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Hin- und hergerissen zwischen zwei Frauen ist Kriminalhauptkommissar a. D. Graf Brühlsdorf auf seine Farm in Nebraska, USA, entflohen, um mit sich ins Reine zu kommen. Hier will er eigentlich an seiner Doktorarbeit über moderne Kriminalforensik mit Hilfe von künstlicher Intelligenz schreiben. Doch eines frühen Morgens wird er unsanft geweckt. Auf seiner Farm ist ein Toter gefunden worden. Weder Brühlsdorf noch Estefania Hidalgo, Ermittlerin in der Nebraska State Patrol und unsterblich in den Grafen verliebt, ahnen: Der Mord ist der Beginn einer ganzen Serie. Die Opfer stammen aus dem Umfeld der US-Demokraten. Bekennervideos zielen auf eine Täterschaft der extremen US-amerikanischen Rechten. Der dritte Graf-Brühlsdorf-Krimi spielt während der Zeit des US-Präsidentschaftswahlkampfs. Nichts ist, wie es scheint: Täuschung, Fakes, falsche Spuren und ein hochintelligentes Täterphantom mit multiplen Identitäten, das mit allen Wassern gewaschen ist.
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Seitenzahl: 473
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Walther Stonet
Jahrgang 1956, lebt mit seiner Familie in Metzingen. Volkswirtschaftsstudium in Mannheim (Diplom). Selbstständig und leitend in der IT-Branche tätig. Ab dem 14. Lebensjahr Liedtexte und Gedichte, später Kurzgeschichten, Essays, Rezensionen. Zwei Gedichtbände (2014 und 2021). Ab 2015 Herausgabe Blog und Magazin zugetextet.com. Ein polit. Cybercrime-Roman und ein Sonettband (2021/2022) im VSS-Verlag, Frankfurt/Main. Die Brühlsdorf-Krimis »Tatort Glashaus« (2022) und »Akte Vakzin« (2023) erschienen bei Oertel + Spörer, Reutlingen. Seine Batgenes-Trilogie, eine SF-Dystopie, veröffentlichte er im Jahr 2024.
Walther Stonet
NICHTS ISTWIE ES SCHEINT
Ein Graf-Brühlsdorf-Krimi
Oertel+Spörer
Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.
© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2024 Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: erstellt durch den Autor mit Hilfe von MidjourneyGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Bernd StorzKorrektorat: Sabine TochtermannSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-96555-182-4
Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de
Wer geliebt wird, trägt mehr Verantwortung als die, die ihn lieben.
Kriminalhauptkommissar a. D. Tankred Jürg Graf Brühlsdorf,Ermittler, Forensiker, Psychotherapeut, Philosoph und Weltverbesserer
»TJ, TJ!« Lautes Klopfen an der Tür.
»Wach auf, wir haben einen Toten!«
Brühlsdorf stöhnte, als er sich aufsetzte. Verdammt!, konnte man hier denn nie ausschlafen? Er dachte es, ließ es aber ungesagt. Schließlich war er es selbst, der erst um zwei Uhr morgens das Licht gelöscht und im Bett die leichte Decke über den Kopf gezogen hatte. Das mit dem Schlafen war nicht so der Bringer seit einer halben Ewigkeit. Wie lange war er jetzt in Nebraska? Ein Jahr? Fast. Oder doch schon drüber? Wie auch immer.
Hatte es was gebracht? Nun ja. Alles war schließlich relativ. Immerhin: Die Doktorarbeit war vorangekommen. Zumindest der Theorieteil war geschrieben.
James F. Brown, sein Bodyguard, der vor der Haustür wartete, wurde langsam ungeduldig. Erneut schlug er mit der flachen Hand auf die massive Eingangstür des neuen Bungalows seines Chefs. Die Klingel hatte vor einiger Zeit den Geist aufgegeben, und ein Handwerker war nicht aufzutreiben. Die Farm und ihre Bewohner hatten gerade wenig Freunde in der Gegend. Landwirtschaftsmaschinenmechaniker waren nicht unbedingt begabte Elektroniker.
»Ich komme gleich, James!«, rief er laut.
Brühlsdorf hoffte, dass er draußen zu hören war. Er hastete ins Bad und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Wach wollte er werden, endlich wach. Sein Kopf dröhnte vor monatelanger Übermüdung durch absichtsvollen Schlafentzug. Als ob dies das schlechte Gewissen dämpfte!
Wie es Rieke und Jana ging? Er hoffte ehrlich, dass sie ein gutes Leben hatten. Ein besseres als er selbst, wenn möglich. Er gönnte es ihnen von Herzen. Seine Gefühlswirrungen hatten sich nicht in Wohlgefallen aufgelöst. Er fühlte sich nach wie vor nicht in der Lage, eine Entscheidung zwischen den beiden Frauen zu fällen. Nein, schlimmer, er ahnte, dass er wohl eher niemals in der Lage sein würde, eine derartige Entscheidung zu treffen.
Das aber machte seinen Ausflug nach Nebraska immer mehr zur Vergeblichkeit.
Was er, Brühlsdorf, hatte erreichen wollen, würde er nicht erreichen können. Seinen PhD, seinen Philosophical Doctor, den schon. Der jedoch war nicht das Hauptziel dieses Abenteuers. Er war ein vorgeschobener Grund. Damit die Flucht nicht zu sehr wie eine aussah.
T-Shirt und kurze Hose, schwarze Tennissocken, Sneakers: Fertig war die Laube. Auf dem Weg zur Tür unternahm er einen Abstecher in die Küche, griff sich das Smartphone und trank einen großen Schluck Wasser. Irgendwo lag noch ein halber Bagle.
Besser als nichts. Gesund war das nicht.
»James«, fragte er den großen dunkelhäutigen Mann, als er durch die Tür trat, »warum haust du mich um diese nachtschlafende Uhrzeit raus?«
»Tim ist tot.«
Brühlsdorf bremste seinen Vorwärtsdrang in Richtung auf den Verwaltungs- und Wohntrakt der großen Biofarm und fuhr herum.
»Du machst jetzt keine Scherze, oder?« Er atmete tief ein und noch langsamer aus. Das half ihm in solchen Situationen immer, sich wieder zu fangen.
Der schwarze Labrador neben James jaulte traurig.
»Jerry, Platz!«
Der Hund gehorchte. Kopf und Schwanz hingen herunter. Beides beantwortete Brühlsdorfs Frage.
»Ist der Fundort abgesichert?«
Brühlsdorf wusste bereits am Ende seiner Nachfrage, dass sie unnötig war. James waren solche Fragen nicht unbekannt.
James F. Brown, der Sicherheitsmanager der Farm und persönlicher Bodyguard von TJ Brühlsdorf, war Kummer gewohnt. Er machte diese Art von Aufgabe nicht zum ersten Mal. Sein FBI-Hintergrund machte es ihm leichter, das Denken des Kriminalhauptkommissars a. D. TJ Graf Brühlsdorf zu verstehen. Er schätzte seinen Chef fachlich und persönlich sehr. Aber welcher Chef hatte keine Macken.
»TJ, tststs. Ich Ex-Bulle, du Ex-Bulle. Was denkst du, was ich tue, wenn ich eine Leiche finde, hm?«
»Ist ja schon gut, James. Ich gelobe Besserung. Hast du die Kavallerie bereits gerufen?«
»Nope. Das wollte ich dir überlassen, TJ. Auch wenn ich Tim sehr gemocht habe: Wenn jemand tot ist, dann hat alles verdammt viel Zeit. Falls der Fundort ein Tatort sein sollte, muss ich ihn sichern, damit ihn niemand kontaminiert. Das habe ich getan. Ich verrate dir ein Geheimnis, Chef: Es ist ein Tatort, da fresse ich einen Besen. Oder auch gleich eine ganze Besenfabrik.«
»Weiß Serge schon, dass Tim tot ist?«
James schüttelte den Kopf.
Brühlsdorf nickte und griff zum Smartphone.
»Rico, wie geht es dir? … Ich bin keine treulose Tomate und auch kein treuloser Kandidat! … Hey, können wir das ein andermal diskutieren? Wir haben hier eine ziemlich tote Leiche und einen Fundort, der wahrscheinlich ein Tatort ist. Ich brauche einen Tatortbeflug mit 3-D-Kameras, bevor die lokalen Polizeitölpel den Tatort ruinieren … Kannst du die Rümmele-Brüder auftreiben? … Ja, unsere Drohnen von damals sind noch da. Wir nutzen sie immer wieder für ganz profane Befliegungen der Felder … Ja, auch die Kameras sind in Schuss … Natürlich haben wir alle Updates gefahren … Ihr solltet alles haben, um die Drohnen vom Warroom aus steuern zu können … Am besten sofort. Lang können wir nicht mehr warten … Wir müssen den County-Sheriff informieren. Leider. Ich werde vorher versuchen, über die State Patrol eine professionelle Kriminaltechnik herzukriegen … Danke dir, mein Lieber, was täte ich ohne dich. Grüße alle!«
»Boss, du bist schon eine Nummer. Es ist halb sechs, und du holst deine Leute aus dem Bett!« James grinste breit.
Brühlsdorf grinste ebenfalls.
»Wir arbeiten nach dem Follow-the-Sun-Verfahren. Unsere beiden Drohnen-Spezialisten in Tübingen bestellen gerade das Mittagessen, wenn ich richtig rechne, James. Ich rufe jetzt Minnie Ling an. Die allerdings wird schon ein wenig aus dem Bett fallen. Ich brauche ihre Unterstützung für die State Patrol. Ich kenne die Kolleginnen und Kollegen dort nicht gut genug.«
Die Nummer seiner Doktormutter an der Universität von Nebraska in Lincoln hatte er rasch gefunden und gewählt. Es dauerte erstaunlicherweise nur Augenblicke, dann hatte er sie am Ohr.
»Minnie, sorry für die Störung … Danke, dass du Verständnis hast und mich nicht steinigst … Ich habe eine Leiche auf der Farm und ich schließe Wetten ab, dass der Tod ein nicht natürlicher ist … Genau, wenn wir das den regionalen Stellen, also dem Sheriff, überlassen, können wir nachher die Spurensicherung vergessen. Die latschen mit ihren Stiefeln durch den Tatort, kontaminieren alles und zerstören die Spuren … Ich brauche die Kriminaltechnik der StatePatrol aus Lincoln. Kannst du mir helfen? … Du rufst Sergeant Estefania Hidalgo gleich an und erklärst ihr die Notlage? … Der Tote ist Tim Tomkinson, Lebenspartner meines Verwalters Serge Godbillon … Ja, der Tim Tomkinson, der für die Demokraten fürs State Parliament kandidiert hat und knapp gescheitert ist … Ja, er ist eine dicke Nummer bei der LGTBQIA+-Bewegung hier in Nebraska. Er ist Mitglied des CSD-Organisationskomitees in Lincoln … Ja, das ist hoch politisch. Ob da der Sheriff der richtige Ermittler ist, wage ich zu bezweifeln … O.K., ich höre von dir … Ja, ich rufe den Sheriff erst an, wenn ich von dir das Go habe … Danke, Minnie. Du bist ein Schatz … Ja, ich lade dich dafür zum Essen ein … Nein, ich drücke mich nicht wieder. Versprochen!«
Die Augen von James waren immer größer geworden.
»Guck nicht so verwundert. Die Welt ist hart, aber ungerecht. Nichts ist umsonst.«
Brühlsdorf ging mit James und Jerry hinüber zum Haupthaus. Dort hatten der Verwalter und die Mannschaft ihre Wohn- und Schlafgelegenheiten. Der Wohntrakt war großzügig gestaltet. Der Neubau war erst von drei Jahren fertiggestellt worden. Als sie an der Wohnung des Verwalters ankamen, sah Brühlsdorf, dass der Fundort professionell abgesperrt und durch eine Wache gesichert war.
»Danke, du bist ein Profi. Ich bin froh, dass du das umgehend in die Hand genommen hast. Lass uns jetzt die Drohnen und die Steuer-Laptops aus dem Hauptgebäude holen«, meinte Brühlsdorf und ging zielgerichtet hinüber zum Büro der Farmverwaltung.
An der Tür angekommen, öffnete er sie mit seiner Chipkarte und betrat den großzügigen Eingangsbereich. Das technische Equipment wurde separat und speziell gesichert aufbewahrt. Er querte die große Diele und öffnete die Tür des Raums, in dem es lagerte.
Die Drohnen waren schnell gefunden. Sie hingen fein säuberlich an ihren Ladekabeln und waren betriebsbereit. Auf der Konsole trug er sich als Benutzer ein. Alles musste schließlich seine Ordnung haben. Er gab zwei Exemplare samt Laptop an James weiter, der ihn begleitete. Er selbst nahm die anderen beiden Geräte und die Steuereinheit an sich. Damit bewaffnet gingen sie schnurstracks hinüber zur Wohnung des Verwalters.
***
Friedrich J. Schmidt, den sein Chef und Freund Graf Brühlsdorf je nach Stimmung mit Rico oder Frederico ansprach, hatte die beiden Rümmeles tatsächlich beim Mittagessen aufgetrieben. Auch in Onstmettingen gab es Netz. Man glaubte es kaum.
»Jungs, ich habe einen superdringenden Job. Bei TJ gibts eine Leiche und einen Tatort, den wir dokumentieren sollen. Ihr wisst schon. 3-D-Aufnahmen mit den Drohnen … Ja, Fotos und Video … Nee, jetzt gleich … Ja, auch wenn das Schnitzel kalt wird … Ey, wir haben wieder einen Fall. Das ist es doch wert, oder? Ich hole TJ und James mit rein.«
Das weitere Vorgehen war schnell abgestimmt. Sven und Thorsten Rümmele saßen an ihren Rechnern und steuerten die Drohnen mit dem Joystick und der Gaming-Tastatur vom Firmensitz der Ready2rumble auf der Zollernalb aus. Sie hatten die Steuerungssoftware noch vom damaligen Einsatz auf den Rechnern. Die Sache mit Chat Ho in Chinatown, New York vor zwei Jahren. Das war nur eines gewesen, nämlich geil!
Aber das hier jetzt, das war auch super nice. Einen Tatort dokumentieren. Das hatte was.
Brühlsdorf allerdings machte schnell klar, dass das nicht schnell mal erledigt war, sondern eine absolut strukturierte und pingelig exakte Arbeit erforderte. Forensik hatte etwas mit Indiziensicherung und Beweisführung zu tun. Nichts mit Leiche gucken und fertig.
Die Instruktionen waren eindeutig. Alles, jedes noch so kleine Detail, war wichtig. Alles musste peinlich genau dokumentiert werden. Das würde eine halbe Ewigkeit brauchen. Stunden. Mindestens. Für ein Jägerschnitzel mit Spätzle und Salat das blanke Gift.
Brühlsdorf war absolut nervtötend präzise, wenn es um die kriminaltechnische Tatortsicherung ging. Jedes Fitzelchen war wichtig. Während Thorsten Rümmele im hinteren Teil des Apartments jeden Zentimeter filmte, fotografierte Sven nach Vorgabe von Brühlsdorf den Toten aus allen Winkeln. Danach jedes kleinste Detail im Schlafzimmer, in dem die Leiche lag. Anschließend die Küche, das Wohnzimmer, das Badezimmer. Anschließend Gang und Diele. Zum krönenden Abschluss das Arbeitszimmer.
Laptops, Smartphones, Tablets – Fehlanzeige. Merkwürdig. Warum hatten der oder die Täter die elektronischen Geräte mitgenommen? Was wollten sie mit ihnen? Auf Serges Laptop gab es nichts von Bedeutung. Aber vielleicht auf dem Tims?
Das Motiv? Keine Ahnung. Am Toten gab es keine äußeren Anzeichen. Wie er gestorben war, konnte man nicht erkennen. Es sah so aus, als wäre er einfach eingeschlafen. Aber war er im Bett gestorben? Oder hatte man ihn nur danach ins Bett gelegt?
Es gab zwei Kleinigkeiten, die nicht ins Bild passten. Das Abendessen stand noch auf dem Tisch der Wohnküche. Tim war die Ordnung in Person. Er hätte alles fein säuberlich aufgeräumt. Auf dem Boden lagen ein paar wenige Splitter. Es musste etwas runtergefallen sein. Da war ein kleiner dunkler Fleck auf dem Teppichboden. Irgendwie war das alles nicht ganz stimmig.
***
Es wurde gerade acht Uhr Central Time, als sie mit der Video- und Fotodokumentation fertig waren.
»Danke, Sven, danke, Thorsten. Ihr habt einen tollen Job gemacht«, sagte er in der Abschluss-Websession. »Ohne euch wäre dieses Material nicht zustande gekommen. Aber jetzt müssen wir die Polizei alarmieren. Wir halten euch informiert und wir würden erneut auf eure Hilfe zurückgreifen, wenn wir euch brauchen. Danke … Bevor ich es vergesse: Schreibt die Zeiten auf und schickt eine Rechnung an die Brühlsdorf-Holding … Ja, die Ready2rumble braucht das Geld … Versprochen, wenn ich nach Deutschland fliege, lade ich euch zu einem Jägerschnitzel ein … Keine Angst, ich esse mit … Danke, Jungs!«
Brühlsdorf stand vom Bürostuhl im Controlcenter auf.
»Ich hab tierischen Kohldampf, James. Wie sieht es mit dir aus?«
»Ich auch, TJ, und Jerry braucht was zum Trinken.«
»O.K., lass uns in die Küche gehen. Du machst Frühstück, ich zeig dir alles, und ich geh mich frisch machen und ziehe danach was Ordentliches an. Anschließend müssen wir Sheriff Jude Eberhardt anrufen. Länger können wir schlecht warten.«
Kaum war er unter der Dusche, rief Minnie Ling an, die Professorin an der State University of Lincoln, Nebraska, bei der James Browns Boss seinen PhD machte. James nahm das Telefonat mit dem Smartphone seines Chefs an.
»Guten Morgen! … TJ ist gerade unabkömmlich … Sergeant Hidalgo kommt selbst, das freut den Chef sicherlich sehr … Kriminaltechnik bringt sie mit. Wunderbar! … Ja, der Fundort ist abgesperrt … Nein, den Sheriff wollen wir gleich anrufen … Ja, wir können noch eine halbe Stunde warten … Ich sage ihm, dass er zurückruft … Danke vielmals und bis bald.«
Er hatte gerade aufgelegt, als Brühlsdorf den Kopf in die Tür steckte.
»War das Minnie Ling?«
»Sag mal, woher weißt du jetzt das schon wieder?«, kommentierte James die Frage seines Chefs.
»Intuition, James, nichts als Intuition. Ich bin gleich bei dir. Wie weit ist der Kaffee?«
»TJ, du nervst«, war die Antwort.
»Ich weiß, ich weiß.«
Wie es der Zufall wollte, trafen Sheriff Jude Eberhardt und State Patrol Sergeant Estefania Hidalgo zeitgleich auf der Farm ein. Brühlsdorf und James erwarteten sie vor dem Apartment mit dem Toten.
Bevor die Fahrzeuge zum Stillstand gekommen waren, sagte Brühlsdorf zu seinem Bodyguard und Fahrer: »James, rufst du bitte Serge an? Er sollte inzwischen in Montreal gelandet sein. Ich übernehme das hier.«
James war froh, dass sein Chef ihm den Sheriff abnahm. Jude Eberhardt war nicht als Schwulenfreund bekannt. Er mochte den County Sheriff nicht nur deswegen nicht. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Auch sonst gab es wenig Übereinstimmung zwischen ihnen.
Als er den Verwalter, mit dem er gut konnte, am Telefonat hatte, informierte er ihn und sprach ihm sein Beileid aus.
»Serge, ich muss dir etwas sagen … Tim ist etwas passiert … Wir haben ihn gefunden, er ist leider tot … Hast du jemanden, der sich um dich kümmert? … Die Polizei wird gleich den Fundort untersuchen … Ich werde dich mit TJs Flugzeug abholen, wenn du willst … Gut, wir treffen uns morgen früh in Montreal am Flughafen … Wir werden für dich da sein, Serge, ist doch klar. Bis morgen, Serge.«
Der Sheriff baute sich breitbeinig vor Brühlsdorf auf, der angespannt auf den Eingangstreppen stand, die zu den Wohnquartieren führten. Im Erdgeschoss lag die Wohnung des Verwalters, in der der Tote aufgefunden worden war.
»Mach den Weg frei, ich will den Tatort sehen!«, rüpelte er grußlos seinen Gegenüber an. Da erklang von rechts hinter ihm eine kräftige Frauenstimme.
»Du betrittst hier gar nichts, Jude! Das macht die Kriminaltechnik, die ich mitgebracht habe. Wir machen alles by the book, damit das glasklar ist!«
Brühlsdorfs Lippen kräuselten sich. Er sah zu seinem Amüsement, wie James feixte. Schließlich kannte er die Beziehungsnatur von Sheriff Eberhardt zu seinem Sicherheitschef nur zu gut. Vor allem wusste er um die Gegenseitigkeit der tiefen Sympathie, die die beiden füreinander empfanden.
Währenddessen war Sheriff Eberhardt wütend herumgefahren und hatte seine Hände in die Hüfte gestemmt.
»Das ist mein Fall und meine Jurisdiktion, Sergeant! Du hast hier nichts zu melden!«
»Falsch, Jude, das riecht nach Mord mit politischem Hintergrund. Damit bin ich zuständig, und du darfst zugucken. Das ist mit dem District Attorney bereits geklärt. In ein paar Minuten wird dein Smartphone klingeln, und dann heißt es Abmarsch, aber sowas von!«
Kaum hatte sie sich Brühlsdorf zugewandt, um ihn zu begrüßen, klingelte besagtes Smartphone auch schon.
»Ja!«, blaffte der Sheriff bei der Rufannahme.
»Was? Sie haben die Ermittlung an die State Patrol abgegeben, ohne mich zu konsultieren? … Das lasse ich mir nicht einfach so gefallen! … Zuarbeiten soll ich mit meinen Deputys? Das kommt nicht in die Tüte. Niemals! … Sie weisen mich an? Das ist ja unglaublich! … Darüber ist nicht das letzte Wort gewechselt, District Attorney Aiello.«
»Jude, krieg dich ein. Es ist, wie es ist. Ich lad dich auf ein Steak ein. Du darfst wählen, wo«, versuchte sie ihn zu beruhigen.
»Du kannst mich mal, Sunny. Ich fahre jetzt ins Office. Und wenn du Hilfe brauchst, kannst du schriftlich ein Unterstützungsersuchen einreichen. Offiziell, auf dem Postweg.«
Er drehte sich grußlos um.
»Jungs, wir gehen. Ist nicht mehr unser Fall.«
Die Türen beider Trucks mit dem Sheriffzeichen drauf schlugen donnernd zu. Die schweren Wagen setzten sich mit Karacho in Bewegung und rauschten mit lautstark röhrendem Achtzylindergedonner ab.
»Ihr zwei werdet in diesem Leben keine Freunde mehr«, fasste Brühlsdorf seinen Eindruck zusammen.
Er winkte die Sergeantin, die bereits ausgestiegenen Kriminaltechniker sowie Sergeant Hidalgo und James Brown zu sich heran.
»Morgen«, begrüßte er seine Gäste, »James hat die Leiche gefunden. Er wird euch den Fundort zeigen. Ihr werdet seine Daten brauchen, wenn ihr sie noch nicht in den euren habt. Er hat den Fundort als Erster mit seinem Hund betreten. Mich findet ihr im Office. James wird morgen Serge, den Verwalter, den Lebenspartner des Toten, in Montreal mit meinem Flugzeug abholen.«
»Fein, Graf Brühlsdorf«, meinte Estefania Hidalgo.
»Nenn mich in drei Gottes Namen TJ, wenns dir nichts ausmacht.«
»Ich bin Sunny«, sagte sie grinsend und streckte die Hand aus.
Brühlsdorf schlug ein.
»TJ, wie gerade schon gesagt. Gehen wir?«
***
Das fing richtig gut an, dachte Brühlsdorf in einem Anflug von Sarkasmus. Ein Toter, um den sich die regionalen Polizeibehörden stritten. Auf seiner Farm! Er hatte Tim gemocht. Offen, klug, engagiert, politisch. Sehr sympathisch. Und er tat Serge gut. Die beiden waren ein glückliches Paar.
Waren.
Brühlsdorf fühlte einen dumpfen Schmerz, der den widerspiegelte, den er selbst empfand: der Verlust des oder der Liebsten, ohne Hoffnung auf Heilung. Er wusste, wie Serge sich fühlen musste.
Die Forensiker waren noch in der Wohnung. Inzwischen hatte der Bestatter die Leiche abgeholt und im gekühlten Leichenwagen in die Pathologie nach Lincoln gebracht. Brühlsdorf sichtete die Videoaufnahmen und die Fotos der Rümmele-Brüder. Er wollte verstehen. Doch das gelang ihm nicht recht.
Von politischem Mord hatte Estefania Hidalgo gesprochen. Das könnte ins Bild passen. Der Mittlere Westen war Ronald-A.-Dump-Land. Homophobie, rechte und rassistische Gesinnung waren politischer Mainstream. Tim hatte das letzte Mal als demokratischer Bewerber für das Repräsentantenhaus von Nebraska kandidiert. Sein Ergebnis hatte eine große Überraschung ausgelöst, auch wenn er einen Sitz nur knapp verfehlt hatte.
Die Oath Keepers waren im County und im ganzen Staat eine relevante Größe. Was sich im Internet und in den Social Media abgespielt hatte – und teilweise noch abspielte – war unirdisch. Richtig. Das war der Hebel, den er gesucht hatte. Sein Team konnte jetzt endlich etwas tun. Er konnte nicht einfach nur zuschauen und abwarten. Das war nicht in ihm.
»TJ!«, sagte ein weiblicher Duftcocktail in seine Gedanken. Sie musste vor dem Fenster stehen, im Schlagschatten der Hauswand. Er spürte auf einmal, wie furchtbar müde er war.
»TJ!«
Estefania Hidalgo wunderte sich schon, dass Brühlsdorf nicht reagierte.
»Sorry, Sarge, ich war total in Gedanken. Komm rein. Die Tür zum Büro ist offen.«
Als sie den großen Arbeitsraum betrat, war niemand außer Brühlsdorf anwesend. Es war ein Sommersonntagmorgen. Die Leute hatten selbst auf einer Farm das Recht auf einen freien Tag. Das Vieh war auf den Weiden. Die Wasserauffülltour war eingeteilt. Es gab also keinen Grund dafür, dass jemand hier war.
»Schlecht geschlafen, TJ?«
Der Angesprochene lehnte sich zurück auf seinem Schreibtischstuhl und gähnte herzhaft als Antwort auf die Frage.
»Sag mal, hast du für mich und die Crew irgendwo Kaffee und was zu trinken?«
»Ogottogott, was bin ich für ein unhöflicher Gastgeber!«
Brühlsdorf sprang auf und marschierte in Richtung Bürokitchenette.
»Du, kein Thema, ich helfe dir schnell dabei.«
Sie kam mit raumgreifenden Schritten hinterher. Ihre Boots waren deutlich hörbar, denn sie hatte einen festen, burschikosen Tritt. In ihrem Military-Look mit ihren kaum gebändigten langen Haaren sah sie umwerfend aus.
»Selma Hayek auf fast ein Meter achtzig verteilt, die wäre doch was für dich!«, hatte sein Bodyguard James TJ Brühlsdorf gesteckt.
Der hatte mit den Schultern gezuckt und den Kopf geschüttelt.
»Kein Interesse, James. Mein Bedarf an Gefühlschaos ist auf Jahre hinaus gedeckt. Ich will meine Ruhe.«
Daher spürte Brühlsdorf, der mit dem Rücken zu ihr gerade mit der großen Kaffeemaschine hantierte, den scharfen Blick aus den schwarzen Glutaugen von Estefania Suzanna Hidalgo nicht, der auf ihm ruhte. Denn im Gegensatz zu ihm hatte Sergeant Hidalgo sehr wohl mehr als nur ein Auge auf ihn geworfen. Ungerührt schaufelte er Kaffeepulver in den gigantischen Filter. Das Wasser, zwei Liter, kam als Nächstes dran. Alles zusammengesteckt und On-Knopf gedrückt. Fertig.
»Coke und Co. ist im großen Kühlschrank. Natürlich haben wir auch gesunde Bio-Limonade. Wir sind ein Biohof, hier gibt es für die Mann- und Frauschaft sogar die Wahl zwischen einem normalen und einem veganen Mittagstisch unter der Woche. Sonntag verköstigen sich die Jungs und Mädels selbst – wenn sie da sind.«
Sie sagte nichts, nickte aber dazu.
»Komm, ich zeige dir den Besprechungsraum. Da könnt ihr Pause machen und das Teammeeting«, meinte er.
Er ging vor, und sie stiefelte notgedrungen hinterher. Das lag ihr nicht so besonders, aber so konnte sie sich die sexy Hinterseite des Vorangehenden genauer ansehen. Was sie sah, gefiel ihr viel zu gut für ihren Geschmack. Sie stellte sich gerade vor, wie sie mit den Händen über die kernigen Hinterbacken fuhr, wenn sie sich küssten. Zum Glück bekam er davon nichts mit, hoffte sie.
In der Tür stehend winkte er sie herein in den modern ausgestatteten Raum, den man teilen und noch vergrößern konnte. Sie musste zum Eintreten an ihm vorbeigehen, und das ließ einen kleinen Schauer ihren Rücken hinunterhuschen. Der Raum war angenehm kühl, also entschuldigte sie dieses Prickeln mit der Raumtemperatur, wusste aber genau, dass das eine Selbsttäuschung war. Unter ihrer dunklen Haut war die leichte Rötung der Wangen kaum erkennbar. Aber ihre Augen blitzten in einer besonderen Weise, als sie sich umwandte, um ihn ganz in Augenschein zu nehmen.
Das Objekt ihrer ziemlich unpolizeilichen Gefühle lehnte lässig im Türblatt. Er hatte also sehr wohl bemerkt, dass sie ihn äußerst wohlwollend und auch ein wenig zu interessiert anschaute. Ihm wurde tatsächlich ein wenig warm ums Herz, jedoch nur sehr kurz, denn er rief sich so heftig zur Ordnung, dass vom Kräuseln eines Lächelns nur ein kurzes Zucken der Mundwinkel blieb.
»Wenn du mit James sprechen willst, solltest du es gleich machen. Er wird nach dem Mittagessen nach Lincoln zum Flughafen fahren, um Serge Godbillon, den Verwalter und Lebenspartner des Toten, wie bereits gesagt, in Montreal abzuholen. Manchmal ist ein Privatflugzeug hilfreich«, bemerkte er kühl.
Sie nickte und meinte nur: »Geht klar, aber zuerst möchte ich mit dir reden, TJ.«
»Können wir machen. Ich wollte dir sowieso etwas zeigen.«
Und schon war er wieder auf dem Weg in Richtung Büro. Notgedrungen folgte sie ihm erneut und durfte wieder seine herrliche Rückseite ansehen. Sie stand auf ihn, und es war ihr fast schmerzlich bewusst. Zum ersten Mal registrierte sie, dass er sein rechtes Bein kaum merklich nachzog.
Sie erinnerte sich noch genau: Als sie ihn zum ersten Mal sah, bei einer Besprechung im Institut für Psychiatrie und Forensik bei der Forschungsgruppe von Professor Minnie Ling vor mehr als einem halben Jahr, war es um sie geschehen. So etwas hatte sie bisher noch nie erlebt. Verlieben – sie? In sie verliebte man(n) sich!
Period.
Als er kurz abbremste, war sie so sehr in Gedanken, dass sie regelrecht auf ihn auflief.
»Ups!«, riefen sie beide gleichzeitig und mussten lachen.
»Ich bin noch nie von einer Frau von hinten gerammt worden«, stellte Brühlsdorf fest, »ich muss feststellen, dass die obigen Rundungspolster durchaus eine positive Nebenwirkung haben. Neben sonstigen wundersamen Begleiterscheinungen.«
Er trat zur Seite und machte den Weg frei. Sie senkte den Kopf und rauschte an ihm vorbei. Donnerwetter, was war sie für eine wunderschöne Frau!, schoss durch seinen Kopf. Aber akademisch, nicht als Heteromann.
Er schüttelte den Kopf und folgte ihr. Sie setzte sich auf den freien Stuhl vor seinem Schreibtisch. Er schlüpfte an ihr vorbei, ohne sie zu berühren. Das war ein Kunststück und zeigte seine unglaubliche Beweglichkeit. Und das, obwohl seinem rechten Unterschenkel anzusehen war, wie schwer seine Beinverletzung gewesen sein musste. Ja, er zog das Bein in der Tat ein ganz klein wenig nach.
Sie erkannte es und legte es als Merkposten ab. Es wurde Zeit, dass sie mehr über ihn erfuhr.
Als er hinter seinen Schreibtisch glitt, versuchte sie sich wieder auf den Fall zu fokussieren. Es fiel ihr schwer, weil er so nahe war. Er ahnte nichts, schien es. Aber konnte man das wissen? Etwas Dunkles war in und um ihn. Er war sehr klug, überraschend empathisch für einen Mann und auf eine spezielle Art empfindsam. Und sehr verschlossen und privat.
»Was kann ich für dich tun, Sunny?«
»Du wolltest mir etwas zeigen, sagtest du vorhin.«
»O.K., dann komm mal an meine grüne Seite. Schnapp dir von drüben einen Bürostuhl und roll rüber.«
Einerseits fürchtete sie sich vor dieser Nähe. Sie hatte Angst, in seinem Duft zu ertrinken. Verrückt, sie, die kontrollierte Polizistin, fürchtete, die Kontrolle zu verlieren.
Doch er war ganz anders. Liebenswürdigkeit. Asexuell zugewandt. Interessant, dieser Mann funktionierte fast wie eine Heterofrau, die sie sympathisch fand.
»Schau einfach das Video an.«
Er rollte zurück, um ihr Platz zu machen.
Die Bilder sogen sie regelrecht in das Video hinein. So etwas hatte sie bisher bei einer Ermittlung noch nie gesehen. Dieser Mann war eine echte Nummer. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
»Wie habt ihr das gemacht?«
Sie sah ihn forschend an. Das Kribbeln im Unterbauch und das leichte Pochen im Schoß waren wie weggeblasen. Jetzt war sie nur noch Polizistin und froh und erleichtert darüber.
»Ganz einfach: Wir sind mit drei Drohnen durch die Räume geflogen und haben mit Videokamera, 3-D-Kamera und Kamera den Tatort dokumentiert. Wir können ihn dadurch im virtuellen Raum wiedererstehen lassen. Außerdem können wir jedes kleinste Detail reproduzieren, jedes Fitzelchen an der Stelle betrachten, an der es aufgefunden worden ist. Und das, ohne den Tatort zu kontaminieren. Ihr habt – bis auf das Betreten durch den auffindenden James Brown, das unvermeidbar gewesen ist – einen quasi jungfräulichen Tatort von uns übergeben bekommen.«
Er war so nüchtern und trocken wie ein Wüstenwind. Wie schaffte er das bloß?
»Das revolutioniert die Tatortforensik, wenn ich das richtig verstehe. Kann man virtuell einen so gefilmten Tatort mit Hilfe einer VR-Brille betreten?«
»Genau das ist einer der Vorteile. Ein weiterer Vorteil ist, dass man den oder die Täter und das Opfer virtuell interagieren lassen kann, wenn man sie entsprechend animiert. Das wird die Ermittlungsmöglichkeiten stark erweitern, Tathergänge aufklären und nachvollziehbar machen. Wir werden dabei viel lernen und ganz neue Erkenntnisse gewinnen. Das erwarte nicht nur ich.«
»Ist das alles?«
Sie lehnte sich zurück und zog zweifelnd ihre glatte Stirn kraus.
Brühlsdorf lächelte und nickte.
»Ja, ich habe etwas entdeckt, besser formuliert, eine Menge Indizien entdeckt, die auf einen nicht natürlichen Tod hinweisen. Sie legen sogar nahe, dass der Leichenfundort nicht der Ort des Todes ist. Ich bin gespannt, was die Leichenschau erbringt.«
»Kann ich die Indizien sehen?«
Er lächelte noch ein wenig breiter.
»Du musst mir diesmal das Steuer übergeben und mir auf die Pelle rücken.«
Ob er doch etwas ahnte? Sie war sich nicht ganz sicher. Vielleicht war es auch nur Ironie. Sie hoffte es inständig.
»Sunny, bist du müde? Wollen wir die Sitzung bis nach dem Mittagessen verschieben?«
Estefania Hidalgo schüttelte den Kopf.
»Lieber jetzt.«
»O.K., dann lass uns anfangen!«
Sie tauschten die Plätze. Wieder schaffte er es, schlangengleich jede Berührung zu vermeiden.
Doch, er ahnte etwas. Er lächelte es nur weg.
Und dann führte Brühlsdorf die Kriminalpolizistin durch seine Indizienkette. Sie wurde immer schweigsamer und sehr nachdenklich.
»Der Auffindeort ist nicht der Ort der Tat. Unter dem Wohnzimmertisch ist ein recht neuer Fleck, der von einem verschütteten Getränk stammen könnte. Es fehlen alle Rechner, Tablets und Smartphones. Die Wohnung ist aufgeräumt und es gibt keine Spuren, die von einem Einbruch oder einem gewaltsamen Zutrittsversuch herrühren.«
»Das wirft wirklich sehr viele Fragen auf. Ist das die Kurzfassung der Erkenntnisse?«
»Diese Indizien und Hinweise müssen jetzt durch die Kriminaltechnik, Befragungsprotokolle und die Ergebnisse der pathologischen Untersuchung ergänzt, korrigiert und abgerundet werden. Aber das ist nicht alles. Wir brauchen mögliche Motive. Aus allem müssen Ermittlungsstränge gewonnen werden. Aber klar ist aus dem, was die Bilder liefern: Das war ein Tötungsdelikt. Es war kein natürlicher Tod. Und noch weniger ein Unfall.«
Die Kriminaltechnik und Sergeant Estefania Hidalgo entschieden sich, wegen der Ermittlungslage und der notwendigen Befragungen zu übernachten. Brühlsdorf wies ihnen die Ein-Zimmer-Apartments zu. Danach verschwand er selbst am frühen Abend in seinen Bungalow. Er hatte dringenden Gesprächsbedarf mit seinen Leuten in Tübingen und Onstmettingen auf der Zollernalb. Seine Überlegungen gingen viel weiter, als er sie kommuniziert hatte. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, seine Mitwelt nicht zu überfordern. Seine Intuition wies ihm dabei den Weg. Er vertraute seinen Ahnungen. Auch das nicht ohne Grund.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, sandte er im Secure Chat eine Nachricht an Friedrich J. Schmidt, er möge bitte dafür Sorge tragen, dass Gérard Koberl und Katha Meos sich in einer halben Stunde in einer Webkonferenz mit ihm einfänden.
Bis dahin hatte er den Tisch gedeckt. Sergeant Hidalgo und ihre beiden Tatortforensiker kamen in zwei Stunden zum Abendessen. Der Kühlschrank war gut gefüllt. Er entschied sich für Spaghetti mit Brokkoli, Cocktailtomaten und Champignons. Parmesan gab es mehr als genug. Und geriebenen Käse für all jene, die es al forno lieber mochten. Sogar guten kalifornischen Rotwein – und seinen geliebten weißen Biowein aus Metzingen.
Das Essen war schnell vorbereitet. Den Mac in der Küche hatte er hochgefahren. Die Websession hatte er bereits aktiviert, das Bose-Bluetooth-Headset auf dem Kopf. Als er die Spaghetti in den Topf mit heißem Wasser geworfen hatte und begann, die Zwiebeln vorzubereiten, füllte sich der Laptop-Bildschirm mit dem Gesicht Fredericos, Brühlsdorfs IT- und Cybersicherheitschef. Zugleich war er Brühlsdorfs bester, wenn nicht sogar einziger, Freund.
»Hey, TJ, was geht?«
»Sag mal, Rico, war das nicht mein Text?«
»Zahlste Pacht dafür?«
»O.K., ich gebe mich geschlagen. Kommen die anderen noch?«
»Aber sicher, Boss.«
Da ploppte auch schon Gérard Koberls Gesicht in die zweite Hälfte des Bildschirms, der sich dabei geteilt hatte.
»Servus, TJ. Host a Sehnsucht?«
»Mei, wea hot dees need.«
»Seit wann, sachma, kannste Wieanerisch?«
Wieder teilte sich der Bildschirm.
»TJ, was macht die gräfliche Landverschickung?«
Ganz Katha Meos eben.
Es ist wie früher, nein, wie immer, dachte Brühlsdorf und fragte sich zum wiederholten Mal, warum es ausgerechnet Nebraska hatte sein müssen. Die Antwort kannte er auch schon: so weit weg wie möglich vom Ort der Verwirrung des Herzens.
Er war stolz auf sein Team.
Und auch Gérard und Katha musste er erklären, was geschehen war.
»Tim war ein politisch sehr aktiver und engagierter Bürger und Demokrat. Außerdem war er homosexuell. Das ist für diese Gegend der USA eine Ansammlung von roten Tüchern, die zu massiven Attacken in den Social Media geführt hat. Ich will daher alles wissen, was sich im Internet zum Toten und den Hatern zusammentragen lässt, die ihn verfolgt und beleidigt haben«, beschrieb Brühlsdorf seine Wünsche.
»Vermutest du, dass es sich um eine politisch motivierte Tat handeln könnte?«, fasste Gérard Koberl nach, der als Major a. D. des österreichischen BKA ebenfalls wie ein Ermittler dachte.
»Ich habe so eine Ahnung. Aber ich könnte mich auch täuschen. Es gibt bisher keine Hinweise, keinen Beweis.«
»Die liebe Intuition, Boss«, warf IT-Guru Frederico ein. Er, der eigentlich ein Freund der Fakten war, hatte aus Erfahrung heraus die Spürnase seines Chefs schätzen gelernt.
»Ich nehme an, es geht auch darum, Strukturen und Zusammenhänge zu entdecken und nachzuzeichnen, also den Hintergrund dieser Hassposts aufzuhellen. Die Strukturen und Zusammenhänge sollten an User und diese an reale Menschen geheftet werden. Nur so kann man an Anstifter, Verführer, Auftraggeber und Täter kommen. Verstehe ich das richtig?«
Katha Meos legte den Finger in die Wunde. Das Ausleuchten des Schlachtfeldes, denn darum handelte es sich. Die Angriffe, die hinterrücks aus dem Verborgenen vorgetragen wurden, zielten auf die Vernichtung des Angegriffenen. Die Angreifer aus dem Dunkeln ins Licht ziehen, das war es, worauf es am Ende ankam.
Brühlsdorf nickte.
»Darum geht es. Wenn es tatsächlich eine politische Tat ist, werden wir dort Hinweise finden.«
»Gut, Boss«, fasste Frederico zusammen, »unser Team von der Ready2rumble wird ein Projekt mit Priorität aufsetzen.«
Beide wussten, dass Katha Meos und ihr Team das Beste geben würden. Brühlsdorf hatte mit seiner Vermögensverwaltung im Rahmen der Ermittlungen zu »Akte Vakzin« die Mehrheit am Cybersicherheits-Start-up übernommen. Das White-Hat-Hacker-Genie Katha Meos und ihr Mann Charly Oldenburger waren erstklassige IT- und Cyberspezialisten. Ihr Team war in den letzten Wochen und Monaten sehr erfolgreich und mittlerweile auf ein Dutzend Fachmänner und -frauen angewachsen. Sie hatten darüber hinaus ein erstklassiges Netzwerk, das sich aus gemeinsamen ethischen Hacks und Freundinnen und Freunden aus dem Chaos Computer Club zusammensetzte.
»O.K., Team, auf geht’s, an die Arbeit!«
***
Das Abendessen ging schneller von der Hand, als Brühlsdorf erwartet hatte. Eine halbe Stunde vor der Zeit war alles fertig vorbereitet. Eigentlich mochte er das. Also rief er kurz bei Kurt-Georg und Henriette Walcher in Tübingen an. Sie war die Hausdame und ihr Mann sein alter Bodyguard, Fahrer, Berater, Sicherheitsfachmann und Hausmeister. Beide waren etwas wie Ersatzeltern geworden, nachdem Graf und Gräfin Brühlsdorf verstorben waren.
»Tante Henry, Schorsch, wie geht es euch?«
»Dess isch abr liab, Tankred, dass de di amol meldesch.«
Henriette Walcher, genannt Henry, sagte immer, was sie dachte. Auf ihre ganz eigene Art.
»Wia goht drs denn do drieba in Nebraska?«
»Tante Henry, mir fehlt dein Kartoffelsalat, der Zwiebelrostbraten und deine wunderbaren Maultaschen. Mein Apartment, mein Bett, Lassie. Sie alle fehlen mir sehr. Auch du, Schorsch, fehlst mir sehr.«
»Du brauchsch bloß hoimkomma, na geits des älles.«
»Ach, Henry, du weißt, dass das nicht geht. Erst wenn Forschungsprojekt und Promotion abgeschlossen sind, also in ungefähr achtzehn Monaten. Dann komme ich zurück und bleibe.«
»Des wird ao Zeit, Tankred.«
»Und dann haben wir noch einen Todesfall, der nach Mord riecht, Schorsch. Ich dachte, du erfährst es besser direkt von mir, bevor es Gérard dir erzählt.«
»Kann i helfa?«
»Ach, Schorsch, danke, du bist einfach unersetzlich. Was täte ich ohne dich.«
»Seisch mr Bscheid, wann du mi brauchsch, Tankred.«
»Mach ich, Schorsch. Jetzt muss ich aber, ihr Lieben. Macht’s gut!«
***
Als es an der Tür klopfte, war der Tisch gedeckt, der Wein temperiert, das Essen warmgehalten. Brühlsdorf war dennoch unruhig und in einer speziellen Weise unzufrieden. Er fühlte sich nicht gut, seelisch nicht, körperlich nicht. Auch wenn seine Forschungsarbeit gut voranging – in ihm war eine Leere, die sich nicht füllen ließ, durch nichts, auch nicht durch noch mehr Arbeit und noch mehr Sport.
Als er die Eingangstür öffnete, stand eine andere Estefania Hidalgo vor der Tür, als er sie in Erinnerung hatte. Sie war umwerfend. T-Shirt und kurze Hosen, Lederriemchen-Sandalen an den nackten Füßen. Kein Schmuck, nur eine Smartwatch. Keine Schminke, nur ein rabenschwarzer Eyeliner. Ihr Gesicht und ihre Haare: Das reichte aus, um alle Blicke auf sich zu ziehen.
Sie setzte sich ihm gegenüber und ließ ihm keine Wahl dabei. Rechts und links saßen die beiden Kriminaltechnikerinnen Shaila Cortez und Emmy McFarlane. Während des Essens herrschte Stille. Der Tag war anstrengend und lang gewesen. Salat und Brokkoli-Spaghetti fanden rasch den Weg über den Teller in den Magen. Brühlsdorf sah es mit steigendem Amüsement, ohne Worte darüber zu verlieren.
Estefania Hidalgo fiel das kleine Lächeln auf, das um die Lippen des Gastgebers spielte. Sie lächelte ihrerseits. Ihre linke Hand fuhr auf einmal über ihre linke Schläfe, als gäbe es dort etwas zu ordnen. Diese Geste sagte etwas aus. Brühlsdorf wusste es. Sie wusste es natürlich auch. Er tat so, als hätte er es nicht bemerkt. Sie wusste nicht recht, ob sie dafür dankbar sein sollte.
Beim Nachtisch mit selbst gemachtem Vanilleeis und eingelegter Williams-Christ-Birne kam ein Gespräch in Gang, das Brühlsdorf sehr klug steuerte. Er sagte wenig und stellte die richtigen klugen Fragen. Obwohl die beiden Forensikerinnen versuchten, wenig zu sagen, erfuhr er doch einiges mehr, als dass er sagte.
Sie beobachtete ihn. Er ließ wenig erkennen.
Sie registrierte, dass Brühlsdorf den Wein reichhaltig verteilte, aber selbst zumeist beim Sprudel blieb. Nach den Digestifs brachen die beiden Forensikerinnen auf. Ihm schien so, als wäre das abgestimmt. Er kommentierte wiederum nicht. Warum auch.
Ein lauer Abend war mittlerweile angebrochen, und sie saßen zu zweit auf der Veranda. Er hatte einen Espresso geholt für seine Gästin und sich selbst.
Die beiden Kriminaltechnikerinnen hatten sich in ihre Quartiere verabschiedet. Estefania Hidalgo war geblieben. Etwas hielt sie fest. Sie ahnte, wer und was.
***
»TJ, du bist ein echter Meisterkoch«, stellte sie fest, als sie auf der Veranda ihren Gedanken nachhingen.
»Du setzt also voraus, dass ich frisch und selbst gekocht habe«, antwortete er listig.
»Genau das tu ich«, lachte sie ihn an.
»Dann sage ich doch artig danke. Du, Sunny mag ich dich nicht weiter nennen. Darf ich Steffi sagen?«
Sie war ein Augenblick perplex.
»Warum fragst du das?«
Er sah sie auf einmal sehr ernst an.
»Weil du mehr bist als eine Sunny. Viel mehr.«
Sie sah vor sich auf den Boden. Ihre Wangen hatten sich gerötet. Ihr dunkler Teint, milchkaffeefarben passte am besten, ließ das nur erahnen. Aber die Kerzen auf dem Tisch zeigten ihm, was er wohl eher nicht sehen sollte.
Er tat so, als übersähe er es. Aber natürlich hatte er verstanden, was in ihr vorging.
Und dann sagte sie es zu seiner Überraschung frei heraus: »Solch ein Kompliment habe ich noch nie erhalten. Danke, TJ.«
Er sah in die Weite des Weidelands. Die Sterne waren klar zu sehen. Es gab faktisch keine Lichtverschmutzung. Das Schweigen war angemessen.
»TJ, ich glaube, ich sollte mich aufmachen. Der Tag war lang. Morgen warten einige Befragungen auf mich. Außerdem sollten wir keine Gerüchte entstehen lassen.«
Brühlsdorf fragte sich, wie sie das meinte. Schließlich hatte sie selbst für diese Konstellation gesorgt.
»Ich bringe dich«, legte er fest.
»Mir wird schon nichts passieren«, frotzelte sie daraufhin.
»Du meinst, das hier ist keine Großstadt. Nun, den ersten Mord hatten wir gerade.«
Sein schwarzer Humor war legendär bei denen, die ihn kannten.
Sie musste schlucken.
»Komm, ich räume nachher auf«, fügte er hinzu, doch sie beschloss, diese Bemerkung schlicht zu überhören. Sie nahm ihre Tasse, ihre Gläser und die Weinflasche und marschierte schnurstracks ins Haus und in die Küche. Brühlsdorf schüttelte lachend den Kopf und nahm den verbliebenen Rest auf, löschte die Kerzen und machte die Verandatür hinter sich zu.
Sie trafen sich in der Küche. Estefania Hidalgo hatte bereits begonnen, die Spülmaschine zu füllen. Plötzlich war er, aus dem Nichts, in der Gefahr, sie geradezu unglaublich sympathisch zu finden. Brühlsdorf wusste, dass er sich fragen würde, warum er diesem Gefühl nicht einfach nachgab. Es wäre die einfachere Lösung. Also räumte er mit ihr die Spülmaschine ein sowie die offene Wohnküche und das Wohnzimmer auf. Als er anschließend die Weingläser spülte, trocknete Estefania Hidalgo sie ab.
Nachdem die Gläser in der Vitrine verstaut waren, wurde er gewahr, wie sehr sie harmoniert hatten. Er bewunderte den Gleichklang ihres gemeinsamen arbeitsteiligen Tuns, das wortlos und so selbstverständlich vonstattenging. Er bewunderte ihre fließenden Bewegungen und sah auf einmal zum ersten Mal bewusst, wie ihre Brüste unter dem T-Shirt mitschwangen, mühevoll gebändigt durch einen Sport-BH.
Selma Hayek in groß, hatte James, der scharfe Beobachter mit seiner pointieren Sprache, geflachst. Ja, er hatte recht damit. Nein, nicht ganz. Steffi Hidalgo war um vieles schöner. Sie brauchte keine Schminke und keinen Push-up-BH.
Sie spürte, dass der Blick, der auf ihr lag, sich verändert hatte.
»Bevor ich’s vergesse, TJ, du darfst Steffi zu mir sagen. Das dürfen eigentlich nur Freunde.«
Er nickte sie an, und da war wieder dieses amüsierte Lächeln, das untrennbar zu ihm zu gehören schien.
»Dann sind wir jetzt Freunde«, stellte er fest.
Und sie sah ihn einfach an und sagte nichts. Auf einmal stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. So musste sie als zehnjähriges Mädchen ausgesehen haben, wenn sie glücklich war. Das gefiel ihm beinahe schon viel zu gut.
Vor dem Mannschaftsquartier reichte er ihr die Hand und sagte: »Bis morgen …«
Weiter kam er nicht. Denn sie hatte die Hand genommen und ihn an sich gezogen. Sie küsste ihn auf die Nase und den Mund. Ganz kurz, nur gehuscht. So, wie wenn eine Marabufeder das Talkumpuder auf einer glatten Fläche verteilt. Federleicht eben. Genauso schnell hatte sie sich aus der Umarmung wieder herausgedreht und war winkend durch die Eingangstür verschwunden.
Ready2rumble und Friedrich J. Schmidt hatten ganze Arbeit geleistet. Brühlsdorf sichtete die Akten, scannte sie ein und ließ die KI-Engine die Daten analysieren und rubrizieren. Freitagnachmittag landete eine Aufgabenliste im E-Mail-Postfach von Estefania Hidalgo. Sie enthielt alle Ermittlungslücken.
Als sie die Liste durchgearbeitet hatte, wurde ihr klar, was Brühlsdorf erreichen wollte. Normalisierung der Inhalte. Strukturierte, rein indizienorientierte Ermittlungen, das war das Ziel. Beweise, Beweise, Beweise. Denn das war es am Ende, was Gerichte, was District Attorneys interessierte. Spekulationen, Einschätzungen waren nichts wert, wenn sie nicht zu unwidersprochenen Fakten führten. So einfach war das.
Und so schwer.
Punkt neun Uhr war Brühlsdorf unten am Zugang zum Sitz der State Patrol Troop A in Lincoln. In der North-East-2nd-Street Nr. 1600 erwartete ihn ein modernes Gebäude mit geklinkerter Fassade. Am Samstag war der Parkplatz vergleichsweise leer. Er vereinbarte mit James, dass er sich melden würde, wenn es wieder in Richtung Farm ging.
Brühlsdorf hatte den Papierteil der Akten in einem Rollkoffer. Seine Ausarbeitung war auf seinem MacBook gespeichert. Er trug es in einem Backpack bei sich. Seine Augen schützten eine stylische Sonnenbrille. Jeans, Sneakers und ein Sommerjackett rundeten seine Kleidung ab. Sein silberner Hightech-Stock war neben einem Bogart-Sommerhut sein auffälligstes Utensil. Sein Schwerbehindertenstatus bewahrte ihn davor, seine Gehhilfe abgeben zu müssen, die alles andere als selbige war.
Obschon sein Gang federnd war, konnte man das leichte Nachziehen des rechten Beins erkennen. Sein Unterschenkel war unter der Jeans mit Schienbeinschonern zusätzlich geschützt. Auch die brauchte er normalerweise nicht, aber sicher war sicher. Gleiches galt für die in das Jackett eingearbeitete Kevlarweste. Brühlsdorf hatte sich im Laufe seines Ermittlerlebens einfach genügend Feinde gemacht, dass solche Vorsicht angeraten zu sein schien.
Da er seine Ankunft signalisiert hatte, erwartete Sergeant Hidalgo ihren Gast am Eingang. Die übliche Eingangsüberprüfungsroutine ging dadurch rascher vonstatten. Sehr hilfreich war an dieser Stelle sein amerikanischer Pass. Er war qua Geburt »American Citizen«. Diese Tatsache erleichterte vieles. Der American dream war nur Amerikanern vorbehalten. Eigentlich. Es sei denn, als Immigrant war man talent. Dann galt anderes. Man durfte mitträumen. Legal.
Sie war milde erstaunt, als sie mitbekam, dass er Amerikaner war.
»Guten Morgen, gut geschlafen?«, begrüßte sie ihn frotzelnd.
So verkehrten sich die Verhaltensweisen. Doch Brühlsdorf mochte diese Spiegelfechtereien.
»Dir ebenfalls einen wunderbaren Morgen, Sergeant. Ich kann – den Nachtschlaf betreffend – keine besondere Klage führen. Er war wie immer extrem kurz.«
Die Neugierde überwältigte sie schließlich doch.
»Du bist Amerikaner?«
Sein Mund wurde von einem amüsierten Lächeln umspielt.
»Steffi, die eigentliche Frage lautet: Wie kommt es, dass du einen US-Pass hast? Ganz einfach: Ich kam in den USA auf die Welt und lebte einige Jahre danach hier. Mein Vater war übrigens ebenfalls Amerikaner. Noch genauer: Ich bin Doppelstaatler wie auch er, da ich außerdem einen deutschen Pass besitze.«
»Interessant. Das Beste aus zwei Welten.«
Jetzt hatte sie wieder ihre Mitte gefunden und stichelte.
Er lachte sie an.
»In der Tat. So hat das Leben zwei Schokoladenseiten … Apropos Schokolade. Gibt es irgendwo Kaffee und Wasser für mich?«
»Du stellst Fragen, TJ, natürlich gibt es hier Kaffee, aber nicht so guten wie bei dir.«
»Das können wir ändern, Steffi.«
Er griff in seinen Rucksack und zauberte zwei Päckchen Brühlsdorf-Kaffee hervor.
»Gemahlen oder ungemahlen, du hast die Wahl.«
»TJ, du bist unmöglich, weißt du das?«
Sie stand auf und nahm den gemahlenen Kaffee mit. Er ging ihr hinterher und lächelte still in sich hinein.
***
Und dann kam er zum Täterprofil.
»Die Anwendung hat ein Modul, das wir Täterprofilierung nennen. Es versucht, die Basisdaten für genau das zu liefern. Dabei werden Tateigenschaften und Fakten zusammengeführt und mit Täterprofilen korreliert, mit denen die KI schlau gemacht worden ist. Wir haben viele Serienmorde herangezogen und analysiert sowie damit die KI trainiert, und zwar nicht nur beim Profilierungsmodul. Möglichst viele Daten sind die Voraussetzung, dass eine KI gut funktioniert. Da wir keine Riesenmengen haben, müssen sie sehr gut ermittelt sein und von hoher Qualität.«
Estefania Hidalgo und ihre beiden Kollegen, die das Ermittlungsteam bildeten, waren sehr beeindruckt. Das Profil des Täters oder der Täterin ließ sich wie folgt zusammenfassen: planvolles Handeln, absolut emotionslose Vorbereitung, völlig unblutige und umsichtige Tatdurchführung: Der Täter hasste blutige Schlächtereien. Er oder sie handelte mit absolut kühlem Kopf. Das chirurgisch Eiskalte an den Taten machte einen schaudern. Da hatte jemand eine glasklare Agenda. Nur lesen und verstehen konnte man sie als Ermittler bisher nicht.
Für eine politische Tat waren Täterin oder Täter einfach zu beherrscht. Es gab weder Wut und noch Zorn in den Tatberichten. Dieser Umstand passte vom Wesen her nicht mit einer politischen Tatart zusammen.
Das machte nicht nur ihn stutzig.
»Ich habe mein Team das Umfeld nicht nur von Tim, sondern aller drei Opfer der letzten Monate untersuchen lassen, die samt und sonders bekannte Vertreter der Demokraten waren. In sämtlichen Fällen gibt es massive Hatespeech. Besonders auffällig sind dabei Posts aus dem Umfeld der Oath Keepers gewesen. Die Frequenz der Posts hat im Zeitraum vor dem Tod der Opfer jeweils stark zugenommen. Auch aus dem Umfeld rechter, regionaler Milizen und bestimmter Unterstützer der Republikaner hat sich die Zahl der Posts vor den Taten verstärkt«, legte er dar.
Brühlsdorf blieb sachlich. Es ging um Fakten, nicht um Ahnungen, Einschätzungen und Intuition. In erster Linie.
Dennoch konnte man ihm seine Skepsis anmerken, als er den Schluss zog: »Diese Hinweise legen allerdings nahe, dass die Taten in einem aufgeheizten Klima in den Social Media stattgefunden haben. Wir wissen aus Untersuchungen, dass der Weg von Hatespeech zu Hate-Crime ein kurzer sein kann.«
Es entstand eine kleine Pause. Gemurmel zeigte an, dass Gesprächsbedarf bestand. Estefania Hidalgo ergriff das Wort.
»Du willst sagen, dass es Hinweise gibt, dass die drei Morde eine Serie politischer Gewaltakte sein könnten. Aber einen Beweis gibt es nicht. Trotz der eiskalten Durchführung.«
»Richtig. Niemand hat bisher die Verantwortung für die drei Gewaltverbrechen übernommen. Das, was an Aufrufen zu lesen ist, den Opfern Gewalt anzutun, kann nicht als regelrechte Anstiftung zum Mord gelesen werden. Es bleibt in dem Rahmen, den wir leider inzwischen fast als Regel der verbalen Entgleisungen haben. Fast immer sind diese Posts sexistisch, homophob und/oder rassistisch und antisemitisch angehaucht. Das neue Normal des politischen Diskurses also.«
Und was jetzt? Die Frage stand unausgesprochen im Raum.
»Als nächste Schritte würde ich die bestehenden Stränge ausermitteln und die Social Media beobachten. Wir sollten das Täterprofil noch genauer analysieren und mit Hilfe der forensischen Fallanalyse beschreiben, soweit und so gut es gerade leistbar ist. Ich darf eine Prognose wagen: Wir werden vom Täter eher früher als später Weiteres hören. Leider gilt dabei: Je mehr wir vom Täter und über ihn oder sie wissen, desto besser für uns. Es mag zynisch klingen: Mit jeder Tat kommen wir der Lösung aller Taten näher. Bisher hatten er oder sie in zwei Fällen sehr großes Glück und beim ersten großes. Jede Strähne reißt – egal wie gut er oder sie die Taten auch vorbereitet.«
Wieder ging ein Raunen durch den Besprechungsraum. Estefania Hidalgo fasste sarkastisch zusammen.
»Du sagst, dass es vielleicht oder sogar wahrscheinlich weiterer Morde bedarf, um den Mörder zu schnappen?«
»Es müssen keine weiteren Taten sein. Ein Bekennerstatement oder -schreiben jedoch würde uns die Sache wohl erleichtern.«
***
Der Täter oder die Täterin tat ihnen den Gefallen einer weiteren Tat vorerst nicht. Auch ein Bekennerschreiben oder Social-Media-Post gab es keines. Der Präsidentschaftswahlkampf nahm an Hitze und Aggressivität zu. Hatespeech explodierte. Die ersten Hate-Crime-Taten schafften es erst in die Abendnachrichten der großen Senderketten und darauffolgend in die Late-Night-Shows.
Die noch offenen Punkte, die Brühlsdorf mit Hilfe der KI herausgehoben hatte, wurden abgearbeitet. Alle Ermittlungsstränge, die noch offen waren, wurden penibel weiterverfolgt, bis Klärung erreicht war.
Die Profilierung des Täters oder der Täterin wurde komplettiert. Herauskam ein eiskalter, sehr sorgsamer und geradezu vorsichtiger Mörder, der nicht aus Spaß mordete, sondern ein sehr konkretes Ziel im Auge hatte. Er oder sie hatte überdurchschnittliche medizinische Kenntnisse. Er oder sie musste fast in einem der medizinischen Berufe praktische Erfahrungen gesammelt haben. Seine oder ihre Intelligenz lag deutlich über 120 Punkten. Er musste Lebenserfahrung haben und sehr stressresistent sein.
Seit dem Mord an Tim waren mittlerweile zwei Monate vergangen. Brühlsdorf schien sich getäuscht zu haben. Sie hatten seither nichts mehr vom Täter oder der Täterin gehört. Oder war das vielleicht nur eine Täuschung? Gab es bereits einen oder mehrere Tote, und sie hatten sie bloß bisher nicht entdeckt? Wollte der Mörder sie, die Ermittler, in Sicherheit wiegen?
Brühlsdorf fiel unversehens in eines seiner gefürchteten emotionalen Löcher. Sie überkamen ihn in einer gewissen Regelmäßigkeit. Begonnen hatte es sechs Monate, nachdem er sich auf der Farm eingerichtet und mit der Doktorarbeit beschäftigt und die begleitenden Forschungstätigkeiten aufgenommen hatte. Er hatte rausgemusst, unter Leute. Einsamkeit und Stille konnten lauter werden, als man sich das vorstellen konnte. Seine Ohren schienen zu klingeln, so sehr schrien ihn die Wände des Hauses an.
Er bat James, einen vernünftigen Club für ihn zu suchen und dort hinzufahren. Brühlsdorf ahnte, dass sein Aufpasser, Fahrer und Assistent ein Auge auf ihn haben würde. Dennoch sagte er ihm, dass er ihn spätestens zur Sperrstunde abholen sollte – oder wenn er ihn vorher rief.
James wunderte sich immer wieder, dass sein Boss nie mit einer Frau irgendwohin verschwand. Er schien sich nur die Ohren zudröhnen zu wollen und vielleicht auch den Kopf. Nur sehr selten war er das, was man besoffen nannte, wenn er ihn meist kurz nach dem Schließen des Clubs abholte.
Dann wechselte die Routine und er ging erst ins Kino, anschließend eine Kleinigkeit essen und schließlich in einen anderen Club. Vielleicht, weil es irgendein weiblicher Gast oder gleich mehrere solcher Gästinnen, wer wusste das schon, auf ihn abgesehen hatten. Das ging ein paar Monate gut. Und dann änderte sich die Routine wieder.
Er arbeitete bis spät in die Nacht als Berater für von Posttraumatischer Belastungsstörung Betroffenen beim von ihm finanzierten PTBS-Service an der Hotline und ließ sich dann erst in einen wiederum neuen Club fahren. Cherché la femme war nicht das Ziel seines Chefs. Nur eine Auszeit vom Hintergrundgezwitscher im Hirn.
James verstand die Lage gut. Nach seiner letzten Beziehung, bei der er total verknallt war in einen wunderschönen jungen Herrn aus der Finanzbranche – Gott im Himmel. Nein, ehrlicher gesagt, er hatte ihn abgöttisch geliebt und geglaubt, diese Liebe wäre fürs Leben. Als er ihn verließ und anschließend ghostete, war es ihm ähnlich gegangen.
Und es begab sich eines Tages, hieß es immer in Märchen, wenn etwas Tiefgreifendes zu berichten war, dass eine gewisse Estefania Hidalgo aus James herauskitzeln wollte, wo frau denn den Herrn Grafen abends oder auch später antreffen könnte, wenn dieser denn mal ausging. Der ging nicht aus, ließ James sie wissen, der schaltete schlicht und ergreifend für ein paar Stunden die Hintergrundgeräusche ab.
»Wo geschieht das, bitte?«, hieß es danach mit einem Augenaufschlag, der einen Eisberg zum Schmelzen gebracht hätte. Um Himmels willen – die hatte es aber richtig erwischt, die Arme. Er tat also so, als würde er schmelzen.
Es fiel ihm nicht schwer, das zu tun, dieweil er beide Betroffenen sehr mochte. Außerdem war er der Auffassung, dass es für die seelische und körperliche Gesundheit seines Arbeitgebers dringlich geboten war, gewisse aufgestaute Drücke abzulassen.
Er konnte diese Kasteiung nicht mehr mit ansehen. Das war unnatürlich, beschloss er. James entschied damit über den Kopf des ihm Anvertrauten hinweg, dessen Sicherheit und körperliche Unversehrtheit zu garantieren ja schließlich seine Obliegenheit war.
»Also, liebe Steffi, ich texte dir, wo er ist, wenn ihm das nächste Mal die Decke auf den Kopf fällt. Aber dann habe ich was gut bei dir, klar?«
»Hast du, James, hast du.«
»Du haftest mir persönlich für sein Wohlergehen und lieferst ihn nach Gebrauch am Stück und gesund wieder auf der Farm ab.«
»So wahr mir Gott helfe.«
»Lass bitte den Herrgott da raus. Hier geht es um Kopulation und nicht um Kommunion.«
»Musst du so direkt sein?«
»Ja, damit wir beide wissen, worum es sich dreht.«
»Und wenn er danach defekt ist?«
»Dann kannst du was erleben. Aber das hat dann nichts mit Kopulation zu tun, sondern mit Konfrontation.«
»Humor hast du auch noch. Ich wurde noch nie so gekonnt bedroht.«
»TJ weiß, warum er mich eingestellt hat. Das Sixpack hat er selbst. Ihm gings um das ganze Paket.«
»James, mir auch. Glaub’s mir.«
»Schade nur, dass du es nicht bekommen wirst. Ich würde es dir gönnen, dessen sei sicher.«
***
James hielt sein Versprechen. Als er Brühlsdorf nachts um halb eins in einem Club abgeliefert hatte, textete er Zoo-Bar.
Keine Viertelstunde später betrat sie das Lokal.
Es dauerte ziemlich lang, bis sie ihn fand. Er saß an einem kleinen Tisch in einer Ecke. Neben sich ein Bier und einen angefangenen Burger vor sich. Er wiegte sich im Takt der Musik, ohne in Richtung Bühne zu schauen. Taktisch geschickt, der Platz, befand sie. Wenn man den Eingang im Auge behielt. Gerade tat Brühlsdorf das Gegenteil davon.
Als sie ihn antippte, sah er auf und brauchte ziemlich lange, um seinen Blick auf sie zu fokussieren. Ein müdes Lächeln huschte über sein Gesicht. Als sie auf den Stuhl neben ihm deutete, nickte er und machte so etwas wie eine einladende Handbewegung. Sein Mund formte »feel free!«, und sie tat genau das.
Sie war so frei und setzte sich.
Die Bedienung kam vorbei und sie bestellte, was er vor sich stehen hatte. Er schwieg, bis Bier und Burger vor ihr standen.
»Was hat dich denn hierher verschlagen, Steffi?«, war seine mit heiserer Stimme vorgetragene Begrüßung – nicht ablehnend, aber auch nicht einladend.
»Ich könnte jetzt behaupten, ich wäre öfter hier, und es wäre reiner Zufall«, entschloss sie sich zur Wahrheit und nichts als dieser.
Seine fragende Miene zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, das die Sonne aufgehen ließ, wie er zu sehen vermeinte.
»Ach, weißt du, ich habe James becirct, mir zu sagen, wo ich dich finde, wenn du dir mal die Füße der Seele vertrittst.«
»Und der hat mich verraten. Ich werde ihm was blasen morgen zum Frühstück.«
»Nein«, sagte sie, »das wirst du nicht. Ich musste ihm versprechen, dich ganz und wohlbehalten zu Hause abzuliefern, wenn du mich nicht mehr sehen willst. Und das würde nicht klappen, wenn ich dich gleich daran hindern müsste, James morgen früh zu feuern.«
»Ich hatte nicht von Feuern gesprochen, nur von ›Die-Hammelbeine-Langziehen‹.«
»Aha. Nur werde ich dich nicht gehen lassen, bevor du mir versprichst, ihn nicht antreten zu lassen, sondern einfach diesen Abend mit mir verbringst, bis du von mir die Schnauze voll hast. Ich fahre dich dann nach Hause – oder wohin du willst.«
»Das heißt, ich muss mit den Zähnen knirschen vor Wut, darf aber nichts tun, um sie loszuwerden, und bekomme dafür dich als Dreingabe.«
»Exakt.«
»O.K., ich werde drüber nachdenken. Prost.«
»Prost.«
Die Musik spielte wieder. Nachdem sie gegessen hatte, orderten sie ein weiteres Bier. Schließlich nahm sie seine Hand und zog ihn auf die Tanzfläche. Irgendwann, es war bei einem Stehblues, hatte er sie im Arm und sog den würzigen Duft ihrer Haare ein. Es beruhigte ihn und besänftigte seine inneren Spannungen.
Ob sie ihn wiegte oder er sie – wer wusste das schon. Sie lenkte nur sehr behutsam, denn sie wusste genau, dass er sich nicht verlieben wollte und konnte. Was er nicht wusste, war, dass sie mit viel weniger zufrieden war, als er es ahnte: Sie wollte ihn lieben und heilen, obwohl er vielleicht nichts zurückgeben konnte außer Freundschaft und Sympathie. Und Nähe, die doch jeder brauchte wie die Luft zum Atmen und das Wasser zum Trinken.