Tausend Aufbrüche - Christina Morina - E-Book

Tausend Aufbrüche E-Book

Christina Morina

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Beschreibung

Nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2024! Dieses Buch ist die fällige Antwort auf die eingefahrenen Ost-West-Debatten – auf wissenschaftlicher Grundlage, aus gesamtdeutscher Sicht

Die Ost-West-Debatte der Deutschen ist oft von gegenseitigem Unverständnis und Zuspitzungen geprägt. Christina Morina vermeidet die übliche Frontenbildung und rückt – anhand vieler bisher unerforschter Selbstzeugnisse wie Bürgerbriefe, Petitionen und Flugblätter – die Demokratievorstellungen und das Selbstverständnis ganz normaler Bürgerinnen und Bürger in Ost und West seit den 1980er Jahren in den Fokus. Indem die Autorin die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik und die Demokratie anspruchsgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik miteinander verzahnt, kann sie maßgebliche Unterschiede und wechselseitige Bezüge im Staats- und Politikverständnis herausarbeiten.

Dabei entsteht ein differenziertes Bild: Viele Bewohner der DDR identifizierten sich mit ihrem Land und dessen „volksdemokratischen“ Idealen, blieben dem Staat und seinen Institutionen gegenüber jedoch skeptisch. Diese Staatsferne gepaart mit einem oft provinziell-utopischen Bürgersinn, dessen Potentiale nach der Vereinigung weitgehend ungenutzt blieben, wirkt bis heute nach. Im Zusammenspiel mit einem wiedererstarkenden Nationalismus im Westen entstand so nicht zuletzt auch der Nährboden für den Aufstieg des Rechtspopulismus. Christina Morinas Buch offenbart die Grenzen der westdeutschen Liberalisierung ebenso wie die Vielfalt der ostdeutschen Demokratieaneignungsversuche – ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der gegenwärtigen prekären Lage der Demokratie.

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Die erste Demokratiegeschichte aus gesamtdeutscher Sicht

Jenseits der Klischees vom abgehängten Osten und übermächtigen Westen untersucht Christina Morina – anhand bisher unerforschter Selbstzeugnisse wie Bürgerbriefe und Flugblätter – die Demokratievorstellungen ganz normaler Bürgerinnen und Bürger seit den 1980er Jahren. Sie zeigt, dass viele DDR-Bewohner sich zwar mit ihrem Land und dessen „volksdemokratischen“ Idealen identifizierten, viel weniger aber mit dessen Staat und Institutionen. Diese Staatsferne gepaart mit einem ausgeprägten Bürgersinn, dessen Potentiale nach 1990 weitgehend ungenutzt blieben, wirkt bis heute nach. Im Zusammenspiel mit einem erstarkenden Nationalismus entstand so auch der Nährboden für den Aufstieg des Rechtspopulismus. So werden die Grenzen der westdeutschen Liberalisierung ebenso sichtbar wie die Vielfalt der ostdeutschen Demokratieideen. Ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der Geschichte und Gegenwart unserer Demokratie, der die eingefahrenen Ost-West-Debatten in ein völlig neues Licht rückt.

Christina Morina ist seit 2019 Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Gesellschafts- und Erinnerungsgeschichte des Nationalsozialismus, in der politischen Kulturgeschichte des geteilten und vereinigten Deutschlands sowie in dem Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis. Christina Morina studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Journalistik an den Universitäten Leipzig, Ohio und Maryland (USA) und wurde 2007 mit einer Arbeit über den Krieg gegen die Sowjetunion in der deutsch-deutschen Erinnerungskultur promoviert. Sie war von 2008 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo sie sich 2017 mit einer Arbeit über die Ursprünge des Marxismus habilitierte. Bei Siedler erschien »Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte« (2017).

Besuchen Sie uns auf www.siedler-verlag.de

CHRISTINA MORINA

Tausend Aufbrüche

Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren

Siedler

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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Siedler Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion/Lektorat: Ludger Ikas

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt

Coverabbildung: © Andreas Rentz/Getty Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25452-0V002

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Einleitung: Demokratiegeschichte in integrierter Perspektive

»1989« in der deutschen Demokratiegeschichte

Eine politische Kulturgeschichte »von unten«

Historisierung und Gegenwart der Demokratie

1   Staat, Bürger, Sein: Was heißt es, Staatsbürger/-in zu sein?

Vom Untertan zum Staatsbürger. Eine kurze deutsche Ideengeschichte

»Der Staat bin auch ich.« Staatsbürgervorstellungen in der Bundesrepublik

Eine Frage der Mündigkeit. Staatsbürgervorstellungen in der DDR

2   Zweierlei Demokratie: Land der zwei Republiken

Aus Ruinen. Demokratie als Anspruch und Fiktion

Lernerfahrung. Demokratie als westdeutscher Möglichkeitsraum

Imagination des Politischen. Demokratiediskurse in der DDR

3   Tausend Aufbrüche: Frühling im Herbst

»Wir alle«. Öffentlichkeit und Gesellschaft in Ostdeutschland vor dem Mauerfall

Deutsch-deutscher Frühling. Die Demokratieideen der »friedlichen Revolution«

Aufbruch der Alternativen. Von der Konsensdiktatur zur Konsensdemokratie?

4   Geteilte Demokratie: Ankunft in der Berliner Republik

Suche nach Überschaubarkeit. Das letzte Jahr eines geteilten Landes

Maß und Mitte jenseits von Bonn. Selbstfindung einer Republik

Verfassungsfragen. Das Ringen um Grundgesetz und »ostdeutsche Lage« in den 1990er Jahren

5   Umbruch, Aufbruch, AfD: Ambivalenzen der Demokratie in der Ära Merkel

Demokratie ohne Wunder. Eine andere Geschichte der Einheit

Demokratie als Drohung. Der Aufstieg des Rechtspopulismus in deutsch-deutscher Perspektive

Die ostdeutsche Kanzlerin und das Repräsentationsparadox

Fazit: Jenseits der »inneren Einheit«

Dank

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Register der Personen sowie der politischen Gruppen und Initiativen

Einleitung: Demokratiegeschichte in integrierter Perspektive

Die Frage ist nicht, wie wir nach 1989 über den Kommunismus denken. Die Vision einer totalen sozialen Kontrolle […] liegt in Trümmern. Die Frage aber, wie wir unser Gemeinwesen zum Wohle aller organisieren, ist so wichtig wie eh und je. Wir müssen sie aus den Trümmern hervorholen.[1]

Tony Judt (2010)

Zuletzt bringt mir die freundliche Archivarin noch zwei unscheinbare Pappkartons. »Aufbau demokratischer Strukturen. Initiativen und Verbände ab Herbst 1989 (Informationsmaterial)« steht darauf, und nichts deutet auf die demokratische Wucht hin, die einem entgegenschlägt, sobald man die beiden Deckel öffnet. Fein sortiert von A wie Aktion Pleiße ans Licht, Leipzig bis Z wie Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e. V., Bremen, finde ich darin Hunderte von Flugblättern, Briefen, Konzeptpapieren und Demozetteln aus den Monaten rund um den Mauerfall. Sie sind von Initiativen verfasst worden, die sich Aufbruch 90, Bewegung»Wissen für das Volk« oder Forum für direkte Demokratie nannten und diesen historischen Moment der Öffnung in ein Laboratorium des demokratischen Neuanfangs verwandeln wollten. Endlich sollte im Osten, aber keineswegs nur dort, die »wahre« Demokratie geschaffen werden. In dieser Sammlung verhandelte also eine durch und durch in Bewegung gekommene Gesellschaft Ideen für die radikale Umgestaltung ihres Alltags, ihrer Wohnviertel, Betriebe, Schulen und Kitas, ihrer Vereine, Lokalparlamente und natürlich auch der Ordnung des gesamten Landes. Ich notiere und fotografiere jedes einzelne Blatt, staune und schmunzle manchmal auch über die unbändige, demokratiehungrige Fantasie, die sich hier ausdrückt, und ich wundere mich über die vielen deutsch-deutschen Bezüge, die in der öffentlichen Verhandlung der 1989er-Revolution heute kaum mehr eine Rolle spielen. Nach dem Verschließen der Kartons steige ich die weite Treppe im Leipziger »Haus der Demokratie« hinab – ein Haus, das seinen Namen erkämpft und verdient hat und zugleich die Autorität eines altehrwürdigen Gymnasiums ausstrahlt – und denke: tausend Aufbrüche![2]

Dieses lebendige Denkmal der Revolution von 1989 steht in einem Landstrich, in dem nun ausgerechnet die in Teilen rechtsradikale Partei Alternative für Deutschland (AfD) bei der letzten Bundestagswahl vom Herbst 2021 mit 24,6 Prozent zur stärksten Kraft geworden ist. Auch in Thüringen erhielt sie die meisten Stimmen (24 Prozent), während sie in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern mit rund 18 Prozent als zweitstärkste Partei und in Sachsen-Anhalt mit 19,6 Prozent knapp hinter der CDU als drittstärkste Kraft aus den Wahlen hervorging. Die AfD hat also in allen ostdeutschen Bundesländern jeweils mindestens ein knappes Fünftel der abgegebenen Wählerstimmen erhalten. Wie schon 2017 ist die politische Landkarte Ostdeutschlands flächendeckend blau bis tiefblau eingefärbt, während die AfD im Westen im Durchschnitt »nur« etwa 10 Prozent der Stimmen erhalten hat. Ihren niedrigsten Anteil hat sie im Wahlkreis Köln II errungen (2,9 Prozent), ihren höchsten in Görlitz in Ostsachsen mit 32,5 Prozent der Stimmen. In der politischen Farbenlehre des Landes führt diese Unwucht nach Osten hin dazu, dass auf bundesdeutschen Fernsehbildschirmen anno 2021 die Umrisse von einstiger BRD und DDR noch so klar zu erkennen sind, als wäre die Mauer niemals gefallen. Im Übrigen zeigte sich die Unwucht nicht nur mit Blick auf die AfD-Wahlergebnisse, sondern auch im Abschneiden der Partei Die Linke. Deren lila eingefärbte Wahlerfolge waren – trotz starker Verluste – auch bei der neunten gesamtdeutschen Wahl in Ostdeutschland signifikant dunkler ausgeprägt als in Westdeutschland.

Was verbindet diese beiden historischen Entwicklungen – die demokratische Revolution voller positiver Aufbrüche und die überdurchschnittlich hohe Unterstützung für Rechtspopulismus und -radikalismus im selben Landstrich? Wie konnte aus der demokratischen Mobilisierung einer sich selbst befreienden Gesellschaft der Nährboden für eine antidemokratische Revolte entstehen?

Ganz offenbar haben die tausend Aufbrüche im Herbst 1989 in der deutschen Demokratiegeschichte ein sehr zwiespältiges Nachleben. Sie haben ein ungekanntes Maß an Hoffnung und Unsicherheit, an Beherztheit und Zweideutigkeit, an politischer Emanzipation und gesellschaftlicher Polarisation entfaltet – und entfalten es noch immer. Häufig wird diese widersprüchliche Bilanz allzu schematisch betrachtet und auf die eine oder andere Seite reduziert: hier die Jahre vor, dort die Jahre nach dem Umbruch von 1989; hier die Diktaturgeschichte der DDR, dort die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik; hier die schockartige »Übernahme«-Erfahrung der Ostdeutschen, dort die unverfrorene Abwicklung dieser »Übernahme« durch die Westdeutschen – und schließlich hier die demokratieskeptische, verunsicherte Restgesellschaft, dort die gewachsene, liberalisierte Zivilgesellschaft.

Dieses Buch wählt einen anderen Blick, indem es erstmals das Wesen und den Wandel des Demokratie- und Bürgerselbstverständnisses der Deutschen in Ost und West für die Zeit sowohl vor als auch nach der Zäsur von 1989 beschreibt. Sein Interesse gilt den demokratischen Vorstellungs-, Erwartungs- und Erfahrungswelten »ganz normaler« Bürgerinnen und Bürger. Zugleich versucht es die politisch-kulturellen Folgen des Umbruchs von 1989/90 nachzuzeichnen, die das vereinte Land zweifellos beflügelt haben, es aber bis heute immer wieder auch gewaltig verunsichern.

»1989« in der deutschen Demokratiegeschichte

Welche demokratiegeschichtliche Bedeutung der Revolution von 1989 zukommt, ist nicht nur eine historiografische, sondern auch eine politische Frage. Sie wird seit geraumer Zeit sehr ernsthaft gestellt, bleibt aber meist ohne differenzierte Antwort und ist bislang von der zeithistorischen Forschung nicht systematisch behandelt worden. Aus globaler, transnationaler und noch viel zu selten historisch unterfütterter Perspektive ist sie in erster Linie Gegenstand publizistischer und sozialwissenschaftlicher Betrachtung – und damit fest eingebunden in die seit Jahren geführten innerdeutschen Selbstverständigungsdebatten.[3] Es ist an der Zeit, dass diese Frage als zeithistorische Aufgabe verstanden wird und die Transformationsforschung den Umbruch von 1989/90 in einem größeren demokratiegeschichtlichen Rahmen untersucht.

Am bislang eindrücklichsten – eminent politisch und zugleich rein akklamatorisch – hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Frage nach der Bedeutung der 1989er-Revolution in seiner Rede am Vormittag des 9. Oktober 2019 im Leipziger Gewandhaus formuliert. Dieser Tag war nicht nur mit Blick auf die Leipziger Großdemonstration gegen die SED vom 9. Oktober 1989 – eines der Schlüsselereignisse der Revolution – ein bemerkenswertes Datum. Die Feierlichkeiten wurden nämlich auf grausame Weise von der Gegenwart eingeholt, als am Mittag dieses 9. Oktober ein Rechtsradikaler in Halle auf die dortige Synagoge einen Anschlag verübte und dabei zwei Menschen tötete. Die in der Synagoge betenden Jüdinnen und Juden waren nur deshalb verschont geblieben, weil sich die schwere Tür nicht hatte öffnen lassen. Dieser Anschlag war ein Fanal, ein unabweisbarer Beleg dafür, dass die Radikalisierung in Teilen Ostdeutschlands 30 Jahre nach der »friedlichen Revolution« erschreckende Ausmaße angenommen hatte. Nur wenige Monate später sollte ein in Hanau verübtes Massaker an neun jungen Menschen mit Einwanderungsgeschichte jedoch daran erinnern, dass Rassismus und rechte Gewalt im Deutschland der 2020er Jahre eindeutig gesamtgesellschaftliche Probleme sind.[4]

Der Bundespräsident hielt seine Rede zum Leipziger Festakt, in der er eingangs auch von einem »in Teilen verunsicherten« und von »Rissen« durchzogenen Land sprach, kurz bevor sich das Attentat in Halle ereignete. Doch vor dem Hintergrund der Morde klingt Steinmeiers zentrale Aussage in der Rückschau wie ein verstimmt intonierter Lobgesang. »Ihre Geschichten«, sprach er die im Saal anwesenden »friedlichen Revolutionäre« direkt an, »haben deutsche Demokratiegeschichte geschrieben«. Sie stünden damit »in der besten Tradition unserer Geschichte, in der Tradition der deutschen Freiheitsbewegungen von 1848 und 1918. Ihre Geschichten sind außergewöhnliche Geschichten von Sternstunden unseres Landes. Sie haben unserer Demokratiegeschichte einen wichtigen Teil hinzugefügt.«[5]

Aber worin bestand nun genau dieser Beitrag? Auf welche Weise hat die Revolution von 1989 unsere Demokratiegeschichte seither geprägt? Wie haben sich die politischen Kulturen in den beiden deutschen Staaten, die nach Kriegsende den Bezug auf die gemeinsame NS-Vergangenheit teilten, sich dann aber unter entgegensetzten Vorzeichen jeweils eigenständig entwickelten, im vereinigten Deutschland aufeinander zubewegt? Wie haben sie sich verbunden, und wo unterscheiden sie sich womöglich auch heute noch? Und wie hängt diese Entwicklung schließlich mit der Geschichte nach 1989 und zugleich mit europäischen und globalen Geschehnissen zusammen?

Politikerreden geben auf all diese Fragen für gewöhnlich nur dürftige Antworten. Doch auch die zeithistorische Forschung, die sich bei ihrer Entstehung nach 1945 – zumindest im Westen – dezidiert als »Demokratiewissenschaft« verstand, hat sich bisher wenig mit der Demokratiegeschichte der Deutschen um 1989 auseinandergesetzt.[6] Nach wie vor ist das überwiegend ein Thema der Politik- und Sozialwissenschaft. Diese stützen sich dabei vor allem auf die Wähler- und Einstellungsforschung und liefern damit naturgemäß »nur« eine gesellschaftliche Zustandsbeschreibung. Um jedoch die Ursprünge und Reichweiten dieser Entwicklungen verstehen zu können, muss man sie historisch einordnen, also ihrer Vorgeschichte nachgehen – ohne freilich zu unterstellen, diese Entwicklung sei zwangsläufig gewesen. Damit wird es nicht zuletzt möglich, einige viel diskutierte Thesen zur Nachgeschichte des Staatssozialismus und zur Entwicklung der vermeintlich siegreichen liberalen Demokratie seit 1989 zu überprüfen. So haben die beiden Politikwissenschaftler Ivan Krastev und Stephen Holmes den Aufstieg des Rechtspopulismus in Ostdeutschland und in weiten Teilen Ost- und Südosteuropas als Folge einer gescheiterten »Nachahmung«[7] des westlich-liberalen Demokratiemodells gedeutet. Man muss jedoch fragen, inwiefern es sich nicht vielmehr um einen eigenwillig-demokratischen »Aufbruch Ost« handelt, der auf sehr spezifischen Erfahrungen mit und Verständnissen von Demokratie basiert und sich parallel zur Krise westlich-liberaler Demokratien (und diese verschärfend) entwickelt hat. Die von Philip Manow beobachtete »(Ent-)Demokratisierung der Demokratie«[8], die zunehmende Ablehnung der repräsentativen Demokratie in demokratisch verfassten Gesellschaften weltweit, hat mehrere Quellen. Diese lassen sich nur in zeithistorisch-vergleichender Perspektive sichtbar machen. Die deutsch-deutsche Perspektive, auf die sich meine Studie konzentriert, stellt dabei lediglich ein Kapitel dieser weiteren europäischen Demokratiegeschichte dar.

Eine politische Kulturgeschichte »von unten«

Das vorliegende Buch ist der Versuch einer gesellschaftsgeschichtlichen Annäherung an die jüngste deutsche Demokratiegeschichte – einer politischen Kulturgeschichte »von unten«. Es fragt danach, auf welche Weise sich die Deutschen in Ost und West als Bürgerinnen und Bürger verstanden und verstehen und inwiefern sich ihr Staats- und Demokratieverständnis unterschied und unterscheidet.[9] Welche Rolle spielten dabei sozioökonomische Faktoren sowie die generellen Umbrüche in den Lebensumständen der Menschen nicht nur im Osten, sondern auch im Westen des Landes?[10] Ich greife dafür auf meist massenhaft überlieferte subjektive Quellen aus der Breite der Gesellschaft zurück – beispielsweise Bürgerbriefe, Eingaben, Petitionen und Flugblätter –, um zu untersuchen, wie sich das Selbstverständnis von Bürgerinnen und Bürgern sowie ihre Ideen von Demokratie seit den 1980er Jahren gewandelt haben.

Vor uns liegt durchaus Neuland, wenn unter Bezug auf historische Selbstzeugnisse individuelle Vorstellungen von Demokratie und (Staats-)Bürgersein im geteilten und vereinten Deutschland rekonstruiert und im Spiegel der Wahl- und Einstellungsforschung analysiert werden.[11] Die Grundlage dafür sind noch weitgehend unerforschte Quellenbestände, deren Auswertung eine methodische Herausforderung darstellt.[12] Bei den für die 1980er und 1990er Jahre relevanten Quellensammlungen handelt es sich durchweg um Selbstzeugnisse und anderes Schriftgut »ganz normaler« Bürgerinnen und Bürger – damit sind Menschen gemeint, die im Untersuchungszeitraum weder ein herausgehobenes öffentliches Amt innehatten noch eine als historisch zu erachtende Verantwortung trugen. Die Dokumente stammen überwiegend aus Zusammenhängen, in denen sich Bürger in großer Zahl an »ihr« Staatswesen im weitesten Sinne gewandt haben, also an Repräsentanten und Regierungsvertreterinnen, Parteien oder Bürgerbewegungen, Institutionen und Gremien. Das Konvolut umfasst im Einzelnen

im Bundesarchiv überlieferte Briefe an die Bundespräsidenten Karl Carstens und Richard von Weizsäcker (die mir für den Zeitraum bis Ende 1991 zugänglich waren); vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) abgefangene oder dorthin übergebene Bürgerpost an die Staats- und Parteiführung, Ministerien und Medien der DDR; themenbezogene Petitionen, Flugschriften, Unterschriftensammlungen und Privatbriefe an das Neue Forum und etablierte oder im Umbruch neu entstandene Zeitungen in Berliner und Leipziger Oppositionsarchiven; und schließlich Tausende von Bürgerschreiben an die 1992/93 tagende, aus dem Einigungsvertrag hervorgegangene Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat (GVK).[13]

Ich nehme diese vielfältige ost-, west- und gesamtdeutsche Bürgerpost nicht streng vergleichend in den Blick, sondern interessiere mich vor allem für die darin zum Ausdruck kommenden Vorstellungen von Demokratie, (Staats-)Bürgersein, Partizipation und Repräsentation. Ungeachtet der sehr disparaten Entstehungs- und Überlieferungszusammenhänge dieser Bestände ist der jeweilige Aussagewert in Bezug auf das Politik- und Bürgerselbstverständnis ihrer Verfasser beachtlich. Schließlich sei noch vorausgeschickt, dass die Auswahl, die ja wiederum auf einer Selbstauswahl beruht – denn nicht alle Bevölkerungsgruppen verfassen in gleichem Maße derlei Briefe und Dokumente –, keine im strengen Sinne repräsentativen Aussagen erlaubt. Dennoch ermöglicht das hier untersuchte Konvolut an Primärquellen einen substanziellen Einblick in die Vielfalt der gesellschaftlich verhandelten Vorstellungen, die von mir immer auch im Lichte der jeweils verfügbaren Wahl- und Einstellungsforschung gewichtet werden.[14]

Mein Buch verhandelt die jüngste Demokratiegeschichte allerdings nicht nur auf dieser individuellen und gesellschaftlichen Ebene, sondern fragt darüber hinaus danach, wie die Bürgerselbst- und Demokratieverständnisse aus der Zeit der deutschen Teilung nach 1989/90 bis zum Aufstieg der AfD unter der »ostdeutschen« Kanzlerschaft Angela Merkels weiterwirkten, wie sie sich miteinander verbanden oder auch verschieden blieben. Freilich kann das für die jüngste Zeit nicht mehr ähnlich quellengesättigt geschehen, denn ab 1992 sind vergleichbare Bürgerbriefbestände wie für die 1980er Jahre nicht vorhanden beziehungsweise aufgrund der 30-Jahres-Frist noch nicht freigegeben. Die am weitesten in die Gegenwart reichenden Bestände, die mir zugänglich waren, umfassen die Bürgerbriefe an Richard von Weizsäcker zur Hauptstadtdiskussion 1990/91 und die Eingaben an die Gemeinsame Verfassungskommission aus den Jahren 1992 und 1993, die im vierten Kapitel analysiert werden. Schlaglichtartig lässt sich an ihnen die hoffnungs- und zugleich belastungsreiche Ankunft der Deutschen in der »Berliner Republik« nachzeichnen.[15]

Die in diesem Buch erzählte Demokratiegeschichte seit den 1980er Jahren versteht sich als Beitrag zu einer politischen Kulturgeschichte »von unten«. Der so geläufige wie vage Begriff der »politischen Kultur« ist dabei durchaus erklärungsbedürftig. Das Wortpaar hat in den 1980er Jahren einen »Siegeszug durch die Welt«[16] der Sonntagsreden angetreten und ist seither zu einem normativ aufgeladenen Allerweltsbegriff verkümmert. Zwar benutze auch ich ihn gelegentlich in dieser summarischen Alltagsbedeutung. In der Regel meine ich im Folgenden damit jedoch nicht nur ein auf die politischen Eliten beschränktes »diskursives Phänomen«.[17] Vielmehr betrachte ich politische Kultur auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene in Anlehnung an das civic-culture-Konzept von Gabriel Almond und Sidney Verba als »Summe der politisch relevanten Einstellungen, Meinungen und Wertorientierungen innerhalb der Bevölkerung«.[18] Zugleich knüpfe ich an historiografische Aneignungen dieses Konzepts durch die »Neue Politikgeschichte« an. Diese will die klassische Unterscheidung zwischen »großer Politik« und gesellschaftlichem Alltag überwinden. Sie fragt dafür nach den »Bedingungen politischen Handelns«, die nicht zuletzt durch langfristig gewachsene Wertvorstellungen, Gesellschaftsideale und Politikerwartungen geprägt sind.[19] Wie (gut) ein politisches System funktioniert, zumal eine Demokratie, hängt maßgeblich davon ab, was sich Bürgerinnen und Bürger darunter vorstellen, wie sie dazu stehen, was sie sich davon erhoffen und wie sie sich dazu verhalten. All dies macht – in der Sprache der Politikwissenschaft – die »subjektive Dimension der gesellschaftlichen Grundlagen«[20] von Politik aus. Auf meine Studie übertragen heißt das: Der Fokus auf individuelle Selbstzeugnisse und die darin aufgehobenen Demokratie- und Bürgervorstellungen rückt die subjektive Ebene in den Blick, die in der klassischen, rein auf Umfragen basierenden Einstellungsforschung üblicherweise außen vor bleibt.

Historisierung und Gegenwart der Demokratie

Wie ordnet sich nun ein solches Unterfangen in den aktuellen Forschungs- und Wissensstand ein? Ungeachtet der seit Jahrzehnten eingeforderten »integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte«[21] gibt es bis heute kaum Versuche, die im doppelten Sinne geteilte politische Kultur Deutschlands über die Zäsur 1989 hinweg als eine Geschichte zu schreiben. Die Bevölkerungen beider Staaten sind bisher weder in ihren Unterschieden noch in ihren Gemeinsamkeiten als politische Subjekte, als »Bürgerschaften« mit je spezifischen und nach dem Umbruch aufeinandertreffenden Vorstellungen von Politik und Partizipation betrachtet worden.[22] Darüber hinaus hat die zeitweilig überbordende DDR-Forschung ein Bild vom (späten) SED-Staat gezeichnet, in dem die mit diktatorischem Furor durchgeführte »antifaschistisch-demokratische Umwälzung« angeblich zur Stilllegung einer ganzen Gesellschaft geführt hat. Dass sich der vermeintlich stabile, weil einbetonierte Einparteienstaat im Herbst ’89 in einer unverhofften, friedlichen Revolution stürzen ließ, während das System selbst zuvor nur von ein paar Intellektuellen, kirchennahen Oppositionellen und rebellierenden Jugendlichen infrage gestellt worden war, wird meist der von Michail Gorbatschow angestoßenen Erosion des Sowjetblocks und der maroden Wirtschaftslage des Landes zugeschrieben.[23] Das politische Denken und Handeln in der Breite der DDR-Gesellschaft spielt in einschlägigen Darstellungen hingegen kaum eine Rolle; bestenfalls verweisen diese auf eine Kultur des Sich-Einrichtens und des angepassten Meckerns im Angesicht des täglichen Mangels. Das beginnt sich erst in jüngster Zeit langsam zu ändern.[24]

Vor allem im Kontext der 30. Jahrestage von Mauerfall und Wiedervereinigung 2019/20 hat die gesellschaftliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Zeitgeschichte eine neue Qualität erreicht. Trotz oder vielleicht gerade wegen des pandemiebedingt stark reduzierten Gedenkbetriebs im Herbst 2020 waren die Debatten über die (Nach-)Geschichte der Einheit und die Transformation Ostdeutschlands von einer kontroversen und zugleich produktiven Unruhe und einer zunehmenden Vielperspektivität geprägt.[25] Auch wenn der politische Diskurs, allen voran die einschlägigen Reden und Bundestagsdebatten, noch immer von dem Bedürfnis durchdrungen ist, die Lage der vereinten Nation am Grad der bereits erreichten beziehungsweise noch zu erreichenden Angleichung zu messen, sind viele jubiläumsbezogene Zeitdiagnosen zuletzt differenzierter und problemfokussierter ausgefallen als in den Jahren zuvor.[26]

Diese Zunahme an Präzision und Problembewusstsein dürfte zum einen eine Folge des sich durchsetzenden Selbstverständnisses als längst nicht mehr nur ost-westlich markierter Einwanderungsgesellschaft sein, zum anderen aber mit dem vor allem in ostdeutschen Wahlen forcierten Aufstieg der AfD und der damit verbundenen Polarisierung und Verunsicherung des Landes zusammenhängen. Der »problematische Osten« hat sich – gewissermaßen als eine Gegenwart, die nicht vergehen will – viel nachdrücklicher als erwartet in die politische Kultur der Republik eingeschrieben.[27] Dieser Umstand lässt sich je nach Standpunkt als demokratische Chance oder staatspolitische Herausforderung begreifen – und als zeithistorische Aufgabe.[28]

Nicht zuletzt ist die deutsche Demokratiegeschichte auch mit dem globalen democracy boom in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre in einer nie dagewesenen Intensität und Vielseitigkeit in den Fokus gerückt. Die Wurzeln dieses Booms liegen zwar im Ende des Kalten Krieges, er verdankt seine Dringlichkeit jedoch dem seit der Jahrtausendwende anschwellenden Krisendiskurs über die liberale Demokratie. Gewichtige Studien zur (westdeutschen) Nachkriegsgeschichte haben die Aufmerksamkeit systematisch nicht mehr nur auf die Abkehr und »Umkehr«[29] vom Nationalsozialismus gerichtet, sondern zunehmend auch die vielfältigen Demokratisierungsprozesse untersucht. Dabei überwiegt das Bild einer zwar windungsreichen, aber insgesamt »glücklichen«, vom Dunklen ins Helle führenden Entwicklungsgeschichte der bundesrepublikanischen Demokratie.[30] Wahlen und Wahlkämpfe, Geschlechterverhältnisse, Debatten- und Medienkultur sind intensiv erforscht[31], und immer öfter werden auch alltägliche, lebensweltliche Aneignungen demokratischer Kultur – wie auch deren Anfechtungen und Bruchstellen – thematisiert.[32]

Was die zäsurübergreifende Demokratiegeschichte um 1989 betrifft, wird das Bild dann allerdings schon deutlich blasser. Es gibt eine Reihe hochinteressanter Spezialforschungen zur Geschichte des Umbruchs, die jedoch meist auf die eine oder andere Seite fokussiert bleiben.[33] Noch viel zu selten werden verflochtene Perspektiven entfaltet. Dem »innere Einheit«-Paradigma des politischen Diskurses folgend ist jüngst etwa (Ost)Deutschlands Weg als eigensinniges, ost-westlich-verwobenes Geschichtenpanorama nachgezeichnet worden.[34] Skizzenhaft thematisiert Philipp Ther den Zusammenhang zwischen den ostdeutschen Umbruchserfahrungen, den vielfältigen (Eliten-)Anpassungsleistungen und der Wirtschafts- und Europapolitik von Angela Merkel. Die Beschäftigung mit Merkel als ostdeutscher Kanzlerin, als Frau, die seit 1990 im »Modus des Ost-West-Migranten«[35] eine einzigartige Karriere hingelegt hat, wirft ein Schlaglicht auf die Demokratie der Berliner Republik. Das fünfte und letzte Kapitel dieses Buches widmet sich diesem klaren, aber keineswegs einfachen und daher umso erklärungsbedürftigeren Zusammenhang zwischen Merkels Biografie und der trotz ihrer Kanzlerschaft bestehenden ostdeutschen Repräsentationskrise.

Wie groß der Erkenntnisgewinn solcher Perspektivwechsel sein kann, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass mit einer erweiterten ostdeutschen Transformationsforschung auch die wunden Punkte der demokratischen Ordnung der »alten« Bundesrepublik in den Fokus geraten. Viele davon thematisiert auch dieses Buch, etwa die Rolle von Bürgerengagement in der Parteiendemokratie, die gesellschaftliche Reichweite des »Verfassungspatriotismus«, die materielle und ideelle Tragfähigkeit des bundesdeutschen Sozialstaatsmodells oder das Fortwirken nationalistisch-autoritärer Einstellungen in der Bevölkerung. Im Übrigen kommen damit auch spezifisch westdeutsche Umbruchserfahrungen zur Sprache, beispielsweise der im Zuge der Hauptstadtdiskussion 1991/92 viel diskutierte »Abschied von Bonn«. Wie die im vierten Kapitel analysierte umfangreiche Bürgerpost an Richard von Weizsäcker zeigt, lässt sich die Entscheidung für Berlin aus westdeutscher Sicht auch als eine Art »Abwicklung« verstehen. Denn in dem Moment, wo die Bonner Republik ganz zu sich gefunden hatte, kam sie in gewisser Weise auch an ihr Ende. Norbert Frei hat jüngst zu Recht eingefordert, dass dieser westlichen Erfahrungsgeschichte des Umbruchs und deren »Transformationsleistungsverlusten« mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.[36]

Gleichwohl kann auch diese zunehmend ost-westlich perspektivierte Forschung nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade in der derzeit so populären Demokratiegeschichtsschreibung die ostdeutsche Seite der Geschichte noch immer routiniert außen vor bleibt: Gewichtige Bilanzen und als Pionierwerke präsentierte Synthesen, beispielsweise zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes oder zur Demokratie als »deutscher Affäre«, schenken der Geschichte der 1989er-Revolution sowie ihren verfassungs- und demokratiepolitischen Potenzialen wie Konsequenzen kaum Beachtung.[37]

Aber von welcher Demokratie ist hier nun eigentlich die Rede? Man kann sich, wie der Althistoriker Christian Meier, über die Entstehung und Bedeutung des Begriffs »Demokratie« und damit über dessen »Nachhinken« hinter einer seit der Antike »unbegriffenen, aber wirklichen Sache« trefflich den Kopf zerbrechen.[38] So vielfältig die Demokratie als Idee und Praxis in der Geschichte war und ist, so vielfältig und mitunter diffus waren und sind die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit ihr. Paul Nolte hat beobachtet, dass sie meist als »Erfüllungsgeschichte«, »Suchbewegung« oder »Krisengeschichte« erzählt wird.[39] Gerade in jüngster Zeit führen Publizisten, Politikwissenschaftlerinnen, Soziologen, Historikerinnen und Philosophen einen so noch nie dagewesenen globalen Krisendiskurs über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Demokratie. Eine Vielzahl von Studien betrachten die Demokratie als »post« (Crouch), »(ent-)demokratisiert« (Manow), »begrenzt« (Lessenich), »unpolitisch« (Michelsen/Walter), »simulativ« (Blühdorn), »regressiv« (Schäfer/Zürn), »ausgehöhlt« (Runciman) oder gar »sterbend« (Levitsky/Ziblatt). Die meisten dieser Interventionen sind von einer paradoxen Dauerkrisen- und zugleich Krisenüberwindungsvorstellung durchdrungen, die David Runciman feinsinnig auf den Punkt gebracht hat: Angesichts der vorhandenen Defizite der Demokratie bestehe die Gefahr, »uns in einem falschen Gefühl der Sicherheit einzulullen. Wir könnten weiterhin auf sie [die Demokratie] vertrauen und Rettung von ihr erwarten, obwohl wir vor Wut über ihre Unfähigkeit kochen, ihrem Auftrag gerecht zu werden. Die Demokratie könnte also scheitern, obwohl sie intakt bleibt.«[40]

Das vorliegende Buch versucht sich dem Paradigma von der Demokratiekrise ein Stück weit zu entziehen. Die derzeitige historische Forschung zur (westlichen) Demokratiegeschichte lässt sich ihrer jeweiligen Perspektivierung nach in zwei Hauptstränge unterteilen: Der eine Strang folgt einem prosaischen Demokratieverständnis und versteht Demokratie betont nüchtern als das Streben nach politischer Gleichheit. Der andere Strang folgt einem emphatischen Demokratieverständnis und meint damit über das politische Gleichheitsversprechen hinaus das Streben nach Chancengleichheit, also nach der stetigen Ausweitung von Teilhabe (politisch, sozial, kulturell usw.). Ersterem geht es um die Historisierung einer prinzipiellen Idee – beispielhaft steht dafür Jill Lepores Geschichte des »amerikanischen Experiments«[41] –, Letzterem um die historisierende Sichtbarmachung gesellschaftlicher Demokratisierungsprozesse und -potenziale.[42] In beiden Strängen changieren die Analysen zwischen eher distanzierten, betont nüchternen Erkenntnisinteressen und emphatischen, dezidiert für die Demokratie engagierten Erzählungen. Nicht wenige Darstellungen sind von einem staatsbürgerlichen Verantwortungsgefühl geradezu durchdrungen. Historiker wollen mit ihren Arbeiten ganz konkret dazu beitragen, die Gegenwart und Zukunft der Demokratie zu retten, etwa wenn einleitend gemahnt wird: »Wir sollten die Demokratie stärken, indem wir ihre geschichtliche Vielfalt sichtbar machen.«[43]

Dieses Buch ordnet sich nicht einseitig einem dieser beiden Stränge zu, sondern rückt stattdessen die Frage nach dem historisch gewachsenen und veränderlichen Demokratieverständnis ins Zentrum. Die ersten beiden Kapitel Staat, Bürger, Sein und Zweierlei Demokratie spüren den spezifischen Bürger- und Demokratieverständnissen in Ost und West auf Basis einer reichhaltigen und sehr diversen Bürgerpostüberlieferung nach. Das zentrale dritte Kapitel Tausend Aufbrüche bildet das Scharnier der Erzählung. Darin rekonstruiere ich die vielfältigen im Herbst 1989 und den Folgemonaten entwickelten Ideen, die sehr oft basis-, direkt- und volksdemokratische Vorstellungen verhandelten und erstaunlich viele ostwestliche Wechselbezüge und Resonanzen aufweisen. Zugleich beginnt am Ende dieses Frühlings im Herbst auch der Weg in die Berliner Republik – und der Fokus wechselt von der individuell-gesellschaftlichen auf die politik-, parteien- und diskursgeschichtliche Ebene. Die Kapitel vier und fünf, Geteilte Demokratie und Umbruch, Aufbruch, AfD, fragen danach, wie sich die vor 1989 und im Revolutionsherbst geformten Demokratievorstellungen im vereinten Deutschland auswirkten, wie sie Wahlverhalten, demokratische Praxis und die bis heute intensiv geführten innerdeutschen Selbstverständigungsdiskurse über die »innere Einheit« prägten. Welche Rolle spielen spezifische Teilhabe- und Mitwirkungserfahrungen beziehungsweise -erwartungen – von der Relevanz ostdeutscher Politikrepräsentanz (die mit Kanzlerin und Bundespräsidenten bis in die Staatsspitze reichte) bis hin zu den möglichen Ursachen für die besonders starke Verfestigung rechtspopulistischer und illiberaler Einstellungen in Ostdeutschland? Das Fazit wagt am Ende keine Bilanz, sondern den Versuch einer anderen, deutsch-deutsch und »von unten« entworfenen Demokratiegeschichte der jüngsten Zeit. Er soll dazu beitragen, die Dynamiken und Potenziale, aber auch die Herausforderungen und Bedrohungen besser zu verstehen, welche die seit 1989 von zahlreichen Aufbrüchen gezeichnete Berliner Republik umtreiben.

Dieses Buch rekonstruiert damit erstmals systematisch, wie die Deutschen im weitesten Sinne – also nicht nur deutsche Staatsbürger, sondern, wo immer es die Quellen erlauben, auch in Deutschland lebende Menschen mit Einwanderungsgeschichte – Demokratie als politische Ordnung und alltägliche Praxis, als Versprechen und Hoffnung im geteilten und vereinten Deutschland verhandelt haben. Es beschreibt, was es vor 1989 für sie bedeutete, in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik zu leben, und was aus dieser doppelten Berufung auf die Demokratie – hier die liberale, parlamentarische Repräsentativdemokratie, dort die »Volksdemokratie« oder »sozialistische Demokratie« – folgte.

Auch wenn mit Blick auf die DDR nicht von einer Demokratiegeschichte im engeren Sinne die Rede sein kann, ist es essenziell, sie als Demokratieanspruchsgeschichte zu verstehen und zu beschreiben. Der strategische, symbolische, propagandistische – oder schlicht: simulative – Bezug auf die Demokratie im SED-Staat spielte in der Geschichte dieses Landes (wie des Staatssozialismus insgesamt) eine zentrale Rolle. Generationen von Ostdeutschen haben sich daran in ganz unterschiedlicher Weise abgearbeitet, haben ihn akzeptiert und geglaubt, eingefordert und gelebt, kritisiert und verachtet. Um Marx’ berühmtes Diktum in etwas anderer Weise aufzugreifen: Als Tragödie und Komödie wird die Demokratie häufig genug betrachtet, aber eine Geschichte der Demokratie als »Farce« ist durchaus noch zu schreiben.[44]

Der Sozialismus war der ideologische Glutkern des ostdeutschen Experiments. Der misslungene Versuch einer vitalen sozialistischen Ordnung, der im Grunde nur auf einer »niemals eingestandenen revolutionären self-fulfilling prophecy«[45] beruhte, war ein wesentlicher Grund für den Legitimations- und letztlichen Machtverlust der SED. Doch gerade angesichts der riesigen Kluft zwischen Versuch und Scheitern gilt es, nach der Präsenz des »(Volks-)Demokratischen« in der DDR-Gesellschaft sowie nach dessen Nachleben in Form plebiszitär-ethnokratischer Demokratievorstellungen in Ostdeutschland nach 1990 zu fragen.[46] Ausweislich der Verfassungspräambel sah sich die DDR auf dem Weg zur Verwirklichung »des Sozialismus und Kommunismus, des Friedens, der Demokratie und Völkerfreundschaft«. Sie versprach ihren Bürgern die Ausübung ihrer politischen Macht durch »demokratisch gewählte Volksvertretungen« (Art. 5, Abs. 1). Rund 90-mal fallen die Wörter »Demokratie« oder »demokratisch« in diesem Verfassungstext.[47] Dabei nutzte die SED den Demokratie-Begriff in Wahrheit zur Verbrämung ihres autoritären Machtanspruchs. Für sie war Demokratie, wie die einschlägige Forschung gezeigt hat, letztlich ein »Zustand der kooperativen Arbeitsteilung unter Anleitung zum Zwecke der Zielerreichung«.[48] Auch wenn also die »sozialistische Demokratie« in der DDR nur zum Schein existierte, sie tagtäglich mit großem Aufwand von Staats wegen postuliert und in der Bevölkerung »eigen-sinnig«[49] angeeignet wurde, sollte die gesellschaftliche Bedeutung dieses Scheins ernst(er) genommen werden. Mit anderen Worten: Die Geschichte der DDR erschöpft sich nicht in ihrer Beschreibung als Diktatur; sie ist auch die Geschichte eines zwar unerfüllten, aber dennoch real wirksamen Demokratieversprechens.[50]

Für die Nachgeschichte der Revolution von 1989 und ihre Verortung in der deutschen Demokratiegeschichte ist diese Einsicht von maßgeblicher Bedeutung. Sie erlaubt es, die tausend Aufbrüche und die vermeintlich »kurze Demokratie«[51] (Thomas Lindenberger) des Umbruchs präzise zu beschreiben – all die vielfältigen verhandelten Demokratievorstellungen, die kurzlebig wie nachhaltig, konstruktiv wie destruktiv in die Berliner Republik hineinwirkten. Auf dieser Grundlage ist es auch möglich, die politische Kulturgeschichte Ostdeutschlands als integralen Teil der bundesdeutschen Demokratiegeschichte zu erzählen und die Bedeutung der Zäsur von 1989 historisch zu vermessen. Nicht zuletzt wird damit – einem Gedanken des eingangs zitierten Historikers Tony Judt folgend – deutlich, wie stark die vergangenen Jahrzehnte von der Auseinandersetzung mit einer Frage geprägt sind, die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts keineswegs hinfällig geworden, sondern vielmehr eine epochale Gegenwarts- und Zukunftsaufgabe geblieben ist: der Frage nämlich, wie eine Gesellschaft sich selbst und ihr Gemeinwesen »zum Wohle aller« versteht und gestaltet.

1   Staat, Bürger, Sein: Was heißt es, Staatsbürger/-in zu sein?

Der gute Bürger aber muss sich sowohl regieren lassen, wie auch regieren können.[1]

Aristoteles, 350 v. Chr.

Am Anfang steht ein ebenso geläufiger wie opulenter Begriff: Staatsbürger.[2] Er hat eine bis in die Aufklärung zurückreichende Geschichte und war im geteilten Deutschland mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt. Man stelle sich einmal vor, es wäre möglich, in die frühen 1980er Jahre zurückzureisen und in beiden Teilen des Landes quer über die Mauer hinweg ein und dieselbe Umfrage durchzuführen. Auf die Frage, was ihnen als Erstes in den Sinn kommt, wenn sie das Wort »Staatsbürger« hören, hätten vermutlich viele der Westdeutschen »Staatsbürger in Uniform« und viele der Ostdeutschen »Staatsbürgerkunde« geantwortet. Diese Antworten würden die in beiden Staaten jeweils dominanten Vorstellungen von Staatsbürgersein und damit zugleich die Grundpfeiler ihrer politischen Kulturen sichtbar machen: Der Staatsbürger in Uniform ist die Leitidee der »Inneren Führung« in der Bundeswehr; sie gilt als radikaler Gegenentwurf zum vernichtungskriegerischen Schulterschluss zwischen NS-Staat und Militär vor 1945 und steht bis heute, wenn auch nicht unangefochten, für das politisch-normative Selbstverständnis der Bundesrepublik.[3] Der Staatsbürgerkundeunterricht in der DDR wiederum war der generalstabsmäßige Versuch einer »Überzeugungsbildung«[4], ein Ideal- und Sinnstiftungsunterfangen, mit dem der Staat seine Bürger nicht nur zu indoktrinieren, sondern ihr ganzes Denken, Fühlen und Verhalten zu bestimmen suchte – positive Propaganda, wie es der Totalitarismus-Kritiker George Orwell einmal formulierte.[5] Kinder sollten in der Schule zu »sozialistischen Persönlichkeiten« herangezogen werden, dort von den Ansichten von Marx, Engels und Lenin »unerschütterlich« überzeugt werden, die »Politik der kommunistischen und Arbeiterparteien (insbesondere der DDR) verstehen lernen« und »nach diesem Kompaß im Leben handeln«.[6] Diese Art »Staatsbürgerkunde« war für Generationen von Schülerinnen und Schülern das am meisten mit Ängsten und Unbehagen verbundene Fach im Schulalltag. Die als Fürsorge verbrämte Einschüchterung flog der Lehrerschaft – wie bald der gesamten Partei – orkanartig um die Ohren, als sich die Angst im Laufe des Herbstes 1989 verflüchtigte. Die in den Wochen um den Mauerfall geführte hochemotionale Debatte über den Anspruch und die Folgen der sozialistischen »Volksbildung« wird im dritten Kapitel eine eigene Rolle spielen, denn auch in ihr spiegelten sich viele der spezifischen Kennzeichen der damals entstehenden innerostdeutschen Öffentlichkeit samt ihrer Demokratisierungsideen.

Vom Untertan zum Staatsbürger. Eine kurze deutsche Ideengeschichte

Der »Staatsbürger« – erst seit wenigen Jahren denken wir dabei selbstverständlich auch an die Staatsbürgerin – war in Ost- wie Westdeutschland und jenseits der politischen Systeme auf einer alltäglich-gesellschaftlichen Ebene eine dennoch recht abstrakte Figur. Umso wichtiger und erhellender ist es, zu fragen, wie man sich in der Breite der Gesellschaft in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in der Deutschen Demokratischen Republik diesen Staat vorstellte und wie man über sich selbst als Bürgerinnen und Bürger dachte. Um diesen Vorstellungen beiderseits des Eisernen Vorhangs angemessen nachgehen zu können, ist es wiederum sinnvoll, zunächst jene Zeit – die 1980er Jahre – und den Begriff beziehungsweise die Idee des (Staats-)Bürgers in den weiteren historischen Kontext einzuordnen.

Die Rede vom letzten Jahrzehnt der deutschen Teilung ist eine zeitliche Verortung, die vor allem vom Ende dieser Teilung her gedacht und daher für die Frage nach dem grundsätzlich offenen Verhältnis der Deutschen zur Demokratie eigentlich hinderlich ist. Wie Frank Bösch gezeigt hat, kann das Jahr 1979 als globale »Zeitenwende« verstanden werden, von der aus die für den Ausgang des 20. Jahrhunderts und die ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts maßgeblichen Konflikte und Entwicklungslinien bis in die Gegenwart reichen, und zwar in politischer, wirtschaftlicher und geostrategischer ebenso wie in sozialer, religiöser und (trans-)kultureller Hinsicht. Auch anderen zeithistorischen Untersuchungen zufolge begann in den von Ölpreisschock und Wirtschaftskrise geprägten späten 1970er Jahren die »Vorgeschichte der Gegenwart«.[7] Mit Blick auf das geteilte Deutschland war dies eine Zäsur voller Ambivalenzen. Einerseits hatte sich um 1980 mit der weitgehend als selbstverständlich erachteten Zweistaatlichkeit ein »Normalzustand« etabliert, den längst nicht mehr alle Zeitgenossen als unerträglich empfanden. Innerhalb des geteilten Landes verstanden es staatliche Stellen und intellektuelle Stichwortgeber in Ost und West effektiv, wenn auch mit unterschiedlichen Prämissen und Methoden, ihre jeweiligen Teilgesellschaften über sozialistische beziehungsweise verfassungspatriotische Nationsentwürfe zu integrieren.[8] Andererseits verschärften sich mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan, der Aufstockung sowjetischer Militärstützpunkte mit atomaren SS-20-Raketen, dem darauffolgenden NATO-Doppelbeschluss und der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen die scheinbar stillgelegten geopolitischen und ideologischen Konflikte – nicht nur zwischen den Blöcken, sondern auch innerhalb der sie tragenden Staaten.

Die Bevölkerungen der beiden deutschen Teilstaaten einte und trennte zugleich unglaublich viel. Historisch ging das Trennende vor allem aus der seit 1949 bestehenden staatlichen Teilung hervor, die das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben beiderseits der innerdeutschen Grenze maßgeblich und zunehmend antagonistisch geformt hatte. Das Einende basierte auf weiter zurückliegenden Entwicklungen und Traditionen: zuerst auf der gemeinsamen Verantwortung für die nationalsozialistische Herrschaft, mit der die Deutschen Krieg, Genozid und Zerstörung über ganz Europa und nicht zuletzt das eigene Land gebracht hatten; und davor und weit darüber hinausgehend teilten sie eine kulturnational geprägte Politik-, Rechts- und damit auch Gesellschaftsgeschichte, in der das Grundverständnis des »deutschen« Gemeinwesens über Jahrhunderte hinweg an die Dichotomie von Obrigkeit und Untertanen gebunden war. Begriffsgeschichtliche Studien haben gezeigt, dass sich der Bürgerbegriff nur im Deutschen im Zuge der Aufklärung in den »Staatsbürger« und den »Privatbürger« aufspaltete. Einen umfassenden, Staatlichkeit und Persönlichkeit (oder Bürger und Mensch) zusammenbindenden Begriff im Sinne eines citoyen oder citizen gab es hingegen lange Zeit nicht.[9] Mehr noch, den Begriff des Staatsbürgers prägten und verwendeten selbst liberale deutsche Rechtsgelehrte als Reaktion auf die Französische Revolution lange in dezidierter Abwehr der Idee universaler Menschen- und Bürgerrechte: Ein Mensch galt als ständegebundener Untertan. Sein Status definierte sich vornehmlich danach, in welchem Verhältnis er zum Fürsten stand und welchen Grad an ökonomischer Selbstständigkeit ihm seine persönlichen Einkommensverhältnisse ermöglichten.

Erst in der Weimarer Republik, mit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, setzte sich in Deutschland ein weitergehender, »wertneutraler« und »einheitlich auf den Staat bezogener« Staatsbürgerbegriff durch.[10] Jedoch war auch diese Vorstellung zunächst nicht von Dauer, denn die Nationalsozialisten setzten nach 1933 alles daran, sie durch die Idee des herrenmenschlichen »Volksgenossen« zu ersetzen. Sie luden die traditionelle ständisch-ökonomistische Hierarchisierungslogik rassistisch-antisemitisch auf, und über die damit in Gang gesetzte (Selbst-)Mobilisierung der deutschen »Volksgemeinschaft« erzeugte das Regime eine historisch beispiellose gesellschaftliche Vernichtungsgewaltbereitschaft. Zugleich setzten bekanntlich auch kommunistische und sozialistische Staatsentwürfe im Laufe des 20. Jahrhunderts auf den Begriff des »Genossen«, wenn er dort auch auf lange Sicht an die Parteimitgliedschaft gebunden blieb und damit nur eine vergleichsweise begrenzte Reichweite hatte.[11]

Diese vielschichtigen Traditionen und Prägungen – sowohl was den Bedeutungswandel des Begriffs als auch die jeweils mit ihm verbundene politische Kultur angeht – wirkten in der Nachkriegszeit nicht nur auf der staatlich-rechtlichen Ebene nach, sondern auch im gesellschaftlichen Leben, in den alltäglichen, für selbstverständlich erachteten Staats-, Politik- und Bürgerselbstverständnissen in der Breite der Bevölkerung.[12] Veranschaulichen lässt sich das beispielsweise am Artikel 33 des Grundgesetzes, nachdem »jeder Deutsche die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten« hat. Im Absatz 3 dieses Artikels, der den Zugang zu öffentlichen Ämtern regelt, ist sowohl von bürgerlichen als auch von staatsbürgerlichen Rechten die Rede; Letztere beträfen »die gesamte Beziehung zwischen Bürger und Staat […] vom aktiven und passiven Wahlrecht […] bis zur Pflicht, Steuern zu zahlen«, erläutert ein in der politischen Bildung viel gelesener Grundgesetz-Kommentar.[13]

Nach gültiger Rechtsauffassung ist dies jedoch eine rein semantische, der Entstehungsgeschichte und bundesstaatsrechtlichen Logik des Grundgesetzes geschuldete Unterscheidung, die sachlich bedeutungslos ist. Der Begriff der staatsbürgerlichen Rechte sei »weit auszulegen und bezieht sich auf das öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnis des Einzelnen zum Staat in toto«, so ein unter Juristen maßgeblicher Grundgesetz-Kommentar; es werde »entgegen dem Wortlaut [des Abs. 3] zwischen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechten nicht unterschieden«.[14]

In diesem Beispiel, das nicht nur die trockene Rechtstheorie betrifft, sondern über die Vermittlung des Grundgesetzes in politischen Bildungszusammenhängen weit in die Alltagskultur hineinreicht, finden sich also noch ganz klar die Spuren jener »eigentümlich«[15] windungsreichen Entwicklungsgeschichte des deutschen Bürgerbegriffs (und damit Bürgerseins) vom hierarchisch angeordneten Untertan zum freien und gleichen politischen Subjekt. Diese Entwicklung führte in ihrer Fortsetzung nach Kriegsende 1945 weder in Westdeutschland und noch viel weniger in Ostdeutschland direkt und unausweichlich vom Dunklen ins Helle. Die Deradikalisierung und »Rezivilisierung« der (West-)Deutschen ist eine viel diskutierte Frage in der zeithistorischen Forschung, und das damit verbundene »Projekt« der Demokratisierung seit 1945, welches über viele Jahre als reine Erfolgsgeschichte beschrieben worden ist, wird inzwischen vor dem Hintergrund anwachsender nationalistischer und illiberaler Einstellungen im Land zunehmend kritisch hinterfragt.[16]

Die bis weit in die Berliner Republik hineinreichende Gegensätzlichkeit der staatlich-systemischen wie alltäglich-populären Staatsbürgervorstellungen in Ost und West ist kaum zu überschätzen. Schon ein Vergleich der Logik, die das Verhältnis von Staat und Bürger beiderseits der Mauer definierte, zeigt dies deutlich: Die DDR-Verfassung, sowohl in der Fassung von 1949 als auch in der 1968 überarbeiteten Fassung, formulierte die Grundrechte jedes und jeder Einzelnen als Teilhaberechte. Diese waren an Mitbestimmungsmöglichkeiten gebunden, die nicht nur das politische, sondern das gesamte gesellschaftliche Leben einschloss. Sie waren als teils individuell, vor allem aber kollektiv wahrzunehmende Rechte gefasst – etwa über die Einbindung in betriebliche und kommunale Strukturen. Mit diesem »sozialistischen« Mitbestimmungsprinzip verfügte die SED in der Praxis über ein »äußerst wirksames Mittel zur Disziplinierung des einzelnen Bürgers«.[17] Im Gegensatz dazu definierte das Grundgesetz als radikaler »Gegenentwurf« zum Nationalsozialismus die Grundrechte als Abwehrrechte. Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik sollten durch die Gewährung von Grundrechten primär vor staatlichen Ein- und Übergriffen geschützt werden.[18] Folglich beschränkt sich das Grundgesetz im erwähnten Artikel 33 darauf, jedem Bürger die »gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten« einzuräumen und ihm gleichen Zugang zu »jedem öffentlichen Amte« nach »Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung« zu garantieren, ohne Rücksicht auf die »Zugehörigkeit zu einem Bekenntnis oder einer Weltanschauung« – und vor allem ohne jede moralisch aufgeladene Verpflichtungsrhetorik, wie sie die ostdeutschen Verfassungen durchzog.

Die DDR war ein Mitmach-Staat, eine »partizipatorische Diktatur«.[19] In gewisser Weise war auch sie ein Gegenentwurf zum Nationalsozialismus, jedoch unter gänzlich anderen Vorzeichen. Der 1949 gegründete »Staat der Arbeiter und Bauern« verkörperte die bitteren Erfahrungen der deutschen Kommunisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Vorhaben einer »antifaschistisch-demokratischen Umwälzung« – zunächst auf die Bevölkerung in der sowjetisch besetzten Zone begrenzt – war Ausdruck eines tief sitzenden Misstrauens einer kleinen, dank der Sowjets aber mit enormer Macht ausgestatteten Minderheit gegenüber dem gemeinschaftlichen Versagen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung, die dem Nationalsozialismus bis zuletzt die Treue gehalten und dessen Verbrechen nicht nur gebilligt, sondern millionenfach mit ins Werk gesetzt hatte. Walter Ulbricht und Genossen zogen mit ihrem Entwurf einer Deutschen Demokratischen Republik ihre Lehren aus einer singulären politischen Enttäuschungserfahrung. Ihre »Republik« fußte nicht auf demokratischem Zutrauen, sondern auf ideologischem Kontrollzwang, sodass selbst die Mitwirkungsrechte in der DDR als Verpflichtung, ja als moralischer Imperativ formuliert waren. »Jeder Bürger hat das Recht und die Pflicht zur Mitgestaltung in seiner Gemeinde, seinem Kreise, seinem Lande und in der Deutschen Demokratischen Republik«, hieß es im Artikel 3 der ersten DDR-Verfassung; jeder Bürger sei »verpflichtet, im Sinne der Verfassung zu handeln und sie gegen ihre Feinde zu verteidigen« (Art. 4). In der 1968 in Teilen stark veränderten, vor allem nun auf die »sozialistische Gesellschafts- und Staatsordnung« ausgerichteten Verfassung (von der 1949 aus gesamtdeutschem Kalkül noch keine Rede gewesen war) ging diese Zwangsberechtigung noch weiter: Jeder Bürger, heißt es da in Artikel 21, Absatz 1, habe das Recht, »das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der sozialistischen Gemeinschaft und des sozialistischen Staates umfassend mitzugestalten. Es gilt der Grundsatz ›Arbeite mit, plane mit, regiere mit!‹« Dazu die Ermahnung, dass die »Verwirklichung dieses Rechts der Mitbestimmung und Mitgestaltung eine hohe moralische Verpflichtung für jeden Bürger« sei, denn jeder trage »Verantwortung für das Ganze« (Art. 3).

In der Staats- und Verwaltungspraxis spielte jedoch der konkrete Verfassungstext, gleich welchen Jahrgangs, bezeichnenderweise kaum eine Rolle. Weder wurde dazu ein Kommentar veröffentlicht – ein solcher wurde vom Politbüro 1950 für »nicht zweckmäßig« befunden –, noch gab es in der DDR eine verfassungsgerichtliche Rechtsprechung.[20] In den zugespitzten Worten des ehemaligen Bürgerrechtlers Gerd Poppe: »[K]ein einziger Grundrechteartikel der DDR-Verfassung [war] das Papier wert, auf dem er stand.«[21] Dennoch hatte diese Verfassung eine gewisse Präsenz. Laut einer durchaus aussagekräftigen Befragungsstudie der Leipziger Pädagogischen Hochschule unter Schülern der Klassen 8 bis 10 aus dem Jahr 1989 besaßen 80 Prozent der Jugendlichen ein Exemplar der Verfassung, ebenso viele hielten sie für »bedeutsam« oder »sehr bedeutsam«; jeder vierte Schüler kannte sogar das »Grundgesetz der BRD«. Diese Zahlen legen nahe, dass den verfassungsmäßigen Grundlagen eines Gemeinwesens eine Bedeutung zugesprochen wurde, die abseits oder gar im Widerspruch zur Linie der alleinherrschenden Partei lag. Denn zugleich glaubten derselben Studie zufolge nur 55 Prozent, dass es »einen Zusammenhang zwischen verfassungsrechtlich fixierten Grundrechten und -pflichten und dem Charakter der Demokratie in einem Staate gibt«.[22]

Auch in den tausendfach überlieferten Eingaben und Bürgerbriefen beziehen sich Absender immer wieder auf die Verfassung, sie kennen sie als Text. Ihre Gültigkeit wird stets aber entweder eingefordert oder gleich ganz infrage gestellt, erst recht dann, wenn die SED und ihre Presse in wohlfeilen Verlautbarungen auf die verfassungsmäßige »Verankerung« bestimmter Rechte verwies. »Ach ja, die Verfassung. Was in diesem Wunderwerk der Demokratie so alles ›verankert‹ ist. Man könnte statt ›verankert‹ ›auf Eis gelegt‹ sagen«, hieß es beispielsweise in einem Leserbrief aus Zwickau an das Neue Deutschland, der nicht abgedruckt, sondern an das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) weitergeleitet wurde.[23]

Letztlich wurde Mitwirkung in der DDR auch nicht primär unter Bezug auf die Verfassung, sondern auf eine Weltanschauung versprochen – den Sozialismus. Über mediale und schulische »Aufklärung« und Bildung, in die der Staat alle ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen steckte, wurde der Bevölkerung vermittelt, worauf es bei der »Verwirklichung des Sozialismus« vermeintlich ankam: auf das Engagement und die Zustimmung jedes einzelnen »schaffenden Menschen«. Das viel gekaufte Kleine Politische Wörterbuch erläuterte unter dem Eintrag »Demokratie«, dass jeder Einzelne in der sozialistischen Demokratie erstmals die Möglichkeit habe, »die gesellschaftliche Entwicklung bewußt selbst zu gestalten und [sein] Recht auf Mitarbeit bei der Leitung des gesamten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens wahrzunehmen«.[24] Macht wurde nicht geteilt oder delegiert, sondern – gerahmt durch die das Ganze »führende« Einheitspartei – in einer Art basisdemokratischer Utopie ausnahmslos allen in Aussicht gestellt. Jeder und jede hatte hier quasi Aussicht auf Leitungsverantwortung. Der Slogan »Plane mit, arbeite mit, regiere mit!« stand nicht nur in Artikel 21 der Verfassung, er zierte auch unzählige Betriebswandzeitungen – ohne jede Spur von Ironie.[25]

Das große Mitwirkungsversprechen des SED-Staates war also stets auch eine Mitwirkungsverpflichtung, eine Aufforderung zur permanenten staatsbürgerlichen Selbstmobilisierung. Ein im Gegensinne staatsfernes Leben, ein Recht des Einzelnen auf Abstand zum Staat, wie es in der schützenden Logik des westdeutschen Grundgesetzes angelegt war, sollte und konnte es hier nicht geben. Das hatte weitreichende Folgen, sowohl für die DDR als Staat als auch für ihre Bewohner, die sich für diese Mobilisierung teils offen zeigten, sich ihr teils aber auch zu entziehen suchten. Wie Forschungen zum Nations- und Heimatverständnis in der DDR gezeigt haben, bildete sich im Laufe der Jahrzehnte vielerorts auf lokaler und regionaler Ebene ein starkes Gemeinschaftsgefühl heraus, ein bürgerschaftlicher Verantwortlichkeitssinn für die eigene Lebenswelt und die unmittelbare Umgebung, in sozialer wie geografischer Hinsicht (in Bezug auf den eigenen Betrieb, die Nachbarschaft, das Oderbruch oder den Thüringer Wald). Dieser Verantwortlichkeitssinn war auf sehr spezifische Weise weltanschaulich wattiert – der Sozialismus spielte darin als visionäre Lebensform und pragmatische Alltagsaufgabe eine wesentliche Rolle. Denn für die »sozialistische Heimat« konnte man sich nicht nur nach Maßgabe, sondern auch jenseits oder sogar gegen die Gängelungen lokaler Parteifunktionäre engagieren.

Die Kehrseite dieses eigentümlichen, provinziell-utopischen Bürgersinns bestand darin, dass sich die meisten Bewohner der DDR zwar mit ihrem Land und dessen sozialen beziehungsweise sozialistischen Idealen, aber kaum mit dem Staat und dessen Institutionen identifizierten.[26] An demoskopischen Untersuchungen aus dem Jahre 1990 lässt sich das eindrücklich zeigen: Im Februar 1990 lehnten 60 Prozent der Ostdeutschen in einer Umfrage des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts den Satz »Nie wieder Sozialismus!« ab[27]; noch im Juni 1990 bejahten 80 Prozent der Ostdeutschen die Frage, ob es so etwas wie eine »eigene Identität der DDR-Bürger« gebe. Die damals oft gehörte Behauptung, die Ostdeutschen hätten »den Sozialismus gründlich satt«, hielten die Meinungsforscher für eine »unhaltbare Vereinfachung«. Wenn sich 82 Prozent der Befragten weiter ein »Recht auf Arbeit, daß keiner arbeitslos ist« wünschten, zeuge das nicht von einer marktwirtschaftlichen Orientierung, sondern von sozialistischen Wirtschaftsvorstellungen. Während also Land und Ideal auch im Umbruch noch erstaunlich anziehungskräftig blieben, kam dem Staat DDR innerhalb kürzester Zeit das Staatsvolk abhanden: Nur wenige Monate nach der Öffnung der Mauer wollten den Umfragen zufolge »nahezu alle DDR-Bürger die alte Staatsbürgerschaft ablegen«.[28]

Die Ostdeutschen strebten nun gemeinschaftlich nach der Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik. Der westdeutsche Teilstaat, der nach Konrad Adenauer einzig legitime »neue Kernstaat« nach der Katastrophe, hatte 1989 sein vierzigjähriges Bestehen gefeiert – mit viel weniger Pomp und Fanfaren als die DDR, dafür aber mit deutlich mehr Grund zur Zuversicht und Selbstgewissheit. In seiner Rede anlässlich des Staatsaktes in der Bonner Beethovenhalle im Mai 1989 hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Geschichte der Bundesrepublik als gelungenes demokratisches Zivilisierungsprojekt erzählt. Grundlage dafür sei das 1949 verabschiedete Grundgesetz gewesen, das »höheres Vertrauen in das Recht als in die Politik« gesetzt habe. Auf diese Weise habe sich im Laufe der Jahrzehnte »das Verhältnis der Bürger zum Staat entscheidend wandeln« können, so der Bundespräsident. Nachdem der Staat ihm zufolge fast ein Jahrhundert lang »die Kraft seiner Bürger und in den Kriegen ihr Leben eingesetzt« hatte, um selbst »an Macht und Größe zu wachsen«, konnte er nun nicht mehr derart maßlos über seine Bürger verfügen. Vielmehr sei er »zum Schutz der Rechte des einzelnen verpflichtet« worden, sodass sich der Rechtsstaat »zur Rechtsgemeinschaft, zur Einrichtung der Bürger füreinander« gewandelt habe. Dies sei alles andere als eine geradlinige Entwicklung gewesen, räumte von Weizsäcker ein und warnte vor Selbstzufriedenheit. Gemessen am Ideal versage noch die Wirklichkeit der bestehenden Republik. Dennoch zog er ein optimistisches Fazit, denn Demokraten aller Parteien hätten im Laufe der Zeit gelernt, selbst die schärfsten Konflikte mit Vernunft zu lösen und »bei allem Streit zuerst daran zu denken, was sie gemeinsam zu schützen haben«.[29]

Die Wochenzeitung DIEZEIT hatte die »erste Republik von Dauer« im Mai 1989 mit einer ähnlichen Mischung aus Zurückhaltung und Zuversicht gewürdigt. Nach dem Scheitern der Weimarer Republik sei die Demokratie im Westen Deutschlands in einem »zweiten Anlauf« endlich gelungen.[30] Diese Tradition einer bescheidenen Erfolgserzählung ist seither auch von der zeithistorischen Forschung aufgegriffen und fortgeschrieben worden. Eine insgesamt »glückliche Entwicklung«[31] wird der Bundesrepublik selbst in solchen Darstellungen bescheinigt, die bis ins krisengebeutelte frühe 21. Jahrhundert reichen. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich durchaus, wie zäh und windungsreich dieser Wandel von einer ethnisch-völkischen hin zu einer liberal-partizipatorischen Gesellschaftsidee war – und aktuelle zeithistorische Studien weisen nachdrücklich darauf hin, dass er keineswegs als unumkehrbar gelten kann.[32]

Die mit dieser Entwicklung verbundenen Staats- und Staatsbürgervorstellungen unterschieden sich fundamental von den ostdeutschen Anschauungen und Prämissen. Im Zuge von »1968« hatte sich die bundesrepublikanische Gesellschaft zudem nachhaltig geöffnet, liberalisiert und pluralisiert. In der Folge veränderte sich auch die Art und Weise, wie über das Verhältnis von Bürger und Staat nachgedacht wurde. Im Laufe der 1970er Jahre entstand daraus unter anderem die viel zitierte, aber noch wenig historisierte Idee eines »Verfassungspatriotismus«, dessen Erfinder, der Heidelberger Politikwissenschaftler Dolf Sternberger, nunmehr die Verfassung beziehungsweise den Verfassungsstaat »als eine Art Vaterland« verstanden wissen wollte. Ein »neuer, zweiter Patriotismus«, der nicht mehr das Volk beschwor, sondern »auf die Verfassung sich gründet«, sollte die nach seiner Sicht seit 1945 klaffende Leerstelle füllen, in die der alte, zerstörerische Blut-und-Boden-Patriotismus geführt hatte. Sternbergers Konzept einer an die Verfassung gebundenen »vaterländischen Gesinnung« war dabei ursprünglich alles andere als anti- oder gar postnational gedacht, sondern schloss die »verwundete Nation« (und damit auch die DDR-Bevölkerung) sehr wohl ein.[33] Erst als der Philosoph Jürgen Habermas diesen Begriff Mitte der 1980er Jahre im Kontext des Historikerstreits und zur Abwehr eines lauter werdenden konservativen Neonationalismus aufgriff, erhielt er jene dezidiert antinationalistische und universalistische Prägung, die ihm bis heute anhaftet.[34]

Die gesellschaftliche Breitenwirkung dieses Intellektuellenversuchs, die »republikanische Neuerfindung der Westdeutschen« zugleich zu behaupten und zu befördern, lässt sich mangels empirischer Studien und zeithistorischer Tiefenbohrungen bislang nicht leicht beurteilen.[35] Keineswegs lassen sich derlei Versuche – nennen könnte man hier auch M. Rainer Lepsius’ Idee der westdeutschen »Staatsnation« oder Kurt Sontheimers »bundesrepublikanischen Patriotismus« – als reine Kopfgeburten einer Handvoll theoretisierender Politik- und Sozialwissenschaftler abtun. Sie beruhten vielmehr auf der realen Beobachtung einer sich stark verändernden Gesellschaft, die sich nicht zuletzt aufgrund der fortdauernden deutschen Teilung zunehmend eigensinnig entwickelte.[36] Zugleich geriet nach 1968 infolge der außerparlamentarischen Mobilisierungen rund um Fragen von existenzieller Bedeutung – etwa Gleichstellung, innere und äußere Sicherheit oder Umweltschutz – das repräsentativdemokratische Modell unter Druck. In dem Maße, in dem sich diese Protestkultur in der immer politisierteren Gesellschaft ausbreitete und verstetigte und damit von einer Demokratisierung im Sinne erweiterter Teilhabe(-bedürfnisse) und Partizipationsmöglichkeiten zeugte, geriet auch das politische System der Bundesrepublik in eine »Legitimationskrise«. Vor allem für das Jahrzehnt zwischen 1975 und 1985 ist einschlägigen Studien zufolge von einer »wachsenden Kluft zwischen den Politik- und Funktionseliten in Parteien und Parlamenten, Behörden und Verbänden einerseits und den Stimmbürgern andererseits« auszugehen.[37] Auch vor diesem Hintergrund sind also die Debatten um einen republikanischen Verfassungspatriotismus sowie die Frage nach dessen historischer Reichweite von großer Bedeutung – und sie erinnern nicht zuletzt daran, dass die politischen Ordnungen in beiden Teilstaaten mit Legitimationsproblemen konfrontiert waren.[38]

Von Anfang an wurde gegen die Idee eines westdeutschen Verfassungspatriotismus der Einwand erhoben, mit solch »abstrakten« und vermeintlich gefühlskalten Identifikationsangeboten sei »auf Dauer kein demokratischer Staat zu machen«.[39] Es ist denn auch bezeichnend, dass derlei Angebote lange Zeit keinen Niederschlag in der Meinungsforschung fanden. Allensbach etwa führte weder rund um das 30-jährige Grundgesetz-Jubiläum 1979 noch im Laufe der 1980er Jahre, als sich diese Debatten intensivierten, Umfragen zur gesellschaftlichen Breitenwirkung verfassungspatriotischer Ideen durch. Erst im Kontext der Vereinigung wurde die Frage indirekt gestellt, als man eruierte, inwiefern das Grundgesetz in der Bevölkerung Akzeptanz fand oder ob nicht eine Mehrheit der Meinung war, man müsse nun ein neues schaffen. In diesem Zusammenhang wurde das hohe Ansehen des Grundgesetzes erstmals empirisch deutlich – rund zwei Drittel der Westdeutschen (und nur 18 Prozent der Ostdeutschen) hielten es 1989 für bewährt und bewahrenswert.[40]

Bei aller Bindungskraft, die das Grundgesetz im Laufe der Zeit zweifellos entfaltete, verhandelten die von Intellektuellen wie Sternberger und Habermas geprägten Anstrengungen um eine werte- und regelbasierte »Staatsfreundschaft« (Sternberger) jedoch keineswegs ein gänzlich neues Staatsverständnis. Denn auch wenn sie sich deutlich abhoben von jener wirkmächtigen Tradition im deutschen Staatsdenken, wonach der »Staat nicht nur als Ordnungsmacht, sondern als Stifter von Sinn und Sittlichkeit« galt, blieb die Vorstellung einer von verfassungspatriotischen und »wehrhaft« engagierten Bürgerinnen und Bürgern gelebten Demokratie auffallend staatsnah, ja geradezu staatszentriert. Mit dem Begriff der »Staatsfreundschaft« verband sich für Sternberger nicht nur die Idee eines prinzipiell wohlwollenden Verhältnisses der Bürger untereinander, sondern eben auch eine grundsätzlich einvernehmliche Haltung der Bevölkerung zum Staat.[41]

All diese aus älteren und jüngeren Traditionen gespeisten Vorstellungen zum Verhältnis von Bürgern und Staat haben die Geschichte der Bonner Republik geprägt, wenn auch ganz anders als in der (späten) DDR: nicht fundamentalkritisch und letztlich systemstürzend, sondern überwiegend affirmativ und systemstabilisierend. Die Einstellungsforschung misst kontinuierlich ein bemerkenswert hohes und stabiles Institutionenvertrauen in der Bevölkerung. Ganz oben stand und steht (neben der Polizei) stets das Bundesverfassungsgericht – die höchste Instanz nicht nur eines Staates, sondern einer in der Tat alltäglich gewordenen »Rechtsgemeinschaft«, wie es von Weizsäcker 1989 ausgedrückt hatte.[42]

»Der Staat bin auch ich.« Staatsbürgervorstellungen in der Bundesrepublik

Doch was hieß es nun aus Sicht dieser Bürgerinnen und Bürger, Staatsbürger zu sein? Welches Staats- und Bürgerselbstverständnis lässt sich aus einer individuellen Perspektive rekonstruieren und gegebenenfalls auch generalisieren? Und wie verhält sich dieses zu den bis hierhin skizzierten politischen, rechtlichen und intellektuellen Rahmenbedingungen? Exemplarisch lässt sich das anhand von massenhaft überlieferten Privatbriefen aus der Bevölkerung nachvollziehen. Erste systematische Untersuchungen solcher Bestände legen – mit Blick auf die westdeutsche Nachkriegsgeschichte – nahe, dass die Briefkommunikation zwischen Bürgern und »ihrem Staat« als Demokratisierungsinstanz verstanden werden kann: Demokratie wurde im Medium Brief nicht nur »verhandelt«, sondern auch »erschrieben«.[43] Analog wäre für die DDR-Gesellschaft zu fragen, welche Rolle die dort wahrscheinlich sogar noch weiter verbreitete Praxis des staatsbezogenen Briefescheibens in der Aushandlung der Idee einer »sozialistischen Demokratie« spielte. Die bisher vorliegenden Studien zur Eingaben- und Beschwerdepraxis konzentrierten sich auf deren systemische Auswirkungen – letztlich bescheinigten sie ihr einen systemstabilisierenden Effekt – sowie auf alltags- und erfahrungsgeschichtliche Aspekte. Ihre politisch-kulturelle Bedeutung und insbesondere die darin verhandelten Politik- und Bürgerselbstverständnisse sind hingegen noch weitgehend unerforscht.[44] Wenn in der Bundesrepublik in solcher Bürgerpost die Demokratie ein Stück weit mitgeformt und gefestigt wurde, was wurde dann eigentlich in der DDR mit und in dieser Briefkommunikation »erschrieben«?

Meine Untersuchung stützt sich bezüglich der Bundesrepublik exemplarisch auf Briefe von Privatpersonen an die Bundespräsidenten Karl Carstens (1979–1984) und Richard von Weizsäcker (1984–1994), die im Bundesarchiv Koblenz verwahrt werden und thematisch meist strukturiert überliefert sind, also spezifischen Ereignissen und Sachbezügen zugeordnet wurden. Aus diesen Tausenden von Selbstzeugnissen ergibt sich ein lebendiges und facettenreiches Spiegelbild der sprichwörtlichen »bunten Republik Deutschland«: Von der Oberschülerin bis zum Pensionär, häufig deutlich mehr Männer als Frauen, die meisten von ihnen gut ausgebildet, fühlten sich dazu berufen, mit Namen und Adresse dem Staatsoberhaupt ihre Sorgen und Meinungen mitzuteilen und nicht selten auch konkrete Reform- und Handlungsvorschläge etwa zur Regierungs- oder Wahlkampfpraxis, zur Verbesserung der Briefwahlmöglichkeiten oder zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zu unterbreiten.[45] Gerade für die 1980er Jahre, in deren Verlauf Asylrechts- und Einwanderungsfragen immer kontroverser diskutiert wurden, finden sich in diesen Beständen zahlreiche rassistisch getönte Schreiben gegen die »Flut von Ausländern« und »Asylmissbrauch.« Zugleich sind aber auch Briefe von Menschen nichtdeutscher Herkunft überliefert, die in mühevollem Deutsch verfasst oder mithilfe von Freunden übersetzt wurden und von Integrations- und Partizipationshoffnungen ebenso zeugen wie von alltäglicher Diskriminierung und struktureller Ausgrenzung.[46]

Für die DDR-Seite haben wir es mit Dokumenten zu tun, die bis 1989 im Ministerium für Staatssicherheit verwahrt wurden und heute im BStU-Archiv einsehbar sind; die Bestände sind teilweise systematisch (nach Gegenstand), teilweise institutionell und geografisch gegliedert (nach Abteilungen beziehungsweise Bezirken und Kreisen). Von den hier ebenfalls tausendfach überlieferten Privatbriefen, Postkarten, Eingaben und anderen Schriftstücken aus der DDR-Bevölkerung zählt ein großer Teil im weitesten Sinne zur Dienstkorrespondenz von MfS-Angehörigen auf der zentralen, Bezirks- und Kreisebene, sie wurden also direkt und willentlich an das MfS versandt. Ein nicht unerheblicher Teil besteht aber aus (vermittelt oder unvermittelt) dorthin gelangter Bürgerpost.[47] Diese Briefe sind also nicht direkt an das MfS gesandt, sondern in den Poststellen diverser Regierungsstellen, Behörden und Leserbriefredaktionen aussortiert und zur Auswertung an die Staatssicherheit weitergeleitet worden. Sehr viele davon wurden anonym oder halb-anonym eingesandt (etwa von einem »Bauerarbeiterkollektiv« aus einer Cottbuser Fabrik[48]), und das MfS setzte viel daran, die Verfasserinnen und Verfasser dieser »Hetzschriften« zu identifizieren, um sie strafrechtlich verfolgen zu können.[49] Gerade diese unvermittelt dort gelandete Korrespondenz ermöglicht es nachzuvollziehen, wie die Einwohner des sogenannten Arbeiter- und Bauernstaates diesen Staat, dessen politisches System und ihre eigene Rolle darin sahen; sie erlaubt es zudem, einige weit verbreitete Annahmen über die vermeintlich stillgelegte und apathische DDR-Gesellschaft aus einer einzigartigen Perspektive auf den Prüfstand zu stellen.

In der Analyse dieser sehr ungleichen ost- und westdeutschen Quellenbestände gehe ich davon aus, dass es sich hierbei dennoch um prinzipiell vergleichbare Korrespondenzen zwischen Bürgern und »ihrem« jeweiligen Staat beziehungsweise dessen Repräsentanten und Institutionen handelt. Der Aussagewert dieser subjektiven Quellen in Bezug auf das Staats-, Politik- und Bürgerselbstverständnis erweist sich als hoch. Trotz – oder gerade wegen – ihrer sehr unterschiedlichen Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen sind sie für eine Historisierung der politischen Kultur über die Zäsur von 1989 hinaus und jenseits politischer, intellektueller und juristischer Höhenzugdiskurse von essenzieller Bedeutung. Dabei ist es hilfreich, dass Staatsbürgerschaft in der jüngeren historischen Forschung nicht als fixes Rechtskonstrukt betrachtet wird, sondern als ein vielschichtiges, wandelbares Set von rechtlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Praktiken, durch welche Menschen als »souveräne Mitglieder einer Gesellschaft« definiert werden und sich selbst als solche definieren.[50] Eine dieser Praktiken ist das Schreiben von Bürgerbriefen und Eingaben an staatliche Stellen, wobei sich bestimmte Ereignisse besonders anbieten, um auf die hier gestellten Fragen eine Antwort zu finden: Wahlen und Wahlkämpfe, verfassungsgeschichtliche Jahrestage samt den dazugehörigen Reden oder Fernsehauftritten hoher Repräsentanten, Außen- und Sicherheitsfragen, Asylrecht und Migration sowie teils tagesaktuell, teils grundsätzlich verhandelte Fragen rund um die deutsche Teilung und die innerdeutschen Beziehungen.

Die Bürgerinnen und Bürger, die beispielsweise im Laufe des Wahlkampfes zur Bundestagswahl 1980 zum Stift griffen oder sich an eine Schreibmaschine setzten, um sich beim Bundespräsidenten für eine »friedliche und sachliche, frei von Emotionen geführte Wahlzeit«[51] einzusetzen, hatten allen Grund, beunruhigt, ja gar empört zu sein. Zwar war »Fairness« im Umgang schon in den beiden vorangegangenen Bundestagswahlkämpfen 1972 und 1976 zu einer zentralen Forderung in der bundesdeutschen Politik avanciert, doch die Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß (CSU) führte 1980 zu einer bis dato ungekannten Polarisierung und personenbezogenen Zuspitzung – Beschimpfungen, Verunglimpfungen, Demonstrationen und Störungen von Wahlkampfauftritten gehörten im Sommer und Frühherbst des Jahres zum Bonner Alltag.[52] Wie schon einmal im Jahr 1965 wurde auch 1980 zur Mäßigung des Wahlkampfes ein Abkommen zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien geschlossen und eine (von einem Bischof geleitete) Schiedskommission eingerichtet. Bundespräsident Carstens wies in seinen Antwortschreiben auf Bürgerbriefe immer wieder darauf hin, dass diese Kommission von allen wahlkampfführenden Parteien angerufen werden könne und innerhalb einer Woche über Beschwerdefälle mit Mehrheit entscheiden solle. Außerdem stehe zu hoffen, »daß schon allein von der Existenz dieser Schiedskommission ein guter Einfluß auf den Wahlkampf ausgehen wird«, so ein von Carstens