Unfake IT - Walther Stonet - E-Book

Unfake IT E-Book

Walther Stonet

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Beschreibung

Die 29-jährige Shirin Meisig, hat in Jena Informatik mit einem Masterabschluss studiert. Nach fünf Jahren Berufserfahrungen begibt sie sich auf die Reise zu sich selbst. Mit ihrem angesparten und durch riskante Anlage vermehrtem Geld kauft sie im Südschwarzwald einen kleineren Hof, den sie renoviert und in eine Hightech-IT-Schmiede umfunktioniert. Da sie eine ausgewiesene Spezialistin für Videoanwendungen, Blockchain und Künstliche Intelligenz ist, gelingt ihr ein problemloser Start in die Selbstständigkeit. Ihre Initiation erfährt die Heldin, als sie entdeckt, dass mit Hilfe ihrer Software in China die Minderheit der Uiguren unterdrückt wird. Dies schockt sie derart, dass sie mit ihrer Kommilitonin Sue Tsiao Kontakt aufnimmt und diese mehr oder minder sanft überredet, mit ihr gemeinsam chinesische Dissident aus dem Land zu schmuggeln. Sue, der Shirin zum Doktorat verholfen hatte, leitet ausgerechnet diese Abteilung beim chinesischen Technologiegiganten H. Zu ihnen stößt Masa, eine japanische Ethik-Hackerin und Fortnite Gamerin. Gemeinsam entwickeln sie die Software-Programme, die einerseits mehr als ein halbes Dutzend teils dramatische Fluchten ermöglichen und als Zwillingslösung helfen, gefakte Videos zur Fluchttarnung zu platzieren. Mit intelligenten KI-Lösungen verdient das inzwischen Red Forest genannte Start-up sein Geld. Der Erfolg ruft Neider auf den Plan und Mitbewerber, die sich der Technologie bemächtigen wollen. Während der Abenteuer trifft die Heldin auf die Liebe ihres Lebens, durchlebt das erste Corona-Jahr und gründet eine Familie. Für Action und Hochspannung ist also wirklich gesorgt. Unfake IT ist ein packender Politthriller aus der modernen IT-Szene.

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Seitenzahl: 652

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Walther Stonet

Unfake IT

Titel/Impressum

 

 

 

 

 

 

 

UnFake IT

 

 

 

Walther Stonet

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright: vss-verlag

Jahr: 2022

 

 

Lektorat: Christoph Schilling / Annemarie Werner

Covergestaltung: Sabrina Gleichmann

 

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig

 

 

 

 

 

Für Linda und Franka,

meine wunderbaren Töchter

 

Die Tür

Teil 1

I.

 

An einem schönen Sommertag ging Shirin durch diese Tür. War es nicht die andere? Und war das nicht eher so: Es war einmal, dass Shirin durch irgendeine Tür ging? Nein, es war nicht beliebig, es war höchst präzise, dieses Gehen, echt akkurat und verdammt bestimmt.

Es war eine äußerst dezidierte Tür, weil Shirin ihrem Tun eine sehr klare Entscheidung vorausschickte, nämlich die, aus ihrem bisherigen Leben erst räumlich, also körperlich, und umgehend auch nichtkörperlich, also im übertragenen Sinne, hinauszutreten. An die berühmte und so oft bemühte frische Luft, dort wo der sogenannte Duft der großen weiten Welt herumwaberte, ohne sich darum zu scheren, ob eine oder einer sich aufmachte, ihn zu erschnüffeln.

 

Shirin trug eine Tasche mit sich, eine etwas größere Frauenhandtasche. Sie hatte zusätzlich ihrem schlanken Rücken einen Rucksack anvertraut, aber keinen wirklich schweren. Veränderung fand schließlich in keinem Falle dadurch statt, indem man oder frau seine bzw. ihre Vergangenheit mit sich herumschleppte. Die musste schon zurückgelassen werden.

Sie hatte eine Vergangenheit, derer man sich nicht unbedingt rühmte, wenn man sie hatte, nämlich keine spektakuläre. Da kein Bord vorhanden war, über den man sie werfen hätte können, ließ sie sie in dem Raum zurück, durch dessen Ein- und Ausgangstür sie gerade mit Aplomb und festem Willen geschritten war.

 

- - -

 

Shirin hatte „Exit“, wie sie ihr Projekt nannte, sorgsam vorbereitet. Zuerst war sie aus dem Elternhaus im ländlichen Westsachsen in eine Wohngemeinschaft in einem der Studentenviertel Leipzigs gezogen. Damit war kein Auto nötig, weshalb dieses veräußert und die Einnahmen auf einem Konto gebunkert worden waren.

Sie hatte einen guten Job bei einem Technolo-gieunternehmen angenommen – nach dem erfolgreichen Studium der Informatik in Jena, erst Bachelor, dann Master. Und dem Angebot einer Doktorandenstelle in der Tasche, das sie jedoch ausschlug. Zum damaligen Zeitpunkt hatte sie nicht gewusst, warum sie das tat.

Ihr Bauch hatte ihr damals abgeraten, der Bauch, der sie in regelmäßig mäßig unregelmäßigen Abstand an den Rand des Wahnsinns trieb, weil sie fast auslief, wenn sie sie bekam, die Periode. Wenn sie kam, dann kam sie, und zwar mit Donnerhall. Allein der Gesichtsausdruck ihres Professors war, so ihr damaliger Eindruck, die Absage wert gewesen. Obgleich: Eigentlich hatte sie ihn sogar gemocht. Nur den Wissenschaftsbetrieb, diese kleinliche Pieseligkeit und das dauernde Hickhack um Geld, um Stellen, Verlängerung der Zeitverträge, um Veröffentlichungsrankings, das war ihr doch ziemlich auf den Senkel gegangen.

 

Stattdessen war sie in die Praxis umgestiegen. Endlich etwas mit Hand und Fuß, mit Ziel und Sinn. Hatte sie sich erhofft und in glühenden Farben ausgemalt. Na ja, so glühend wie das ein durch und durch nüchterner Mensch eben konnte. Wenigstens war die Phantasie nicht nur in Grautönen. Es gab schon den einen oder anderen Farbsprengsel. Sogar Rot war dabei. Rot. Ausgerechnet.

Sie mochte kein Rot, weil sie ihre Periode nicht mochte. Was soll der Geiz, solange man sich nicht vermehren wollte, brauchte man den ganzen Aufriss doch eigentlich nicht. Frausein ist schon irgendwie scheiße, dachte sie in solchen Momenten.

Obschon es schon gelegentlich echt das Leben erleichterte, das Werben der Männchen in Form von geöffneten Türen, bereitgehaltenen Mänteln und des Tragens schwerer Gegenstände für sich zu mobilisieren. Essenseinladungen lehnte sie jedoch strikt ab. Die Verpflichtungen, die sie damit eventuell aus der Sicht des Bezahlenden einginge, wollte sie sich jedenfalls selbst heraussuchen. Sie zahlte also immer alles selbst.

 

Als sie in der Firma angefangen hatte, das Gehalt war durchaus fürstlich, wie sie bald herausfand, jedenfalls nach der dritten Gehaltserhöhung, daher sprach sie ihren Vorgesetzten darauf an. „Du hast einfach was drauf“, meinte ihr Chef auf Nachfrage, „du schaffst für drei andere weg und bügelst nebenbei kurz noch ihre Fehler aus. Und das, ohne dass du ins Schwitzen kommst, Hut ab.“

Dem wollte sie nicht wirklich widersprechen. Das war bereits in der Schule und im Studium so. Eigentlich war das schon immer so. Shirin mangelte es nicht an Selbstbewusstsein. Sie trug es nur nicht wie eine Monstranz vor sich her.

 

- - -

 

Am Anfang der Pubertät hatten die blöden Kerle ihr hinterhergepfiffen. Lange glänzende rotblonde Haare, strahlend blaue Augen, ein paar wenige vorwitzige Sommersprossen und Rundungen, die genau an der richtigen Stelle saßen: Irgendwann war ihr das zu dumm.

Also begann sie, sich zu verhüllen, um die Formen zu „entschärfen“, wie sie das nannte, als ihre Mutter sie fragte, warum sie sich so unvorteilhaft kleiden würde. Die langen Haare kamen ab, und der burschikose Rest wurde mausblond gefärbt. Make-up gab‘s gar keins, stattdessen eine gigantisch hässliche Brille, die von ihrem gleichmäßigen Gesicht ablenkte. Ohrringe, sonstiges Geschmeide – dafür hatte sie keine Verwendung.

Beim Sport trug sie unvorteilhafte Schlabberklamotten, hässliche Turnschuhe und ein denkwürdiges Farbmix bei Leibchen und Sporthose. Enganliegend kam nicht in Frage. Sie hatte exakt null Bock auf Anmache. Ihre Freundinnen waren keine mehr, wenn sie sie verkuppeln wollten. Nicht dass sie das andere Geschlecht nicht interessant fand, darum ging es nicht. Sie wollte nur einfach an den Paarritualen nicht teilnehmen.

 

Sie sah im Moment effektiv keinen Sinn darin und hatte andere Interessen: Lesen, Verstehen, Durchdringen, Erforschen. Das war ihr Ding. Mathe, Physik, Bio, Chemie, Informatik. Der Rest lief nebenbei und trotzdem supergut. Männer waren einfach ineffizient, weil sie wertvolle Zeit und Energie kosteten. Man könnte sagen, sie war ein weiblicher Nerd. Oder ein Geek. Je nach Betrachtungswinkel. Was andere über sie dachten, quälte sie eh nicht besonders.

Ins Schwimmbad ging sie am liebsten, wenn keiner mehr drin war. Sie sorgte dafür, dass man von ihrer Figur so wenig wie möglich sah. Ihre helle Haut gaben ihr zum Glück genügend Entschuldigungen, sich dem verbreiteten Badespaß zu entziehen, und ihre Eltern, die beim Zusammenbruch der DDR aus der Kurve getragen wurden und nie wieder richtig zurück in die Spur fanden, hatten nie Geld genug, dem allgemein üblichen Urlaubsspaß über Gebühr zu frönen.

Sie waren daher froh darüber, dass ihr sehr spät geborenes einziges Kind, beide waren bereits jenseits der Mitte Vierzig, die Mutter knapp, der Vater deutlich, gewesen, als Shirin das Licht der Welt im Jahr des Mauerfalls erblickte, deren Durchdringung im Urgrund das Kind alsbald zum Gegenstand seines Daseins machte, ohne dazu angestiftet oder angeleitet worden zu sein. FKK an der Ostsee mochten schon die Eltern, ihre Mutter besonders, nicht. Shirin hatte nicht das Geringste dagegen, dass sie es nicht mochten.

 

- - -

 

Ihr Leben als wandelnder Bücherwurm erster Klasse hatte sie nicht die Augen vor der Wirklichkeit verschließen lassen. Ganz im Gegenteil. Bereits in der zweiten Klasse auf dem Gymnasium begann sie mit der Nachhilfe für die Klassenstufe drunter. Damit war für Taschengeld gesorgt. Ein paar weitere nötige Anschaffungen konnten ebenfalls umgesetzt werden. Dazu gehörte ein PC. Die Eltern schüttelten den Kopf.

Shirin brachte sich das Programmieren bei. Beides ging sozusagen in Paralleluniversen vonstatten, die sich an den Mahlzeiten schnitten. Zugleich schaffte sie es mit diesen Einnahmen, an Klassenfahrten teilzunehmen – der elterliche Geldbeutel war nicht nur wegen der Arbeitslosigkeit des Vaters schmal. Er wurde durch sein chronisches Asthma noch weiter belastet. Bald gesellte sich dem Asthma Altersdiabetes hinzu; beides führte letztlich zur Frühverrentung, was die klamme finanzielle Gesamtlage der Familie Meiser interessanterweise später, in der Oberstufe des Gymnasiums, etwas entspannte – ein Umstand, den keiner der Meisers im Entferntesten störte.

 

Der Vater war Diplom-Ökonom DDRicum und ein Gigant in Sachen Planung, ein wahrer Virtuose im Tarnen und Täuschen und in der Beschaffung von Mitteln auf den verschlungenen Wegen des Stamokap, des staatlichen Fehlmengenverwaltungssystems, auf dem die Wirtschaft des ersten sozialistischen Staats auf deutschem Boden gründete. Er war Mitläufer und schwach wie die anderen 99,95%, die keine Helden waren.

Es lohnte sich in Form des kleinen Einfamilienhauses mit großem Garten im Ausfeld und des Wartburgs für die Hin- und Rückfahrten von und zur Arbeit. Man könnte das kommunistischen Luxus nennen. Es gab Schlimmere, viel Schlimmere. Ihr Vater verdankte es seinem magischen Händchen für Plan-Zahlen, dass er um Stasi und Parteikarriere herumkam.

Das Kombinat brauchte seine Magie wie die Luft zum Atmen. Irgendwoher musste Shirins Mathegenie schließlich herkommen. Man könnte sagen, es war in der sozialistischen Planwirtschaft und deren schlaue Umgehung gehont und zur maximalen Blüte gebracht worden.

Nach der Wende traute ihm, dem armen Papa, deshalb keiner zu, kapitalistische Magie zu entwickeln. Er war stigmatisiert. Er litt wie ein Tier, als gäbe es für Generationen Sünden abzudienen.

 

- - -

 

Als ihm der Himmel auf den Kopf fiel und die Umschulungen in der Frührente endeten, las er sich in drei Monate quer durch den Fundus der Stadtbibliothek. Danach wurde er Vorleser in der Kita. Und das liebte er über alles. Er schien nur noch für diese drei Nachmittage in der Woche zu leben. Die Kinder liebten den Leseopa ebenfalls innig. Es war sozusagen Liebe auf das erste gelesene Wort.

Seine Tochter Shirin liebte ihren Vater ebenfalls sehr. Er hingegen hatte Schwierigkeiten, seine Gefühle auszudrücken. Man könnte sagen, ein Mann eben. Man könnte sich auch fragen, warum Männer so sein oder werden müssten. Die Natur war nicht daran schuld.

 

Die Mutter war in der Personalverwaltung des Kombinates angestellt. Die beiden hatten sich auf Arbeit kennengelernt. Sie waren deutlich jenseits der Dreißig gewesen. Es war Liebe auf den ungefähr einundzwanzigsten Blick, genauer ausgedrückt war es ein knallharter Zusammenstoß auf dem Gang, als er völlig versunken nicht bemerkte, dass eine mit Akten vollbepackte Kollegin rasant um eine Ecke kurvte und mit ihm fatal zusammenstieß. Beide mussten danach am Kopf genäht werden.

Das Ergebnis der paarweisen Genesung war eine sehr rasche Heirat zweier in der Liebe Spätberufener. Die Beziehung war respektvoll und in einer rührenden Weise einander zugewandt. Man konnte sich die beiden allerdings schlecht bei Vermehrungsübungen vorstellen. Die sie dennoch ziemlich häufig und sehr wild in ihren vier Wänden bei lauter klassischer Musik mit großem Vergnügen vollzogen.

 

Irgendwann, nach fast genau sieben Ehejahren, war dann da auf einmal Shirin (oder ihre Vorform). Die Eltern wussten vor lauter unverhofftem Glück kaum wohin mit demselben. Eigentlich hatte die Mutter, Elsa Sobietzki mit Namen, sie entstammte einer sorbischen Familie, monatelang keine richtige Regel mehr gehabt, wähnte sich also in der Menopause vor dem Einschlag, wie der Vater das Ereignis schnoddrig nannte.

Nach der Geburt hatte sie dann wirklich keine mehr. Man verstehe die Natur. Oder das Schicksal. Oder die Welt.

Mutter Elsie, so nannte sie liebenswert ihr Pjotr, wie sie ihn liebevoll ihrerseits rief, wurde nach der Wende ebenfalls freigesetzt, bekam jedoch nach vielen Umschulungsmaßnahmen schließlich eine Stelle in einer Pflegeeinrichtung, in der sie halbtags in Einsatzplänen Termine Personal hin- und herschob, um die Fachkräftelöcher, die meistens nachts bestanden, irgendwie zu füllen. Reich wurde man mit dieser Pflegearbeit nicht. Leben konnte man davon auch nicht. Gerechtigkeit und Wahrheit mussten schließlich sein.

Jetzt durften sie das auch. Das änderte jedoch nichts an diesem beklagenswerten Umstand.

 

Der Vater, Hans-Peter Meisig, starb, nachdem sie den Bachelor abgelegt hatte. Shirin weinte eine Woche lang. Die Mutter, Elsa Meisig, starb, nachdem Shirin den Master abgelegt hatte. Shirin weinte wieder eine Woche und vermietete das Elternhaus günstig an einen Cousin aus dem Sobietzki-Klan. Sie wählte die große Stadt.

Sie brauchte Abstand. Sie wollte beides: vergessen und erinnern. Nur so konnte man diesen Schmerz ertragen, war sie sich sicher.

 

- - -

 

Shirins Exit war für sie wie ein komplexes Entwicklungsprojekt für Kunden. So hatte sie es auch angelegt. Mit sauberem Projektplan, klarer Aufgabenliste und solide ausgearbeiteten Arbeitspaketen samt Abhängigkeiten dieser untereinander, mit Meilensteinen und kritischen Pfaden. Denn wenn sie etwas projektierte, dann hatte es Struktur.

Sie hatte während der fünf Jahre für ihre Firma jedes Jahr sechzig Prozent ihres Nettoeinkommens auf die Bank gelegt – und mit ihm gearbeitet. Fast ein Viertel hatte sie in Bitcoins investiert und den Betrag zirka verzwanzigfacht. Vom Rest hatte sie die eine Hälfte klassisch risikoreich verwaltet und den Einsatz etwas dabei mehr als verdoppelt. Den Rest hatte sie je zur Hälfte klassisch mit mittlerem Risiko und in kurzfristigen Anlagen angelegt.

Ihr Banker meinte, sie hätte ein Händchen für Spekulationen. Ihr war Spekulatius entschieden lieber. Der Rest des Weihnachtsfests ließ sie eher kalt.

Als die Sache mit dem Exit ernst wurde, hatte sie nach einem Haus auf dem Land gesucht. Es musste bergig sein. Sie mochte es, wenn es klare Jahreszeiten gab. Digital-Native zu spielen war nicht ihr Ding. Voraussetzung war allerdings, dass in vernünftiger Nähe Glasfaser im Boden lag. Sie wollte nach dem Ausstieg als freie Mitarbeiterin tätig bleiben. Wer programmierte, vor allem im Bereich Künstliche Intelligenz, Video- und in Blockchain-Projekten, brauchte Bandbreite.

Sie liebte ihr Deutschland, aber es war digitales Entwicklungsland. Sie schüttelte darüber ihr kluges Haupt, befand aber, dass es nicht ihre Aufgabe war, daran etwas zu ändern. Im Allgemeinen – im Besonderen schon.

 

- - -

 

Am Ende wurde es der Schwarzwald, ein Bergdorf im südöstlichsten Zipfel des Südschwarzwalds fast eine Autostunde von Freiburg entfernt. Die Entfernung von der südbadischen Metropole und vom Bodensee war gerade groß genug, dass die Preise noch nicht ganz verhunzt waren.

Sie konnte das Objekt aus einer Versteigerung herauskaufen; mit exakt einhundertneunundachtzigtausend Euro hatte sie einen kleinen Schwarzwaldhof erworben, dessen Besitzer seinen Verpflichtungen nicht mit mehr nachkommen konnte und rechtzeitig verstarb, bevor man ihm das Haus über den Kopf weg unter den Hammer brachte. Die Erben schlugen ihr Erbe aus, die Bank machte von ihren Grundpfandrechten Gebrauch.

Manchmal musste man halt Glück haben: Weil ein größeres Unternehmen dafür gesorgt hatte, dass durch den Ort Glasfaser zu seinem Standort gelegt worden war, konnte sie für weitere zwanzigtausend Euro einen Glasfaseranschluss an ihr Haus organisieren, dessen Verlegen zum großen Teil durch ihren eigenen Grund und Boden erfolgen konnte.

Jedenfalls kam sie im 21. Jahrhundert an, während der Rest der Einwohnerschaft des Dorfs weiterhin die Bongotrommeln und Leuchtsignale vom örtlichen Kirchturm einsetzen musste. Gut für sie – schlecht für die anderen. Gedanken machte sie sich darüber erst später. Manchmal musste einem das eine oder andere erst plastisch unter die Nase gerieben werden.

 

Dank der Bitcoin-Reserve war der Erwerb des Hofs kein echtes Problem. Auch nicht der Einbau einer neuen umweltfreundlichen Heizung mit Solarthermie- und Sonnenenergie. Das Haus brauchte sowieso ein neues Dach. Zum Glück zeigte eine Untersuchung durch einen Statiker, dass das Haupthaus keine statischen Probleme hatte.

Neue Elektrik, neue Installation der Rohre, ein neues großes eigenes Bad, ein Gästebad mit WC, neue Fenster, ein neues Innenleben im Wohnhaus, der Anbau: In den letzten beiden Jahren ging der aufgesparte Jahresurlaub von vier Arbeitsjahren drauf. Nur zwei der Zimmer hatten beim Umzug ein Innenleben: das Schlaf- und das Arbeitszimmer. Mehr brauchte sie erst einmal nicht, hatte sie nüchtern beschlossen.

 

- – -

 

Shirin setzte sich in den ICE. Das Wenige, das sie aus ihrem WG-Zimmer mitnahm, fuhr in einer Holzkiste per Spedition auf dem gängigen Weg in Richtung Schwarzwald. Die Möbel im WG-Zimmer hatte sie damals zum großen Teil übernommen. Den guten Schreibtischstuhl, den sie bereits im ersten Jahr erworben hatte, ließ sie mit leichtem Wehmut ebenfalls zurück. Ihre drei Orchideen würde sie später holen.

Ida konnte sie sie anvertrauen, sie würde sie nicht vertrocknen lassen, und ihr Ostzimmer dort war ideal. Alles andere war sorgfältig verpackt in der bewussten Holzkiste verstaut.

Von Leipzig bis Fulda hatte sie krampfhaft versucht, ihr Denken abzuschalten. Es gelang ihr nicht. Die erste Stunde fokussierte sie sich darauf, die Schritte durchzugehen, die sie in ihrem noch nicht fertig eingerichteten Haus erwarteten. Schließlich war heute bereits der 28. Juni. Die Sommer im Schwarzwald waren kürzer als die in Leipzig, machte sie sich klar.

Es war noch viel zu tun, vor allem um das Haus herum, der Schuppen, die leere Stallanlage, der Bauerngarten. Zum Glück waren die Flächen weitgehend verpachtet, so dass sich diese Sorge in Grenzen hielt, aber mit den Pächtern reden, das war nötig – und davor fürchtete sie sich. „Socializing“ war nicht ihr Lieblings-Ding. Das hatte sie immer gern anderen überlassen.

 

Ihr lag das Wirken im Hintergrund, aber das war, nachdem sie sich in jeder Hinsicht „selbständig“ gemacht hatte, vorbei. Sie musste an die Front, dahin, wo es gefährlich werden konnte. Wo das Wort zählte, der Gesichtsausdruck, die Kleidung, der Auftritt – und nicht nur die simple und perfekte „line of code“, das technische Werk, das nicht trog. Es war wahr. Unwahr ging bei Bits und Bytes nicht, nur null und eins, richtig und falsch.

Obwohl: Wenn sie es recht betrachtete, konnte man natürlich auch im Code etwas verbergen, konnte Aktionen hineinschreiben, die dort nicht hingehörten und Dinge taten, die nicht erlaubt und schon gar nicht kommuniziert worden waren. Also war auch die Technik nicht ethisch sauber. Was der Mensch in die Hand nahm, war danach verschmutzt durch sein Interesse, sein Ego, seine Absichten. Nichts blieb sauber, gar nichts.

Als der Zug abbremste, schreckte sie auf. Sie war am Ende doch eingenickt, etwas, das ihr nur selten widerfuhr und nie gelang, wenn sie es drauf anlegte. Sie schüttelte sich, wischte sich eine mutwillige Strähne aus dem Blickfeld und schnappte sich ihr Gepäck. An der Tür nickte sie den Sitznachbarn zu, die das nicht registrierten. Man reiste miteinander und fuhr in der Regel aneinander vorbei, schade eigentlich. Manchmal gäbe es etwas zu erzählen, was sie vom gelegentlichen Zugeschwalltwerden durch Mitreisende strikt trennte.

 

Beim Umsteigen in Fulda begann die Befreiung, das Loslassen vom bisherigen Leben. Es war, als fiele eine alte Haut von ihr ab, als häutete sie sich wie eine Schlange, nein, als löste sie sich aus ihrer Larvenpuppe und flöge nun als Libelle durchs Leben.

Etwas über zwei Stunden war sie schon unterwegs, weitere deren drei bis Freiburg folgten – anderer ICE, anderer Wagen, andere Fahrgäste. Alle starrten auf ihre elektronischen Geräte. Das Rascheln und Knistern einer Zeitung war eine Rarität, die sie liebte, auch wenn sie selbst diesmal ebenfalls keine mit sich führte.

Sie schaute durchs Fenster in die ausgedörrte Landschaft. Die Trockenheit hatte ihre Spuren hinterlassen. Die Getreidefelder waren früh gelb geworden, besonders der Mais hatte gelitten. Vereinzelt sah sie einen Mähdrescher mächtig Staub aufwirbeln. Was er wohl drosch? Vielleicht Politikerphrasen. Vielleicht leere Ähren. Vielleicht war das Mähen nur eine Ersatzhandlung, um vom eignen Elend abzulenken. Wie mochte es in den Bauern aussehen?

Sie vermutete in ihnen Leere, Enttäuschung, Angst, Hoffnungslosigkeit. Und Wut. Über sich selbst, über andere. Wieder nickte sie ein, um eine Stunde später von einem lauten Telefonat am anderen Ende des Großraumwagens geweckt zu werden. Ihre Zunge schmeckte pelzig. Verlegen bemerkte sie, dass Speichel bis zum Kinn gedrielt war.

Sie fummelte beschämt ein Tempo aus der Hosentasche und wischte sich Kinn und Mund energisch ab, um festzustellen, dass die Lippen von der Trockenheit kleine Risse bekommen hatten. Zum Glück war ein Labello schnell gefunden, auch eine Plastikflasche mit Mineralwasser, die sie fast in einem Zug leerte. Um danach den kleinen nagenden inneren Vorwurf zu verspüren, wieder eine Plasteverpackung zu benutzen.

Das war wunderbar bequem, aber war das nicht die ganze Logik hinter dem Ganzen, unser aller Bequemlichkeit – oder Convenience –, wie das als Kern einer Disruptionsstrategie für bestehende Geschäftsmodelle als Begründung genannt wurde?

 

Sie musste den Halt in Frankfurt total verpennt haben – im wahrsten Sinn des Worts. Der ICE fuhr in Mannheim ein, und es entstand ein kleiner Aufenthalt wegen irgendeiner kleineren Panne. Als der Schnellzug ruckelnd anfuhr, gänzlich untypisch, dachte sie schon, dass das ein schlechtes Omen sein könnte.

Die Angst war unbegründet, denn das Oberrheintal glitt an den Fenstern vorbei, der Fluss gar nicht mächtig, eher klein und schmal, die Schifffahrt war komplett eingestellt. Es hatte seit Februar fast nicht geregnet. Unvorstellbar, noch ein Trockenjahr nach dem letzten schon unterdurchschnittlich feuchten und viel zu warmen.

Die Metreologen warnten, es könnte noch schlimmer kommen, wenn die Ausbeulungen im Jetstream ungünstig lagen. Die Abschmelzung am Nordpol hielt sie einfach nicht mehr in ihrem üblichen Korridor. So konnten Extremwettereignisse wie Dürren und sintflutartiger Regen über Wochen und Monate zum Normalzustand werden.

 

Der Brüllaffe ließ seine Umgebung weiterhin an den Beziehungskatastrophen bei seiner Schwägerin teilhaben. Das Getuschel wurde langsam lauter. Plötzlich meinte eine ältere Frau mit hörbarer Stimme: „Geht das nicht auch auf Zimmerlautstärke, mein Herr?“

Der Angesprochene ließ sich nicht beirren und begann, seine Antworten noch lauter in sein Gerät zu rufen. Nicht nur Shirin wünschte sich ein Funkloch oder wenigstens ein fehlgeschlagenes Zellenübergabehandling seines Carriers. Sie wurde erhört. Danach fragte ein jüngerer Mann vernehmbar in den Großraumwagen, ob die Ehefrau des Lautsprechers taub wäre.

Das anschließende laute Gelächter führte dazu, dass der Bloßgestellte den Fahrgastraum fluchtartig verließ und sich an eine Stelle verzog, an der er seine Schreiübungen störungsfrei fortsetzen konnte. Manche versuchten eben, unter Umgehung der Datenübertragung die Schallwellen direkt an den Empfänger zu senden. Und wurden konsequenterweise mit zunehmender tatsächlicher Entfernung zum Angerufenen beim Telefonieren lauter und lauter.

 

- – -

 

Am Hauptbahnhof in Freiburg wurde sie von einer Studienfreundin, Yvonne Herschel, abgeholt. Sie war überrascht und hatte sich sehr gefreut, als Yvonne nach ihrer Anfrage über Facebook einfach eine Einladung aussprach. Und das, nachdem über fünf Jahre vergangen waren, seitdem sie das letzte Mal persönlichen Kontakt hatten.

In der Zwischenzeit würde die Spedition das Umzugsgut in Form der besagten Holzkiste in Stühlingen lagern, bis sie die Anlieferung zu ihrem Bauernhof in einem lauschigen Schwarzwaldtal bei Stühlingen-Weizen freigab. Ihr Leben hatte wenig körperliche Vergangenheit. Das Sammeln von Erinnerungsstücken war ihre Sache nicht. Auch das mit Fotostorys auf Instagram oder „Fakebook“, wie sie zu scherzen pflegte, fand sie uncool – nicht einmal das Fotografieren selbst ausgenommen.

Sie war insgeheim der Auffassung, dass das Dokumentieren ihrer Anwesenheit auf dem Planeten nicht erforderlich war, weil es eigentlich die Aufgabe wäre, während der Anwesenheit möglichst wenig Spuren zu hinterlassen, da es die Eigenschaft von Spuren war, meist Schaden anzurichten, den nachfolgende Generationen zu reparieren haben würden, ohne dass Sicherheit darüber bestand, ob sie dazu Mittel und Fähigkeiten hatten.

 

Yvonnes große Penthouse-Wohnung strahlte gediegenen Wohlstand aus. Shirin unterdrückte schmerzhaft jeden Kommentar, indem sie sich in die Backe biss. Das tat sie stets unbewusst, wenn in ihr sich Widerspruch regte, um sie darin zu hindern, das gerade Gedachte ungeschützt mitzuteilen. Schweigen war in solchen Fällen die richtigere Art und Weise, mit der Erkenntnis umzugehen.

Was hätte es Yvonne genutzt, wenn sie ihr gesagt hätte, dass gerade sie als ehemaliger Blumenkinderverschnitt heute geradezu erschreckend bürgerlich angepasst lebte. Stattdessen lobte sie die herrliche Aussicht über die Altstadt, und die gab es wirklich.

Sie freute sich auch tief empfunden mit ihr, dass ihr mit der Wohnung ein echtes Schnäppchen gelungen war; denn schließlich hatte Yvonne gerade ein siebenstelliges Angebot für ihre Wohnung erhalten, als sie sie zum Test auf Immo-scout einstellte. Ein Biss in die andere Backe, diesmal sogar blutend, als sie mit Erschrecken dem schmerzlichen Ereignis nachschmeckte, verhinderte auch diesmal das Schlimmste: das Rollen mit den Augen.

 

Zum Glück entwickelte sich das Gesprächsthema zum Abendessen hin auf die gemeinsamen Zeiten während des Studiums weiter. Shirin wich den Fragen nach ihrem Exit-Projekt geschickt aus, indem sie einen weiteren Gag oder Gig aus der Studienzeit in den Raum schleuderte, wo er im Rotweinglas Yvonnes seinen Platz fand, deren Augenlider immer schwerer wurden und dabei einen durchaus zähen Kampf mit ihrer Zunge führten, wer denn schneller an Gewicht zunahm.

Shirin gab vor, eine Histaminintoleranz erworben zu haben, die besonders bei Rotwein unliebsame Reaktionen hervorrief – sie hatte doppelt Glück, dass bei der notorischen Rotweinschlürferin Yvonne kein anderer „Stoff“ aufzufinden war, der zum Essen passte, dadurch kam sie mit zwei Gläsern Prosecco davon, und danach war die einzige davon vorhandene Flasche geleert, weil ihre Freundin schon früh einen ziemlichen Zug an den Tag legte.

Yvonne war schon im Studium keine Kostverächterin gewesen, aber angesichts des aktuellen Konsums und der Menge war Shirin schon leicht besorgt, enthielt sich aber eines Kommentars.

 

- - -

 

Es war weit nach Mitternacht, als die beiden in ihre Kissen fielen; Shirin versank sofort in einem totenähnlichen Schlaf, aus dem sie erst gegen elf am folgenden Morgen aufschreckte. Yvonne war gerade unter der Dusche, als ihr etwas runterfiel, ein Geschehen, das bei ihr einen kleinen spitzen Schrei auslöste. Als sie also von außen an die Tür klopfte, tönte es von innen durch das Rauschen der Dusche verschwommen: „Nix passiert, ich lebe noch, du kannst gleich reinkommen, bin fast fertig!“

Shirin war erleichtert, ging in das Gästezimmer und schnappte sich ein neues T-Shirt, den Sport-BH und ein Höschen. Als sie zurückkam, ging bereits der Föhn. Sie putze rasch die Zähne und verschwand danach schlangengleich in der Dusche. Den Kommentar „Ich wusste gar nicht, was du für eine tolle Figur hast!“ überhörte sie geflissentlich, sie verbat sich sogar ihr Kopfschütteln.

Ihr waren solche Komplimente unangenehm, weil sie keine Lust hatte, bei Beauty-Contests mitzumachen. Das war ihr zu platt. Männer, die danach auswählten, wem sie ihre Aufmerksamkeit schenkten, und Frauen, die sich auf dieses Spiel einließen, waren noch nie ihre Kragenweite – Tinder erst recht nicht.

 

Der Brunch war kurzweilig. Beide junge Frauen vermieden die Untiefen und umschifften die Fettnäpfchen. Anschließend gingen sie in die große Stadt zum Einkaufen, woraus ein Shoppingausflug Yvonnes mit Shirin als Ratgeberin wurde. Shirin kaufte bloß ein Paar „echt geile“ Sneakers und ein leichtes, weites Oberteil, das ihr farblich zusagte.

Yvonne rümpfte die Nase, als sie dabei klar zu erkennen gab, dass sie nichts Knappes und auch nichts Halbtransparent-Aufreizendes wollte. Sie war nicht auf der Jagd. Yvonne war zwar vergeben, wie sie sagte, ihr Gegenstück aber gerade auf einer Messe im Ausland. Sie machte auch nicht den Eindruck, als ob sie wirklich zu ihrem Wort stünde, im Falle eines Falles.

In der Eisdiele am Domplatz flirtete sie heftig mit ein paar jungen Männern, etwas über dreißig, manche auf die Vierzig zusteuernd. Jedenfalls hatten Yvonne und Shirin auf diese Weise Begleitung. Für den Abend war rasch ein Treffen in einer angesagten Szene-Bar ausgemacht. Shirin schwamm mit, hatte sich aber frühzeitig einen zweiten Hausschlüssel organisiert. Diese Vorsichtsmaßnahme sollte sich als Segen erweisen, denn gegen eins empfand sie es als mehr als tunlich, sich auszuklinken und in die Büsche zu machen.

 

Yvonne traf erst nach dem Frühstück ein; ihrem Gesichtsausdruck konnte man entnehmen, dass die Nacht in jeder nur vorstellbaren Hinsicht äußerst befriedigend ausgefallen war.

Als Shirin untypischerweise scheinheilig fragte, wie es denn gewesen war, meinte Yvonne genüsslich, dass sie schon lange nicht mehr so gut und ausdauernd mit einem echten Könner gevögelt hätte. Die explizite Bemerkung nahm Shirin ungerührt zur Kenntnis und meinte trocken, dass die Dusche zu ihrer vollen, gänzlichen und exklusiven Verfügung stünde.

Ihre Gastgeberin musste kurz schlucken und fragte, ob sie denn streng riechen würde, und Shirin stimmte ihr ungerührt zu: „Du riechst in der Tat ziemlich intensiv nach ausgetauschten Körperflüssigkeiten, und Mann schmeckt frau auch ohne regelmäßige Übung deutlich heraus.“

„So schlimm, Shirin?“

„Na schlimm nicht gerade, aber laut und deutlich.“

Danach konnten sich beide vor Lachen nicht mehr halten, und Yvonne verschwand unter der Dusche. Es dauerte eine recht lange Weile, bevor eine in jeder Hinsicht in Stand gesetzte junge hübsche Frau zurückkam.

„Jetzt riechst du wieder nach Yvonne“, beschied sie zur Begrüßung Shirin.

„Na dann ist ja gut. Was machen wir mit dem angebrochenen Sonntag?“, war der Konter. Die Radtour durch Freiburg erwies sich jedenfalls als außerordentlich unterhaltsam und auflockernd.

 

- - -

 

„Ich muss morgen sehr früh raus. Mein ICE geht schon kurz nach acht. Ich will um die Mittagszeit in meiner neuen Bleibe sein. Ich brauche ungefähr drei Stunden und ein paar zerquetschte.“ Shirin blockte damit ein Abendessen außer Haus mit dem neuen Bekannten Yvonnes und dessen Kumpels ab: „Du kannst gerne gehen, Yvonne. Ich kann sehr gut auf mich allein aufpassen.“

Yvonne war erleichtert, Shirin ebenfalls – was sie ihr aber nicht zeigte. Sie war zwar außerordentlich schlecht im Schauspielern, aber ihre Begleiterin war vollkommen auf Vermehrungsmodus und konnte nicht mehr geradeaus denken, wie Shirin in ihrer sehr sachlichen Art feststellte, ein Stadium menschlicher Verhaltensweisen, das sie als Kontrollfreak gerne in weitem Bogen umging.

Ihre Gastgeberin war um halb sieben morgens noch nicht wieder zurück. Als Shirin zur Taxe hinuntereilte, hinterließ sie einen Zettel, ihre Email-Adresse und den Schlüssel. Das Bett hatte sie bereits abgezogen und die Waschmaschine angeworfen. Selbst die Spülmaschine, in der ihr Frühstücksgeschirr gerade noch Platz fand, lief und war fertig, als Yvonne um acht versonnen in ihre Wohnung stürmte, um sich mit Hilfe einer Dusche und Businessklamotten in Lichtgeschwindigkeit für die um Neun spätestens beginnende Aktivität zur Steigerung des Bruttosozialprodukts mit dem nötigen äußerlichen Rüstzeug zu versehen.

 

Währenddessen war Shirin bereits fast in Basel Badischer Bahnhof angekommen. Danach hieß es noch zweimal umzusteigen. In Weizen selbst nahm sie ein Stück einen Bus. Für den Rest musste sie einige hundert Meter den Berg hinauf-stiefeln. Sie war durch Jogging und Fitnessstudio in formidabler körperlicher Verfassung.

Hätte sie bauchfrei getragen, wäre ein gut definiertes weibliches Sixpack zu sehen gewesen. Das hatte sich einfach im Laufe der Zeit ergeben, darauf angesetzt hatte sie es nicht. Sie war sehr sportlich, und Bewegung machte ihr Spaß. Damit leitete sie den Stress ab, das machte sie ruhig und ausgeglichen.

In Basel hatte sie bereits die Spedition angerufen und ihr mitgeteilt, dass die Kiste am 13 Uhr angeliefert werden könnte. Sie kam pünktlich. Als die Lieferung versorgt war, hieß es, rasch mit dem vorhandenen alten Drahtesel ins Dorf zu radeln, um das Nötigste einzukaufen. Ihr Auto, ein Hybrid-SUV aus Südkorea, wurde erst morgen angeliefert. Es würde gegen zehn Uhr kommen. Damit konnte dann richtig eingekauft werden.

 

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Die erste Nacht nach dem Exit, nach dem Gang durch die beiden ersten Türen, schlief sie wie ein Murmeltier. Der Zustand des folgenden Morgens war „erfrischt“, wie man das früher nannte. Es war ein Genuss allererster Güte, sich wohlig unter der Daunendecke zu strecken, bis die Gelenke knackten, sich danach nochmal rumzudrehen, um zu dösen, bis ein vorwitziger Sonnenstrahl ihre Lider traf, um ihr klarzumachen, dass sie aufstehen sollte, um den Kia-Verkäufer wenigstens in Shorts und T-Shirt zu empfangen – statt im luftigen kurzen Schlafanzug.

Nicht dass dem mittelalterlichen Herrn, der das Fahrzeug bringen würde, die Augen gegen die Brille ploppten. Er hatte sowieso die ganze Zeit versucht, die Füllung ihres Dekolletees zu vermessen. Das war sie gewohnt, denn schließlich konnten die schlanken Hände nicht „angedickt“ werden, was bei der Körperkleidung durchaus gelang. Auch die schlanken Fesseln unter den weiten Hosen konnten nicht verbergen, dass die Körperfülle geringer war als dargeboten.

Die auf Tonne getrimmte Auslage kann am Ende die wahre Schönheit nur verbergen, aber nicht gänzlich verhüllen, und selbst der beste Sport-BH konnte leichte Schwingungen des Vorbaus ab einer gewissen Größe nicht mehr unterdrücken. Das Brustgewebe, solang es echt war und nicht Silikon-verstärkt, war und blieb warm und weich. Und wabbelte wie der gute alte Wackelpudding, wenn man es durch Gehen ins Schlingern versetzte.

 

Nach Katzenwäsche und schnellem Hineinspringen in Schlüpfer und Hose sowie dem blitzartigen Überstreifen von ebendiesem BH und weitem Oberteil, sie hatte gerade noch außerdem die Kaffeemaschine gestartet, klingelte es tatsächlich. Gedankenübertragung, dachte sie, wie gut, dass sie in diesen Sachen schnell war und die Haare kurz genug, um sie nach der Kopfwäsche einfach in Form zu kämmen.

Sie zog rasch die neuen Sneakers an und eilte zur Haustür, wo ein breit lächelnder Peter Meierle, erwartungsvoll den Schlüssel des Fortbewegungsmittels am rechten Zeigefinger pendelnd, stand und ihr ein alemannisches „Grießgott, Frau Meisig!“ um und in die Ohren säuselte. „Hann i Se uffgweckt?“, fuhr er nach einem aufreizend ausführlichen Ganzkörper-Scan fort.

Sie gab völlig ungerührt grußlos zurück: „Ich habe gerade Kaffee gekocht, wollen Sie einen mittrinken?“ Und wartete seine Antwort gar nicht erst ab, sondern drehte sich um, ließ den leicht verdatterten Herrn Meierle in der Tür stehen und holte aus der Küche das rasch vorbereitete Tablett, das sie jetzt nur noch rasch um eine mit dem frisch gebrühten Kaffee gefüllte Thermoskanne ergänzen musste.

 

Als sie zurückkam, stand er immer noch da, „d’Fresslad uff“, wie man das in dieser Region scherzhaft tituliert, wodurch sie ihn sanft zur Seite schieben musste, um zum vorbereiteten Tisch auf der Veranda, die zum Weg hin ausgerichtet lag, zu gehen und das volle Tablett sicher darauf abzustellen. Das ging rasant in tänzerisch gleitenden Bewegungen: „Herr Meierle, kommen Sie?“, wedelte sie den nun wieder aus seiner Schockstarre Erwachenden zu sich an den Tisch und bedeutete, ihr gegenüber Platz zu nehmen.

„Milch, Zucker?“ Er nickte zweimal stumm und ergriffen. Wenn man ihn jetzt beobachtete, könnte man in Frage stellen, ob er überhaupt fähig wäre, irgendetwas zu verkaufen. Keine Sorge, Meierle konnte das durchaus, er war der beste Verkäufer der autorisierten regionalen Kia-Vertretung Karl Hail aus Stühlingen. Aber Shirin hatte die Eigenschaft, nicht nur die Herren der Schöpfung aus der Ruhe zu bringen, indem sie ihnen mit ihrer Burschikosität seelenruhig den Schneid abkaufte.

Shirin löffelte gechillt ihren Müslitopf aus, während ihr Gast seinen Kaffee mit spitzem Mund zu sich nahm. „Wie geht es Ihnen immer, was machen die Geschäfte?“, fragte sie, und er verschluckte sich fast. „Wissen Sie was, lassen Sie uns zum Auto rübergehen, und Sie beantworten dabei meine Fragen, dann optimieren wir das Ganze, nicht wahr?“

Er setzte die große Tasse ab, brachte den Tisch beim Aufstehen zum Wackeln, ließ dadurch das Geschirr vernehmlich klirren und zog beim Gehen das rechte Bein merklich nach. Sein schmerzverzerrtes Gesicht, das Shirin selbstredend bemerkt hatte, sprach Bände. Das Stöhnen hatte er in wilder Wut unterdrückt, um sich keine weitere Blöße zu geben. Er würde diese Ablieferung ebenso in Erinnerung behalten wie zuvor die Barzahlung mit entsprechendem Rabatt beim Kauf.

 

Der KIA Niro mit Hybrid glänzte in der späten Morgensonne. Chrom blitzte aus dem Weinrot-Metallic. Die beiden stiegen ein, versanken im weichen Polster, die Türen fielen mit einem satten Schnalzen ins Schloss. Meierle erläuterte sachlich die Bedienung. Dann wechselten sie die Sitze, sie stieg auf der Fahrerseite ein, und er pingte seinen Abholer an, der in ca. 15 bis 20 Minuten erwartet wurde.

Sie hatte den Wagen mit allem an Zusatzausstattung gekauft, das es gab. Daher war die Zeit gut austariert. Auch Meierle wusste durchaus, was er tat, wenn ihn nicht gerade die Biologie vom Wesentlichen nicht unwesentlich ablenkte. Da Shirin eine echte Schnellmerkerin war, benötigte sie nur die Hälfte der angesetzten Zeit.

Aber da war noch Kaffee in der Thermoskanne, und der musste getrunken werden, nicht wahr? Daher gingen sie zurück auf die Veranda und setzten sich, wobei sich er mit äußerster Vorsicht in seinen Sitzplatz bugsierte. Sie musste sich gehörig anstrengen, ein Lächeln zu unterdrücken, und behalf sich damit, die rechte Braue sardonisch anzuheben.

Er erzählte und erzählte, bis sein Abholdienst sich durch Hupen ankündigte. Die beiden verabschiedeten sich freundlich, und Meierle würde erst am folgenden Tag genau verstehen, was ihm geschehen bzw. wer ihm widerfahren war, und dabei etwas schamhaft erblassen, wobei sich einige kalte Schweißperlen auf der Stirn dem Zug der Tür des Verkaufsraums zur Kühlung anbieten würden.

 

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Nachdem sie in Ruhe fertiggefrühstückt hatte, ging sie an den Anschluss von Telefonie, Internet und Rechnern. Das W-LAN hatte sie schon beim letzten Mal installiert und ausgeleuchtet, so dass ihr Schlafzimmer möglichst wenig „beschallt“ wurde. Man musste es schließlich nicht übertreiben mit der elektro-magnetischen Induktion in Gehirn und Nervenbahnen.

Bei aller Technikaffinität und trotz aller Nutzenversprechen bewahrte sie sich eine Distanz haltende Skepsis den digitalen Spielzeugen gegenüber, die allerdings eher den gesunden Zweifeln der Expertin ihr Arbeitsfeld betreffend entsprang als den weit verbreiteten diffusen Ängsten, die Digitalisierung betreffend.

Sie hielt nichts von aufwallenden Emotionen; die nüchterne und sachliche Betrachtung der Dinge, die Abwägung von Vorzügen und Nachteilen, von Fortschritt und Risiko, lag ihr eher; das entsprach ihrem eher sachlichen Naturell. Bevor man etwas vehement ablehnte oder begeistert befürwortete, sollte man sich erst nachhaltig und tiefgreifend informieren. Dabei war ihr natürlich bewusst, dass der Affe Mensch durchaus nicht von seiner Ratio gelenkt und beherrscht wurde – auch wenn er sich das selten eingestand.

Das somatische Element jedweder Disposition war ihr nicht fremd, im Gegenteil. Sie wusste ebenfalls, dass die Reizempfindlichkeit von Mensch zu Mensch, von Tier zu Tier, durchaus stark variierte.

 

Es gab die Elektrosmogkrankheit, bei der Betroffene alle elektromagnetische Strahlung als körperlich und seelisch belastend empfanden, die bis zur Arbeitsunfähigkeit führen konnte, auch wenn diese Phobie bis dato medizinisch als psychosomatischen Affekt behandelt wurde, weil man derzeit eine körperliche Ursache nicht in einer lückenlosen Beweiskette nachweisen konnte.

Sie war sich nicht völlig sicher, ob das nicht vielleicht in naher Zukunft gelingen könnte. Schließlich gab es den Effekt der elektromagnetischen Induktion tatsächlich, aus dem abgeleitet werden konnte, dass jede Strahlung, wenn sie auf einen Leiter traf, Strom erzeugte. Der menschliche Körper mit seinem hohen Wasseranteil war beileibe kein schlechter Leiter. Die Anamnesen von Blitzschlagopfern sprachen Bände.

Da sie gut vorbereitet war und ihr Handwerk verstand, schließlich hatte sie es von der Pike auf gelernt und nach dem Abitur eine Ausbildung als Kommunikationselektronikerin gemacht, war der Anschluss der Geräte in weit weniger als der geschätzten Zeitspanne erledigt. Ein kurzer Anruf auf ihrer ehemaligen Firma, der sie als freie Mitarbeiterin verbunden blieb, zeigte, dass alles im Lot war. Die Verbindung klappte.

Der Durchsatz und die Bandbreite stimmten hoffnungsfroh. Ein Wunder der Technik, kaum zu glauben, aber wahrio, wie sie schmunzelnd dachte, oder einfach mal die Richtigen ranlassen, stupid.

 

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Sie hatte sich im Vorfeld ebenfalls mit ihrem Ausbildungsbetrieb, bei dem sie die Lehre gemacht und vielfacher Auszeichnung abgelegt hatte, kurzgeschlossen; auch dort war man sehr erbaut, auf sie im Bereich der Programmierung von Steuerungen, der Voraussetzung der Umsetzung von Smart-Home und Internet of Things, ab jetzt gleich und sofort wieder verstärkt zugreifen zu können.

Eigentlich wäre sie durch die Projekte, die man ihr angeboten hatte, bereits um ein Mehrfaches überbucht; sie wollte jedoch Zeit für eigene Forschungen und Vorhaben haben, um derentwillen sie den Exit schließlich so lange vorbereitet hatte.

Sie sagte deswegen nach vorsichtiger Schätzung nur die Projekte zu, die besonders eilten oder bei denen sie aktuell noch unersetzlich war und die am Ende zusammen genommen gerade die Hälfte ihrer insgesamt vorgesehenen Arbeitszeit von fünfzig Wochenstunden ausmachten. Es würde sich nach und nach herausstellen, dass sie durch Optimierung und Wegfall der Projektleitungsaufgaben tatsächlich ihren Output erheblich verbesserte, wenn und weil sie gewillt war, nur das zu tun, was sie reizte.

 

Es gab Dinge, die sie nicht besonders mochte; dazu gehörte das Managen von menschlichen Eitelkeiten und persönlichen Idiosynkrasien von Kunden, Kollegen und Lieferanten. Sie war sehr froh, dass sie diesen Teil ihrer bisherigen Tätigkeit weitgehend losgeworden war. Nicht dass man sie als Misanthropin würde bezeichnen können, durchaus nicht. Sie mochte nur diese ineffizienten Spielchen, Intrigen und Pfauenradschlägereien nicht. Es störte sie enorm, wenn man sich nicht mit der Sache befasste, sondern seine Energie auf Nebenkriegsschauplätzen verschwendete.

Nicht zuletzt mochte sie die mangelnde Selbsteinschätzung ihrer Umgebung nicht sonderlich. Es war keine Schande, einige Schwächen zuzugeben, meinte sie. Der soziale Krimskrams war schon gar nicht ihr „Favorite“. Das konnten andere besser, also sollten die das übernehmen. Aber dazu musste man sie machen lassen und die Sache vom Ergebnis her beurteilen.

Sie kümmerte sich lieber um Design, Konzeption und Umsetzung. Allenfalls das technische Coachen der Teammitglieder mochte sie recht gern, denn es lag ihr am Herzen, dass jedes Projekt technisch ein Erfolg wurde. Dafür setzte sie sich ein, und wenn es nötig war, sogar nachts und am Wochenende.

Man konnte und durfte sie in allen Fragen der Entwicklung und Programmierung jederzeit ansprechen, auch spät am Abend. Sie hatte in kritischen Projektphasen immer ein offenes Ohr gehabt – zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten; Programmierer waren manchmal Dunkelkinder und nachtaktiv, wie man wissen konnte, wenn man wollte.

 

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Die erste Woche hatte sie sich arbeitsfrei gehalten. Sie nutzte diese Zeit zum einen, um ihre Haushaltseinkäufe zu machen, und zum anderen, um sich nach Möbeln für die anderen Räume umzusehen. Natürlich hatte sie sich im Internet vorab schlau gemacht. Zielorientierung sorgte dafür, die Zeit wirkungsvoll einzusetzen.

Mit ihr war Einkaufen einfach. Sie wusste, was sie wollte. Sie irrte nicht durch die Ausstellungen und verzierte nicht die Schaufenster mit Abdrücken ihres durchaus hübschen Gesichtserkers. Sie war keine Tussi. Ende der Ansprache. Das, was sie nicht fand, ließ sie schreinern. Dazu gehörte beispielsweise, dass sie eine Menge Wandschränke hatte einbauen lassen. Ihr Schlafzimmer bekam einen begehbaren Kleiderschrank, in dem sie auch die Bett- und Hauswäsche aufbewahrte.

Abends war sie immer erschlagen. In den nächsten Wochen und Monaten würde nach und nach Lieferungen kommen, die ihr Haus wohnlich gestalten würden.

Der Mittwoch diente dazu, die Gegend zu erkunden und endete damit, dass sie sich ein Mountainbike mit kompletter Ausrüstung zulegte. Letztere gab es leider nur in enganliegender Ausführung, was bei den männlichen Käufern und Verkäufern Kuhaugen auslöste.

Ihr wurde wieder einmal mit großer Deutlichkeit bewusst, dass sie „eine verdammt geile Schnitte“ war, was immer sich der männliche Teil des Homo-sapiens auch darunter vorstellte: Sie musste äußerlich diesem Ideal ziemlich exakt gleichen. Uncool fand sie das, ziemlich uncool. Menno.

 

Das Rad musste für sie gebaut werden, weil sie darauf achtete, ihr Geld richtig zu investieren. Sie war ziemlich groß und hatte lange muskulöse und wohlgeformte Beine. Da gab es nichts Brauchbares von der Stange, jedenfalls nichts, was zum richtigen Biken taugte. Also vereinbarte sie eine Lieferung in genau vierzehn Tagen; davor erhielt sie ein äquivalentes Leihrad umsonst, das sie tatsächlich in den SUV hineinbekam, indem sie es zerlegte.

Dem Verkäufer war schnell klar, dass Shirin alles war, bloß kein Weibchen. Er brauchte ihr genau einmal zu zeigen, wie man es auseinander- und wieder zusammenbaute. Er nickte anerkennend und klopfte ihr kameradschaftlich auf die Schulter.

Herr Hägele durfte das. Er konnte schließlich ihr Vater sein und hatte zwei eigene Töchter, die aktive Sportmountainbikerinnen waren: Auf seine Mädels war er verdammt stolz. Er berichtete ausführlich mit leuchtenden Augen von ihnen und ihren Erfolgen und zeigte ihr sogar Bilder von Helena, genannt Helen, und Birgit, besser bekannt als Biggy.

Sie lächelte und fragte, ob sie sich bei ihnen Tipps für Training und Strecken holen durfte. Durfte sie. Die drei jungen Frauen trafen sich schon am Freitagabend und wurden sofort Freundinnen. Bereits am Samstagmorgen fuhren sie gemeinsam los, und die beiden Hägele-Töchter mussten neidlos anerkennen, dass Shirin nicht nur geradezu umwerfend aussah, sondern auch noch fit war wie ein Turnschuh.

„Lecko mio, du gehsch ab wie Schnitzel“, kommentierte Biggy. Das war ein Kompliment und das von einem Alemannen (allerdings in weiblicher Ausführung, selbstredend.)

 

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Der Freitag war dem Garten gewidmet. Sie hatte mit einer örtlichen Bäuerin auf Hinweis von Helen Hägele einen Termin bereits morgens früh um halb sieben. Gerti Züfle war zu dieser Zeit bereits im Stall gewesen, hatte die Kühe, die Schweine und die Hühner gefüttert – vom Aufgestandensein und das Frühstück für die Familie Richten nicht zu sprechen. Da schien es Shirin wie eine Majestätsbeleidigung, diesem Zeitfenster zu widersprechen.

Gute Leute musste man treffen, wenn sie Zeit hatten, war der Lehrsatz ihres Vaters gewesen, und an diesen hatte sie sich, wie an recht wenige sonst, immer durchaus nutzbringend gehalten. Die Weisheit der frühen Stunde zeigte sich, als Gerti, die Bauerngartenstrategin, um halb zwölf das Beet räumte, von Feld war kaum zu reden, dazu war die ganze Sache in ihrer Quadratur etwas zu klein, um zum Züfle-Hof zurückzueilen und am Mittagessen teilzunehmen, das, man höre und staune, Sohn Gerd, Mitte Dreißig, gekocht hatte.

„Dess macht dr Gerd öfter, weisch, mr ka seine Kendr ao a wenig ziega, dess geht“, hatte sie geschmunzelt, weil Shirin ihre rechte Augenbraue gehoben hatte, als die ältere Frau davon fröhlich berichtete. Es war inzwischen „rechtschaffa“, wie sie das ausdrückte, „hitzig“ geworden. Da war man lieber nicht unter, sondern besser gleich aus der Sonne.

In den nahezu vier Stunden war einiges „geschafft“ worden. Das schien ein Lieblingswort der Ureinwohner dieser Gegend zu sein. Jedenfalls waren Tomaten, Gurken, Zucchini, Bohnen, Zwiebel, Kartoffeln mit Hilfe vorgezogener Sprösslinge in „Länder“ eingebracht. Diese waren zum Glück bereits bei vorherigen Aufenthalten umgegraben und gut durchgelüftet worden.

Da half die Erfahrung mit der Gartenwirtschaft im Garten der Eltern; exakt diese hatte Shirin erfolgreich angewandt. Auf die Frage hin, ob das mit den Nutzpflanzen nicht zu spät wäre, wurde sie trocken beschieden: „Dess wisse mir erscht im Herbscht, aber der Sommr wird lang, dess sagt mir mei Bauchgfühl - un dess isch trainiert.“

 

„Don’t mess with the experts!”, war ein zweiter Lehrsatz, den sie von einem KI-Kongress aus den USA mitgebracht hatte. Auch diesem Grundsatz lohnte es sich zu folgen, wenn auch durchaus nicht immer. Gerti und sie verabredeten sich in zwei Wochen zur Betrachtung des Erreichten und zur Vorbereitung weiterer Dinge.

So dachte Shirin daran, sich ein paar Hühner zuzulegen. Dazu musste der dafür vorhandene Verschlag in Augenschein genommen werden, was sie gleich auf Stall, Scheune und Schuppen ausdehnte. Gerti versprach, den angesprochenen Sohn Gerd mitzubringen, wobei Shirin nicht so recht wusste, was die Bäuerin wirklich im Schild führte, da Gerd unbeweibt war, zur Trauer seiner Mutter, die gerne ihre ganze vorhandene große Menge an Liebe über eine wachsende Enkelschar ausgeschüttet hätte.

Da war nur leider bisher nichts los, weder die beiden Töchter noch der Sohn machten den Eindruck, sich in dieses Stadium menschlichen Seins, die Elternschaft, hinzuentwickeln.

Als Gerti sich verabschiedete, nahm sie Shirin kurz fest in den Arm und meinte: „Du gfällsch mr, weisch dess?“ Shirin war anschließend recht perplex und erholte sich erst von diesem Schreck, als die Gerti bereits einige Meter mit ihrem Rad gemacht hatte. Sie konnte verdammt schnell Rad fahren, Donnerwetter, die Frau war echt gut in Schuss, musste Shirin völlig neidfrei eingestehen.

Sie hingegen merkte jeden Knochen durch die Gartenarbeit und brauchte erst einmal eine richtige Pause. Das Essen war rasch gezaubert, und den Nachmittag verbrachte sie an ihrem MacBook auf ihrer schattigen Veranda, erledigte ihre E-Post und begann das erste Entwicklungsprojekt, indem sie ihre Programmierumgebung einrichtete und sodann ein erstes Struktogramm als Mindmap anlegte. Danach arbeitete sie sich in die erforderliche KI-Mathematik ein.

 

Schließlich hatte sie eine recht gute Idee, wie das Projekt umzusetzen war, und entwarf mit Visio erste Ablaufschemata. Als sie damit durch war, zeichnete sie zur Ablenkung ein paar Mock-ups der Masken und stellte einige Überlegungen zum Datenmodell an. Als sie zum ersten Mal aufsah, kitzelte sich die Sonne an den Bergspitzen des Südschwarzwalds wund und bekam dabei einen Stich ins Rotorange.

Das jedoch war über dem fast schwarzen Dunkelgrün der Kammlinien ein ungeheuer faszinierender Anblick. Sie hatte sich rasch in den „Wald“ regelrecht verliebt, obgleich sie alles andere als gefühlsduselig war.

Der Wind frischte auf und würzte einen Hauch von Nachtkälte in die Böen hinein, erst selten, dann langsam immer häufiger. Es fröstelte sie zwar noch nicht, aber manchmal stellten sich an den nackten Armen und Beinen sowie im Nacken die Härchen auf, und die Stirn wurde angenehm kühl, wenn ein kleiner Zug über sie strich.

 

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Den Samstag nutzte sie, um die Gegend intensiver zu erforschen und ihre Vorräte aufzustocken. Sie brauchte darüber hinaus noch einiges an Werkzeugen, Arbeitskleidung und Sommerklamotten. Am Ende hatte sie sich eine komplette Werkstatt samt Arbeitsplatte, eine Heckenschere, Sense, Rasenmäher, Baumschere etc. gekauft und war ein Vermögen losgeworden.

Das, was sie nicht transportieren konnte, ließ sie sich zufahren. Sie schwor sich, sich recht bald einen Hänger zuzulegen, aber da wollte sie den Rat der Experten einholen. Die Arbeitskleidung bestellte sie schließlich aus dem Engelbert-Strauss-Katalog. Sie ließ sich, das gab sie zu, vom Design inspirieren. Das Zeugs sah einfach gut aus. Besonders die Jeans mit den vielen Taschen machten sie an, ebenso die coolen Arbeitsschuhe.

Zum ersten Mal seit einer ganzen Ewigkeit hatte sie sich von Eitelkeit ergreifen lassen, dachte sie erstaunt, musste aber einräumen, dass sie schon beim Aussuchen der Mountain-Bike-Kluft durchaus nicht nur von Nützlichkeiten geleitet war. Was ist bloß los mit mir, schüttelte sie den Kopf und wurde schamrot – aber nur kurz. Die Hägele Sisters hatten ihr Outfit beim Kauf oberhammergeil genannt. Und sie musste dem damals insgeheim zustimmen, schlechtes Gewissen und mulmiges Gefühl hin oder her.

Bei den Sommerklamotten war sie wieder die Alte, bequem, weit, nur nicht auffallen. Sie mochte keine Anmache und hasste es, nach Äußerlichkeiten beurteilt zu werden. Daher hatte sie sich extra einen Fitnessraum mit Dusche in einem modernen Anbau eingerichtet, in den sie noch die Geräte kaufen musste – damit sie keiner anstarrte, wenn sie trainierte. Aber irgendwie inkonsequent war sie schon, wie ihr auffiel.

 

Am Abend stieg sie auf ihr Leihbike und fuhr mit Biggy und Helen mal wieder eine kleine Schleife, so dass sie gegen acht zu den Nachrichten wieder zuhause war. Die neuen Freundinnen grinsten sich einen ab, als sie das starke Interesse vieler Herren allen Alters an ihrer Person registrierte und etwas beschämt war.

„Fresh meat in da village“, singsangte Helen à la Jamaika und schmunzelte unverschämt. „Frischfleisch wird immer gern angestarrt, besonders wenn es zum Anbeißen aussieht wie du Sahneschnitte“, setzte Biggy einen drauf und riet Shirin eiskalt, die Blicke erst möglichst schnell zu übersehen und gleich auch ihre schlichte Existenz zu ignorieren. Sie würde sie eh nur vermeiden können, wenn sie nicht mehr fuhr, und das stünde sicherlich nicht zur Disposition.

Shirin schüttelte trotzig den Kopf und verneinte das. „Vielleicht sollte ich das nächste Mal ohne Höschen und nur im BH fahren, dann haben sie noch größere Stielaugen“, motzte sie halblaut und wurde dafür von Helen und Biggy in den Arm genommen. „Tu dess nur eimal – un dess ganzi Nescht schwätzt über dich!“, tönte Helen, „d’Manna un d’Fraua!“

 

„Im Ernst, soll ich? Ich mach’s!“, forderte Shirin die beiden in einem Anflug von Stolz heraus. Die Freundinnen schüttelten den Kopf und versicherten, dass sie ihr das glatt abnähmen, aber ernsthaft davon abrieten, weil das nur weiteren Ärger brächte, weil man schon über die neue Hofbesitzerin redete, und viele Geschichten im Umlauf wären, von denen ungefähr genau gar nichts stimmte, „aber dess isch’s Land hier un a Dorf, da wisset alle alles, un es wird gläschtert!“, wurde sie aufgeklärt.

Als sie fragte, was alles geredet würde, meinten die Freundinnen abwehrend: „Dess willsch du am beschte gar net wissa, glaub’s uns!“ Doch sie bohrte nach, und die Freundinnen verwiesen auf das Glasfaserkabel, das man zu ihrem Haus gelegt hätte.

Das hätte einen ziemlichen Aufruhr ausgelöst, weil besonders die Anrainer gerne kostenfrei draufgesattelt wären, was die Telekom natürlich abgelehnt hatte. Man war sich im Ort durchaus nicht einig, was die Notwendigkeit eines solchen Anschlusses angelangte, das Geld, das er gekostet hätte und wo das denn herkäme und ob Shirin etwa der Grund wäre, dass man daran nicht partizipieren könnte, und nicht die böse Telekom. Gerüchte eben. Shirin meinte sachlich und ruhig: „Gut, dass ich jetzt Bescheid weiß. Daher die eine oder andere Zurückhaltung. Habe verstanden.“

 

Die drei verabredeten sich auf Sonntag früh, um damit die Morgenkühle für eine größere Rundschleife auszunutzen. Shirin stimmte freudig zu. Und überlegte allen Ernstes, wie angedroht zu erscheinen, was sie dann aber klugerweise unterließ, obschon es sie in den Fingerspitzen juckte. Dafür zog sie das knappere der beiden Outfits an, das ihre Attribute mehr als umschmeichelte und bedeckte, mehr aber nicht.

Ihre beiden Begleiterinnen sahen selbst wirklich sehr sportlich und sexy aus, aber Shirin toppte sie bei Weitem. So viel zum Thema „Ich nehme an keinem Schönheitswettbewerb teil“, musste sie sich eingestehen und fühlte sich als „Miss sexy Hexy of da Black Forest“ (Zitat Biggy) fast zu gut: Zum allem Übel genoss sie den Aufriss und -zug tatsächlich mit jeder Faser ihres Seins.

Am Sonntagabend rief sie zuerst Ida wegen der Orchideen und danach Yvonne an, um dieser endlich zu berichten, dass sie gut angekommen wäre. Letztere war im Liebesrausch und ersparte ihr dadurch all die lästigen Nachfragen, vor denen sie sich gefürchtet hatte.

Ihr Fitnesscenter des Vertrauens in Leipzig hatte sie ebenfalls kontaktiert und einen Termin für den Montagmorgen in zirka zehn Tagen ausgemacht, um mit ihrem dortigen schwulen Lieblingstrainer – sie vermisste ihn – die Geräte festzulegen, die sie kaufen wollte. Es mussten zwei bis drei Multifunktionsmaschinen, ein Laufband, ein Stepper und ein Crosstrainer sein, aus einer Studioauflösung - damit es nicht zu teuer werden würde.

 

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Als sie am Sonntag mit dem Auto nach Leipzig fuhr, war viel „geschafft“. Sie schmunzelte bis Villingen-Schwenningen und lächelte bis zur Abfahrt nach Heilbronn von der A81 auf die A9. Die Fahrt war fast staufrei. Rechtzeitig bevor sie Wangenmuskelkater bekam, wechselte sie in Franken vom Lächeln ins konzentrierte Verkehrsbeobachten über, der Ermüdung geschuldet.

Bei Hof fuhr sie in eine Raststätte, erleichterte sich buchstäblich und tatsächlich, trank einen großen schwarzen Kaffee und „erging“ sich zur Muskellockerung, per WhatsApp die Ankunftszeit bei Ida nachführend, die sich „hyper“ freute und es „obergeil“ fand, dass Shirin bei ihr mit Schlafsack übernachtete. Sie drohte an, sie zu löchern, was sie denn bei den Schwaben (waren aber Badenser), den Über-Wessis, anstellte und wie alles wäre, Hauptsache Fotos und so.

Shirin hatte sich glücklicherweise gewappnet; die anderen WG-Bewohner waren bereits in den Semesterferien oder im Prüfungstotalstress. Für Shirin galt nämlich: Tinder, Facebook, Insta, Messenger: nono, GitHub: yeah. WhatsApp war der Kompromiss – aber auf einem separaten Gerät, das nicht für geschäftliche Zwecke genutzt wurde. Es gab Dinge, die gingen niemand was an, was für eine verkehrte Welt.

 

Als sie in Leipzig anlangte, empfand sie große Vertrautheit, aber kein echtes Heimatgefühl. Leipzig war gestern, ein abgeschlossenes Kapitel. Überhaupt war Heimat da, wo man sich heimisch fühlte, hatte jemand sinngemäß gesagt. Allenfalls die schönen Zeiten im Garten des Elternhauses, die vermisste sie. Besonders das heitere Spielen mit dem Vater, der eine endlose Geduld hatte, etwas, das Shirin völlig abging, einer der Gründe, warum das Thema eigene Kinder bisher nicht am Horizont erschien, es war „weit, weit weg von hier“, wie ein moderner Barde es besungen hatte.

 

Sie fand eine Parklücke in der Nähe der WG – was einem Wunder gleichkam und wohl daran lag, dass der eine oder andere Studiosus schon in heimatlichen Gefilden weilte oder sonst wo auf dem Planeten unterwegs war, um die Liste der Dinge, die man tun, und der Plätze, die man gesehen haben musste, auf einer Checkliste abzuhaken, die Otto Normalo und Ottilie Normala von irgendwem vorgegeben waren – denn von selbst wären die allermeisten auf solche „Must-haves“ nicht gekommen, dazu fehlte ihnen Shirins Ansicht nach zumeist der Adressraum.

Sie hielt überhaupt nichts davon, Anforderungen konsumtiver Art nachzulaufen, nur weil man bzw. frau das eben tat, um dazu zu gehören. Sie gehörte einzig und allein sich selbst, sie definierte, welchen Maßgaben sie gerecht zu werden gedachte oder nach welchen sie ihren Lebenserfolg bzw. das damit oft verwechselte Lebensglück, bewertete, und damit Ende Gelände.

 

Ida stürzte bereits durch die Haustür zur Straße hinaus, als sie klingelte, und warf sich ihr an den Hals. Shirin wusste gar nicht, was ihr geschah, und taperte mit Ida als Ersatzcardigan erst einmal zurück auf die Straße, was quietschende Reifen und zorniges Hupen als Folge auslöste. Sie hatte anscheinend nie registriert, dass sie jemand wirklich vermissen würde, freundlich distanziert, wie sie im Umgang mit allen WG-Bewohnern gewesen war.

Die feuchte Wange, die ihr die Tränen Idas verpassten, machte sie ziemlich verlegen, so dass sie dem Impuls, die anhängliche junge Frau sanft wegzuschieben, widerstand, sie stattdessen in den Arm nahm, langsam wieder in Richtung Gehsteig bugsierte und sie eine ganze lange Weile festhielt, bis das stumme Schluchzen abklang.

„Ich hab dich so vermisst, Shiri!“, sprach Ida in ihre Halsbeuge, sie war einen halben Kopf kleiner als die groß gewachsene Shirin, die fast eins achtzig maß. Shirin strich ihr begütigend übers Haar und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Und wunderte sich zugleich darüber, eine solche Gefühlsaufwallung zu haben und ihr schließlich auch noch durch die Tat zum Durchbruch zu verhelfen. Sie wusste bisher gar nicht, dass sie solche Impulse in sich hatte.

Ida löste sich von ihr, blies eine lange Strähne aus der Stirn und hakte sich bei ihr unter, während sie ihren Gast durch die Tür zog und mit ihm zielstrebig die drei Etagen zur Wohnung hoch trippelte. „Ich hab dir was zu essen gemacht und deinen Lieblingstee gekocht, sogar deinen Becher habe ich gefunden, du musst ihn vergessen haben.“

 

Shirin schaute Ida überrascht ob dieser Feinsinnigkeit an, lächelte kopfschüttelnd und meinte nur: „Danke, Ida, das war nicht nötig, aber ich trinke gerne eine Tasse und esse etwas, aber nur wenn du mitisst.“ Ida nahm ihr Ruck- und Schlafsack ab und trug beides in ihr Zimmer. Sie nahm währenddessen die Gelegenheit wahr, einmal ein ordentliches Klo zu besuchen und sich frisch zu machen.

Als sie zurückkam, saß ihre Gastgeberin schon am Tisch der Wohnküche und sah sie mit erwartungsvollen untertassengroßen grünen Augen groß an. „Und?“, fragte sie. Shirin antwortete geschickt mit zwei Gegenfragen: „Was machen die Orchideen? Wie geht es dem Studium?“

 

Ida berichtete bereitwillig. In den fast vier Wochen war in der Tat einiges passiert, alte Beziehungen gescheitert, neue eingegangen worden. Eine neue Mitbewohnerin war gefunden, die in Shirins altes Zimmer nach den Semesterferien einziehen würde. „Nett, aber bei weitem nicht so cool wie du, Shiri. Du bist mein Vorbild, weißt du das? Und nicht nur meines.“

Idas Geständnis brachte Shirin endgültig ins Trudeln. Vorbild, auch das noch. Zum Glück fuhr Ida damit fort, zu erzählen, dass ihre Prüfungen alle gut verlaufen wären. „Ich streng mich total brutal an, um wenigstens annähernd an deine Ergebnisse ranzukommen. Und die Lernerei scheint sich auszuzahlen. Abhängen, Clubbing und so war gestern. Sogar die Boys habe ich abgeschafft. Ehrlich, ich werde schon als Streberin bezeichnet, stell dir vor!“ Und das bei Ida, die am Anfang ihres Stadiums alles ein bisschen arg locker und gechillt genommen und während des Vorstudiums hatte bis zur Faulheit schleifen lassen!

Shirin war schon vor ihrem Auszug aufgefallen, dass Ida auf einmal viel ernsthafter, erwachsener und teilweise fast arbeitswütig geworden war. Jetzt wusste sie auch warum. Welche Ehre, dachte sie, wie soll ich ihr bloß gerecht werden. Vorbild. Verrückt. Echt jetzt, keinen Bock drauf – aber irgendwie fühlte sie sich dann doch geehrt, sogar ein bisschen geschmeichelt.

 

Es wurde richtig spät und nicht unerheblich flüssig, auch der Abschied am Montagmorgen war extrem feucht, wenigstens bei Ida. Die Orchideen wurden sorgsam eingepackt, und Ida bestaunte den blitzenden SUV mit ihren großen runden grünen Augen. „Darf ich dich im August besuchen?“

Ida bettelte fast, es war Shirin beinahe peinlich, aber sie mochte das große Kind Ida am meisten von allen, weil sie das sichere Gefühl hatte, sie würde sie am wenigsten ausnutzen, schon, weil sie das charakterlich noch nicht konnte. Hoffentlich würde sie das auch nicht zu schnell lernen, überlegte sie altklug. Also sagte sie ja, allerdings mit der klaren Ansage, dass sie über das, was sie dort sah, das Plappermäulchen zu halten hätte, was Ida ihr in die Hand versprach und sie ihr danach erneut um den Hals fallen ließ, wieder mit Schluchzen und Festhalten, Beruhigen und Stirnkuss – sowie zum Abschied zwei Wangenküsschen.

Ich werde zum Weichei, beschimpfte Shirin sich innerlich, jetzt fange ich sogar mit der Bussibussikacke an, obwohl ich mir doch geschworen hatte, das niemals zu tun. Verdammte Hacke, was ist nur mir dir los, Shirin, rief sie sich innerlich zur Ordnung, mutierst du am Ende zur Barbiezicke auf deine alten jungen Tage?

 

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Beim Termin im ihrem früheren Studio war sie wieder die Alte, stellte sie beruhigt fest: zielorientiert, sachlich, fokussiert. Am Ende hatte sie für ein paar tausend Euro alles im Internet gefunden, sogar an einem Platz, was sie wollte und brauchte. Auch vom lieben René, der, hilfsbereit, wie er war, ihr dabei unterstützte, sie beriet und das Studio, das die Spreize gemacht hatte, kannte, verabschiedete sie mit Küsschen, ganz wie immer.

Sie bestellte gleich die Spedition, fuhr zum Ort des Geschehens in Leipzig, zockte noch ein bisschen mit dem Insolvenzverwalter herum, der kurzfristig Zeit hatte, holte das Bargeld von ihrer Bank und bezahlte gegen Quittung und nach Aufladen auf dem LKW die beinahe nagelneuen Geräte. Anschließend, ein Ausbund an Effizienz, schaute sie kurz bei ihren alten Kollegen vorbei und machte sich später auf den Weg zum Grab ihrer Eltern.

Ihre Verwandten, die das elterliche Haus bewohnten, besuchte sie nicht, weil sie keinen Bedarf nach ihren Fragen hatte. Neid war ihr wie Spitzgras, ebenso geheucheltes Interesse: Beidem ging sie, wo immer es ging, weiträumig aus dem Weg.