Tatort Märchenwald - Rona Walter - E-Book

Tatort Märchenwald E-Book

Rona Walter

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Beschreibung

Wenn Spiegel Urteile fällen, in einem Frosch ein König steckt, oder Spindeln hundert Jahre währenden Schlaf bringen, dann wissen wir, dass wir bereits tief im Märchenwald sind. Er entführt uns in zauberhafte Zeiten und ferne Welten, die schon unsere Vorfahren fesselten. Wer weiss schon, ob sich die Schneekönigin und der Rattenfänger in Sachen Kindesentführung zusammen taten? Warum sah jeder weg als Blaubart die Bräute meuchelte? Und Hänsel und Gretels Tat: war der Stoß der Hexe in den Ofen wirklich Notwehr? Wurde die Erbse unter der Prinzessin gemobbt? Und warum bekommt die böse Stiefmutter nicht dreimal lebenslänglich? Insgesamt sechzehn Geschichten und Gedichte, basierend auf Märchen aus Deutschland, Frankreich und Irland, werden hier neu erzählt und legen dabei die kriminellen Hintergründe der FairyTales offen. Entführung, Totschlag, Irreführung, Willkür und sogar Mord im Märchenwald – mit und ohne „Happily Ever After“ …?

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Rona Walter & Kristina Lohfeldt

Alte Märchen kriminalistisch erzählt

Edition Roter Drache

1. Auflage August 2017

Copyright © 2017 by Edition Roter Drache

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel.

[email protected]; www.roterdrache.org

Titelbild- und Umschlaggestaltung: Milan Retzlaff, man-at-media.de

Satz: Holger Kliemannel

Illustrationen: Coro Line(z), www.cora-linez.de

Lektorat: Isa Theobald

Gesamtherstellung: Jelgvas tipografia

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-944180-98-4

Cover

Titel

Impressum

DornröschenKristina Lohfeldt

Blaue Feen, rote Schuhe und weiße Königinnen

Herz aus EisRona Walter

Die siebte NachtKristina Lohfeldt

Die Fee in der TelefonzelleRona Walter

Der letzte SommerKristina Lohfeldt

My Darkest WaterRona Walter

AschenputtelKristina Lohfeldt

Das tapfere Schneiderlein – ReloadedRona Walter

Die rote StundeKristina Lohfeldt

Des Henkers Notizbuch II: Die blutroten SchuheRona Walter

Der letzte MärchenprinzKristina Lohfeldt

Spieglein, Spieglein meiner SeeleRona Walter

Der Ruf des dunklen EisesKristina Lohfeldt

Der blutige Bräutigam – The bloody GroomRona Walter

SchneewittchenKristina Lohfeldt

I wish, I wish … I wish!Kristina Lohfeldt

Glashaut und ErbsensuppeKristina Lohfeldt & Rona Walter

Once Upon A CrimeRona Walter

Die Autorinnen

Es war einmal

vor langer Zeit,

ich weiß nicht welchen Landes,

ein Mädchen hohen Standes.

Prinzessin nennt man sowas wohl,

isst immer artig Rosenkohl,

ist selbst ganz appetitlich,

na, kurz gesagt, sehr niedlich.

Hat ihren Namen aber doch

vom Rosenstrauche – immer noch.

Und Eltern hat sie leider auch,

die wollen – wie es damals Brauch –

die Tochter früh vermählen

und können nicht verhehlen,

dass ihr Bestreben darin gründet,

dass nicht geschieht, was einst verkündet:

die böse Frau, die einst verfluchte

das Mägdelein, das gut betuchte.

Die Rachelust war nur entstanden,

weil Diener nur zwölf Teller fanden,

natürlich gülden, ist doch klar,

für Prunk sind Festbankette da.

Und ganz verständlich ist zudem,

dass dreizehn wäre unbequem,

denn Aberglauben schrieb man groß –

wie wurde man Frau Dreizehn los?

So reisten Ehrengäste an,

zwölf weise Frauen mittenmang,

und wünschten Glück dem Elternpaar,

verteilten Gaben wunderbar,

bis – dramaturgisch höchst korrekt –

nach schönster Handlung im Affekt

die Ausgeladene erschien –

das Festgewand nur ausgelieh’n –

doch auch geladen mit viel Wut,

was ihrem Teint nicht wirklich gut

gestanden, aber muss ja nicht,

denn sogleich erlosch das Licht,

denn auch Feuer weiß genau

wozu fähig ist die Frau.

„Kleine Hoheit, sollst einst sehen,

was mir heute hier geschehen.

Sollst dich an der Spindel stechen,

sterben und mich dadurch rächen,

der ein Stich im Herzen sitzt,

weil bei Hof ich abgeblitzt.“

Dieses Schweigen konnt‘ man hören,

darauf möcht‘ ich heut noch schwören!

Alle Gäste stumm erbleichten,

Wachen rasch den Saal erreichten.

Eine weise Frau dagegen

sah man flugs sich zu bewegen

auf die Wiege der Infantin,

machte sie sich zur Mandantin

und sprach dann auch allsogleich

jene Worte, segensreich:

„Kann den Fluch nicht einfach brechen,

doch die Pointe will ich schwächen,

statt zu sterben wird sie dösen,

bis ein Prinz kommt, zu erlösen

und zu freien dieses Kind –

was der Prinzen Jobs heut sind.“

Seit dem Tage, liebe Leute,

weniges das Kind erfreute.

Denn sie wurde streng behütet,

das Geheimnis wohl gehütet.

Spitzes wurde schnell entbehrlich,

da dem Kinde zu gefährlich,

Allergie heißt sowas dann,

wenn man’s nicht erklären kann.

Allzuschnell kam dann der Tag,

der vordem im Dunkel lag.

Neugier trieb das dumme Kind

in den höchsten Turm geschwind.

Doch das Spiel wird Ernst sogleich,

da im ganzen Königreich

ein Insekt sich klug versteckte,

gierig sich den Rüssel leckte,

als Prinzesschen lieblich hold,

Lippen rot und Haar wie Gold,

in die Kammer ging zu gucken,

konnte eilig sich nicht ducken,

denn der Angriff überraschte –

Königsblut die Mücke naschte.

Hatte nur nichts vom Triumph,

denn sogleich fiel steif und stumpf

sie herab und Mädchen drauf,

da den Fluch nun nichts hielt auf.

Hundert Jahre sind vergangen,

Rosen um die Mauern ranken,

als ein Prinz auf lautem Ross,

Outfit Leder und von Boss,

ganz beherzt dem Schlosse naht,

müde von der langen Fahrt.

Parkt die Harley ganz behände

mit gekonnter heißer Wende.

In der Zeit von Harry Potter

sind die Prinzen heute hotter.

Reiseführer in der Linken,

kann er rechts ein Bierchen trinken,

schüttelt Kopf ob dieser Sagen,

keiner da, um nachzufragen.

So spaziert er mutig vor

auf das dornbestrüppte Tor.

Und – o Wunder! – diese Hecken

machen Platz dem jungen Recken.

Dieser wundert sich ein wenig,

dieser Kampf ist arg bequemlich!

Doch er wandert durch die Hallen,

wo – manch Forschern zum Gefallen –

Dutzende Skelette hausen,

fängt den Prinzen an zu grausen.

Tun noch das, was sie einst taten,

lesen, tanzen, spielen Karten,

halten aber die Bewegung –

Tote zeigen selten Regung.

Mit den Tieren ganz dasselbe;

ist vom Ei nicht grad das Gelbe

dieses Totsein, aber gut,

seh’n wir, was das Prinzlein tut.

Neugier treibt, wie einst die Kleine,

ihn zum höchsten Turm; alleine

ist ihm zwar ein wenig bange,

doch bald hält ihn bei der Stange

dieses Bild, das sich ihm bietet –

hätte ihn fast umgenietet.

Schau! Da schlummert unser Röschen,

unterm Kleid ahnt man ihr Möschen,

macht den Prinzen tierisch an,

da er Altes leiden kann.

Klappe! Schluss! Nun wird’s makaber –

als Erklärung sag ich aber:

Viele Märchen grausam sind,

deshalb liebt sie jedes Kind.

Als wir noch klein waren, fürchteten wir uns vor den Teufeln und Alten Weibern in den Märchensammlungen von Hauff, Andersen, Bechstein und den berüchtigten Gebrüdern Grimm. Wir hielten die Prinzessin im Froschkönig für eine Tierquälerin, wenn sie ihren schleimigen Verehrer – zumindest im Originalmärchen – angewidert an die Wand warf, wir glaubten noch, der Böse Wolf in Rotkäppchen wollte ihr nicht wirklich Böses, und wir wussten, würden wir uns tief genug in einen Brunnen hinab beugen, fänden wir uns in einer anderen Welt wieder und tanzten mit verzauberten Prinzen durch die Nacht, welche doch gar keine echten Entführer waren.

Doch was viel wichtiger und uns oftmals gar nicht bewusst ist, dass diese Märchen eigentlich ganz andere Artverwandte haben: die Mythen der alten Griechen und Römer, die nordischen Sagen und die keltischen Legenden aus einer längst vergangenen Zeit, die vor Mord und Totschlag und Erpressung nur so strotzen. Sie und ihre Gräueltaten reichen weiter zurück als alle literarischen Formen. Das Märchen, was von dem mittelhochdeutschen Wort maere, also Bericht oder Kunde, abgeleitet wird, war in seiner Ursprungsform noch ein einfacher Prosatext. Ihre warnende Nachricht, doch tugendhaft zu sein, war für die Bauern und das sogenannte „niedere“ Landvolk unmissverständlich.

Gut und Böse werden im Märchen bis heute strikt getrennt. Helles Haar, goldene Kleidung, Rüstung oder Accessoire stehen für das Gute, eine dunkle, exzentrische Erscheinung für das Böse. Einzige Ausnahmen sind die hell gekleidete und oftmals hellhaarige Kindesentführerin Schneekönigin, und Schneewittchen und ihr rabenschwarzes Haar, obwohl „so schwarz wie Ebenholz“ im Originaltext einst auf die Augenfarbe der Ausnahmeprinzessin hinwies, die Adalbert Ludwig Grimm, ungeliebter Namensvetter der Brüder Grimm, Snäfrid/Shnevit nannte. Einige Urübersetzungen der Version der Gebrüder Grimm, welche auf der Geschichte der Grafentochter Margarete von Waldeck basierten, die ihrer mörderischen leiblichen Mutter ein Dorn im Auge war, bezeichneten Schneewittchen allerdings als „Snow Drop“.

Auch ist den Wenigsten bewusst, dass die heutigen Teufel und Engel, die Hexen und Erscheinungen eine christianisierte Version der Urmärchen sind, angepasst an die Zeit der Romantik. Drachen wurden damals zu Teufeln, Feenwesen transformierten zu ihren schwanengeflügelten Kusinen, den Engeln, das Alte Weib mutierte zur grausigen Hexe und ein Geistwesen wurde kurzerhand zu einer Erscheinung. In der Buchversion von Grimm's Fairy Tales im britischen Calla Verlag sehen wir noch die Illustrationen des bereits verstorbenen Künstlers Arthur Rackham, der noch Hutzelmännchen und Kobolde anstelle von Zwergen zeichnete, und uns den Drachen mit den drei goldenen Haaren, dessen Kopf im Schoß der entführten Jungfrau ruht, anstelle des Teufels mit den drei goldenen Haaren zeigt. Seine Zeichnungen sind inspiriert von den Urmärchen der Gebrüder Grimm. Diese christlicheren Versionen unserer Lieblingsverbrecher trugen allerdings in neueren Zeiten besser zum Verständnis des einfachen Volkes bei und waren auch ein offensichtlicherer Ohrenschmaus für die Amüsiergesellschaft, die sich Märchen über das lasterhafte einfache Volk zur Erheiterung vorlas.

Von den frühesten Ursprüngen des belehrenden Märchens über die japanischen Sagen mit all ihren Drachen, Hutzelweibern, wispernden Geistwesen und verwunschenen Prinzessinnen zu den romantischen, christlicheren Versionen im 19. Jahrhundert bis hin in die Moderne, veränderte das Märchen stetig sein Gesicht: aus dem mündlich überlieferten und anonymen Volksmärchen wurde das Kunstmärchen, dessen Autoren wie Hans Christian Andersen noch heute bekannt sind. Seine Nachricht an uns veränderte sich jedoch nie: sei tugendhaft!

Dem Bösen wird immer seine gerechte Strafe zuteil, und manchmal sogar, um hundertprozentig sicher zu gehen, der Tod. Dies ist auch heute noch in amerikanischen Thrillern und Kriminalromanen eine beliebte, endgültige Lösung für den Bösewicht. Denn stirbt dieser am Ende, löst sich die Gefahr, dass er vor Gericht freigesprochen wird, in beruhigendes Wohlgefallen auf. Die britischen Whodunnit hingegen nehmen ihre Killer gerne auch einfach fest. Doch eines ist meist unmissverständlich: Verbrechen lohnt nicht.

Auch was den geschlechtlichen Aspekt der Rollenverteilungen in den Märchen anbelangt, hat sich viel verändert. So wurde beispielsweise die weise Großmutter, reich an Lebenserfahrung und Einsicht, sehr stark in den Hintergrund gedrängt und war daher keine große Hilfestellung für das modernisierte leichtsinnige Rotkäppchen. Zwar gab es in der Literatur seit vorbabylonischer Zeit das Motiv der femme fatale, der dämonischen Verführerin in Gestalt der Eva, Delila, Helena, Pandora oder Circe, um nur einige zu nennen, aber in unserem Verständnis, geprägt z.B. durch die Bond-Filme, kennt das Urmärchen solcherlei Damen nur als eitle und böse Stiefmutter, die der Protagonistin, dem armen Opfer, das Leben schwer macht. Nur die alte Hexe lockte und war weit davon entfernt, auch körperlich zu verführen. Sie bestach eher mit Versprechungen und täuschenden Halbwahrheiten.

Dafür hat sich das männliche Prinzip im Wolf aka dem gefährlichen Verführer und im Ritter / Prinzen aka dem Helden / Kommissar hartnäckig gehalten. Ob in abstrakten Zeichnungen, Disneyfilmen, modernen Fotoshootings oder Gothic- und Horrorversionen, die Frau transformierte mit der Zeit immer mehr vom Opfer, das auf Rettung wartet, zur heldenhaften Kriminologin:

Schneewittchen kämpft in Neuverfilmungen eigenhändig gegen die Drahtzieherin des Mordes (Böse Königin). Rotkäppchen kämpft in neuen Versionen taff gegen den (Wer)Wolf im bösen Manne. Die zahlreichen Cinderella-Heldinnen nehmen ihr Schicksal – und ihr Happy End mit dem Prinzen – selbst in die Hand und besiegen die Intrigantinnen (Stiefmutter und Stiefschwestern) auf ganzer Linie. Hänsel & Gretel schlagen kräftig und nach bester Selbstjustiz-Manier gegen die Böse Hexe zurück, und erneut befreit die Schöne ihr Biest in zahlreichen Fernsehserien und neuen Verfilmungen scharfsinnig wie eine Detektivin von seinem Fluch.

Der nach Gerechtigkeit strebende Jägersmann wird in modernen Nacherzählungen immer häufiger von einer taffen, aber auch empfindsamen Jägerin ersetzt – eine durchaus spannende Neuinterpretation mit sehr modernem Hintergrund.

Jedoch dürfen wir nicht die vergessen, ohne die auch das spannendste Märchen langweilig wäre: die skrupellosen Schurken. Fabelhaft und nach wie vor modern ist unsere Lieblingsschurkin, die narzisstische und skrupellose Auftraggeberin für einen hinterhältigen Mord, die Böse Königin / Königin der Herzen / Böse Stiefmutter. Im Musical Into the Woods und der dazugehörigen Verfilmung begegnen wir vielen Märchenschurken, meist Grimm-basiert, auf einmal. Intriganten, Mörder, Lügner und Betrüger ziehen die Strippen, und wir lieben sie dafür.

Ob nun klassisch und verträumt aus Tschechien, imposant aus Frankreich oder modern und mit Power aus Hollywood, das Schauerliche, Humorvolle und Grausame hat sich aus dem Lehrreichen von einst gelöst, und zeigt uns immer öfter die wahren Gesichter der kriminellen Tales, die einer Vorabendserie würdig wären. Vom rechten Weg abkommen ist also unbedingt erwünscht.

Heute suchen wir in den archetypischen Situationen nach etwas Artverwandtem in den Krimimärchen. Wir suchen nach dem Bruder der Kriminologie: der Psychologie.

Was genau ruft diese Missetaten denn eigentlich hervor?

Der Ground Zero, Schneewittchen, bietet gleich eine ganze Menge solcher Symbole: den Tod der leiblichen Mutter (Vater/Tochter-Beziehung), eine neue Frau an Vaters Seite und das auch noch ziemlich hurtig (Stiefmutterkomplex), der magische Spiegel der Stiefmutter (Narzissmus), die mit dem Heranwachsen des Kindes ihr eigenes Altern deutlich aufgezeigt bekommt (Angst vor dem Verlust der Jugend), die sogenannte „Schönheit“ der Stieftochter, die allein durch deren Jugend und Frische hervorsticht, in einem Schloss, in dem sie lediglich von verhältnismäßig schmuddeligen Mägden umgeben ist (Neid), bis hin zum Extrem: dem Mordauftrag, der endgültigen Problembeseitigung. Die Nachricht hier ist eindeutig: Du darfst nicht schöner sein als ich (Störung des Selbstwertgefühles). Denn das ist in der Tat überlebenswichtig für die nicht mehr ganz junge, zweite (!) Ehefrau am fremden Hofe, die außer ihrer verblühenden Schönheit nichts mehr hat. Fühlen wir nicht zumindest ein bisschen mit ihr? Und was denken sich überhaupt die ledigen Zwerge beim Anblick des bewusst-/und wehrlosen Schneewittchens? Irgendeinen Grund muss es ja geben für den gläsernen Sarg.

In Rotkäppchen geht es um die klare Warnung vor gewalttätigen Männern und dem sturen Gehorsam: komme nicht vom rechten Weg ab, will heißen, nähere dich nicht dem Wolf / dem fremden Manne / dem Verführer! Im 1695 geschriebenen Urmärchen von Charles Perrault geht tatsächlich die Urangst vor dem damals erst aufgeflammten Werwolf-Mythos voraus, auch durch die Legende der Bestie von Gévaudan im Languedoc, einem Wolfswesen, das im Jahre 1764 etwa 100 Frauen und Mädchen riss.

Handelt es sich bei Schneeweißchen & Rosenrot um Schneewittchen und Rotkäppchen? Die Parallelen liegen tatsächlich in verschiedenen Versionen von dem weder verwandt noch verschwägerten Adalbert Ludwig Grimm, den Gebrüdern Grimm und Bechstein. Daher auch einst die Abwandlung von Schneeweißchen in Schneewittchen. Schizophrenie wäre hier wohl ein wunderbares Motiv, um die körperliche Gewalt und den versuchten Totschlag des Freiers in Bärengestalt zumindest ansatzweise zu rechtfertigen.

Wäre Carlo Collodis Pinocchio auch in unserer heutigen Zeit immer noch gern ein echter Junge? Oder würde der scharfe Blick eines Profilers den notorischen Lügner, der noch immer bei seinem Vater wohnt und sich Grillen hält, glatt wie ein Streichholz zerbrechen?

Die kleine Meerjungfrau fühlt sich hässlich und im falschen Körper geboren und überschreitet jegliche ethische Grenze, um ihrer Identitätskrise zu entkommen. Die Liebe zum Prinzen ist hier ein Mittel zum Zweck für eine sehr junge Frau im überlieferten Alter von gerade einmal 16 Jahren, die ihre eigene Schönheit nicht zu erkennen vermag, obwohl diese doch öffentlich von allen gepriesen wird. Ihre Ursprünge liegen hier jedoch bei der Geschichte um die Wassernymphe Undine oder Melusine. Sie verliebt sich in der antiken Version in einen sterblichen Fischersmann, tötet ihn versehentlich im Meer und wirft sich daraufhin selbst in die Fluten. Sie bittet als Buße darum, ein Fisch zu werden, doch da die See ihre Schönheit zumindest teilweise erhalten möchte, wird sie in eine Meerjungfrau verwandelt. Die kleine Seejungfrau, De lille Havfrue, The little Mermaid, ist zudem eines der sehr wenigen (Kunst)Märchen ohne Happy-End. Fast wie im wahren Leben also.

Der ewige Blutbräutigam Blaubart / Barbe Bleu hingegen gilt als radikaler Rächer für sich selbst, wenn es um das in den alten Märchen von Natur aus als neugierig geltende Frauenzimmer geht. Jede seiner Bräute darf 99 Zimmer in seinem Schloss mit den einhundert Räumen betreten. Öffnet sie jedoch die Tür, zu der ein kleiner, goldener Schlüssel gehört, ist sie sogleich des Todes. Wer, egal ob Mann oder Frau, würde dieser Versuchung widerstehen? Rechtfertigt Ungehorsam den Tod? Ist Blaubarts Mörderspiel mit den Damen fair? Ist das Blut, dass sich auf keinen Fall wieder abwaschen lässt, ein Synonym für eine miese Petze?

Wird das sture Mädchen in den Roten Schuhen nicht zu streng dafür bestraft, dass es unbedingt ein paar wunderschöne Schuhe haben möchte, wo es doch sonst nichts zu besitzen scheint? Auch wenn es deshalb egoistisch das finanzielle Wohl der Familie strapaziert? Und welche Schuld lädt der Richter im Originalmärchen auf sich, der sie – trotz ihrer eigenen Bitte – verstümmelt?

Ist der Magische Spiegel ein Blender oder hetzt er gar die Schönsten gegeneinander auf? Und überhaupt: wer steckt im Magischen Spiegel der Königin? Und wie kam er da hinein? Haben wir es hier mit Entführung zu tun? Oder ist der Magic Mirror einfach nur Magic? Nun, sicherlich war er der Drahtzieher des Ganzen.

Wie weit ist das Schicksal der schizophrenen Schwanenprinzessin in Darren Aronowskys moderner Schwanenseeversion Black Swan wirklich hergeholt? Finden wir etwa auch Parallelen dazu im Märchen Die sieben Schwäne? Hatte die Schwester wirklich sieben Brüder – oder keinen? Und war die Ursache für diese Identitätskrise ein familiäres Verbrechen? Denn Familiäres scheint in den Märchen wenig Positives zu bieten.

Und die Prinzessin auf der Erbse, ist sie tatsächlich eine Dramaqueen? Oder ist ihre Seele einfach nur viel zu zart und kultiviert für unsere egoistische, stets eilige Welt, die mobbt, ausgrenzt, verlacht und Depression für eine Ausrede für Dünnhäutige hält?

Und was sind die Motive für Malefiz, oder im Englischen Maleficent, die Dreizehnte Fee, ein unschuldiges Baby anstelle des unehrlichen Vaters zu verfluchen? Wie unfair ist ihr Racheakt tatsächlich?

Es lohnt sich immer, ein wenig über die alten und neuen Versionen der Märchen nachzudenken. Ob nun in christlichem oder in einem psychologischen Aspekt oder einfach als Leitfaden, bleibt jedem selbst überlassen. Wir alle hoffen und warten im Märchen doch nur auf das ersehnte Happily Ever After, wahre Liebe am besten mit Kuss, skrupellose Bösewichte, ein bisschen Terror und Horror, und dass die Träume der Helden wahr werden. Und natürlich ein ordentliches Verbrechen. Nein? Nun, vielleicht ja nach dieser Lektüre.

Diagnose: Kindesentführung Täter: Rattenfänger und Schneekönigin

Schnee fällt und bleibt nicht liegen. Er lässt das kleine schwedische Dorf, in dem es lediglich eine einzige Straße gibt, jedoch keineswegs verschlafen oder gar winterlich beschaulich erscheinen. Ein einsamer Hauch von Melancholie liegt über den Dächern der wenigen Häuser, an denen ich vorbei schreite. Dies ist ein kleiner Teil von dem, was mir gehört. Mein Reich des Eises und der Einsamkeit. Doch seine kühle Schönheit berührt mich nicht mehr. Ich verspüre keine Freude, keine Wehmut, keine Trauer wie ich es einst tat, vor gar nicht langer Zeit. Nichts ist mehr schön für mich, nichts mehr von Bedeutung. Nicht einmal die einstige Vergötterung der Menschen, die mich früher furchtsam und mit einer gewissen Faszination verehrten, erheitert mich noch. Die Zeiten haben sich geändert, der Mensch hat sich verselbständigt, und seine einzige Furcht ist nun ein zu kurzer Sommer, eine zu kurze Erntezeit.

Hie und da brennt eine Kerze in einem der Fenster, die die Kinder des Dorfes in Sicherheit wiegen soll. Ein alter Aberglaube, und keineswegs so wirksam wie erhofft.

Ich drehe mein Gesicht gen Himmel, so dass sich die feinen Schneeflocken darauf niederlassen. Sie bleiben auf meiner eiskalten Haut liegen. Ich betrachte noch einen Moment die hauchfeinen Gebilde der Eiskristalle, die sich in meinen Wimpern verfangen und sich auf meine stets offenen Augen legen. Dann lasse ich den Kopf nach vorne fallen, so dass sie sich lösen und hinab zu meinen Füßen schweben. Benommen sehe ich ihnen nach. Mein langes, feines Haar weht in dem eisigen Wind umher. Dann richte ich mein silberfarbenes Sakko mit den blauen Knöpfen, knöpfe den Stehkragen bis unters Kinn zu und streiche einige Falten aus dem dicken Stoff meiner Hose. Ich fische ein Paar dünne Lederhandschuhe hervor, die ich sorgfältig überziehe, Finger für Finger das Leder um meine dürren Eishände straffe, und gehe zielstrebig auf die einzige kleine Bar im Dorf zu. Die dunklen Spiegelungen in den Fenstern zeigen mir eine verzerrte Version meines ohnehin verwischten Selbst, bis ich unter den bronzenen Buchstaben über der massiven Holztür stehe. Hrimhune steht dort in kantigen Lettern. Kein Geräusch, kein Licht zeigt mir, dass irgendwo Leben ist. Der Eisriese, was der Name übersetzt bedeutet, scheint, wie der Rest des Dörfchens ebenfalls, noch zu schlafen.

Ich balle die Hand zur Faust und donnere damit ein paarmal gegen das eisenbeschlagene Holz. Es poltert lauter als ich erwartet habe und ich sehe mich hastig betreten um. Bereits einen Wimpernschlag später wird die Tür nach innen gezogen, und ein zerzauster älterer Mann im schwarzen Hemd und etwas zu weiter lederner Hose steht vor mir. Er wird beinahe verschluckt von der Dunkelheit im Inneren und schafft es sogar, mich für mein lautes Hämmern nicht missbilligend anzusehen. Statt dessen deutet er stumm mit seinem kurzen Zeigefinger, um den sich ein Ring in Form eines Wyverex, eines skandinavischen Schlangendrachens, schlingt, auf einen kleinen Klingelknopf zu meiner Linken.

„Wir sind hier keine Höhlenmenschen, miin Herre“, klärt er mich auf und seine mandelförmigen, dunkelblauen Augen blitzen kurz auf, als würde er mich erkennen. Ich nicke entschuldigend und strecke ihm meine behandschuhte Rechte zur Begrüßung entgegen. Ich komme mir ein wenig benachteiligt vor, da ich direkt im kalten Morgenlicht stehe und ich von ihm lediglich den einst rötlich blonden Bart, die Haut seiner Arme und seines Gesichtes sehen kann, die sich wie helle Fragmente eines Setzspieles von dem Dunkel im Inneren abheben. Er ergreift meine Hand und schüttelt sie zurückhaltend, während er mich nun misstrauisch mustert. Ich kenne diesen Blick zu gut und kann ihn meist sogar nachvollziehen. Schließlich gelte ich in den neueren Zeiten doch als recht seltsame Erscheinung. Doch einst, vor langer Zeit, wurde ich von weitem erkannt, man wusste meine Taten zu würdigen, meinen Zorn zu fürchten. Allein meine Körpergröße ist beeindruckend und auch sonst sieht nichts an mir gewöhnlich aus. Mein schulterlanges Haar ist zu hell, beinahe Schneefarben, mein Körper ist schlank und drahtig, sehnig und kräftiger als auf den ersten Blick anzunehmen. Ganz zu schweigen von der Sache mit meinen hellgrauen, nahezu weißen, stets offenen Augen.

Weil sich die Hand des Mannes in meiner wie ein nasser Fisch anfühlt, muss ich an mich halten, um sie nicht sofort wieder loszulassen.

„Arien Gratt“, stellt er sich vor. Ich hingegen nicke nur knapp.

Er mustert mich mit eigenartigem Blick, beinahe, als wüsste er, wer ich bin. Sein Atem fließt in kleinen Wölkchen aus seinem offenen Mund. Das Seltsamste an mir ist wohl meine Haut, die er höflicherweise nicht unverhohlen anstarrt. Sie ist von kalkiger Fahlheit und so dünn, dass man die Adern wie Flüsse darunter sehen kann. Gleich hellgrauen Furten schlängeln sie sich an meinen Schläfen und am Kinn hinab zum Hals, wo sie unter dem dicken Kragen meines Mantels verschwinden. Sie zeichnen mich wie eine konfuse Landkarte und haben beinahe die gleiche Farbe wie meine Augen. Graues Eis, leblos und gebrochen. Gebrochen wie mein Herz, dessen spitze Kanten mich auch nach so vielen Jahren immer noch schneiden und in die Brust stechen. Das kommt mit der Zeit, und bald werde ich ersetzt werden. Denn wenn das Herz gefriert, ist das eigene Ableben nicht mehr fern. Ich wandle auch schon zu lange umher, als dass ich meinen Thron nicht bald abtreten könnte, an wen oder was auch immer mir dann nachfolgen wird.

Einst erzählte man sich in den Dörfern und Städten in ganz Skandinavien die Mär, dass der Eiskönig in der rauesten Winternacht zu den Sündern kommt, um die Menschenkinder zu stehlen und mit sich in seinen Eispalast zu nehmen. Keine Seele weiß, wo dieser Eispalast verborgen liegt, und auf ihren Reisen durch die Bergketten Schwedens, über die Hügel Norwegens, an den endlosen Flachküsten Lapplands, in den Gletschern Finnlands und gar an den vereisten Kliffen Islands, erfroren alle, die je nach dem Eiskönig zu suchen gewagt hatten.

Die Frauen sangen ein Lied, das ungefähr so übersetzt werden kann:

Candle, candle, are the children save now, as they were long ago? Candle, candle, guide us and protect us, from those in darkness…Kerze, Kerzenlicht, sind uns 're Kinder nun sicher, wie sie es einst gewesen? Kerze, Kerzenschein, beschütze uns, vor dem, was im Dunkel wartet …