Tausend widerständige Territorien - Peter Gelderloos - E-Book

Tausend widerständige Territorien E-Book

Peter Gelderloos

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Beschreibung

Kann die Klimakatastrophe mit staatlichen Mitteln wirkungsvoll bekämpft werden? Kann mit dem Ausbau erneuerbarer Energien und einem ›Green New Deal‹ eine gerechte, ökologische Wende erreicht werden? Peter Gelderloos vertritt die Ansicht, dass die internationalen Regierungen strukturell nicht in der Lage sind, die Klimakrise zu lösen. Doch es gibt auch Hoffnungsschimmer. Überall auf der Welt arbeiten Graswurzelbewegungen in lokalen Gemeinschaften an der Verwirklichung ihrer Visionen einer alternativen, revolutionären Antwort auf die Zerstörung des Planeten. Ihre Kämpfe richten sich oft gegen die neuen Megaprojekte und ›grünen‹ Energieinfrastrukturen, die von der neokolonialen, technokratischen Politik gefördert werden. Dazu interviewt Gelderloos Aktivist*innen für Ernährungssouveränität in Venezuela, indigene Gemeinschaften in Brasilien, die ihr Land wieder aufforsten, Anarchist*innen, die gegen Biokraftstoffplantagen in Indonesien kämpfen, und viele andere. Er berichtet von erfolgreichen ökologischen Kämpfen weltweit, die uns schon heute utopische Ausblicke auf eine lebenswerte Zukunft für alle geben – wenn wir es wagen, uns durch diese Perspektive ermutigen zu lassen.

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Seitenzahl: 465

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Peter Gelderloos ist Aktivist und Publizist und seit Langem in den Bewegungen gegen Gefängnisse, Grenzen, Entwaldung und Tagebau aktiv. Er setzt sich für eine Welt der Fürsorge, Vorstellungskraft und gegenseitigen Hilfe ein. Mit How Nonviolence Protects the State schrieb er eine viel beachtete Kritik an prinzipieller Gewaltfreiheit, die ein Dauerbrenner der grauen Literatur ist. Weitere Bücher von ihm sind Worshiping Power: An Anarchist View of Early State Formation und Anarchy Works.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Peter Gelderloos:

Tausend widerständige Territorien

Strategien für eine ökologische Revolution von unten

Aus dem Englischen übersetzt von der bm-crew

1. Auflage, Juni 2024

eBook UNRAST Verlag, Oktober 2024

ISBN 978-3-95405-198-4

Originalausgabe:

The Solutions Are Already Here

Strategies for Ecological Revolution from Below

© Peter Gelderloos, 2022

First published by Pluto Press, London. www.plutobooks.com

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag & Satz: gegenfeuer.net

Inhalt

Vorwort

1. Die Lage im Überblick

2. Wenn Füchse Hühnerställe bauen

3. Auswege gibt es schon längst

4. Vielfältige Strategien

5. Eine wirklich andere Zukunft

Endnoten

Einige Wiederholungen sind

Clichés, andere haben Priorität.

Dieses Buch ist denjenigen gewidmet, denen die Zukunft gehört:

Es ist für Rowan, für Bruno, für Ara,

für Lucía.

Now we push right past to find out

Oh, how to win what they all lost

[Jetzt drängen wir vor um herauszufinden

oh, wie wir gewinnen können, was sie alle verloren haben]

–Santigold.

Vorwort

Dieses Buch handelt von Wegen aus der Krise, die unseren Planeten und so viele seiner Bewohner*innen zerstört. Es ist weder eine weitere Warnung, die uns angesichts des Problems noch depressiver machen wird, noch bietet es eine schnelle Lösung an, die uns bloß ein gutes Gefühl gibt, während das Problem sich weiter verschlimmert. Stattdessen geht es darum, dem Problem direkt ins Auge zu blicken, ehrlich mit uns darüber zu sein, was wir verändern müssen, um es wirklich zu lösen.

Weil die Zerstörung des Planeten unmittelbar mit der Ausbeutung in menschlichen Gesellschaften zusammenhängt, ist die ökologische Krise vor allem eine Frage von Gerechtigkeit, Reparationen oder Revolution. Im Einklang mit der Kritik, die ich hier an der Klima-Apartheid und dem grünen Kapitalismus vorbringe, geht das gesamte Autorenhonorar aus den Verkäufen dieses Buches an indigene Initiativen gegen den Ökozid und für die Wiederherstellung ihrer Territorien in Indonesien und Brasilien – an Communitys also, die dieses Buch unterstützten, indem sie Interviews gegeben und Übersetzungen in andere Sprachen organisiert haben.

Danksagung

Ich möchte mich bei meiner Lektorin Neda Tehrani bedanken, die mir mit ihrer Kritik und ihren Ideen für die Gliederung dabei geholfen hat, das Buch, das ich schrieb, auch wirklich zu verstehen.

Ich bin all den Menschen, die sich für Interviews zur Verfügung gestellt haben, sehr dankbar. Sie geben diesem Buch eine globale Dimension und verleihen jenen eine Stimme, die oft ausgeschlossen werden. Ganz besonders dankbar bin ich all denjenigen, die mit Engagement und Herzblut zu den Initiativen und Kämpfen beitragen, auf die sich die Interviews in diesem Buch beziehen. Sie sind die wahren Akteur*innen hinter dem Wissen, dass dieses Buch bündeln und vermitteln möchte.

Besonders danken möchte ich Zenite für ihren Enthusiasmus, ihre Hilfe dabei, großartiges Quellenmaterial zu finden und aus dem Portugiesischen zu übersetzen. Danke an die Gefährt*innen in Indonesien, die diese Welt mit ihrer Solidarität und ihrem Engagement kleiner und verbundener gemacht haben. Danke an Baky für die Ermutigung und die Unterhaltungen über die kontroverseren Aspekte dieses Buches. Dank an Adrianna für unseren vagabundierenden Dialog, den wir über drei Kontinente hinweg geführt und in dem wir Verwurzelungen erkundet und Macht hinterfragt haben. Danke an Xander für die guten Unterhaltungen, die Unterstützung und all die PDFs und Rechercheempfehlungen, die sich als unschätzbar wertvoll für dieses Buch erwiesen haben. Danke an Return Fire für die Ermutigung und das Quellenmaterial. Dank an T Châu für die Quellen und Einblicke zum engagierten Buddhismus. Danke an Gabriel Kuhn für das großzügige Teilen seiner Bücher. Dank an Tawinikay für Hinweise auf indigene Kämpfe, die mir den notwendigen Kontext vermittelt haben, für das, was heute im sogenannten Kanada geschieht.

Danke an Lp für die Unterstützung bei der Therapie, als ich sie mir nicht leisten konnte und danke an X und Kevon für die finanzielle Hilfe. Danke an M für den uralten Laptop (Jahrgang 2006) und an Vayra für die Hilfe, einen neuen (gebrauchten) zu beschaffen.

Danke an meine Mutter, dafür das sie in mir die Liebe zur natürlichen Welt gefördert und mich immer zum Schreiben ermutigt hat. Und an meinen Dad für die frühen Spaziergänge im Wald, um zu schauen, was bei den Bibern geht und dafür, dass er mir das Gärtnern beigebracht hat.

Liebe und Kraft an alle Gefährt*innen, die an meiner Seite gegen diese unersättliche Maschinerie gekämpft haben, sei es gegen sie vorstoßend oder meinen Rücken stärkend: Ihr gebt mir Leben; an die Generationen die vor uns gekämpft haben: Wir tragen eure Kämpfe mit uns; an das Wasser und die Erde, die mir Nahrung gegeben haben, während ich diese Zeilen schreibe. Danke an Gali für die Liebe und Umarmungen während eines Winters der Pandemie und der Einschränkungen und dafür, dass du mich in genau dem richtigen Umfang vom Schreiben abgehalten hast, nicht zu oft, aber auch nicht zu selten. Schließlich, süßen Dank an R, dafür dass du das Beenden des Buches so hart gemacht hast.

Das Wichtigste in Kürze: Zur gegenwärtigen Situation und unseren wahrscheinlichen Zukünften

Unser Planet befindet sich in einer gleichermaßen katastrophalen wie beispiellosen Krise.

Die Katastrophe ist allgegenwärtig. Wir können sie messen, wir können sie am eigenen Leib erfahren. Selbst wenn wir unseren Blick zunächst auf die globale Erwärmung beschränken, jenen Aspekt der Krise, dem bisher am meisten Aufmerksamkeit zukommt, ergeben sich etliche Perspektiven, die unsere Aufmerksamkeit auf weitere Probleme lenken, die nicht nur einschließen, wie wir unsere Energie produzieren, sondern auch, wie wir uns ernähren, wie wir regiert werden und wie wir Wohlstand erschaffen und verteilen. Nehmen wir diese Perspektiven ein, müssen wir uns, selbst in der komprimierten Zusammenfassung, die ich geben werde, mit zahlreichen hässlichen und deprimierenden Fakten auseinandersetzen. Trotzdem ist es notwendig, das ganze Ausmaß des Problems zu erfassen, um nach Auswegen aus der Krise zu suchen – und darum geht es schließlich in diesem Buch.

Die Menge an Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre ist seit dem 19. Jahrhundert von 250 auf 418 Teile pro Million gestiegen, die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Erde um fast 1 °C gestiegen und sie erwärmt sich stetig weiter. In einem komplexen System zeigt sich eine Veränderung dieser Größenordnung nicht durch eine gleichmäßige, langsame Erwärmung, sondern durch einen massiven Ausbruch von Turbulenzen, deren Schockwellen sich durch die miteinander verknüpften Systeme des Planeten ausbreiten. Diese Schockwellen erleben wir zum einen in Form von stärkeren Stürmen[1] und kräftigeren Regenfällen, häufigeren tödlichen Fluten und katastrophalen Erdrutschen, zum anderen in intensiveren Dürreperioden und großflächigeren Waldbränden. Im Sommer 2020 ging die Westküste Nordamerikas, nach der schlimmsten Dürre der letzten 1 200 Jahre, in Flammen auf. Kalifornien und Oregon erlebten eine Waldbrandintensität, die um ein vielfaches über dem Niveau der vorangegangenen zwei Jahrzehnte lag.[2] Sogar der Amazonas steht in Flammen.

Steigenden Temperaturen und Dürren tragen zu einer ausgedehnten Wüstenbildung bei. Wird die Wasserversorgung durch Bergbau oder kommerzielle Bewässerung unterbrochen und der Boden durch Abholzung, Überweidung oder landwirtschaftliche Monokultur zerstört, breiten sich Wüsten aus. Die Wüste Gobi allein frisst jedes Jahr mehr als 3 000 km2 Land. In der Sahelzone sind innerhalb der letzten 50 Jahre eine halbe Millionen Quadratkilometer ackerfähiges Land verschwunden. Ungefähr 40 % der kontinentalen Fläche der USA werden zur Wüste, während in Mexiko, Paraguay und Argentinien mehr als die Hälfte des Territoriums bedroht ist.[3]

Andere Schockwellen zeigen sich in Form tödlicher Hitzeperioden. In den gemäßigten und sogar in den arktischen Zonen gab es längere Zeiträume, in denen die Temperaturen 40 °C überschritten. Gleichzeitig wurden im Death Valley (54,4 °C in 2020) und in der Sahara (51,3 °C in 2018) neue Hitzerekorde aufgestellt. Hitzeperioden haben sich durch den von Menschen verursachten Klimawandel in ihrer Frequenz um 80 % erhöht.[4] Die Ozeane versauern und verlieren an Sauerstoff, was beinahe alle maritimen Lebensformen mit Populationsschwund oder Auslöschung bedroht. Zunehmend werden immer weitere Teile der Arktis jeden Sommer eisfrei – was zu einem Verlust von Habitaten führt und darüber hinaus eine Feedbackschleife in Gang setzt: Da ein geringerer Teil der Erdoberfläche mit Eis bedeckt ist, wird mehr Sonneneinstrahlung absorbiert, was zu einer noch stärkeren Erwärmung beiträgt.

Die miteinander verbundenen Probleme der starken Erwärmung, der Umweltverschmutzung, der schädlichen Infrastrukturen und extraktivistischen[5] Industrien verursachen ein massenhaftes Aussterben von Arten. Eine Million Spezies sind vom Aussterben bedroht und die Tierpopulationen sind seit 1970 um 68 % zurückgegangen.[6] Das Aussterben von Tieren geschieht gegenwärtig 1 000-mal schneller als es der regulären Hintergrundsterberate entsprechen würde.

In Anbetracht der Tatsache, dass ein Habitat ein Netzwerk sich wechselseitig begünstigender Beziehungen zwischen lebendigen Spezies und einer Vielzahl geologischer Entitäten wie Gewässern, Erde und Luft ist, überrascht es nicht, das ganze Lebensräume verschwinden. Nach geologischen Maßstäben sind Habitate in ständiger Veränderung. Im Laufe der Geschichte unseres Planeten stellte der Verlust eines Lebensraums für die eine Spezies einen Verlust und für eine andere einen Gewinn dar. Obwohl es richtig ist, dass wir Wasser mit Leben assoziieren, ist sogar die Ausbreitung von Wüsten oft nur der Wechsel von einer Form der Biodiversität zu einer anderen.

Im Laufe des letzten Jahrhunderts haben wir jedoch in zunehmendem Maße eine ganz andere Art von Veränderung erlebt, die wir als objektiven Verlust von Lebensraum für alle Lebewesen beschreiben können: Die Ausbreitung von Ödland oder toten Zonen. Dies sind Orte, die quantitativ eine niedrige Biodiversität und Biomasse aufweisen. In anderen Worten: Dort lebt fast nichts mehr. Es ist, als wäre eine ganzes Gebiet aus der lebendigen Welt entfernt worden.

Ein gutes Beispiel dafür sind ozeanische Totzonen, große Gebiete in den Ozeanen oder Meeren, in denen der Sauerstoffgehalt sinkt und die meisten Lebensformen verschwunden sind. Die sich heute ausbreitenden toten Zonen werden durch Chemikalien aus der industriellen Landwirtschaft verursacht, die ein Wassereinzugsgebiet sättigen und Algenblüten verursachen, die den gesamten Sauerstoff verbrauchen. Gegenwärtig gibt es mehr als 400 solcher Totzonen weltweit, darunter Chesapeake Bay vor der Küste Lousianas, die nördliche Adria, das Kattegat, eine Meerenge zwischen der Ostsee und der Nordsee, sowie in den Küstengewässern vor China, Japan und Neuseeland.[7]

Ein weiteres Beispiel von Ödland, ein Habitat welches durch unsere Gesellschaft zu einer lebensfeindlichen Umgebung gemacht wurde, sind vergiftete Flächen, die durch eine Vielzahl industrieller Praktiken verschmutzt wurden. Industrielle Fertigung – besonders in der Chemie- und Elektroindustrie –, Bergbau sowie Energieproduktion verursachen riesigen Mengen toxischen Abfalls, der für Menschen und andere Lebensformen tödlich ist. Ein großer Teil dieser Gifte bleibt für eine sehr lange Zeit in der Umwelt, beispielsweise radioaktive Nebenprodukte der Atomkraft mit einer Halbwertszeit von mehreren Millionen Jahren oder synthetische Chemikalien wie PFOA (Perfluoroctansäure, ein Karzinogen, das zum Beispiel in Teflon-Produkten Verwendung findet), die so stabil ist, dass sie nahezu unzerstörbar ist.

Diese Giftstoffe finden sich in großer Konzentration an den jeweiligen Orten der Industrie oder sie werden gezielt auf einer Mülldeponie entsorgt. Solche Opferzonen werden als Kavaliersdelikte gesehen und als notwendiger Preis für Lufterfrischer oder neue Handys gerechtfertigt, obwohl in Wahrheit keine Opferzone jemals perfekt isoliert ist und Karzinogene und andere Gifte auf absehbare Zeit ins Wasser, in den Boden oder in die Luft gelangen. In anderen Fällen jedoch, wie etwa im Fall der 2,5 Millionen Tonnen Pestizide, die jedes Jahr in der industriellen Landwirtschaft Verwendung finden, werden giftige Chemikalien vorsätzlich und so weiträumig wie möglich in die Umwelt gepumpt.[8]

In den Vereinigten Staaten werden stark kontaminierte industrielle Brachflächen durch das Umweltprogramms Superfund identifiziert und gesammelt, welches 40 000 über das ganze Land verteilte toxische Deponien zählt. 50 % der Bevölkerung von New Jersey leben drei Kilometern oder weniger von einer Superfund-Deponie entfernt.[9] Für die Sanierung dieser Gebiete kommen Kund*innen und Steuerzahler*innen auf; die meisten Deponien jedoch werden ohne jegliche Sanierung sich selbst und ihren langsam auslaufenden Lecks überlassen.

Die Auswirkungen und die Bedeutung von Giftmülldeponien sind unmöglich quantitativ zu bestimmen. Um zu verstehen, was unserem Planeten angetan wird, müssen wir noch etwas bildhafter werden. Die lebensfeindlichsten Orte, die ich je gesehen habe, sind ein Kupfertagebau in der Atacama-Wüste in Südamerika und die Sierra Minera in Cartagena in Spanien.

Die Atacama-Wüste ist der trockenste Ort der Erde. Wer sich hier aufhält, fühlt sich wie auf einem anderen Planeten. Trotzdem gibt es einige Lebewesen, die in dieser scheinbar unbewohnbaren Umgebung leben, und je mehr Zeit du hier verbringst, je aufmerksamer du bist, desto mehr bemerkst du, wie lebendig sie ist – sogar bevor du die lomas oder Nebeloasen entdeckst, Pflanzenformationen die überleben, indem sie Feuchtigkeit aus der Luft aufnehmen, oder die Chañar-Wälder, die durch Grundwasser am Leben erhalten werden.

Der Kupfertagebau, betrieben von multinationalen Konzernen oder dem staatlichen Minenbetreiber Codelco, ist etwas völlig anderes. Die Mine, die ich gesehen habe, sah aus wie eine klaffende Wunde in der Erde, zu groß, zu brutal, um wahr zu sein. Es war verstörend, wie die Mine, offensichtlich ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Schäden, dennoch in nahezu geometrischer Perfektion ausgehoben wurde – ein terrassenförmiger Abgrund aus konzentrischen Kreisen – als entspräche sie den Schönheitsvorstellungen einer zutiefst unglücklichen Kreatur. Die Zerstörung des Lebensraums, die Wunden, die die schweren Maschinen, zahllose Tonnen Sprengstoff und toxische Abwässer hinterlassen haben, resultierten in einer Landschaft, die dem Leben selbst feindlich ist. Sie bringt Tod weit über das gigantische Loch hinaus, welches beinahe einen Kilometer tief und mehrere Kilometer breit ist. All das Wasser, welches von der Industrie gestohlen wurde, hat den Grundwasserspiegel erschöpft, auf dem das fragile Ökosystem der Wüste basiert. Viele einst üppige Wälder in den Oasen der Wüste sind nun Friedhöfe voll verdorrter Bäume.

In der Sierra Minera in Cartagena gab es bereits 2 500 Jahre lang Minen, seit den Zeiten der Phönizier und Karthager. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts wechselten die multinationalen Bergbauunternehmen zum rentableren Tagebaubetrieb. Nun sieht es dort aus wie in Mordor. Das, nebenbei bemerkt, auf Tolkiens Erinnerungen an die von der Artillerie zersprengten Schützengräben des Ersten Weltkriegs und den verrauchten Landschaften der Kohleminen und Industrieregionen in den englischen Midlands basiert – eine Verbindung, welche einen Zusammenhang zwischen dem totalen Krieg und dem industriellen Bergbau suggeriert. Kahlgeschlagene, in absurde Formen gebrachte Hügel, ein Wechselspiel von Abgrabungen, die Straßen zum Abtransport der Mineralien planiert, die Erosion, wo Schlamm und Steine dem Regen und Wind nachgeben und anschließend von der Sonne wieder verbacken und getrocknet werden. Und überall blutrote Becken, die giftigen Dunst absondern. Zahllose Kinder der umliegenden Gemeinde leiden unter ernsten gesundheitlichen Problemen durch die zurückgelassen Giftstoffe, auch Jahre nachdem die Minen geschlossen wurden.[10]

Satellitenbild des nördlichen Distrikts einer Codelco-Mine in Chile. Von oben nach unten: Radomiro Tomic, Chuquicamata Süd.

Eine andere der häufigsten Totzonen steht in einem starken Kontrast zu den von Bergbau und Industrie zurückgelassen toxischen Flächen. Auch wenn sie eines der Erkennungsmerkmale der Landschaften des Globalen Nordens ist, halten nur wenige Leute sie für Ödland. In der bürgerlichen Vorstellungswelt werden sie sogar zum Symbol für Fruchtbarkeit, Wohlstand und üppige, grüne Fülle verklärt. Ich spreche von den beiden Stützen der kapitalistischen Vorstadt: Rasen und Parkplätze. In den USA allein gibt es mehr als 160 000 km2 Rasen, die mit Milliarden von Dollar an chemischen Produkten, Wasser und bezinbetriebenen Rasenmähern gepflegt werden und ihn zum Spitzenreiter unter allen ›Kulturpflanzen‹ im gesamten Land machen.[11] Diese gewaltige Fläche, doppelt so groß wie Irland, ist Heimat einer kleinen Anzahl von Grasarten, die kurz geschnitten werden, bevor sie irgendwelche Bestäuber ernähren könnten und als mageres Habitat für eine kleine Anzahl von Käfern dienen. Sie ist, in anderen Worten, öder als jede Wüste.

Parkplätze und versiegelte Flächen im Allgemeinen sind das Pendant zu den künstlich begrünten Wohnvierteln. Um ihren Traum vom Konsumglück zu verwirklichen, benötigt jedes dieser vereinzelten Häuser mit parzellierter Rasenfläche ein individualisiertes Transportmittel – das Auto – und reichlich Platz, um dieses während der Arbeit oder dem Einkaufen zu parken. (Kreditfinanziertes) Wohneigentum, Konsum und Autokultur formen die normative Idee von Erfolg und Glück im Herzen des US-amerikanischen Kapitalismus, eine Idee, die sich in den letzten Jahrzehnten weltweit stark verbreitet hat. Zusammen mit Straßen und Parkplätzen sind in den USA 158 000 km2 Fläche asphaltiert. Das ist fast so viel Land wie für den Weizenanbau genutzt wird.[12] In Großbritannien sind es ungefähr 8 000 km2 [ca. 52 000 km2 in Deutschland, Anm. d. Ü.]. Neben der Tatsache, dass sie eine tote und für beinahe jedes Leben feindliche Zone bilden, sind Parkplätze und Straßen auch eine Ursache für Wasserverschmutzung und urbane Erwärmung.

Die Zerstörung lebendiger Gemeinschaften auf der Erde hat auch auf Menschen einen bedeutenden Einfluss. Einer Studie zufolge ist 2018 weltweit jeder fünfte Todesfall auf fossile Energieträger zurückzuführen.[13] Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass der Klimawandel zwischen 2030 und 2050 durch stärkere Hitzeperioden, Verlust des Zugangs zu Trinkwasser, durch Dürren verursachte Unterernährung und die Ausbreitung der Malariazone jedes Jahr zusätzliche 250 000 Tote fordern wird, wobei hierbei nur die Übersterblichkeit berechnet wird (also mehr Tote fordern würde, als eine vorher als normal angesehene Sterblichkeitsrate prognostiziert hat).[14] Die bereits alarmierende Zahl von 2,5 Millionen Menschen die innerhalb eines Jahrzehnts durch die Energie-, Landwirtschafts- und verarbeitende Industrie getötet wurden, berücksichtigt noch nicht, dass die verschiedenen Aspekte der ökologischen Krise über das Klima hinaus komplex miteinander verknüpft sind.

Dazu kommen die vielen Todesfälle durch kontaminiertes Trinkwasser. Abholzung verursacht Erosion, die, zusammengenommen mit der Entwicklung des Klimas in Richtung schlimmerer Stürme, Überschwemmungen verursacht – eine der Hauptursachen für die Kontaminierung von Trinkwasser. Der Wechsel von lokaler Subsistenz zu kommerzieller Landwirtschaft (die ›Grüne Revolution‹, die von führenden Regierungen, Unternehmen und Institutionen in der ganzen Welt gefördert wird) vervielfacht den verschwenderischer Umgang mit Wasser und erzeugt giftige Abwässer. Die Kontaminierung von Wasser wird darüber hinaus durch Bergbau, Mülldeponien und Urbanisierung verursacht. All dies resultiert darin, dass jedes Jahr 500 000 Kleinkinder getötet werden.[15] Auch wenn nur ein kleiner Teil dieser Todesfälle direkt auf die globale Erwärmung zurückzuführen ist, so ist der Zugang zu sauberem Wasser doch unbestreitbar ein ökologisches Problem, eine Frage der Art und Weise, wie wir mit unserer Umwelt umgehen und der Art der wirtschaftlichen Aktivitäten, die wir fördern, um ›unseren Lebensunterhalt zu verdienen‹, so unpassend dieser Ausdruck auch oft ist.

Was ist mit der Produktion von Lebensmitteln? Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, ist eine der intensivsten Interaktionen mit dem Rest der lebenden Welt. Jedes Jahr produzieren menschliche Gemeinschaften einen Überfluss an Nahrung, trotzdem sterben 3,1 Millionen Menschen an Mangel- und Unterernährung. Sogar in reichen Ländern werden Millionen armer und von Rassismus betroffener Menschen dem Risiko von Diabetes und Herzkreislauferkrankungen ausgesetzt, weil sie in food deserts leben, also in Nachbarschaften, in denen es unmöglich ist, an gesunde und frische Lebensmittel zu gelangen.

Die vor allem durch Autos, Energieproduktion und Industrie verursachte Luftverschmutzung hat im Jahr 2015 bereits 8,8 Millionen Menschen umgebracht.[16] Eine in The Lancet veröffentlichte Studie hat herausgefunden, dass jedes Jahr 1,8 Millionen Menschen durch Wasserverschmutzung und 1 Millionen durch Schadstoffbelastung am Arbeitsplatz sterben.[17]

Unsere Gesellschaft produziert gigantische Mengen Müll, was schlecht für die meist armen Menschen ist, die in dessen Nähe leben müssen. In der Nähe von Müllkippen zu leben, erhöht das Risiko für Krebs- und Lungenkrankheiten erheblich.[18] Und doch wird keine dieser Statistiken den Millionen von Menschen gerecht, die lebenslang mit Behinderungen oder Krankheiten leben müssen, den Menschen, die sich um sie kümmern und all den Menschen, die nach dem Verlust eines geliebten Menschen weiterleben müssen.

Weil unsere Gesellschaft immer größere Gebiete auf unserem Planeten unbewohnbar macht, sind Millionen Menschen dazu gezwungen, sich selbst zu entwurzeln und zu migrieren, um sich auf die Suche nach einem sichereren Ort zum Leben zu begeben. Menschen, die vor der ökologischen Zerstörung flüchten, sind mit dem Trauma konfrontiert, ihr Zuhause zu verlieren, mit rassistischen Beschimpfungen, die sie während ihrer Migration erdulden müssen, und – wenn sie sich nicht den Zehntausenden anschließen, die als Opfer von mörderischen Grenzregimen im Mittelmeer oder in der Sonora-Wüste sterben – mit extremer Marginalisierung, wenn sie in den Ländern ankommen, die am meisten von ihrer ökologischen Misere profitiert haben.

Allein in der ersten Jahreshälfte 2019 wurden 7 Millionen Menschen durch extreme Wetterereignisse innerhalb ihrer Herkunftsländer vertrieben. Das sind zweimal mehr als durch gewaltsame Konflikte.[19] Das IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change – auch Weltklimarat genannt) schätzt, dass es bis 2050 150 Millionen ›Umweltmigrant*innen‹ oder Klimaflüchtende geben wird.[20]

Mit anderen Worten: Die Zerstörung der Erde durch unsere Gesellschaft ist ein selbstmörderischer Akt und bereits jetzt eine der größten Ursachen für Tod und Leid, der sich Menschen gegenübersehen.

Niemand weiß, wie die Zukunft aussehen wird, nicht einmal wie die nächsten hundert Jahre aussehen werden. Die Modellierung wahrscheinlicher Klimaszenarien ist problematisch, weil sie oft den Blick auf den Tod und die Zerstörung verstellt, die bereits jetzt stattfinden. Mit den verschiedenen Projektionen für den Temperatur- und Meeresspiegelanstieg bis 2050 um sich zu werfen, um sie als Grundlage dafür anzuführen, wie dringend wir handeln müssen, fördert implizit die Vorstellung, dass die gegenwärtige Situation akzeptabel sei und wir versuchen sollten, sie als Maß aller Dinge zu erhalten. Die Normalisierung des jetzt schon gegenwärtigen Todes und des Leidens sagt viel darüber aus, wer von der ökologischen Krise profitiert.

Es kann nützlich sein, unsere Aktivitäten anhand der wahrscheinlichen Veränderungen zu planen, aber ich möchte jene Vorstellung zurückweisen, in der nur 10 Millionen menschliche Todesfälle pro Jahr oder ein Aussterben von nur 10 % der Arten als eine Art Sieg betrachtet werden.

Der optimistischste Vorschlag innerhalb der Mainstream-Diskussion über den Klimawandel geht von einer CO2-neutralen Wirtschaft bis 2050 aus, was angeblich einen Temperaturanstieg von mehr als 2 °C verhindern könnte. Von welchen Veränderungen können wir in diesem optimistischsten Szenario ausgehen?

Die Zahl der Millionen Toten jährlich, von denen wir gesprochen haben, würde sich durch die Verknappung des Wassers, durch Dürren und extremere Wetterereignisse vervielfachen und die Wüstenbildung zunehmen. Etwa 25 % der Arten würden aussterben.[21] Um nur eines der wertvollen Ökosysteme zu nennen: 99 % der Korallenriffe würden absterben, was zu einem Rückgang der maritimen Artenvielfalt um 25 % und dem Verlust der Lebensgrundlage von 500 Millionen Menschen führen würde.[22]

Es wäre eine Welt, die von extremen, tödlichen Hitzewellen erschüttert wird, die alle bisherigen Rekorde brechen. Die Landfläche, die extremer Sommerhitze ausgesetzt ist, wird sich vervielfachen.[23] Bis 2050 wird eine Landmasse, auf der bisher 150 Millionen Menschen leben, vom Meer zurückerobert worden sein. Eine weitere Fläche, auf der 300 Millionen Menschen leben, wird unterhalb des Niveaus der jährlichen Überschwemmungen liegen und Küstenstädte auf der ganzen Welt zerstören.[24] Ein weiterer Anstieg des Meeresspiegels in den kommenden Jahrhunderten wäre sicher.

Dies alles zeichnet keineswegs ein rosiges Bild. Dennoch setzen Regierungen, Nichtregierungsorganisationen[25] und wissenschaftliche Einrichtungen auf der ganzen Welt darauf, dass dieses Szenario ein akzeptables Maß an Kollateralschäden darstellt. Es ist kein Wunder, dass der atemlose Chor der Mainstream-Stimmen, der das optimistische Ziel »CO2-Neutralität bis 2050« anpreist, nur selten auf das extreme Leid und die Verwüstung eingeht, die mit dem von ihnen gewählten Zeitplan einhergehen. Stadtverwaltungen auf der ganzen Welt werben auf ihren Webseiten mit ihren ›Smart-City‹-Plänen für den öffentlichen Nahverkehr, Carsharing und grüner Energie. Thinktanks und NGOs versuchen, Begeisterung für die wenigen Politiker*innen zu erzeugen, die sich tatsächlich diesem Ziel verschrieben haben. Und kaum jemand von ihnen erwähnt, was dieses ›rosige‹ Szenario für den Planeten und seine Bewohner*innen bedeutet.

Doch es kommt noch viel schlimmer. Es gibt keine Garantie dafür, dass die »CO2-Neutralität bis 2050« wenigstens als der dünne Schutzwall funktionieren wird, als der er verkauft wird. Wissenschaftliche Klimavorhersagen haben die Intensität und den Zeitrahmen der Veränderungen immer wieder unterschätzt.[26] Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine sommerliche Hitzewelle in Alaska im Jahr 2019 führte zu einem massiven Lachssterben. Die wissenschaftliche Leiterin einer lokalen NGO, die sich mit Wassereinzugsgebieten befasst, sprach mit den Medien über ein Klimamodell, welches sie nur drei Jahre zuvor erstellt hatten und das moderate wie auch pessimistische Szenarien enthielt: »2019 überstieg den Wert, den wir im Worst-Case-Szenario für das Jahr 2069 erwartet hatten«.[27]

So etwas wie eine ›galoppierende Erwärmung‹ könnte durch eine Reihe von Rückkopplungsschleifen verursacht werden, die bereits ihren Kipppunkt erreichen. Als der IPCC vor zwei Jahrzehnten das Konzept der Klimakipppunkte einführte, ging man davon aus, dass ein solcher Kipppunkt erst bei einer Erwärmung von 5 °C eintreten würde. Nun geht er davon aus, das viele dieser Kipppunkte bereits mit nur 1 oder 2 °C Erwärmung ausgelöst werden könnten, und es gibt tatsächlich Belege dafür, dass einige schon gekippt sind.[28] Einer davon ist der Kollaps der Eisschilde und die damit einhergehende substanzielle Reduzierung desjenigen Teils der Erdoberfläche, der Sonnenlicht zurück ins All reflektiert. Während sich die Polarregionen in zunehmendem Maße erwärmen, beginnt der arktische Permafrost zu tauen, was wiederum das Potenzial hat, riesige Mengen von Methan frei zusetzen, ein Klimagas, das etwa dreißigmal so potent ist wie Kohlenstoffdioxid. Die borealen Nädelwälder in Sibirien und Nordamerika fallen der Erwärmung ebenfalls zum Opfer, weil sich Waldbrände und Insektenplagen häufen. Ein massives Absterben von Bäumen und Humusböden wiederum verursacht die Freisetzung von noch mehr CO2.

Der Amazonas-Regenwald, der gegenwärtig ein Zehntel der Arten auf diesem Planeten beherbergt und 600 Millionen Kubikmeter Kohlenstoffdioxid im Jahr absorbiert[29] läuft Gefahr, in eine riesige Savanne oder sogar Wüste verwandelt zu werden. Durch die Erwärmung hervorgerufene Dürren und Abholzung für die kommerzielle Landwirtschaft fordern ihr Tribut. Es wird davon ausgegangen, dass ein Rückgang des Waldes zwischen 20 und 40 % seiner Fläche, den Kollaps des gesamten Ökosystems Amazonas zur Folge haben wird.[30]

Die Erwärmung der Ozeane führt zu einer Verlangsamung der atlantischen Strömungen, die für die Übertragung von Wärme und Nährstoffen von entscheidender Bedeutung sind und damit die Grundlage der maritimen Ökosysteme und eines Großteils des Wetters auf unserem Planeten bilden. Dies könnte die Dürren in der afrikanischen Sahelzone und im Amazonasgebiet verschärfen und sogar den ostasiatischen Monsun stören, was den Zusammenbruch weiterer Lebensräume und mehr Leid für Menschen und andere Lebensformen bedeuten würde.[31] Das bedeutet, dass selbst wenn wir heute alle Treibhausgasemissionen stoppen, natürliche Prozesse im Gange sein könnten, die eine Verschiebung zu einem neuen dynamischen Gleichgewicht erzwingen, ein ›Treibhausplanet‹, mit nichts vergleichbar, an das die meisten heute lebenden Arten durch ihre Evolution angepasst sind.

Wie könnte ein solcher Planet aussehen? Bei einem Temperaturanstieg von 4,5 °C könnten 50 % der Arten aussterben, und das ist nur eine Analyse der näheren Zukunft.[32] Bis zum Ende des Jahrhunderts würden 1 Milliarde Menschen vertrieben werden und Hunderte Millionen würden dem Hunger zum Opfer fallen. 55 % der Weltbevölkerung würden mehr als 20 Tage im Jahr unter tödlicher Hitze leiden; in den mittleren Breitengraden wären es mehr als hundert Tage im Jahr. Aufgrund der sengend heißen Bedingungen und des Zusammenbruchs der Insektenpopulationen könnten die Ernteerträge um ein Fünftel oder mehr zurückgehen.[33] Kein Wunder, dass selbst die Weltbank sagt, dass eine Erwärmung um 4 °C für die menschliche Zivilisation »jenseits der Anpassungsfähigkeit« sein könnte.[34] Diese Hitzeperiode könnte mindestens 200 000 Jahre andauern.[35]

Wie wir sehen werden, können die Expert*innen dieses Problem nicht lösen und haben bereits kostbare Jahrzehnte verschwendet. Im Unterton des offiziellen Gesprächs über die Klimakrise zeigt sich eine erschütternde Apathie: Wir sind nicht die, die sterben werden. Diejenigen, die verschwinden werden, Menschen und andere Lebewesen, sind ein akzeptabler Verlust. Wir werden die Oberhand behalten.

Viele Menschen – insbesondere politische Entscheidungsträger*innen und Expert*innen – vertreten aktuell diese Einstellung. Denn die Millionen, die bereits jedes Jahr an der ökologischen Krise sterben, sind nicht gleichmäßig über alle Länder verteilt – die meisten von ihnen sterben im Globalen Süden.

Auch wenn die semantischen Unterscheidung zwischen dem Globalen Norden und Globalen Süden sinnvoll sein mag, treten viele der beschriebenen Prozesse tatsächlich an beiden Orten auf; die Welt ist nicht so getrennt, wie es die Profitierenden dieses Systems gern glauben würden. Obwohl beispielsweise die 60 000 Menschen, die jedes Jahr durchschnittlich durch extreme Wetterereignisse getötet werden, überwiegend im Globalen Süden lebten, sind auch die sogenannten wohlhabenden Länder nicht dagegen immun. Beispielsweise starben an der Hitzewelle, die Europa im Sommer 2003 traf, 70 000 Menschen mehr, als durchschnittlich zu erwarten war. Es erübrigt sich zu sagen, dass nur wenige von ihnen in den Häusern der Wohlhabenden mit ihren hohen Decken und Klimaanlagen lebten. Und während 92 % der durch Umweltverschmutzung bedingten Todesfälle in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen auftreten, sterben auch in Europa jedes Jahr 800 000 Menschen an den Folgen von Luftverschmutzung, in den USA sind es 155 000.[36] Doch selbst diese Todesfälle sind ungleichmäßig verteilt. Nur wenige reiche Menschen leben in der nähe von Industrieparks und Mülldeponien.

In Siedler*innenstaaten wie den USA, Kanada, Australien und Argentinien ist die Klassenzugehörigkeit weitgehend durch das historische Erbe des Kolonialismus geprägt, wobei die Nachkommen versklavter afrikanischer und indigener Menschen Bedingungen ausgesetzt sind, die angesichts der globalen Verteilung von Reichtum und Macht normalerweise dem Globalen Süden vorbehalten sind. Als der Hurrikan Katrina 2005 New Orleans heimsuchte und 1 800 Menschen tötete, konnten alle, die aufmerksam waren, sehen, dass die Art und Weise, wie die Infrastruktur in armen und Schwarzen Vierteln gebaut worden war, die Menschen gefährdete, während die Infrastruktur in wohlhabenden weißen Vierteln so konzipiert war, dass sie die Menschen schützte. Die spontanen Initiativen gegenseitiger Hilfe von Nachbar*innen waren der wichtigste Überlebensfaktor. Die Menschen halfen sich gegenseitig den Sturm zu überleben, ehemalige Black Panthers und Anarchist*innen errichteten die erste Klinik vor Ort.[37] Im Gegensatz dazu konzentrierte sich die Regierung darauf, Leute zu erschießen, die versuchten sauberes Wasser oder Lebensmittel aus Supermärkten zu holen, nur um dann sicherzustellen, dass lediglich Bewohner*innen der Mittelklasse und Wohlhabende in die Stadt zurückkehren konnten – »Gentrifizierung durch Gott«. Neil Smith schrieb nach dem Sturm: »So etwas wie eine Naturkatastrophe gibt es nicht«.[38] Die Katastrophe wurde von wirtschaftlichen und politischen Strukturen erzeugt und gelenkt.

Denjenigen, die in unserer Gesellschaft gegenwärtig die Macht inne haben und uns auf tragische Weise im Stich gelassen haben, liegen weder unsere noch die Interesse des Planeten am Herzen. Und in der Tat sind unsere Interessen und die Interessen der Erde ein und dieselben. Wir wissen nicht, wie katastrophal die nächsten Jahrzehnte werden. Trotzdem gibt es eine Gewissheit, die uns Hoffnung und Mut geben kann: Es gibt kein Szenario, in dem es für unseren Planeten nicht besser wäre, wenn wir aktiv werden – zur Selbstverteidigung, zur Verteidigung anderer und zur Verteidigung des gesamten miteinander verbundenen Lebens auf diesem Planeten.

In der Biosphäre ist alles verbunden: Die ökologische Krise jenseits von CO2

Die Grundannahme unserer Gesellschaft ist, dass die Natur eher mechanisch als kommunikativ ist. Damit etwas kommunikativ sein kann, muss es Subjektivität haben, und wenn es Subjektivität hat, wird es schwieriger rechtzufertigen, dass wir es wie unsere persönliche Toilette oder Goldmine behandeln.

Es hat zwar auch außergewöhnliche Biolog*innen und andere Expert*innen gegeben, die in der lebendige Welt die gleiche Gegenseitigkeit und Kommunikation wahrgenommen haben, die andere in ihr gesehen haben. Dennoch ist die Geschichte der wissenschaftlichen Methode, von Francis Bacon bis heute, in jeder Hinsicht ein Prozess, in dem Wissenschaftler*innen sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt haben – manchmal sogar entgegen ihrer eigenen Forschung –, sich von der Vorstellung zu lösen, dass Intelligenz oder Persönlichkeit die exklusiven Eigenschaften gebildeter weißer Männer seien. Viele intellektuelle Kreise fallen immer noch häufig auf diese Grundannahme zurück.

Es fühlt sich falsch an, festzustellen, was unbestreitbar geworden ist: Dass es uns gut tut, andere Lebensformen zu beobachten und von ihnen zu lernen. Der Grund dafür ist, dass der Übergang von einer Gesellschaft, die den Rest der Welt so schrecklich behandelt, zu einer Gesellschaft, die einen ›Gewinn‹ darin sieht, von anderen zu lernen, nur eine Fortsetzung der extraktivistischen Formen des Wissen ist. Diese Formen sind ein wesentlicher Bestandteil der extraktivistischen Wirtschaft, die den lebendigen Gemeinschaften der Erde verheerenden Schaden zugefügt hat.

Feuer auf der größten Mülldeponie Indiens, direkt in der Stadt Mumbai.

Die Erkenntnis, dass andere Lebewesen ihre eigene Stimme haben, hilft uns zu erkennen, wie alles miteinander verbunden ist, was wiederum zeigt, dass wir die ökologische Krise nicht stückweise angehen können.

Vor einigen Jahren begann ich damit, eine Liste mit allen Vogelarten zu führen, die ich in meiner Gegend sah. Wer Vögel beobachtet weiß, dass du sie – selbst wenn du Vögel vorher schon mochtest – wirklich auf eine andere Art zu betrachten lernst, sobald du deinen Blick in der Unterscheidung der verschiedenen Arten schulst. Nur wenige Arten sitzen lange genug still, bei freier Sicht, in gutem Licht, um eine erfolgreiche Unterscheidung anhand von Größe oder Farbe zu erlauben, zumindest wenn du kein teures Fernglas hast. Stattdessen musst du auf vieles achten: ihren Schnabel (Körner-, Fleisch- oder Insektenfresser?), auf welchem Baum sie sitzen, ihr Gruppenverhalten, ihre Flugmuster und Gesänge.

Obwohl ich Vögel vorher auf eine abstrakte Art geliebt habe, hatte ich keine besondere Beziehung zu ihnen und so waren sie, in jeder Hinsicht, nur Kulisse. In dem Moment jedoch, als ich begann sie als Wesen mit Persönlichkeit und einem spezifischen Platz in einem Beziehungsgeflecht zu betrachten, eröffnete sich mir eine ganze Welt, deren Komplexität mich bereichert hat.

Eines der erstaunlichsten Dinge, die ich bemerkte, ist, dass Vögel wissen, wann der Frühling kommt. Es gibt einen Tag im Jahr, an dem ein Dutzend oder mehr Arten plötzlich beginnen, ihr Verhalten drastisch zu verändern. Während sie den Winter über extrem menschenscheu waren und sich oft versteckten, suchen sie sich jetzt die besten Plätze, um in der Sonne zu sitzen und ausgelassen zu singen. Außerdem unterscheidet sich ihr Verhalten an diesem Tag von den Balzritualen, die etwas später im Jahr beginnen, und schließt auch Vögel ein, die bereits Partner*innen haben. Der extreme Unterschied im Verhalten hat sich auch quantitativ bemerkbar gemacht: Im ersten Jahr, in dem ich ihn beobachtete, konnte ich an einem Tag so viele Arten eindeutig identifizieren wie im gesamten vorangegangenen Winter. Ich kann ihr Verhalten nur so beschreiben, dass sie feierten.

Wer die üblichen Vorannahmen des westlichen Denkens vertritt, wird an dieser Stelle (wenig überraschend) widersprechen und anführen, dass es sich um vermenschlichende Projektionen menschlicher Eigenschaften auf nichtmenschliche Lebewesen handle. Es ist ein bedauerlicher Umstand, dass wir keinen Begriff für den umgekehrten Fehler haben – nämlich die Annahme, dass nur Menschen über Eigenschaften verfügen, die in Wirklichkeit weit verbreitet sind. In den letzten Jahrzehnten haben Biolog*innen wieder entdeckt, was andere nie vergessen haben: Dass andere Lebewesen denken, fühlen, lernen, spielen und traurig oder glücklich sein können. Auch Rituale, Kultur, intergenerationelles Denken und Trauer werden in einem stetig wachsenden Bestand an Forschungsarbeiten dokumentiert – warum nicht gleich unserer Zeit voraus sein und es ebenfalls direkt als Feiern bezeichnen.[39]

Es hat mich sehr gefreut, diese plötzliche Veränderung zu entdecken, die sich wie eine unbekannte Übereinkunft über mehrere Vogelarten erstreckt. Entdeckung meine ich dabei nicht im Sinne von Wissen, welches ich produziert habe, sondern von Wissen, das mit mir geteilt wurde, als ich die Demut oder den gesunden Menschenverstand hatte, mich respektvoll einer anderen Gemeinschaft von Lebewesen zu nähern und zu sehen, was sie mir beizubringen hatten. Diese Freude war eine Art nichtinstrumentelles Wissen, und das war für mich das Wichtigste, auch wenn es eine Art von Wissen ist, dem unsere Gesellschaft wenig Bedeutung beimisst.

Aber auch eine Form instrumentellen Wissens ging damit einher. So war die Ankündigung des Frühlings durch die Vögel nicht nur ein subjektiver, kulturell geprägter Ausruf. Ihre Bekundung des Frühlings hat auch etwas von einer kalten, harten Tatsache. Bisher stiegen zuverlässig jedes Jahr die Temperaturen und die nächtlichen Fröste hörten auf, sobald sie an diesem Tag ihr Verhalten deutlich verändert hatten. Die Tatsache, dass Vögel Wettervorhersagen machen, die bis zu einem gewissen Grad zutreffen und diese Information frei mit allen teilen, die es interessiert, ist für mich relevant, weil ich einen Garten habe. Pflanze ich meine Tomaten nämlich vor dem letzten Frost, habe ich danach keine Tomaten mehr.

Mit der Zeit kam diesem Wissens noch eine weitere Bedeutung zu, denn bisher ist der Tag Jahr für Jahr früher eingetreten. Im Jahr 2020 kam er einen halben Monat früher als 2019 die Vögel haben also bereits Mitte Januar ihre mutmaßliche Feier abgehalten. Wenn wir der Welt um uns herum Aufmerksamkeit schenken, sehen wir die Anzeichen des Klimawandels, und wir sehen noch viel mehr.

Ich lebe in Katalonien. Ab März 2020 erlebten wir beinahe zwei Monate lang einen strikten Lockdown. Dies führte durch die drastische Reduktion von chemischer Verschmutzung und Lärmbelastung zu einer erheblichen Verbesserung der Luftqualität. Schließlich kam der Autoverkehr beinahe vollständig zum Erliegen.

Während der Verkehr und die Luftqualität bis zum Sommer wieder zu ihrer miserablen Normalität zurückkehrten, gab es mehrere Auswirkungen, die das ganze Jahr über anhielten. Die Veränderung der Insektenpopulation war am spektakulärsten. Allein die Anzahl der Motten, die im Sommer jede Nacht in meine Wohnung flogen, verdoppelte oder verdreifachte sich und die Anzahl der Arten verfünffachte sich. Indem ich den Motten auf diese Weise Aufmerksamkeit schenkte, wurde ihr Eindringen ein Grund zum Feiern und nicht zum Kauf irgendeines chemischen Insektizids, welches seinen Weg unweigerlich in mein eigenes Trinkwasser finden würde. Auch die Zahl und Vielfalt der Spinnen auf den Feldern außerhalb meiner Nachbarschaft hat deutlich zugenommen. Spinnen selbst sind zwar keine Insekten, aber die Arten, von denen sie sich ernähren, schon.

Der katastrophale Rückgang der Insektenpopulation ist von entscheidender Bedeutung für die andauernden ökologischen Krisen.[40] Insekten nehmen mehrere wichtige Knotenpunkte im Nahrungsnetz ein: Sie helfen bei der Zersetzung von pflanzlichen und tierischen Stoffen und tragen dazu bei, tote Lebewesen in Humus zu verwandeln, der wiederum die Grundlage der meisten Lebenszyklen bildet; sie dienen als Hauptbestäuber für fast alle blühenden Pflanzenarten; und sie dienen als Hauptnahrungsquelle für kleine Vögel, Reptilien, Amphibien und Säugetiere und damit indirekt auch als Nahrungsquelle für die größeren Vögel, Reptilien, Amphibien und Säugetiere, die diese fressen. Der Verlust der Insekten bedroht alle anderen Spezies. Ohne sie ist das gegenwärtige Zusammenspiel der verschiedenen Ökosysteme auf der Erde unvorstellbar. Insektenpopulationen fallen einer Vielzahl von Bedrohungen zum Opfer, darunter steigende Temperaturen, Wasser- und Luftverschmutzung durch Autos und die Industrie sowie der großflächige Einsatz von Pestiziden. Dieser Teil der Katastrophe ist eine entscheidendes Beispiel dafür, warum es keinen Sinn macht, die ökologische Krise in getrennte Bereiche aufzuspalten oder sich ausschließlich auf das Klima zu fokussieren. Es ist, ohne Zweifel, alles miteinander – und damit auch mit uns – verbunden.

Verortetes Wissen, wie ich es hier beschreibe, ist wichtig – auch wenn es als Anekdote abgetan werden kann –, weil es unser Bewusstsein für diese Probleme schärft und uns motiviert, uns um die anderen betroffenen Lebewesen zu kümmern und Maßnahmen zu ergreifen. Es kann auch dazu beitragen, diesen Maßnahmen eine Richtung zu geben. Meine Beobachtungen der Auswirkungen des Autoverkehrs auf die Insektenpopulationen reichen nicht aus, um mit Sicherheit behaupten zu können, dass die Abschaffung von Autos das Problem lösen wird, aber sie reichen sicherlich aus, um darauf hinzuweisen, dass eine Einstellung des Autoverkehrs ein guter Anfang sein könnte. Der örtlich begrenzte Rückgang der Verschmutzung war zumindest bei einigen Arten mit einer schnellen Erholung verbunden, die auch nach der Rückkehr der Verschmutzung auf ihr übliches Niveau noch anhielt.

Wenn alle für die anderen Lebensformen, mit denen wir diesen Planeten teilen, sensibilisiert wären, könnten wir klüger, flexibler und schneller auf ökologische Bedrohungen reagieren und unser Ökosystem besser heilen. Unser verortetes Wissen kann durch wissenschaftliche Forschung ergänzt werden, wodurch die Prozesse der empirischen Forschung beschleunigt und die hochgradig spezialisierten Knoten im Netzwerk der wissenschaftlichen Produktion entlastet werden, die ansonsten allzu leicht von denselben Industrien gekauft und korrumpiert werden, die uns umbringen. Ein Umstand, der dazu beiträgt, dass die wenigen gewissenhaften Wissenschaftler*innen, die tatsächlich versuchen das Problem zu lösen, eine überforderte Minderheit darstellen.

Zu lernen, dass alles miteinander verbunden ist, heißt auch zu lernen, sich zu verbinden. Ein interessantes Beispiel hierfür sind die Ornitholog*innen und Naturschützer*innen, die versuchten, die dezimierten Populationen der Papageientaucher auf den Inseln vor der Küste von Maine wiederherzustellen. Sie scheiterten Jahr für Jahr, bis sie lernten, »wie Papageientaucher zu denken«.[41] Papageientaucher wurden im späten 19. Jahrhundert durch kommerzielle Jagd ausgerottet. Zum Ende des 20. Jahrhunderts waren die Inseln, die sie noch als Brutkolonien nutzen konnten, entweder staatlich geschützte Naturschutzgebiete oder abgelegene Felsen, die nicht mehr bejagt oder von extraktivistischen und anderen Industrien genutzt wurden. Obwohl sie nun in Sicherheit waren, kehrten die Papageientaucher auf viele der kleinen Inseln, auf denen ihre Populationen ausgelöscht worden waren, nicht zum Brüten zurück, selbst nachdem Naturschützer*innen damit begonnen hatten, Eier auf diesen Inseln auszubrüten. Erst als die Naturschützer*innen das sehr soziale Wesen der Papageientaucher in den Fokus ihrer Überlegungen rückten, verstanden sie, dass sie ihre Taktiken ändern mussten.

Was hielt die Papageientaucher, nachdem sie von der ausgedehnten Jagdsaison auf offener See zurückkehrten, davon ab, auf den Inseln zu nisten, auf denen sie geboren wurden? Vielleicht waren sie ›zu scheu‹, um auf einer felsigen Insel zu nisten, auf der es keine Anzeichen für andere Papageientaucher gab? Die Vogelschützer*innen begannen Papageientaucher-Attrappen auf den Inseln aufzustellen, die nun sicheres Brutgebiet waren. Die Methode war ein Erfolg, was dazu führte, dass atlantische Papageientaucher einen signifikanten Teil ihres vorherigen Territoriums wieder besiedelten. Seitdem wurde diese Methode verwendet, um 42 Seevogel-Populationen in 14 Ländern zu helfen.

Manchmal führt die Wiederansiedlung einer fehlenden Art zu einer trophischen Kaskade. Dies ist ein Prozess, der ein ganzes Ökosystem so verändert, dass es robuster wird und dem Klimawandel und anderen Aspekten der ökologischen Krise besser standhalten kann. Seeotter waren an mehreren dieser trophischen Kaskaden an der Westküste Nordamerikas beteiligt. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden Otter von Pelzhändlern fast bis zur Ausrottung gejagt und verschwanden aus den meisten ihrer Verbreitungsgebiete. Seitdem haben sie sich in mehreren Gebieten wieder erholt, manchmal aus eigener Kraft, manchmal mit Hilfe von Naturschützer*innen, und das mit bemerkenswerter Wirkung. Auf den Aleuten in Alaska haben sie die Seeigelpopulationen reduziert, die in ihrer Abwesenheit explodiert waren. Gibt es weniger Seeigeln, können die Seetangwälder wieder gedeihen. In mehreren Meeresmündungen in Kalifornien haben sie dazu beigetragen, dass das Seegras in nur drei Jahrzehnten um 600 % zugenommen hat – zum Teil, weil sie die Krabben fressen, die wiederum die Meeresschnecken fressen, die das Seegras sauber und gesund halten. Dies ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Naturschützer*innen waren sich kaum darüber bewusst, dass Meeresmündungen überhaupt einen Teil des natürlichen Lebensraums des Seeotters ausmachen und die US-Regierung ließ die Mündungen aus dem Wiederansiedlungsplan für Otter aus. Im Übrigen hätten sich ihrer Ansicht nach die Seegraswiesen in den Mündungen der Monterey Bay und der San Francisco Bay gar nicht erholen können, da diese Wassersysteme durch Chemikalien und Nährstoffen aus dem Abwasser der riesigen, kommerziellen kalifornischen Agrarindustrie verschmutzt sind – was zeigt, wie sehr ein gesundes Beziehungsgeflecht die Auswirkungen der Verschmutzung mildern kann.[42]

Seegras und Salzwiesen, die sich auch mit Hilfe der Seeotter zu erholen beginnen, sind deshalb so wichtig, weil sie dazu beitragen, die Küstenerosion bei Stürmen zu verringern – ein Problem, welches sich im 21. Jahrhundert vergrößern wird – und sie bilden eine wichtige Kohlenstoffsenke, also ein Lebensraum, der der Atmosphäre Kohlenstoffdioxid entzieht. Sie sind auch ein wichtiger Schutzraum und eine wichtige Nahrungsquelle für zahlreiche andere Arten. Das Gleiche gilt für die Seetangwälder: »Der Unterschied in der jährlichen Aufnahme von atmosphärischem Kohlenstoffdioxid durch die Photosynthese von Seetang zwischen einer Welt mit und einer Welt ohne Seeotter beträgt zwischen 13 und 43 Milliarden kg (13 und 43 Teragramm) Kohlenstoffdioxid«, so der Meeresbiologe James Estes.[43]

Wenn wir uns von der Monterey Bay zum trockensten Ort der Erde begeben, finden wir ein weiteres Beispiel für diese Verbundenheit. Die lomas sind Nebeloasen in der Atacama-Wüste im Norden Chiles und in den Küstenwüsten Perus, einer Region, in der es so wenig Niederschläge gibt, dass sie in wenigen Millimetern pro Jahr gemessen werden. Trotz des Niederschlagsmangels haben sich dank des häufig auftretenden Nebels vielfältige Ökosysteme entwickeln können. Die hochwachsenden Bäume in den lomas haben sich evolutionär in diesen Lebensraum so entwickelt, dass sie Wasser aus dem Nebel kondensieren lassen, es auffangen und zu ihren Wurzeln leiten, von wo aus sie es mit anderen dort lebenden Pflanzenarten teilen. Trotz des Wüstenklimas gibt es in den verschiedenen Wäldern der lomas 1 400 verschiedene Pflanzenarten, von denen fast die Hälfte nirgendwo sonst zu finden ist.[44]

Die meisten lomas wurden jedoch durch die spanische Kolonisierung und die damit einhergehenden ausbeuterischen Wirtschaftspraktiken, die kommerzielle Weidehaltung, Holzeinschlag und Bergbau beschädigt oder zerstört. Während sie einst 15 000 km2 bedeckten, sind sie heute um 90 % ihres früheren Verbreitungsgebietes geschrumpft.[45] Die Stadt Copiapó, die von den Spanier*innen ›Heiliger Franziskus der Wälder‹ genannt wurde, liegt heute in einem trostlosen Tal, in dem es kaum noch Bäume gibt und in dem sogar der Fluss ausgetrocknet ist. Trotzdem waren Menschen einmal ein gesunder Teil des Ökosystems der lomas. Vor der Kolonisierung bewässerten die Angehörigen der Kultur der Chiribaya 85 Hektar Ackerland und verfügten über Weideflächen für Alpakas und Lamas in einem Dorf in der Nähe von Ilo, die ausschließlich von vier Quellen aus den lomas gespeist wurden. Heute ist das Gebiet größtenteils verödet.

Bei den Umweltschutzbemühungen in den lomas wurde zunächst nicht berücksichtigt, welche Rolle die Indigenen in ihren Ökosystemen gespielt haben. Ökolog*innen entdeckten wieder, was Indigene Bewohner*innen des Landes bereits wussten: Bestimmte höhere Bäume wie Caesalpinia spinosa, der Tara-Baum, spielen eine Schlüsselrolle im Ökosystem der lomas, indem sie das Wasser aus dem Nebel auffangen. Als sie jedoch versuchten, eine neue Generation von Tara-Bäumen zu säen, scheiterten sie. Bei der Suche nach dem Grund für die erfolglosen Aussaatversuche wurde schließlich festgestellt, was das offensichtlichste Versäumnis hätte sein müssen: Genetische Analysen legen nahe, dass indigene Völker Tara-Bäume gezielt säten und kultivierten. Behilflich waren dabei ihre Lamas und Alpakas, die die Früchte fraßen und die Hülle der Samen verdauten, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit der Keimung erhöht. Die Rinder, Schafe und Ziegen hingegen, die von der kommerziellen/kolonialen Landwirtschaft bevorzugt werden, rühren die Tara-Frucht nicht an.[46]

Wir erkennen ähnliche Muster, wenn wir die katastrophalen Waldbrände im Westen Nordamerikas betrachten. Vor etwa drei Jahren begannen die Mainstream-Medien darüber zu berichten, dass westliche Brandbekämpfungsmethoden weitgehend dafür verantwortlich sind, dass die Wälder mit explosiven Mengen an Gestrüpp übersättigt sind, was zu katastrophalen Waldbränden führt. Sie berichteten auch, dass die traditionellen indigenen Techniken der Region (wie die der Karok, Yurok und Mono) zu diesem Zweck eigentlich weit überlegen seien. Aus diesen setzte sich eine Technologie von unten zusammen, die dazu diente, katastrophale Waldbrände zu verhindern und einen gesunden Wald mit einer hohen Artenvielfalt zu erhalten, von dem die Menschen leben konnten.

In einem selbstzufriedenen Tonfall, der den Eindruck erweckt, es sei ein historisches Unrecht korrigiert worden, wird in vielen dieser Artikel erwähnt, dass die Forst- und Parkverwaltungen der Regierung damit beginnen würden, sich mit den indigenen ehemaligen Hüter*innen des Landes zu beraten. Andere sprechen einfach davon, dass Wissenschaftler*innen begonnen hätten, indigene Techniken zu ›studieren‹. Eine Zweideutigkeit, die für alle bedrohlich klingt, die wissen, was es für Wissenschaftler*innen historisch bedeutet hat, nichtwestliche Völker zu studieren.

In keinem der Mainstream-Artikel, die ich finden konnte, wird die besondere Grausamkeit erwähnt, mit der die Kolonisator*innen den westlichen Teil des Kontinents besetzten, von den spanischen und mexikanischen Internierungslagern bis hin zu den Massakern während des kalifornischen Goldrausches. Keiner der Artikel geht detailliert darauf ein, dass die kontrollierte Brandrodung durch die Indigenen Teil eines Netzes miteinander verbundener Praktiken wirtschaftlicher und spiritueller Art waren. Diese Praktiken verbanden Ackerbau, Waldgärten und Jagd und schützten so ein Ökosystem, welches den Menschen eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung sicherte und Platz für eine Vielfalt anderer Arten bot. Menschen nahmen eine sinnvolle Position innerhalb des Ökosystems ein, in dem anderen Lebewesen ihre Verwandten waren. Nur wenige von ihnen erwähnen überhaupt, wie die Techniken der indigenen Forstwirtschaft unterdrückt wurden, ebenso wie ihre Sprache, ihre Religion, ihre Praxis des Commonings anstelle des Privateigentums, und das alles, während sie gewaltsam von ihrem Land vertrieben wurden. Und keiner von ihnen geht darauf ein, wo diese Indigenen heute stehen, mit welchen wirtschaftlichen Bedingungen und sozialen Diskriminierungen sie konfrontiert sind und wie sie für Gerechtigkeit oder Wiedergutmachung kämpfen. Sie beschreiben allenfalls ›Partnerschaften‹ zwischen der Regierung und Stämmen, die angeblich frei von Konflikten und Ungleichheit seien. Selbst alternative, progressive Medien waren in Bezug auf diese Details eher zurückhaltend.

Nach den großen, katastrophalen Waldbränden in Australien in den Jahren 2019 und 2020 erschienen ähnliche Artikel über indigene Brandrodungs- und Forsttechniken der Gesellschaften der australischen First Nations, die alle dem gleichen Muster folgen. Ein typischer Artikel ist voller Zitate von Siedler-Akademiker*innen, zitiert aber keine einzige Person der First Nations und erwähnt sie auch nicht namentlich.[47]

Wie der Métis- und Cree-Autor Mike Gouldhawke bemerkt: »Anerkennung ist nicht das Gegenteil von Auslöschung, sie stoppt sie nicht und kann weitere Auslöschung, und noch Schlimmeres, erleichtern. Seit dem Beginn des Kolonialismus haben die Kolonisator*innen beides gegeneinander ausgespielt.«[48]

Je genauer wir hinschauen, desto unbestreitbarer wird, dass wir Menschen überall auf der Welt ein wichtiger Bestandteil der Ökosysteme sind, in denen wir leben – von der arktischen Tundra über die gemäßigten Wälder bis hin zum Amazonas und der Atacama-Wüste. Es lässt sich aber auch nicht leugnen, dass zwischen den unterschiedliche Verhaltensweisen, in denen der Mensch sich auf die Welt bezieht, eine große Kluft besteht. Es gibt die Menschen, die in dem Ökosystem, in dem sie leben, eine wichtige Rolle einnehmen, die ihr lokales Ökosystem mit intelligenten, traditionellen, dezentralen und anpassungsfähigen Technologien bewusst zusammenhalten, und es gibt die Menschen, die die größte Bedrohung für das Leben auf diesem Planeten darstellen.

Die gesamte Menschheit zum Bösewicht der ökologischen Krise zu erklären, ist viel zu simpel. Es würde uns aus der Pflicht zur Selbstanalyse nehmen, die notwendig ist, um das Problem zu lösen. Denn sind wir die Bösen, wirkt alles was geschieht irgendwie unausweichlich und es bliebe nur auf das kleinere Übel zu hoffen. Dies entspricht dem konventionellen Naturschutzgedanken: Ein kleines Stück Natur bewahren – natürlich vor unserem bösen Einfluss geschützt –, um die Zerstörung abzumildern und auch, um es gelegentlich zu besuchen, vielleicht gegen ein Eintrittsgeld, und um über ein mythisches verloren gegangenes Paradies nachzudenken.

Wenn wir beginnen, die Zusammenhänge zwischen der Zerstörung der Natur und der Zerstörung anderer Menschen zu betrachten, wird die Erzählung komplexer.

Das drohende Aussterben der Orcas in der südlichen Salish Sea hat in den Medien viel Aufmerksamkeit erregt, insbesondere fokussiert auf eine Walschule im Puget Sound. Seit drei Jahren hatte kein Wal in dieser Schule mehr Nachwuchs bekommen, bis ein Weibchen im Jahr 2018 schwanger wurde. Ihr Junges starb jedoch kurz nach der Geburt und sie trug den Leichnam 17 Tage lang über mehr als 1 000 Meilen in Trauer mit sich herum. Die Orcas haben aus verschiedenen Gründen, die noch nicht vollständig geklärt sind, die Fortpflanzung eingestellt. Alle haben aber mit dem Menschen zu tun. Nicht mit den Menschen per se, denn die Orcas im Puget Sound sind seit Tausenden von Jahren glückliche Nachbar*innen des Menschen, sondern mit dieser zweiten Art von Mensch, dessen Umrisse sich langsam abzuzeichnen beginnen. Zu den Hauptursachen gehören wahrscheinlich der Lärm der vielen großen Schiffe, die die Wasserstraße befahren, sowie der Rückgang der Populationen des Chinook-Lachs, der auf die Wasserkraftwerke zurückzuführen ist, die die meisten Flüsse im Einzugsgebiet der Orcas verstopfen.

Industrielle Verschmutzung ist eine weiterer Faktor. In den fünf Jahren vor 2018 leitete Boeing jeweils das Tausendfache des gesetzlichen Grenzwerts für hochgiftige Polychlorierte Biphenyle in den Duwamish River ein, der zum Wassereinzugsgebiet des Puget Sound gehört.[49] Boeing ist führend in der Luft- und Raumfahrtindustrie und ein wichtiger Rüstungsproduzent. Besteht ein Zusammenhang zwischen der Gewohnheit von Boeing, giftige Chemikalien ohne Rücksicht auf die verursachten Schäden in die Umwelt frei zusetzen, und der Bereitschaft von Maschinen zu profitieren, die zum Töten, Zerstören und Verstümmeln entwickelt wurden, und zwar in erster Linie zugunsten eines Landes, dessen Waffen am ehesten gegen die Zivilbevölkerung in anderen Teilen der Welt einsetzen wird? Etwas anderes zu behaupten, wäre vorsätzlich naiv.

Eine andere Kriegsmaßnahme, die von der US-Regierung im 19. Jahrhundert subventioniert wurde, stellt einen merkwürdigen Präzedenzfall für die amoralische Geschäftemacherei von Boeing dar; eine Kriegsmaßnahme, die die Great Plains Nordamerikas völlig veränderte. Während dieses Jahrhunderts führte die Kolonialregierung eine Reihe von Kriegen gegen Hunderte von indigenen Gemeinschaften, um den gesamten Kontinent »from sea to shining sea«, von der Ost- bis zur Westküste zu erobern. Die Idee der »Manifest Destiny«, der »offenkundigen Bestimmung«, verband die puritanischen Vorstellungen weißer Vorherrschaft mit den gleichermaßen rassistischen wie teleologischen wissenschaftlichen Ideen jener Zeit, vom Uhrmacher-Gott[50] der aufgeklärten ›Gründerväter‹ bis zum Sozialdarwinismus des späten 19. Jahrhunderts.

Die indigenen Nationen, die sich erfolgreich gegen den Eroberungskrieg der USA wehrten, widerlegten das angebliche Schicksal, das eine Beherrschung des ganzen Kontinentes vorsah, und sabotierten das Getriebe des euro-amerikanischen Fortschritts. Insbesondere eine Allianz aus Lakota, Cheyenne sowie anderer Nationen der Great Plains, die siegreich aus dem Red-Cloud-Krieg 1868 hervorging und Custers Siebte Kavallerie schlug, blockierte eine wichtige Verbindungslinie zur Kolonisierung des Westens und untergrub die Überlegenheitsansprüche der Yankees.

Die US-Kriegsplaner erkannten, dass die Kenntnisse der Indigenen über das Gebiet und ihre ökologische Nische als nomadische Jäger*innen der riesigen Bisonherden einen schwer zu überwindenden Vorteil im Guerillakrieg bedeuteten. Deshalb begannen sie Belohnungen für die Tötung von Bisons auszuzahlen, um die Feind*innen ihrer wichtigsten Nahrungsquelle zu berauben und sie in die Abhängigkeit der Reservate zu zwingen – einem Euphemismus für Internierungslager, die den Zweck hatten, die gefangenen Nationen polizeilicher Kontrolle zu unterwerfen, die indigenen Sprachen und spirituellen Systeme zu unterdrücken und eine westliche sozioökonomische Ordnung durchzusetzen, die auf individualisiertem Privateigentum, einer auf Felder abgegrenzten Landwirtschaft und dem Konsum von Suchtmitteln beruhte. General Sherman, der im Bürgerkrieg die Techniken des totalen Krieges angewandt hatte, um die Nahrungsmittelversorgung des Südens zu zerstören, organisierte Militärexpeditionen und stellte private Jäger*innen auf, um die Nahrungsmittelversorgung der Indigenen zu vernichten. Ein weiterer Militär, Leutnant General John Schofield, schrieb in seinen Memoiren sehr offen über seine Ziele: »Mit meiner Kavallerie und meiner Artillerie … wollte ich keine andere Beschäftigung im Leben haben, als die Wilden abzuwehren und ihre Nahrung zu vernichten, bis es keine indianische Grenze mehr in unserem schönen Land geben sollte.«[51]

Als die Bisonherden in weniger als einem Jahrhundert von 100 Millionen auf nur noch ein paar Hundert Tiere schrumpften, ergab sich daraus ein weiterer Vorteil für den Kolonialstaat. Da die Einhegung von Land, die Unterdrückung des Widerstands der Indigenen, die Beinaheausrottung der Bisons mit der vor Mord nicht zurückschreckenden Taktik des Union Busting, der gezielten Zerschlagung von Gewerkschaften, in jenen Jahren zusammenfiel, stand dem Bau der transkontinentalen Eisenbahn, die für die Besetzung und Industrialisierung der Westküste unabdingbar war, nichts mehr im Wege – eine Grundvoraussetzung für Unternehmen wie Boeing, die ein Jahrhundert später Wassereinzugsgebiete verschmutzen und Kriegsmaschinen bauen.

Der Austausch der Bisons durch marktfähige Ackerbaukulturen und Rinderherden mit einzelnen Besitzer*innen, die ihr Vieh mit der Eisenbahn in die industriellen Schlachthöfen von Chicago schickten, wodurch die explodierende Bevölkerung der Ostküstenmetropolen ernährt wurde, trug direkt zu einer der größten ökologischen Katastrophen des frühen 20. Jahrhunderts bei: dem Dust Bowl.[52] In den Jahren des Dust Bowl trockneten über 400 000 km2 Boden aus und verwehten – was es den Banken ermöglichte, sich durch die Enteignung von Kleinbäuer*innen ein riesiges Gebiet anzueignen.

Wir haben es hier also mit einer strategischen Kriegsmaßnahme zu tun, die vom Staat konzipiert, organisiert und subventioniert wurden, durchgeführt von paramilitärischen Siedlerunternehmen, deren Handlungen einem für koloniale Demokratien typischen Muster diffuser polizeilicher Maßnahmen folgten. Diese Strategien fügten sich in das kapitalistische Projekt der industriellen Entwicklung und ursprünglichen Akkumulation ein, welches wiederum gleichzeitig als Ursache und als Folge des Ökozids wirkt. Mit anderen Worten: Die Zerstörung eines breiten Spektrums blühender Ökosysteme war eine Strategie der Aufstandsbekämpfung, die als ›Fische fangen, indem man den Teich trockenlegt‹ bezeichnet werden kann. Die fortschreitende Zerstörung dieser Ökosysteme wurde durch kapitalistische Wirtschaftsprozesse beschleunigt, die erst durch die Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen eines Kolonialregimes ermöglicht worden waren.

Im Großen und Ganzen wird diese ständige Aufstandsbekämpfung nicht gegen eine unbeteiligte Natur, sondern gegen eine dynamische Praxis geführt: das Commoning