spurensicherung war noch in vollem Gang, als Hirschberg, Hansen und Seitlbach sich zusammen mit Isobel und Reinhardt ihren Weg durch den Schnee aus dem Wald bahnten. Bevor sie Gerstls Familie die schlimme Nachricht überbringen mussten, wollten sie die beiden durchgefrorenen Damen mit Mops bei den Hirschbergs absetzen. Wenigstens Isobel und ihre Freundin konnten den Rest des Nikolausabends in der warmen Stube bei Plätzchen und Punsch verbringen und mit Julian spielen, dachte der Hauptkommissar wehmütig. Vermutlich würde sein Sohn bereits im Bett sein, wenn er endlich nach Hause kam. An Tagen wie diesen hasste er seinen Beruf, den er doch sonst so leidenschaftlich gern ausübte. Verbrechern das Handwerk zu legen, lag ihm im Blut. Er würde auch den Mörder des Bäckers zur Strecke bringen.
Gerstls großes Einfamilienhaus befand sich am Ortsausgang von Krindelsdorf. Ganz in der Nähe des Ortes, wo Isobel und Dornberg vor einem Jahr die Leiche des Lehrers Anton Bierbichler gefunden hatten. Auch Feistls Biobauernhof war nicht allzu weit entfernt.
Frau Dachshofer, die hiesige Naturheilkundlerin, hatte ihm einmal erzählt, dass Gerstl sich vor zwanzig Jahren auf diesem Grundstück sein imposantes Heim gebaut habe. Früher habe dort ein kinderloses Ehepaar einen Hof bewirtschaftet, der jedoch im Zweiten Weltkrieg von Bomben zerstört worden war. Laut Dachshofer sei das Ehepaar entfernt mit Gerstls Mutter verwandt gewesen, weshalb das Grundstück letztlich an die Familie des Bäckers gefallen war.
Hirschberg atmete die kalte Winterluft tief ein, als er aus seinem Wagen stieg, und betrachtete einen Moment lang die Fassade des Hauses. Hinter Gerstls Domizil, wo sich einst die Ställe befunden hatten, gab es nun laut Dachshofer einen großen Garten mit Pool. Auch sonst hatte das von Martin Schreiber gebaute dreistöckige Gebäude nichts Landwirtschaftliches mehr an sich. Die weiß gestrichenen Außenwände schimmerten im Licht der Straßenlaternen, während in den unteren Fenstern Lichterketten die Bewohner und vorbeigehende Spaziergänger in Weihnachtsstimmung versetzten. Eine Natursteinmauer umgab Gerstls Haus, doch Seitlbach signalisierte Hirschberg und Hansen, nicht zu warten, nachdem sie geläutet hatten. Der Landrat drückte das schmiedeeiserne Eingangstor auf und ging auf die Haustür zu. Warme Luft drang nach draußen, als Vroni Gerstl ihnen öffnete. Die Aromen von Glühwein und Weihnachtsbäckerei lagen in der Luft, und Hirschberg lief das Wasser im Mund zusammen. Sein Magen begann zu knurren, und er hoffte, dass er seine pietätlosen Körperfunktionen während des Gesprächs im Zaum würde halten können.
»Günther.« Gerstls Frau blinzelte überrascht. Furcht flackerte in ihren blaugrünen Augen auf, als sie die beiden Ermittler erkannte. »Ist etwas passiert? Ist etwas mit Fonsi?« Sie wich intuitiv ein paar Schritte zurück, als könne sie so der unvermeidlichen Wahrheit ausweichen.
»Vroni, wir gehen besser erst einmal ins Haus«, schlug Seitlbach sanft vor.
Sie öffnete den Mund, doch kein Laut wollte über ihre Lippen kommen. Stattdessen nickte sie und ließ sie ein. Die Wohnzimmertür links vom Windfang stand offen, und Hirschberg konnte den Adventskranz auf dem Wohnzimmertisch sehen. Kleine rote Äpfel und braune Tannenzapfen steckten in den Tannenzweigen. Er erinnerte sich, genau solche Kränze und Weihnachtsgestecke in Frau Schätzels Gärtnerei gesehen zu haben. Zwei der roten Kerzen brannten. Im offenen Kamin neben der Tür prasselte ein Feuer, und die Flammen spiegelten sich im Glas der Terrassentür und der gläsernen Vitrine. Mit ihrem Erscheinen schien jegliche Adventsstimmung zu verpuffen. Eine ältere Frau, deren langes weißes Haar im Nacken zu einem Dutt zusammengefasst war, erhob sich, als ihr Blick auf Seitlbach fiel. Hirschberg kannte Gerstls Mutter vom Sehen. Oft hielt sie sich in der Bäckerei ihres Sohnes auf. Sie trug ein schlichtes dunkelblaues Kleid und beige Puschen. Ihr ungeschminktes Gesicht war von Falten durchzogen, und sie presste ihre Lippen aufeinander. Hirschberg konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Traudl Gerstl ahnte, weshalb sie hier waren. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände.
»Traudl, Günther ist hier, und ...«, hob ihre Schwiegertochter unnötigerweise an.
»Damit habe ich gerechnet. Ich habe ihn schließlich angerufen, Vroni. Ich spüre doch, dass mit meinem Fonsi etwas nicht stimmt.« Traudls Stimme war wie ein Krächzen. »Du wolltest ja nichts unternehmen.« Es klang anklagend, und Hirschberg horchte auf. Er blickte verstohlen zu seiner Kollegin. Auch Hansen schien der Vorwurf nicht entgangen zu sein.
»Dein Sohn ist erwachsen«, seufzte Vroni Gerstl ungeduldig und atmete angestrengt. »Das musst du endlich einsehen. Er muss weder dich noch mich über jeden seiner Schritte auf dem Laufenden halten. Und nur, weil er später als geplant nach Hause kommt, heißt das noch lange nicht, dass ...«
»Doch! Das tut es! Günther, sag endlich, was mit meinem Fonsi ist!« Gerstls Mutter war außer sich. Ihre Stimme bebte.
»Frau Gerstl ...«, begann Hirschberg.
»Heißen Sie Günther?«, fuhr sie ihn an, bevor sie sich erschrocken die Hand vor den Mund hielt. »Ich ... Es tut mir leid. Das ...«
»Schon gut, Frau Gerstl«, beschwichtigte Hirschberg sie, während Seitlbach mit raschen Schritten auf sie zuging. Er legte seinen Arm um ihre Schultern.
»Traudl, bitte setz dich«, bat er sie und zog sie mit sich auf die Couch. »Es fällt mir so unfassbar schwer, dir das zu sagen, aber Fonsi ist etwas ganz Fürchterliches zugestoßen. Ich kann es selbst noch gar nicht begreifen.« Hirschberg konnte das Entsetzen in seinen Zügen sehen. Der Mord an seinem Jugendfreund erschütterte den sonst so robusten Landrat sichtlich.
»Ich wusste es«, flüsterte Traudl. »Eine Mutter spürt so etwas.«
»Was ...« Vroni Gerstl stockte und sank wie in Zeitlupe auf einen Sessel am Kamin.
»Es tut uns wirklich unglaublich leid, aber wir müssen Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann beziehungsweise Ihr Sohn auf der Lichtung im Wald, dort am See, tot aufgefunden worden ist.« Hirschberg blickte zwischen Schwiegertochter und Mutter hin und her.
»Papa ist tot?«
Er drehte sich um. Eine blonde junge Frau, die Vroni Gerstl wie aus dem Gesicht geschnitten war, stand wie erstarrt im Türrahmen. Ihre Lippen bebten, und sie war bleich. Einen Moment lang fürchtete Hirschberg, sie könne jeden Augenblick ohnmächtig werden. Hansen lief auf sie zu und führte sie zur Couch.
»Sie sollten sich besser auch setzen.« Hansens Stimme klang sanft.
»Aber wie ist das denn passiert?«, wollte Gerstls Tochter wissen und starrte die Ermittler fassungslos an. »Papa wollte doch nur einen Christbaum schlagen wie jedes Jahr, und ...« Sie blickte aufgescheucht zu Hirschberg. »Hat er sich dabei verletzt? Hätte ich vielleicht etwas tun können, wenn ich bei ihm gewesen wäre? Er wollte immer, dass ich mitkomme. So wie früher. Aber ich hatte keine Lust. Ich wollte lieber ausschlafen, und ...«
»Es ist nicht Ihre Schuld«, fiel der Hauptkommissar ihr ins Wort. »Ich glaube sogar, dass es das Beste war, dass Sie Ihren Vater nicht in den Wald begleitet haben.«
»Wie meinen Sie das?« Gerstls Mutter klang atemlos. Sie griff nach Seitlbachs Hand.
»Traudl, was der Herr Hauptkommissar sagen möchte, ist, dass Fonsi keines natürlichen Todes gestorben ist«, erklärte dieser ihr sanft.
»Was?«, rief Vroni Gerstl. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. »Soll das heißen, dass ...«
»Es ist sicher ein Schock für Sie, aber allem Anschein nach ist Ihr Mann mit seiner eigenen Axt getötet worden«, kam Hirschberg dem Landrat zuvor.
Gerstls Tochter hielt sich die Hand vor den Mund, sprang wie von der Tarantel gestochen auf und rannte aus dem Raum. Kurz darauf hörten sie wie die Toilettentür in der Diele geöffnet und geschlossen wurde. Ein derartiger Schock ließ den Magen vieler Angehöriger rebellieren, wusste Hirschberg.
»Bleiben Sie hier. Ich kümmere mich um Ihre Tochter, Frau Gerstl.« Hansen ging ihr nach, als Vroni Gerstl auf wackligen Beinen aufzustehen versuchte.
»Jemand hat meinen Fonsi umgebracht?«, hakte die Mutter des Opfers bestürzt nach, während ihre Schwiegertochter unkontrolliert zu zittern begann.
»Das glaube ich nicht«, wisperte Vroni Gerstl und schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein ... Ich ... Das muss ein Irrtum sein, und ...«
»Leider nein, Frau Gerstl.« Hirschberg war tatsächlich erleichtert, Seitlbach an seiner Seite zu haben. In solchen Situationen gab ein vertrautes Gesicht den unter Schock Stehenden Halt. Der Landrat drückte Traudls Hand.
»Ich habe ihn gesehen, Vroni«, kam er Hirschberg zu Hilfe. »Jemand hat Fonsi getötet. Mit seiner eigenen Axt.« Auf seine Worte hin begann Traudl Gerstl zu schluchzen, und sie sank an Seitlbachs Schulter in sich zusammen. Er hielt sie und redete beruhigend auf sie ein, als Hansen mit Gerstls Tochter zurück ins Wohnzimmer kam. Die Kommissarin führte sie zur Couch.
»Ich hätte mit Papa in den Wald gehen sollen«, warf die junge Frau sich vor. »Ich hätte bei ihm sein sollen, ich ...«
»Daniela, es ist nicht deine Schuld!«, widersprach Seitlbach ihr. »Du hättest nichts verhindern können und wärst am Ende selbst in Gefahr geraten. Dann wärst du jetzt vielleicht auch ...« Seine Stimme verebbte, als Traudl laut aufschluchzte.
Die Schuld des Überlebenden, dachte Hirschberg traurig bei sich. Es war offensichtlich, dass Daniela Gerstl ihren Vater geliebt hatte. Sie mussten denjenigen, der ihn ihr genommen hatte, unbedingt finden, damit sie den Verlust besser würde verarbeiten können. Er fuhr herum, als es an der Haustür läutete.
»Erwartet ihr Besuch?«, erkundigte sich Seitlbach.
»Das muss Erich sein«, vermutete Vroni Gerstl. »Er kommt jedes Jahr an Nikolaus abends auf einen Glühwein zu uns. Als Daniela klein war, hat er immer den Nikolaus gespielt, und ...« Sie schluckte und schloss die Augen.
»Ich mache auf.« Hansen ging zur Tür und kam kurz darauf gefolgt von einem hochgewachsenen Mann zurück ins Wohnzimmer. Sein dunkles, hie und da von grauen Strähnen durchzogenes Haar war vom Winterwind zerzaust. Seine braunen Augen blickten verwirrt umher, während er den Reißverschluss seiner dunkelblauen Winterjacke aufzog.
»Was ist denn hier los?«
»Erich, Fonsi ist tot.« Vroni Gerstl schluchzte auf, und Tränen kullerten über ihre Wangen.
»Fonsi ist ...« Der Neuankömmling richtete seine Augen auf Seitlbach. »Günther, was in Gottes Namen ist ...«
»Ich bin Hauptkommissar Hirschberg«, meldete Hirschberg sich zu Wort, bevor Seitlbach etwas erwidern konnte. »Herr ...«
»Draxl. Erich Draxl. Und ich weiß sehr genau, wer Sie sind. Hier am Ort kennt Sie doch so gut wie jeder«, fügte er geflissentlich hinzu. »Was um Gottes willen ist denn passiert?« Er ging langsam auf die Couch zu und setzte sich neben Traudl, deren Tränen vorerst versiegt waren. Statt zu weinen, starrte sie wie betäubt vor sich hin.
»Erich, Fonsi ist im Wald mit seiner Axt ermordet worden«, klärte Seitlbach ihn mit Grabesstimme auf.
»Was? Aber wer ...«
»Das wissen wir noch nicht, Herr Draxl«, antwortete Hirschberg. »Ich weiß, dass das jetzt ungemein schwer für Sie ist, aber es wäre gut, wenn Sie uns ein paar Fragen beantworten könnten.«