Tatort Glashaus - Walther Stonet - E-Book

Tatort Glashaus E-Book

Walther Stonet

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Beschreibung

TJ Brühlsdorf, beurlaubter Kriminalhauptkommissar und Graf aus altem vermögendem Adel, hat einen Anschlag der N’drangheta auf die Kronzeugen eines Mafia-Prozesses schwer verletzt überlebt. In seiner Villa in Tübingen erholt er sich, als der ermittelnden Oberstaatsanwältin und der neuen Leiterin der Mafia-Sonderkommission eine Frauenleiche bzw. die dazugehörige Akte auf den Tisch fallen. Schnell begreifen sie, dass sie auf die Kompetenz des Grafen angewiesen sind und holen ihn zurück ins Team. Während sich die scharf bewachte Villa zu einem geheimen Einsatzzentrum wandelt, entflammt ein erneuter blutiger Kampf mit den kalabresischen Bossen, der in der Wurmlinger Kapelle schließlich eine entscheidende Wendung nimmt.

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Walther Stonet

Jahrgang 1956, lebt mit seiner Familie in Metzingen. Volkswirtschaftsstudium in Mannheim (Diplom). Selbstständig und leitend in der IT-Branche tätig. Ab dem 14. Lebensjahr Liedtexte und Gedichte, später Kurzgeschichten, Essays, Rezensionen. Zwei Gedichtbände (2014 und 2021). Ab 2015 Herausgabe Blog und Magazin zugetextet.com. Zwei SF- und ein politischer Cybercrime-Roman (2021/2022) im VSS-Verlag, Frankfurt/Main.

Walther Stonet

TATORT GLASHAUS

Krimi

Oertel+Spörer

Dieser fiktive Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2022

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehaltenTitelbild: © Adobe Stock

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Bernd Storz

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-144-2

Besuchen Sie unsere Homepage und informierenSie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

»Unser Leben ist voller Mittelbarkeiten.Nur die Einsamkeit, die ist unmittelbar, denn sie kommt unvermittelt.«

Tankred-Jürg Graf BrühlsdorfKriminalhauptkommissar a. D.

I.

1

Tankred-Jürg Gustav Adolf Graf Brühlsdorf, genannt TJ, war zu einem Teil Philosoph. Zu einem weiteren Teil war er Kriminalhauptkommissar und als dieser bei vollen Bezügen wegen einer schweren Verletzung beurlaubt. Die Amtsärztin und auch er selbst waren sich noch nicht klar, ob er in den aktiven Polizeidienst zurückkehren können würde oder wollte. Zu einem dritten Teil war er von blauem Blut und ziemlich wohlhabend, um nicht zu sagen steinreich. Er hätte nie arbeiten müssen, wenn er nicht gewollt hätte.

Wollte er aber.

Als einzigem spätgeborenem Sohn alten Adels und eines Vaters, der ein ausgezeichneter Geschäftsmann gewesen war und selbst schon äußerst unkonventionell, was sich unter anderem darin ausdrückte, dass er seine spätere Mutter freite und ehelichte, die zwar adelig, aber das schwärzeste aller möglichen Schafe und völlig verarmt und anschließend total enterbt war, als sie einander verfielen. Es wurde eine Liebe bis ins Grab, und was für eine! Last, but not least – oder auch zu guter Letzt – war TJ das, was man früher einen Hagestolz nannte: kurz vor vierzig, keinen Partner, weder männlich noch weiblich noch divers, um korrekt zu gendern.

Und keinen in Aussicht.

Seine Verletzungen waren gerade verheilt. Oberflächlich. Schwere Schussverletzungen brauchten lang, bis man ihre Folgen überwunden hatte. Schmerzen waren sein dauernder Begleiter. Auch nachts, nicht nur tagsüber. Mit einem Bauchsteckschuss, einem Durchschuss des linken Oberarms, einem Durchschuss des rechten Unterschenkels, bei dem das Schienbein zerschmettert wurde, und einem Kopfschuss, der zum Glück das Gehirn, Augen und Gehör verschont hatte, dafür aber sein linkes Jochbein pulverisiert, hatte man danach seinen richtigen Spaß. Von den Fleischwunden und sonstigen Blessuren einmal abgesehen: Es dauerte eine lange Zeit und bedurfte mehrerer OPs, um ihn wieder aufrecht und einigermaßen ansehnlich durch die Gegend hinken zu lassen. Es würde noch weitere OPs bedeuten und viele Mobilisierungsrehas, um ihn körperlich wieder auf Linie zu bekommen. Wenigstens fast. So fit wie vorher würde er nie wieder sein. Das war ihm klar.

Die Psyche stand auf einem anderen Blatt. Der polizeipsychologische Dienst in Form einer ebenso klugen wie patenten Psychologin mit viel Erfahrung bei ähnlichen Verletzungen und Traumata hatte ihm eine hohe Resilienz bescheinigt. Seine Flashbacks hatte sie nicht damit beseitigt. Da sie recht milde ausfielen, war eine medikamentöse Behandlung glücklicherweise nicht angezeigt. Aber Gesprächstherapie schon.

Doch dazu bedurfte es der geeigneten Person mit freien Terminen. Sein Zustand war nicht als dringlich eingestuft. Es gab viel zu wenig Therapeuten da draußen. Und da er draußen war und nicht mehr im aktiven Polizeidienst, meinte draußen genau das, was es bedeutete: draußen. Der polizeipsychologische Dienst war nicht mehr zuständig. Er hatte sich das in seiner Konsequenz telefonierend vor Augen geführt und dann entschieden, das mitzunehmen, was ging. Therapietermine während der Rehas. Mehr gab es eben erst einmal nicht. Wenigstens nicht in den kommenden sechs bis neun Monaten. Er stand auf einigen Wartelisten. Mal sehen, wie lange er dort stand. Und wartete.

Sich als Estragon und Wladimir in einem zu fühlen, bereitete ihm nach einer gewissen Zeit fast diebisches Vergnügen. Die Welt war nichts als absurdes Theater – Beckett hatte recht. Es wäre allemal wirtschaftlich günstiger zu therapieren, als den Ausfall des Betroffenen für das Erwerbsleben finanziell zu kompensieren. Oder aber die Folgekosten der sozialen Unverträglichkeiten eines an PTBS-Erkrankten auszugleichen – wenn man diese denn ausgleichen könnte. Bei ihm, gestand er sich nüchtern und beinahe ein wenig bedauernd ein, gab es an privatem Umfeld nicht viel zu zerstören. Er hatte fast keines. Die Eltern waren lange tot. Eine Partnerschaft, wie gesagt, gab es nicht. Verwandte waren eher fern und allenfalls an seinem Vermögen interessiert. Gesellschaftlich und sozial war er eher ein Totalausfall.

Er stand unter der Dusche, denn dort kontemplierte es sich interessanterweise recht gut. Inzwischen waren die Haare gewaschen und der Körper auch. Die Füße und der Rücken machten immer noch Schwierigkeiten. Die Beweglichkeit ließ seit dem fatalen Einsatz, der ihn genauso gut das Leben hätte kosten können, ja eigentlich sogar müssen, weiterhin sehr zu wünschen übrig. Wenn ihn etwas neben den Flashbacks störte, dann das.

Er hasste es, nicht tun zu können, was er wollte und für normal hielt. Als er an sich hinuntersah, zeigten ihm seine Narben, wie schwer verwundet er worden war. Die Wunden würden vernarben, aber blieben. Innen wie außen.

Aber was führte er Klage. Er hatte Kolleginnen und Kollegen verloren, die Teil der Operation waren. Er hatte die beiden Schutzbefohlenen nicht schützen können. Auch sie waren gestorben. Salima, sein Herz, war tot. Sie waren verraten worden und er wusste bis heute nicht, von wem, warum und wie.

Er atmete tief durch, als ihn Trauer und Wut übermannten. Tränen vermischten sich mit dem warmen Wasser der Dusche. Seufzer brachen sich Bahn, und ein Knoten löste sich. Es tat weh und gut zugleich. Als er wieder bei sich war, hörte er ein fernes Klingeln. Das Telefon, seine Spezialnummer, die nur die Schwerpunktstaatsanwaltschaft und die Sondereinheit Bandenkriminalität im Polizeipräsidium Tübingen kannten. Er ließ das Telefon schellen. Es betraf ihn nicht.

Er war außer Dienst gestellt, wenn auch nicht frühpensioniert. Noch sperrte er sich gegen einen Neubeginn. Polizist, Kriminalbeamter zu sein, war bisher seine Berufung. Es war mehr als einfach ein Job. Er musste seinen Lebensunterhalt nicht verdienen, indem er etwas tat, das er tun musste des Geldes wegen. Er war bei der Polizei, um der Welt etwas dafür zurückzugeben, dass er privilegiert war. Es war ihm ein Herzensanliegen, das Leben anderer sicherer zu machen.

Stattdessen hatte er ihnen den Tod gebracht.

Als er das Badezimmer verließ, sah er für einen Moment aus, wie er früher ausgesehen hatte: groß, gepflegte dunkle Haare mit grauen Schläfen, hohe Wangenknochen, ein sympathisches, gut geschnittenes Gesicht mit dominierend blauen Augen unter ausgeprägten, schön geschwungenen Brauen; ein schöner Mund mit einem warmen Lächeln; anliegende Ohren mit ausgeprägten Läppchen; Fünftagebart mit Schnauzeransatz; breite Schulter, muskulöse Arme und Beine; sportlich und durchtrainiert. Jeans und T-Shirt standen ihm. Die Sneakers waren teuer, das sah man. Der Rest stammte aus einem Katalog, da er das Einkaufen hasste. Man sah ihm an, dass er regelmäßig mit einem ausgebildeten Physiotherapeuten an seiner Wiederherstellung arbeitete. Er quälte sich regelrecht. Tag für Tag. Ohne nachzulassen, unter teilweise großen Schmerzen.

Als er sich umwandte und in Richtung Arbeitsräume ging, war zu erkennen, dass er hinkte. Er zog den rechten Fuß merklich nach. Die Muskeln waren immer noch nicht wiederhergestellt, wie sie sein sollten, und schon gar nicht, wie sie mal waren. Vielleicht würden sie es nie wieder sein. Man durfte die Hoffnung nicht aufgeben, aber man durfte auch nicht blauäugig sein und sich vor der realistischen Sicht der Dinge drücken.

Er war nicht der, der sich etwas einredete. Hoffte er. Jedenfalls hatte er sich im Sporthallen-Anbau seiner Gründerzeitvilla ein Studio einrichten lassen, um das ihn jeder Fitnessclub beneidet hätte. Manchmal überkam ihn ein schlechtes Gewissen, wenn er daran dachte, wie es all den Kolleginnen und Kollegen ging, die nach einem solchen Einsatz und ähnlichen Verletzungen nicht über die entsprechenden Finanzmittel verfügten, wie er es tat. Er würde etwas unternehmen müssen. Und wenn er dafür in die eigene Tasche griffe.

Das erneute Klingeln mit dem speziellen Klingelton schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Er wollte schon abwinken. Doch ein Impuls bewog ihn, den Hörer abzunehmen.

»Brühlsdorf!«, meldete er sich mit seinem sonoren und wohlklingenden Bariton.

»Clementelli!«, kam die prompte Antwort einer tiefen Altstimme.

»Was willst du, Isodora?«

Isodora Clementelli, von ihren Freunden und engen Mitarbeitern am liebsten »Isa« genannt, antwortete kühl: »Du hast dich nicht geändert, Brühlsdorf.«

Er schwieg.

»O. K., du bist außer Dienst, aber wir brauchen deine Hilfe.«

Er schwieg weiterhin.

»Bist du noch da?«

Er nickte.

»Was willst du, hatte ich gefragt. Beantworte einfach die Frage.«

Sie schluckte. Am liebsten würde sie den Hörer auf die Gabel werfen, hätte sie nicht ihr Smartphone in der Hand, wusste er. Er grinste leicht spöttisch. Sie waren früher wie Katz und Maus gewesen, aber dennoch ein sehr erfolgreiches Ermittler-Duo. Sie bei der Staatsanwaltschaft. Er bei der Kripo.

»Lass uns reden«, sagte sie.

2

Isodora Clementelli war gerade nicht besonders gut gelaunt, wie ihre Umgebung zu spüren bekam. Ihre Kritik war noch beißender und ihre Ungeduld noch größer. Beides war sonst schon legendär. Sie hatte in der Nacht nach dem Telefonat mit TJ Brühlsdorf, Hauptkommissar außer Dienst, äußerst schlecht geschlafen. Ihr kam es vor, dass sie gar nicht geschlafen hatte. Jedenfalls fühlte sie sich so.

Diese Schlaflosigkeit widerfuhr ihr seit der Einsatzkatastrophe damals, bei der Brühlsdorf schwer verletzt wurde und einige Kriminalbeamte starben, kurz nach dem Ereignis regelmäßig, dann öfter und schließlich glücklicherweise wieder weniger. Die Verdrängung schien zu funktionieren, dachte sie mit einer gewissen Erleichterung. Doch die Reaktionen eines Gewissens ließen sich nur in den seltensten Fällen steuern oder gar vorhersehen: In der jüngsten Vergangenheit wurden die Abstände, dass sie nachts hochfuhr und schlimme Gedanken ihr Hirn marterten, wieder kürzer.

Sie ahnte, nein, sie war sich beinahe sicher, dass sie selbst das Loch in der Ermittlungsgruppe war, die sie seitens der Schwerpunktstaatsanwaltschaft leitete. Sie hatte die Informationen, die zum Desaster führten, nicht selbst und oder gar willentlich herausgegeben. Aber sie könnte die Möglichkeit eröffnet haben, dass und wie die Gegenseite an sie gekommen war.

In der meist sehr kontrolliert und diszipliniert auftretenden Oberstaatsanwältin schlummerte ein Vulkan. Wenn sie emotional und stressseitig am Limit war, brauchte sie wilden Sex zum Abreagieren. Das war ihre Schwäche und sie stand zu ihr. Diese Art des Dampfablassens brauchte sie nicht nur, sie lebte sie anschließend auch bis zur bitteren Neige aus.

Es war einer dieser Abende gewesen, an denen sie die Sehnsucht hinaus in die Clubs einer nicht sehr fernen Großstadt trieb. Und in dieser Freitagnacht war ihre Beute eine junge, sehr schöne Frau, die den Schalter in ihrem Gehirn umlegte und das Triebtier freiließ. Sie lief ihr sowohl über den Weg als auch über den Umweg ihrer Arme in ihr Hotelzimmerbett, das sie im Vorgriff auf das, was da hoffentlich kam, gebucht hatte. Dort tobte sie sich mit ihr ein ganzes Wochenende aus und war an Stellen wundgescheuert und -gerieben, über die man gemeinhin in der Öffentlichkeit schwieg. Ihre Zunge befeuchtete ihre Lippen, wenn sie daran dachte. Wild war es gewesen, herrlich wild.

Irgendwann am Samstagnachmittag war ein Anruf gekommen und sie hatte sich in ihren Dienstlaptop eingeloggt. Lisa, das geile Luder, hatte sich neben ihr auf die Platte des schweren Schreibtischs der Juniorsuite gesetzt und sie in ihre Scheide blicken lassen, als sie kurz aufsah, ihren schlanken Zeigefinger eingetaucht und abgeleckt. Sie hatte weder den Laptop zugemacht noch sich ausgeloggt, bevor sie über dieses lüsterne Stück Fleisch hergefallen war. Danach war sie erschöpft eingeschlafen.

Als sie aufwachte, hatte sie Lisa vor dem Monitor entdeckt. Sie hatte sich über den Laptop gebeugt. Ihre Finger schienen über die Tastatur zu huschen.

Sie war hochgefahren, aufgestanden und hinübergeeilt, um die Klappe zuzudonnern – um sich kurz darauf zu vergewissern. Was sie sah, beruhigte sie ein wenig. Es waren nur der Chrome-Browser geöffnet und das Kinoprogramm. Was aber war in der Zeit geschehen, als sie totenschlafähnlich weggetreten gewesen war?

Sie hatte sie angeherrscht, was dazu führte, dass Lisas in diesen Dingen sehr kundige Hand sich in ihren Busch verirrte und sie später mit der Zunge erneut um den Verstand brachte.

Danach war der Zwischenfall vergessen.

Genau diese junge Frau, Lisa, war es, deren Leiche man vor achtundvierzig Stunden im vernachlässigten Glashaus einer alten Villa auf der Halbhöhe der schwäbischen Universitätsstadt gefunden hatte. Der neue Eigentümer wollte das gläserne Gewächshaus wieder in Benutzung nehmen. Es war ein architektonisches Kleinod. Der ursprüngliche Bauherr hatte damals viel Geld und noch mehr Kunstverstand besessen.

Ehefrau und Töchter des jetzigen Besitzers waren Veganerinnen. Da war ein Gewächshaus »eine tolle Sache«, wie der aktuelle grüne Ministerpräsident des Landes solche Projekte in der Stadt gerne nannte. Weniger toll war die Leiche, die beim Versuch der Rekultivierung ans Tageslicht kam. Die Fallakte fand ihren Weg auf den Schreibtisch der Oberstaatsanwältin aufgrund einer Kette von Entwicklungen, deren Urgrund auf den ersten Blick in guter Polizeiarbeit bestand.

Bei der Leiche eines Menschen, die man unter ungeklärten Umständen an einem für Zufälle gänzlich ungeeigneten Ort fand, wurde üblicherweise ein Tox-Screen durchgeführt. Dieser kam bei einer Autopsie immer dann zum Einsatz, wenn der Verdacht auf eine unnatürliche Todesursache vorlag und man keinerlei äußere oder innere Hinterlassenschaften der Einwirkung von Gewalt feststellen konnte. Der Tod war noch nicht lange genug eingetreten, als man sie auffand, um das nicht mit Sicherheit feststellen zu können; der lehmige Boden, in dem sie ruhte, tat samt Plastiksack sein Übriges, um die Verwesung in Grenzen zu halten.

Der Tox-Screen sollte Stoffe ans Tageslicht fördern, die in einem Körper üblicherweise nichts zu suchen hatten. Das musste nicht unbedingt Gift sein. Auch Medikamente wie Opioide konnten durchaus Gutes tun für die, die sie benötigten. Sie halfen, schlimmste Schmerzen zu therapieren, wenn nichts anderes mehr wirkte. Aber natürlich konnten sie nicht nur als Drogen missbraucht werden – sie konnten, in der nötigen Menge verabreicht, auch töten.

Im Körper der Toten fand man ein solches Opioid. Man fand es in einer Menge, die einen ausgewachsenen Stier von den Hufen gehauen hätte. Und man fand ein ganz bestimmtes Opioid, zu denen auch Heroin, Methadon und Morphium gehörten. Es war Fentanyl, eine einfach künstlich herzustellende Substanz, die die mehrfache Wirksamkeit von Heroin besaß, ähnliche Rauscheffekte auslöste und im Verhältnis konkurrenzlos günstig zu beschaffen war. Fentanyl hatte vielerorts das Heroin verdrängt und war zur Wohlstandsdroge des Mittelstands geworden – nicht nur in den USA, sondern zunehmend auch in Europa.

Drogen hatten in der Regel ebenso wie Menschen einen eindeutigen »Fingerabdruck« – im übertragenen Sinne. Jedes Labor hatte seine eigene chemische Formulierung, und jeder größere Dealer machte aus der Grundsubstanz durch »Verlängerung« seine eigenen Verschnitte. Oft wurden das noch günstigere Strychnin und andere nette Substanzen hinzugepanscht.

Bei Lisa war es reinstes Fentanyl. Das war an sich schon hochriskant, denn durch die Verschnitte wurde die Wirksamkeit meist erheblich reduziert. Schon die ungestreckte, also reine Dosis in der gleichen Menge, die bei Verschnitt gefahrlos konsumiert werden konnte, würde daher einen Abhängigen ins ewige Aus schicken, ihm also den goldenen Schuss verpassen.

Isodora Clementelli meinte, Lisa gut genug zu kennen, um zu wissen, dass sie kokste, aber auf keinen Fall würde sie Fentanyl in ihren edlen Körper lassen. Das wussten die ermittelnden Beamten nicht.

Aber was sie herausfanden war, dass das Fentanyl in ihrem Körper aus einer Charge genau jener ’Ndrangheta-Familie stammte, gegen die gerade jene Ermittlungen liefen, im Rahmen derer bei einem Zeugenschutz die beiden Zeugen, ein Ehepaar und einige Beamte gestorben und teilweise schwerstens verletzt worden waren. TJ Brühlsdorf hatte damals die Operation geleitet und war ebenfalls fast daran krepiert.

Damit wurde ein zuerst »normaler« Mord zu einem tödlichen Drogendelikt, das auf den Schreibtisch der Sonderkommission gehörte, weil es ihrem Untersuchungsgegenstand zuzurechnen war.

Exakt da lag die Fallakte jetzt. Und zwar genau vor ihren inzwischen sehr müden Augen auf ihrem sowieso schon übervollen Schreibtisch.

Oberstaatsanwältin Isodora Clementelli wurde ebenso schlagartig wie erschreckend klar, dass sie die Vergangenheit eingeholt hatte. Sie richtete sich kerzengerade auf, und die bleierne Müdigkeit war verschwunden. Ihr Adrenalinpegel hätte, würde man ihn messen, ihr Alltime-High überschritten. Dessen war sie sich absolut sicher.

Sie würde beichten müssen. Es könnte sie ihre Karriere kosten. Sie würde sich nicht beschweren können, wenn das einträte. Wäre sie ihre Vorgesetzte, würde sie sich von ihrer Aufgabe entbinden und gegen sich ein dienstrechtliches Verfahren einleiten. Punkt.

Aber das war nicht das Schlimmste, das ihr blühen konnte. Es gab Schlimmeres, weil es immer Schlimmeres gab als das Schlimmste, das man sich vorstellen konnte. Das Schlimmste wäre für sie, wenn Brühlsdorf sie zur Persona non grata erklärte, sie de facto aus seinem Leben ausschlösse.

Auch wenn sie das nie zugäbe: Sie liebte ihn auf eine sehr spezielle Art, wie sie sonst niemanden gernhatte. Ihn wollte sie nicht nur verspeisen, indem sie ihn auf irgendein Bett warf und ihn vernaschte. Nein, sie wollte wiedergeliebt werden, und, wenn schon nicht das, dann wollte sie seinen ehrlichen Respekt, seine ganze, seine vollkommene Achtung nicht nur ihrer Fachlichkeit, nein, ihrer ganzen Menschlichkeit. Bei ihm war ihr die Wertschätzung ihres inneren Wesens wesentlicher als die Beachtung ihrer äußeren Hülle und deren unbestrittener Schönheit.

Sie wusste sehr genau, dass sie eine gutaussehende und begehrenswerte Frau war, und das nahm man wahr, wenn man sie sah. Vom ersten Moment an, wenn sie den Raum betrat, welchen auch immer. Bei ihm war es irrelevant, ob er sie begehrte oder nicht. Von ihm wollte sie etwas, das man Anerkennung nannte, das höchste Geschenk, das ein Mensch je erhalten konnte.

Die Beichte musste warten, befand sie schließlich. Zuerst musste er, Brühlsdorf, mit dem Fall befasst und in ihn eingetaucht sein. Wenn sein Jagdtrieb Oberhand gewonnen hatte, wenn er verstanden hatte, dass sich vielleicht die Möglichkeit eröffnete, doch noch jene zur Verantwortung zu ziehen, denen er seine Verletzungen und die größte Niederlage seines Lebens verdankte, hoffte sie, würde er gnädiger sein mit ihr. Aber zugleich nagte der eiskalte Zweifel an ihr, dass er genau das später durchschaute. Und sie vielleicht doppelt mit Missachtung bestrafte.

Dann stünde es um ihre Sache entschieden schlechter, als wäre sie gleich mit der Sprache rausgerückt, bevor die Arbeit losging und alle unter Anspannung waren und eben nicht die Ruhe weghatten wie jetzt. Die Aussicht auf Zeitgewinn war es, die den inneren Kampf entschied. Und damit war die »harte Isa«, wie man sie nannte, genauso ein kleiner Feigling wie alle die, die sie manchmal von oben herab beurteilte.

Dieser Frage verweigerte sie sich. Sie aber würde sich heute Nacht von selbst stellen. Aber davon wusste Isodora Clementelli jetzt, im Augenblick des Tuns, nichts. Das Gewissen war eine Institution, ein Richter, der beziehungsweise die unerbittlich war. Und außerdem kannte es keinen Pardon.

3

Frizzi Bechtel, in deren Geburtsurkunde Frederike Margaretha Elisavon Bechtelsberg stand, war die neue Leiterin der LKA-Sonderkommission »Mafia im Südwesten«. Und zugleich die neue Leiterin der Kriminalinspektion 4 »Organisierte Kriminalität und Rauschgiftkriminalität« im Polizeipräsidium Reutlingen. Das mit dem »Rieke« klappte zu Anfang nicht, weil stets irgendwem der Spitzname »Frizzi« gesteckt wurde, der an ihr klebte wie der gute alte Pattex, als dieser noch Pattex war und nicht nur so hieß.

Damit war sie de facto Brühlsdorfs Nachfolgerin auf dieser Verwendung. Könnte man sagen. Sagte man auch hinter vorgehaltener Hand. Lautstärke und Frequenz dieser anfänglich wohl despektierlich gemeinten Anmerkung hatten bereits kurz nach ihrer Ernennung merklich nachgelassen. Inzwischen hatten sich auch die Tonart und die Bedeutung dieses Nachsatzes geändert. Es schwang mehr und mehr eine gewisse Anerkennung mit.

Die Neue hatte sich als gute Kriminalistin und als wirklich überzeugend auftretende Chefin dieser verschworenen Gemeinschaft erwiesen und sich mit Ermittlungserfolgen diesen Respekt ehrlich verdient. Es hieß nicht umsonst, dass trotz verbal repetitiv geäußerten Gleichberechtigungsstatements und -versicherungen eine Frau immer noch ein Vielfaches besser sein musste, um Anerkennung zu finden. Bei Brühlsdorf als Vorgänger war das noch schwerer. Er war wirklich in jeder Hinsicht ein Vorbild – bis zu diesem letzten Einsatz, der vieles in Frage stellte, auch Brühlsdorf selbst. Und seine Qualifikation. Uneingeweihten, wie gesagt. Davon gab es allerdings eine große Zahl. Die meinten, mitreden zu sollen.

Kakophonie vom Feinsten.

Frederike Bechtel, die am liebsten mit »Rieke« angesprochen werden würde, wusste besser als jeder und jede andere, dass ihr Vorgänger nichts falsch gemacht hatte. Im Gegenteil: Sie bewunderte sein strategisches und taktisches Konzept beim Zeugenschutz und bei seiner Ermittlungsstrategie. Er hatte die Kriminellen und ihre deutschen Bosse in der Ecke. Dass ihnen die Ausschaltung der Kronzeugen gelang, hatte er nicht zu verantworten. Ihre Aussagen zusammen mit den Indizien hätte auch die sicherlich eingelegte Revision überstanden. So aber platzte der Prozess. Die Angeklagten kamen in der Folge frei und tauchten unter.

Es war eine höchst tragische Episode der jüngeren Kriminalgeschichte, die von einer über vier Jahre andauernden akribischen Arbeit einer ganzen Sonderkommission übrigblieb. Das ermittelnde Team wurde regelrecht gesprengt, da es mehrere tote und schwerstverletzte sowie tief traumatisierte Mitglieder zu beklagen gab – von den toten Zeugen einmal abgesehen.

Hauptkommissarin Bechtel war gerade einmal dreiunddreißig Jahre alt, für eine Frau groß, schlank, sehr sportlich. Ihre Kleidung war sportlich leger und eher burschikos, nicht figurbetont. Das hätte körperliche Merkmale unterstrichen, die ihrer Ansicht nach bei der Arbeit eher störten. Es reichte, wenn der, den es anging, diese kannte und schätzte, befand sie. Pfiffe und rollende Augen wären ihr »wie a Gosch voll Reißnägel« gewesen, wie man das in dieser Region gerne ausdrückte. Make-up war ihre Sache nicht. Ein feiner schwarzer Lidstrich und etwas farbloser Lippenstift mussten reichen.

Ihr ausdrucksstarkes Gesicht mit dominierenden blonden Brauen, großen graugrünblauen Augen und ihr festes langes, strohblondes Haar verschafften ihr ebenso wie ihre selbstbewusst straffe Körperhaltung schon genügend Präsenz. Auftragen mochte sie nicht. Entweder man fand sie hübsch oder eben nicht. Die einzige Zierde, die sie trug, waren ihre Gürtelschnalle und das Haarband, das beim Außeneinsatz ihre Haare bändigte, die sie sonst offen trug. Weibchen spielen war weder ihre Profession, noch hatte sie für diese Art, Frausein zu leben, irgendetwas übrig.

Natürlich war sie es gewesen, die leitende Ermittlerin, die mit der neu zusammengestellten Truppe in der Sonderkommission die Verbindung der Toten zur ’Ndrangheta allein durch saubere Polizeiarbeit aus dem Tox-Screen ableitete. Als sie das Ergebnis der Umfeldbefragungen der ermittelnden Staatsanwaltschaft in Tübingen vorlegte, sagte Oberstaatsanwältin Isodora Clementelli erst einmal nichts. Unter ihrer glatten, ins Oliv spielenden Gesichtshaut entstand etwas Ähnliches wie Blässe, die man andernfalls mit Noblesse hätte verwechseln können. Die Verhärtung der Wangenmuskeln zeigten die Betroffenheit.

Hauptkommissarin Bechtel war eine ebenso gute wie geschulte Beobachterin. Da war etwas im Busch. Und so war es auch.

»Brühlsdorf«, sagte die Oberstaatsanwältin etwas zu heiser, »wir müssen Brühlsdorf hinzuziehen.«

Widerspruch war in solchen Fällen wenig hilfreich. Rieke Bechtel wusste das aus eigener Anschauung.

»Wenn du es sagst, Isa, mache ich das selbstverständlich.«

Was sie verschwieg, war, dass auch sie eine Hidden Agenda hatte, wie man das so feinsinnig formulierte, wenn man Eindruck schinden wollte. Sie wollte Brühlsdorf kennenlernen, der Legendenstatus hatte spätestens seit dieses Shoot-outs, dessen Ablauf hollywoodreif gewesen sein musste. Daraus wurde im Laufe der Zeit ein großes Bedürfnis. Die Neugierde gestand sie sich nicht so richtig ein. Er musste etwas Besonderes sein, wenn diese Legende stimmte. Sie hielt wenig vom Hörensagen, sie war ja Polizistin. Aber ihr starkes Interesse war geweckt.

Die Oberstaatsanwältin seufzte hörbar. Das brachte die gedankenversunkene Kriminalbeamtin in die reale Welt zurück.

»Ist es dir recht, Isa, wenn ich einen Termin mit Brühlsdorf vereinbare?«

Das wiederum löste als Nächstes einen scharfen Blick der schwarzen Glutaugen Isodora Clementellis und im Anschluss ein »Das übernehme ich selbst!« aus.

»Gut«, meinte die so Gemaßregelte mit einem leichten Lächeln, »wie du magst, Isa. Du bist hier der Boss. Your call. Ich mach dann mal weiter und höre von dir, wann wir unsere Hollywood-Legende treffen.«

Diese kleine Spitze hatte einen weiteren scharfen Blick zur Folge, der kurz darauf von der Ahnung eines verständnisinnigen Lächelns abgelöst wurde.

»Aha«, dachte die Kriminalhauptkommissarin, »da gibt es eine Ambivalenz. Mal schauen, ob wir nicht noch Weiteres in Erfahrung bringen werden.«

Sie ging zurück an die Arbeit und harrte der Dinge. Und wusste bereits vor dem Fallen der schweren Holztür ins Schloss, dass das Harren kein langes, sondern eher ein ziemlich überschaubares, kurz geratenes, werden würde. Und genauso kam es dann auch.

Morgen um fünfzehn Uhr im Haus Brühlsdorfs zum Kaffee. O. K. Wir treffen uns auf seinem Terrain. Interessant. Das trug zur Aufklärung einiger Randerzählungen eben dieser Legende bei.

»Wie schön«, dachte sie. Und erschrak, dass eine rosige Farbe wie eine Welle über ihre Wangen schlich. Wenigstens war sie der festen Auffassung, dass dem so wäre. Das beschämte sie mehr als das Faktum selbst. »Mensch, Rieke, du bist keine fünfzehn mehr!«, schalt sie sich. Tief durchatmen war der Rat bei solchen ungewollten Zwischenfällen. Andere bezeichneten das als Hyperventilieren, was eine grobe Überzeichnung wäre. Nun denn. Die leichte Röte war weg. Sie begann, leise in sich hineinzulachen.

4

Der Frühling hatte alles fest im Griff. Empfindliche Nasen trieften ob des Pollenüberschwangs. In den Gärten benötigten geräuschsensible Ohren Stöpsel, weil das Liebeswerben der kleinen geflügelten Mitbewohner gelegentlich die 150-Dezibel-Schranke riss. Um Nester ließ sich allerdings schlecht eine Schallmauer errichten.

Kriminalhauptkommissar a. D. TJ Brühlsdorf saß im japanischen Teehaus seiner Gründerzeitvilla, sonnenbebrillt und in eine Decke eingehüllt. Er hatte diesen Garten schon immer geliebt. Jetzt, nachdem seine Verletzungen seinen Aktionsradius einschränkten, liebte er ihn noch mehr. Er hatte bereits Frühstück und Mittagessen dort eingenommen.

Seine finanziellen Verhältnisse erlaubten ihm einen großbürgerlichen Lebensstil auch ohne seine Dienstbezüge. Er genoss das, nicht ohne sich zu fragen, was anderen Kollegen und ihren Familien widerfuhr, die dieses Sicherheitsnetz nicht hatten. Er war daher gerade dabei, eine private Stiftung zu gründen, die diese Notlagen ein wenig lindern helfen sollte. Es würde ein Tropfen auf dem heißen Stein sein, aber es wäre ein Anfang. Gleiches erlitten die Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten in internationalen Einsätzen. Dieses reiche Land ging ziemlich schäbig mit denen um, die für es ihr Leben und ihre Gesundheit riskierten. Das waren keine guten Signale, und es war vor allem eines nicht: fair.

Inzwischen hatte er sich dazu durchgerungen, sich beurlauben zu lassen. Er war auf absehbare Zeit dienstunfähig in dem Sinne, dass er keinen Außendienst würde übernehmen können. Sehr wahrscheinlich auf Dauer. Das hätte zur Folge, dass er in die Verwaltung würde wechseln müssen. Sein unbehandeltes PTBS würde ihn selbst dort stark einschränken. Stresssituationen sollte er vermeiden, hatte ihm die Polizeipsychologin geraten.

Allerdings: Ein Leben ohne Stress war selbst allenfalls eines – absolut stressig. Für ihn wenigstens. Er konnte nicht einfach nichts tun. Also brachte er seinen Körper wieder in Form. Kümmerte sich zum ersten Mal seit seinem Eintritt in den Polizeidienst ausschließlich um sich und die Verwaltung seines Vermögens. Früher hatte er die Sitzungen seines Beirats meist geschwänzt und alles den vom Vater noch eingesetzten Beratern überlassen. Die Bilanzen gaben keinen Anlass, sich Sorgen zu machen. Die Kontobestände wuchsen, das Vermögen auch. Jetzt, da er Zeit hatte, schien es angemessen, Interesse nicht nur zu heucheln.

Außerdem hatte er an der Universität Tübingen das Studium der Psychologie aufgenommen. Der alte Grundsatz »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott« fußte auf der Erkenntnis, dass man gut beraten war, nicht erst darauf zu warten, dass Hilfe kam, sondern seine Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Dank seiner überdurchschnittlichen Auffassungsgabe hatte er in drei Semestern bereits das Vorstudium erfolgreich abgeschlossen.

Er würde in Richtung klinische Psychologie und Psychotherapie gehen, war sein Plan. Das eine Ziel, das ihm vorschwebte, war das Profiling. Das andere die Behandlung von PTBS-Opfern. Wie immer hatte er sehr klare Vorstellungen entwickelt, wohin er wollte, bevor er das Studium aufnahm. Diese Fokussierung hatte ihn schon immer ausgezeichnet. Zugleich hatte sie seine Umwelt regelmäßig in ihrer Konsequenz nachhaltig erschreckt.

Als er die Teetasse abstellte, kam sein Mitbewohner Friedrich J. Schmidt mit seinem speziell angefertigten Rollstuhl über den Rasen geschossen.

»TJ, vergiss den Termin nicht, sie werden gleich da sein!«, rief er bereits, bevor er die eigens für ihn gebaute Rampe hochfuhr.

»Frederico, ganz ruhig. Ich weiß, Isodora hat es dir angetan, aber du bist kein Teenager mehr. Brems deine Freude ein bisschen runter, du machst dich sonst zur Lachnummer.« Brühlsdorf schüttelte den Kopf über das Verhalten seines Freundes.

»Hey, TJ, bist bloß neidisch und eifersüchtig. Ich weiß, dass du mal ein Auge auf sie geworfen hattest. Sie hat dich nicht erhört, oder? Jetzt bin ich dran!«

Er widersprach nicht, warum auch. Die Oberstaatsanwältin war eine sehr schöne Frau. Das war eine Tatsache. Es gab sicherlich im Polizeipräsidium keinen Mann, der nicht schon einmal seine Augen länger als nötig auf ihr hatte ruhen lassen, um es poetisch zu formulieren.

Dass es in ihrem Fall eher umgekehrt war, sie mehr als nur ein Auge auf ihn geworfen, er sie jedoch nicht erhört hatte, wollte und würde er seinem Freund gegenüber nicht thematisieren. Was brachte diese Art von Siegen? Dass man sich besser fühlte als der andere? Wer das tat, war schlimmer als ein Kleingeist. Er setzte andere ohne Not herab und fügte Schmerzen zu. Das war billig. Außerdem auf eine perfide Art bösartig. Nein, er lehnte solches Verhalten ab. Im Fall, dass er es erleben musste, fuhr er diesem Menschen derartig über den Mund, dass der sich daran erinnerte. Egal, welche Stellung dieser Mitmensch auch hatte. Das war ihm in diesem Fall völlig egal.

Frederico war ihm sozusagen zugelaufen. Er war Mitarbeiter der Krimininaltechnik, ein absoluter Computer-Geek und ein White-Hat-Hacker, wie er im Buche stand. Seine Querschnittslähmung hatte er einem Kletterunfall in der Sächsischen Schweiz zu verdanken, von dem man bis heute nicht wusste, ob es tatsächlich ein Unfall war. Es sprach nach der Aktenlage einiges dafür, dass dem nicht so war, sondern das Ergebnis eines absichtlichen Anschlags auf Fredericos Leib und Leben. Nur beweisen konnte man nichts.

Wie bei allen Verbrechen war es die alte Frage des cui bono?, wem nützte die Tat, die ihn zum Verdacht brachte, dass beim Unfall nachgeholfen worden war. Hinzu kamen noch ein paar höchst verdächtige Zufälle beim Versagen der Materialien und die klare Aussage seiner Kletterkameraden, dass Frederico unglaublich pusselig und ordentlich war, wenn es um die Pflege der Ausrüstung und deren Prüfung vor dem Beginn des Aufsteigens ging. Das roch streng, sehr streng. Das stank regelrecht. Brühlsdorf hatte sich vorgenommen, sich dieses Falls anzunehmen, wenn die Zeit dazu gekommen war.

Als es so weit war, hatte es wiederum einige Zeit gedauert, an die Akte zu kommen. Brühlsdorf hatte die Asservate noch nicht in Augenschein nehmen können, weil er dafür einen Verdacht gebraucht hätte und einen ermittelnden Beamten vor Ort. Die Akte selbst war die leichteste Übung gewesen. Als er auf Station lag, hatte er Isodora gebeten, ihm diesen Dienst zu tun. Sein Konto an Gefallen, die sie ihm schuldete, hatte diese Bitte mehr als gerechtfertigt. Er hatte ein Faksimile anfertigen lassen, das besser war als eine reine Kopie. So konnte er die Akte elektronisch studieren und bearbeiten. Frederico wusste davon nichts, so hoffte er.

Der Computerspezialist hatte im Nachgang zum Mordanschlag auf das Team damals total frustriert und total enttäuscht den Polizeidienst quittiert. Brühlsdorf hatte ihn nicht nur vor der anschließend drohenden Obdachlosigkeit bewahrt, sondern ihn gleich für die Cybersicherheit seiner Firmen eingestellt. Frederico war ihm dafür bis zur Selbstaufgabe dankbar. Er hingegen war froh, dass das große Haus jetzt einen weiteren Bewohner hatte und er einen Sparringspartner bei der Physiotherapie. Durchaus auch aus eigenem Antrieb half dieser ihm dafür bei seiner Suche nach den Verantwortlichen des Mordanschlags, der nicht allein seinen Schutzbefohlenen, einigen Mitgliedern seiner Sonderkommission, sondern auch der Liebe seines Lebens das Leben gekostet hatte.

Salima Selçuk war damals von den Personenschützern des Zeugenschutzes abgestellt worden. Er hatte sie bereits auf einem gemeinsamen Lehrgang zum Krisenmanagement bei Geiselnahmen kennen, schätzen und später lieben gelernt. Sie hatten ihre Beziehung aus mehreren Gründen sehr privat, um nicht zu sagen: geheim gehalten. Er machte sich große Vorwürfe, dass er sie nicht abgelehnt hatte, als man sie vorschlug. Es war unprofessionell gewesen.

Sie hatten sich beide eines unnötigen Risikos ausgesetzt, das unter anderem darin bestand, den anderen mehr zu schützen als die Zeugen, die es zu beschützen galt. Darüber hinaus bestand das Risiko, sich selbst einer größeren Gefahr als nötig auszusetzen, weil Gefühle die sachliche Einschätzung großer Gefahren eintrübten und verschatteten. Immer, wenn der Flashback über ihn kam, gab es das Replay jener Situation, in der sie ihr Leben für das seine opferte.

Ja, sie war für ihn in den Tod gegangen. Unbestreitbar. Unabweisbar.

Er war nur noch hier, weil sie nicht mehr da war, und das würde er sich nie verzeihen können. Aber selbst dann musste er damit zu leben lernen beginnen, sagte ihm sein scharfer Verstand.

Ihm blieb keine Wahl.

»TJ?«

Fredericos Stimme holte ihn aus seinen trüben Gedanken in den wunderbaren Frühlingsnachmittag zurück. »Das Team ist bereits im HQ.«

Mit HQ war der Raum gemeint, in dem in der alten Zeit immer die Allnighter stattgefunden hatten. Sie waren legendär. Dieses Team war etwas ganz Besonderes gewesen. Auch wenn diese Art von Nachtarbeit nicht so ganz den Vorschriften entsprochen hatte.

Er hatte damals dieses Haus einfach dazu missbraucht, das nachzubilden, was der klamme Staatshaushalt nicht hergab. Und daher hatte man das einige Etagen höher schlicht im positiven Sinne übersehen. Auch und gerade Isodora Clementelli, die sonst die wandelnde Strafprozessordnung war. Man unterschätzte sie oft.

Auch hier.

5

Seine Gäste hatten es sich bereits im Weißen Salon bequem gemacht. Dass die Neuen das technische Equipment bewunderten, ließen sie sich nicht zu sehr anmerken. Sie waren sämtlich erfahrene Kriminalbeamte, hatten also moderne Büros mit bester Präsentationstechnik bereits gesehen – nur nicht im Polizeipräsidium Reutlingen. Da liefen Jahre alte Rechner aus dem Röhrenzeitalter, verbrauchten viel Energie und hielten die Beamten davor mit langen Antwortzeiten bei bester Laune, während das Betriebssystem dafür sorgte – von den Regularien einmal abgesehen –, dass neueste Software nicht installiert werden konnte. Bei Brühlsdorf im HQ, dem Weißen Salon, fanden man und frau laut unbestätigten Berichten all das, was gut und verboten war. Und die Rechner waren auf dem neuesten technischen Stand und meist schneller, als die Polizei erlaubt, und erst recht als die Benutzer an den Tasten.

Vor sich hatten alle einen großen Pott Kaffee und eine Portion Gedeckter Apfel mit handgeschlagener Sahne stehen. Henriette Walcher, TJs guter Geist, hatte sie bereits bestens versorgt. Als er mit Frederico durch die Doppeltür eintrat – bei seiner Begleitung wäre »einfuhr« präziser –, erhob sich die in bestem Business-Outfit gewandete Oberstaatsanwältin und nahm die Vorstellung in die Hand:

»Graf Brühlsdorf, ich darf Hauptkommissarin Frederike Bechtel und ihr Team kurz vorstellen!«

Der so vorgestellte Gastgeber grüßte lächelnd in die Runde, indem er die Rechte kurz hob.

»Frederico und ich freuen uns, euch willkommen zu heißen, danke, Isodora, für die kurze Vorstellung. Rieke, Kolleginnen und Kollegen, ich bin TJ, und da ich der ältere von uns beiden bin, erledige ich das mit dem Du gleich mit. Die meisten von euch kenne ich noch aus der aktiven Zeit. Das Brimborium mit dem Titel und dem Von und Zu lassen wir einfach in der Schublade. Es kostet eh nur Atemluft und macht mich nicht zum besseren Menschen oder gar zum besseren Polizisten.«

Dann setzte er sich an seinen Platz, den man für ihn freigehalten hatte. Das merkliche Hinken, das durch das Nachziehen des rechten Beins entstand, fiel allen auf. Neben ihn rollte Friedrich J. Schmidt alias Frederico an den großen ovalen Besprechungstisch.

Rieke holte ihren Laptop aus der Tasche. Sie hatte ihn noch nicht auf dem Tisch abgelegt, als Frederico ihr schon das WLAN und den Zugang am riesenhaften LCD-Bildschirm anzeigte.

»Wenn du dich auf den großen Screen verbinden willst«, wies er leicht sächselnd an, »dann verbindest du dich per Bluetooth mit dem Schnittstellenmultiplexer oder nimmst das lange Mini-HDMI-Kabel aus der kleinen Box neben dir, ganz wie du magst.«

Die Hauptkommissarin nickte und nahm das Mini-HDMI-Kabel.

»Das geht am schnellsten.«

Und in der Tat, auf dem Bildschirm war der Tatort zu sehen, bis ins letzte gefühllose Pixel in bester Qualität, Leuchtkraft und Schärfe. Man erkannte grausame Details, die einem vorher verborgen gewesen waren.

»Beeindruckend!«, dachte sie und fuhr laut fort: »Ich darf einen kurzen Abriss des Ermittlungsstands zum verdächtigen Leichenfund der Lisa Mazzarella geben, deren Tötung möglicherweise mit dem Mafia-Komplex zu tun hat, in dem wir seit Jahren ermitteln.«

Ihr Vortrag war präzise und knapp. Ihre Darlegung blieb streng sachlich und erfreulich unemotional, hielt Brühlsdorf für sich fest. Sie gefiel ihm von Minute zu Minute mehr. Ja, sie war eine gute Nachfolgerin. Eine bessere hätte er sich kaum wünschen können, war er sich sicher. Das stimmte mit dem Ergebnis der Recherchen zusammen, mit denen sich Frederico und er in Vorbereitung dieses Treffens die vergangenen drei Tage hindurch immer wieder in enger Abstimmung beschäftigt hatten. Brühlsdorf hatte es sich zum Grundsatz gemacht, in Termine dieser Art immer bestens vorbereitet zu gehen.

Sie hatten sich auch mit dem Opfer und seinem Umfeld beschäftigt. Beide, Brühlsdorf und Friedrich J. Schmidt, genannt Frederico oder noch kürzer Rico, hatten ihre Verbindungen aus der alten Zeit. Ein guter Ermittler hatte wie jeder Investigativjournalist seine Quellen im Halbdunkel des sogenannten Dunkelfelds bei denen, die Teil dieses Dunkels waren, deren Weste aber noch einen starken Stich ins ehemals Weiße hatte. Da wurden hier ein paar Gefallen eingefordert und dort ein wenig auf den Busch geklopft, und heraus kam ein ziemlich gutes Abbild des Sachstands, den Frederico und er gerade präsentiert bekommen hatten – plus noch ein paar Ansätze, die er noch nicht gehört hatte. Aber dazu würde er später kommen.

Pier Paolo Manzotti und Michele Casabianca, die beiden Capos, die er damals im Visier hatte, waren als Wiedergänger erneut aktiv. Sie hatten sich gerade anderthalb Jahre von der Oberfläche des Planeten genommen und waren wohl nach Hause in das Stammdorf des Clans in den kalabrischen Bergen verschwunden, um dort unterzutauchen. Nachdem der Ermittlungsdruck nachgelassen hatte, waren sie wieder aufgetaucht und hatten das Heft erneut in die Hand genommen. Ihre Platzhalter waren offensichtlich wieder ins zweite Glied getreten.

Brühlsdorf hatte die Vermutung, dass genau das ordentlich böses Blut erzeugt hatte. Man konnte heutzutage nicht einmal bei der Mafia einfach kommen und gehen, wie man wollte, auch wenn man zuvor der Chef gewesen war. Das wurde nicht mehr einfach so hingenommen. Hatte der Mord etwa damit zu tun? Brühlsdorf hatte das sichere Gefühl, dass ihn seine feine Nase für solche Spiele nicht trog.

Es galt, diese These zu verifizieren. Das war ein sehr heikler Job, der ein sehr großes Maß an Fingerspitzengefühl voraussetzte – und die richtigen Kontakte. Bevor er diese Linie aktivierte, also seine Nachfolgerin von seinen Überlegungen unterrichtete, wollte er sie erst noch eine Weile beobachten. Trau, schau, wem! Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, selbst seinem eigenen ersten Eindruck zu misstrauen.

Also stellte er gezielte Nachfragen und gab selbst sein Wissen über die Strukturen der südwestdeutschen »Niederlassung« preis – versehen mit dem Hinweis, dass das altes Wissen sei. Es hätte sich wahrscheinlich einiges verschoben in den anderthalb bis zwei Jahren.

»Es haben sich sicherlich neue Seilschaften gebildet, die Einflüsse und Gewichte der einen oder anderen Fraktion verändert. Aber die Geschäfte und Aufgaben sind meines Eindrucks nach weitgehend gleich geblieben«, beendete er sein Statement.

Es folgte eine lebhafte Diskussion.

Henriette Walcher brachte eine zweite Portion Kuchen mit Sahne, diesmal war es Rhabarberkuchen, und den guten Kaffee in großen Mengen. Die Truppe mochte den Kaffee schwarz. Auch das erinnerte Brühlsdorf schmerzlich an die alten Zeiten, und er musste sehr aufpassen, dass ihn nicht das Gefühl von Trauer über Vergangenes das Wasser in die Augen trieb. Er war sonst nicht sonderlich gefühlig. Das schien wohl auch eine Frage des Lebensalters zu sein, und auf einmal fühlte er sich für einen kurzen Moment als der unbrauchbare alternde Krüppel, der er zu werden drohte, wenn er nicht weiter wie bisher gegen die Verletzungsfolgen ankämpfte.

6

Die Wahrheit war eine bittere Frucht, wusste Brühlsdorf nur zu genau. Heute Abend würde er gleich eine ganze Schale kredenzt bekommen, fürchtete er.

Als sich das Haus geleert hatte, war die Oberstaatsanwältin irgendwie übriggeblieben. Ihn wunderte das nur am Rande. Er wusste, dass sie etwas beschwerte, das in Zusammenhang mit ihm stand, und das schon seit sehr langer Zeit. Genau gesagt seit dem Zeitpunkt des Mordanschlags. Seine eigenen Recherchen hatten ihn gestern Nacht auch auf die Spur gebracht, was dieses Dunkle auf der Seele der schönen Isodora ausgelöst hatte.

Er musste einräumen, dass dieses Traurige ganz tief unter der schönen Außenhaut ihr sogar stand. Es relativierte durch Brechung ihre fast kalte Schönheit, ihre Geistesschärfe, die Härte ihrer Argumentation. Eine Unsicherheit war ihr zugewachsen, die sie menschlicher machte. Es war interessant wie etwas, das eine Person im Innersten erschütterte, aus ihr sogar einen besseren Menschen machen konnte. Bei Isodora war genau das zu beobachten, wenn er sich nicht sehr täuschte.

Der entscheidende Hinweis war einem Zufall zu verdanken gewesen. Frederico hatte eine neue Cybersicherheitssoftware installiert und sie ihm vorgeführt. Mit ihr konnte man das Umfeld seines Unternehmens oder seiner Institution durchleuchten, indem man auch das Darknet durchforstete, also Foren, in denen sich Menschen austauschten, die das Licht der Öffentlichkeit scheuten und in vielfältiger Weise etwas zu verbergen hatten. Oder Geschäfte machten, die nicht so ganz legal und ehrenhaft waren.

Umfeldanalysen dieser Art dienten üblicherweise dazu, Markenschutz zu betreiben oder aufzuklären, ob Black Hat Hacker, also Cyberkriminelle, sich beispielsweise damit brüsteten, über gestohlene Benutzerkonten Administrationszugriff auf die Netzwerke bestimmter Organisationen, Behörden und Unternehmen zu haben. Es ging darüber hinaus um Kreditkartendaten und andere Berechtigungen, mit denen ein florierender Handel betrieben wurde. Auch Daten und Informationen über Fach- und Führungskräfte wurden im Darknet gehandelt.

Die Preise lagen oft im vier- oder fünfstelligen Bereich. Cybercrime lohnte sich. Rein geschäftlich. Das machte dieses Geschäft derart attraktiv. Schließlich war das Risiko der Entdeckung vergleichbar gering.

Er hatte Frederico gesagt, er solle doch im Umfeld der Mafia nach den Stichwörtern »LKA«, »Isodora Clementelli« und »Lisa Mazzarella« suchen, ob sie irgendwo in einer Chat-Unterhaltung oder in einem Forum zusammen auftraten.

Zur Verwunderung beider war genau das der Fall. Wie auch immer tauchten beide Frauen im Zusammenhang mit einigen Belegen und Messages wegen eines Wochenendaufenthaltes in einem Stuttgarter First-Class-Hotel auf. Diese Nachrichten und Rechnungen legten nahe, dass die Oberstaatsanwältin und Lisa Mazzarella wahrscheinlich ein intensives Techtelmechtel miteinander hatten.

Mein lieber Schwan! Da tickte eine Bombe, war Brühlsdorfs erster Gedanke.

Die ’Ndrangheta hatte offensichtlich mindestens eine Quelle vor Ort stationiert, die das beobachtete. Auch Lisa selbst hatte Messages und Chatnachrichten abgesetzt, die das belegten.

In der Akte hatte es dazu keine Notiz gegeben. Isodora hatte von diesem Wochenende auch nicht berichtet, was sie hätte spätestens jetzt tun müssen. Danach wäre sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von diesem Ermittlungskomplex abgezogen worden, und das aus gutem Grund. Die Oberstaatsanwältin stand gerade mit mindestens einem Bein am Rande eines Strafverfahrens. Ein Dienstvergehen hatte sie bereits begangen. Das stand außer Zweifel.

»Isodora, meine Liebe, darf ich dich zum Abendessen einladen?«, fragte er vorsichtig.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin müde«, war ihre nicht ganz glaubwürdige Ausflucht.

Da entschied er, die Flucht nach vorne zu ergreifen.

»Ich habe den großen und gesicherten Verdacht, dass du mir seit langer Zeit etwas sagen solltest und eigentlich auch willst, das unser Verhältnis zueinander sehr belasten würde, nicht wahr?«

Einen sehr kurzen Moment fürchtete er, dass sie ihre Contenance zu verlieren drohte.

Dann hatte sie sich wieder im Griff. Sie senkte fast ergeben den Kopf und sagte leise: »Ich weiß nicht, was du weißt und woher du es weißt. Aber du triffst den Nagel auf den Kopf. Ich habe etwas Schreckliches auf dem Gewissen, das ich dir nicht zu sagen traute.«

Er schaute sie forschend an. Schließlich sagte er: »Komm, lass uns hinüber in den Salon gehen. Henriette wird uns eine Kleinigkeit bringen. Und dann sagst du mir, was du mir schon lange hättest sagen müssen.«

Er nahm sie am linken Unterarm und schob sie in Richtung Besuchersalon, den er, seit Frederico bei ihm eingezogen war, als Esszimmer nutzte. Der Salon war sehr hell gestaltet, mit Ausgang zum Garten. Er liebte ihn. Seiner Ansicht nach war er einer der schönsten Räume des großen altehrwürdigen Hauses, dessen wechselvolle Geschichte er schon lange einmal untersuchen wollte.

Zuerst verhielt sie sich zögerlich. Dann gab sie den leichten Widerstand auf. Als sie den Raum betraten, sah sie, dass für drei gedeckt war.

»Frederico kommt nach. Er weiß Bescheid.«

Als sie sich gesetzt hatten, fragte sie ergeben: »Muss ich eigentlich noch etwas erzählen?«

Die Frage überraschte ihn nur wenig.

»Du kannst unsere Recherchen bestätigen und mit Details anreichern. Bitte erspare mir aber die bettgeschichtlichen Einzelheiten. Meine Fantasie reicht aus, um sie mir bei Bedarf auszumalen.«

Sein Lächeln erreichte seine Augen diesmal nicht.

Das traf und verletzte sie. Aber sie wusste, dass er dazu, auch zu dieser für ihn ungewöhnlichen Spitze, alles Recht der Welt hatte. Also berichtete sie. Erst stockend und dann immer flüssiger werdend. Er unterbrach ihren Redefluss nicht.

Als sie geendet hatte, sagte er mit sachlicher Schärfe: »So habe ich es mir vorgestellt.«

Er stand auf und schenkte sich und ihr einen Grappa ein.

»Ich brauche jetzt einen Schnaps. Oder auch zwei.« Er trank ihn in einem Zug und räusperte sich.

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte sie ihn.

Er sah sie an. »Die gleiche Frage stelle ich dir.«

Sie nickte. Wie ein kleines verschrecktes Mädchen wirkte sie jetzt. »Wirst du mich anzeigen?« Sie musste das fragen.

Er schüttelte den Kopf. Warum sollte er das tun? Aus Rache? Aus Wut? Beides waren schlechte Ratgeber.

»Nein. Du nützt der Sache und mir am besten, wenn du deine Aufgabe als Schwerpunktstaatsanwältin weiter wahrnimmst. Du kennst den Komplex wie keine andere in der Sonderkommission, bis in die letzte Verästelung, auch die alten Zusammenhänge, Untersuchungen und Beweise.«

Die Ermittlungen würden einen unausweichlichen, einen sehr großen Schaden nehmen, wenn man sie auswechselte. Und es würde zu einem Riesenskandal führen. Das war sicher. Angelegenheiten dieser Art kamen immer ans Licht der Öffentlichkeit, wenn sie einmal verhandelt wurden.

Nach einer kurzen Pause, in der beide ihren Gedanken nachhingen, sagte er: »Lass uns etwas essen. Frederico kommt in ein paar Minuten.«

Sie schien erleichtert. Ihre Gesichtszüge wurden weicher, ihr Kinn war weniger spitz, ihre Körperspannung lockerte sich.

»Bevor wir zur Tagesordnung übergehen: Du gehst ein hohes Risiko ein, das weißt du. Die andere Seite hat Material über dieses Wochenende, wahrscheinlich Bild und Ton. Die Frage ist, wer dieses Material hat und was er damit erreichen will. Es wird auf den Tisch kommen. Das ist klar. Der Mord an Lisa Mazzarella lässt vermuten, dass es nicht in der Hand der Capos, nicht in Kalabrien und daher auch nicht in aktueller Gefahr ist, veröffentlicht zu werden.«

Er klingelte.

Henriette Walcher schaute nach ein paar Augenblicken kurz herein. »Das Abendessen, Herr Graf?«

Er wackelte mit dem Zeigefinger. »Lassen Sie bitte den Grafen weg, liebe Frau Walcher«, schimpfte er scherzhaft und unernst.

»Sehr wohl, Herr Brühlsdorf«, spielte diese das Spiel mit, »das Essen also.«

Er lächelte, und diesmal erreichte dieses die Augen, »ja bitte. Ich pinge Frederico kurz an, das brauchen Sie, das brauchst du, nicht zu machen.«

Er wandte sich erneut seinem Gast zu, als die Tür wieder geschlossen war.

»Man wird einen Preis fordern, und du wirst entscheiden müssen, ob du bereit bist, ihn zu bezahlen. Ich gehe angesichts der Lage davon aus, dass du vor deiner Entscheidung meine Meinung einholen wirst. Das bist du mir zumindest schuldig.«

Sie nickte. Er hatte die Sachlage gut erfasst, und das Gespräch hätte eigentlich viel schlimmer für sie ausgehen müssen. Dessen war sie sich sehr schmerzlich bewusst.

»Bevor ich’s vergesse: Ich habe eine kleine Bitte an dich«, hörte sie Brühlsdorfs Stimme, die halb aus dem Off zu kommen schien.

»Ja?«, fragte sie etwas verdattert.

»Frederico wird dein Schutzengel sein. Er wird alle Aktivitäten im Cyberraum, auch die im Darknet, überwachen.«

Sie war einerseits merkwürdig berührt, weil ihr jetzt klar wurde, wie Brühlsdorf an diese Daten gekommen sein musste. Andererseits kannte sie Friedrich J. Schmidts Spezialitäten. Er war mit seiner Tastatur und seinem Bildschirm offensichtlich auf geheime Weise verbunden. Ihre ausdrucksvollen Augen signalisierten eine besondere Art von Verstehen.

»Er ist in dich unsterblich verliebt, Isodora. Daher wird er nichts verraten. Dein dunkles Geheimnis ist bei ihm sehr sicher. Er verurteilt dich nicht einmal für das, was du tust. Es ist ein Teil von dir, und er weiß, dass Liebe etwas Ganzheitliches ist. Ihm muss man dieses Konzept nicht erklären.«

Sie schaute ihn unverwandt an. »Was erwartest du von mir?«

Brühlsdorf lächelte in einer milden Art und Weise wissend. »Sei gut zu ihm. Er hat es verdient. Als Mensch und weil er dich mehr liebt als sich selbst.«

Wie auf Kommando öffnete sich automatisch die Doppeltür. Brühlsdorf hatte entsprechende Technik einbauen lassen, als er, damals selbst noch an den Rollstuhl gefesselt, aus dem Krankenhaus zurückkam. Das kam jetzt seinem Mitbewohner, Freund und IT-Sicherheitsguru entgegen, der gerade mit dem ihm üblichen Schwung in den Raum reifelte.

Die Bremsen quietschten, als er genau rechtzeitig zum Stehen kam, ohne die Tischplatte zu rammen.

»Hey«, rief er jungenhaft, »wir haben ja einen Gast, TJ!«

Die Oberstaatsanwältin lächelte ein wenig verkrampft. Ihr fein geschnittenes Gesicht war bleich, ihre Lippen schmal und ohne das übliche Signalrot, das zur Farbe ihrer Fingernägel und zum Oberteil ihres Businessanzugs passte. Unter normalen Umständen hätte sie längst die Lippen nachgezogen.

»Ja, Isodora leistet uns beiden Männern in unserer Single-WG heute Abend Gesellschaft. Also benimm dich ordentlich beim Essen, mein Freund.«

Dieser Freund lachte fröhlich und sagte: »Jawoll, Herr Graf, zu Befehl.«

Das war das Stichwort für Isodora, sich kurz zum Frischmachen zu verabschieden. Diese Prozedur dauerte diesmal überdurchschnittlich lang. Die beiden Freunde taten so, als wäre das normal. Brühlsdorf wusste, warum die Wiederherstellung der Fassade derartig langwierig war, und Frederico plapperte fröhlich über das neue Spielzeug, das den Verlauf des Abends mit seinen Informationen so entscheidend beeinflusst hatte.

Er hatte, wie von Brühlsdorf erbeten, eine systematische Aufklärung des Dunkelfelds im Weltweitweb durchgeführt. Die Erkenntnisse waren mehr als interessant. Sie hatten damit eine neue Ermittlungsmethode erschlossen, die zuvor eher den Geheimdiensten vorbehalten war.

Das Faktum, dass Firmen diese Art von Software einsetzen mussten, um sich vor Angriffen und Schaden im und durch den Cyberraum zu schützen, warf kein gutes Licht auf den Rechtsstaat und seine Sicherheitsbehörden. Es war für Brühlsdorf durchaus schwer zu ertragen, dass es Bereiche gab, in denen das Recht offensichtlich nicht galt, weil es niemanden gab, der dort seine Gültigkeit durchsetzte. Rechtsfreie Räume luden das Verbrechen regelrecht ein, wie man wusste. Kein Wunder, dass der Cyberkrieg gerade fröhlich Urständ feierte, war seine traurige Feststellung zur Lage.

Als Isodora Clementelli wieder auftauchte, war sie rein äußerlich »her most beautiful self, totally composed and eagle-eyed«, also ganz bei sich. Konnte man meinen, wenn man sie nicht genau kannte.