TEE macht tot - Monika Clayton - E-Book

TEE macht tot E-Book

Monika Clayton

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Beschreibung

Mord im Seniorenheim? Mitnichten! Wenn es Zeit ist zu sterben, sind sich die Bewohner in dem idyllisch gelegenen Heim St. Benedikta einig: Plane den Auszug, solange du diese Entscheidung noch selbst treffen kannst. Doch welcher Tag ist ein geeigneter Tag zum Sterben? Für Esther Friedrichsen, die einem straff organisierten Wochenplan folgt, gibt es nicht viele. Dienstags geht sie zum Yoga, mittwochs gibt sie ihr Kräuterwissen weiter, freitags ist Kreativabend und samstags ist Beichttag. Bleibt also nur der Donnerstag, an dem die fidele alte Dame, ihren tödlichen Tee ausschenken kann. Doch wie es im Leben oft so spielt - manchmal geht's daneben! Und dann muss man zusehen, wie man seine Leichen los wird. Ob Esther Friedrichsen diesem Problem gewachsen ist?

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Monika Clayton

TEE macht tot

Gestorben wird Donnerstags

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1.Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11.Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

Epilog

Anmerkung der Autorin

Impressum

Prolog

AN DEN SCHEIDEWEGEN DES LEBENS

STEHEN KEINE WEGWEISER.

CHARLIE CHAPLIN

Bedächtig ging sie, ohne sich umzudrehen, in Richtung Haustür. Ihre Hand auf der Türklinke hielt sie zögernd inne. Unzählige Male war sie schon durch diese Tür hinausgetreten, doch nun, mit dem Wissen, nie wieder hierher zurückzukehren, fiel es ihr schwer, sich auf den Weg zu machen. Nachdenklich hielt sie ihren Kopf zur Seite geneigt. Sollte sie sich noch ein einziges Mal umdrehen? Einen letzten Blick wagen?

Es war der winzige Moment, in dem sie die Küchenjalousie erblickte, bevor ihr Blick weiter wanderte, doch dieser Moment hatte ausgereicht, um sie entschlossen kehrt machen zu lassen. Letztlich hätte es ihr egal sein können, ob diese Jalousie oben oder unten war. Es war einfach die Gewohnheit, die sie hatte umkehren lassen. Nie war sie außer Haus gegangen, ohne dieses klemmende Ding halb herunterzulassen, und stets hatte sie sich darüber geärgert. Als sie nun an dem Seil zog, glitt die Jalousie mühelos herunter.

Esther Friedrichsen musste schmunzeln. Manche Dinge erforderten einfach ein bisschen Abstand, um reibungslos zu funktionieren.

„Ach herrje!“, murmelte sie vor sich hin. „Da muss ich erst 50 Jahre hier wohnen, um darauf zu kommen.“

Von unten hörte sie das bestellte Taxi hupen.

„Ich komme ja gleich!“, grummelte Esther, zog einen Stuhl unter dem Esstisch hervor und ließ sich darauf nieder. Leicht strich ihre Hand über den Tisch. Wie oft hatte sie an diesem dunklen Holztisch, der stets mit einem Strauß Wiesenblumen geschmückt war, gesessen? Ohne die Blumen und vor allem ohne ihren Karli wirkte er jetzt jedoch seltsam fremd.

Erneut hupte das Taxi. Esther stand auf und schob den Stuhl wieder ordentlich unter den Tisch.

Prüfend warf sie im Vorbeigehen noch einen Blick in einen der Küchenschränke. Sie musste sich auf Zehenspitzen stellen, um ganz hineinsehen zu können. Der Schrank war leer. Nicht ein Teller war übriggeblieben.

Alles, was etwas wert gewesen war, hatte sie verschenkt. Wie auf einem Flohmarkt war ihre Nachbarschaft in ihrer Wohnung umhergestreift, hatte in Schränken gestöbert und eingepackt, was sie glaubten, gebrauchen zu können, oder von dem sie meinten, daraus Geld machen zu können. Esther Friedrichsen hatte das nicht gestört. Ihre Erinnerungen bewahrte sie schließlich in ihrem Kopf auf und nicht in Schränken.

Dort, wo sie nun hinging, brauchte sie von all den Dingen ohnehin nichts mehr, und das, was sie benötigte, hatte sie in zwei Koffern verstaut. In einem befanden sich, fein säuberlich verpackt, ihre Kräuter, in dem anderen ihre Kleidung.

Wehmütig schlenderte sie endgültig zur Wohnungstür und zog sie hinter sich zu. Den Schlüssel, den sie sonst so sorgfältig in ihre Tasche packte, warf sie heute in den Briefkasten.

Unwillig sah der Taxifahrer sie an, als sie endlich auf der Rückbank Platz nahm.

„Wo soll´s hingehen?“, fragte er mürrisch. Unendlich genervt, mit welcher Ruhe sie im Leben umhertrabte.

„St. Benedikta, das liegt beim …“, antwortete Esther leise.

„Ich weiß, am Starnberger See. Meine Mutter war auch dort.“ Der Blick des Fahrers wurde freundlicher. „Ihr Umzug nach St. Benedikta?“

1.Kapitel

Schon früh hatte sein Vater ihn gelehrt, jede Entscheidung, die er für sein Leben treffen musste, genau abzuwägen und von verschiedenen Faktoren abhängig zu machen.

„Welche Faktoren sind das?“, wollte der 7-jährige Balthasar Sebastian Rohrasch wissen.

„Das ist abhängig von dem, was dein Ziel ist, mein Junge“, erklärte der Vater. „Nicht der Weg bestimmt dein Ziel, sondern das Ziel deinen Weg.“

„Das verstehe ich nicht, Vater.“

Vater Rohrasch nahm sich ein Blatt Papier setzte sich an den Küchentisch und holte sich seinen Sohn auf den Schoß. „Hast du ein Ziel“, erklärte der Vater, während er flink eine Tabelle auf das Papier kritzelte, „dann schreib dir alles auf, was dir dazu einfällt, um dahin zu kommen.“

„Meinst du meine Wünsche?“, erkundigte sich der kleine Balthasar Sebastian Rohrasch mit wissbegierigem Blick.

„Nein, mein Sohn, ein Wunsch ist einer der Schritte, um ein Ziel zu erreichen.“

„Aber ist das denn nicht dasselbe?“ Der kleine Junge verstand das nicht.

„Nein, ein Wunsch hat mit dem Ziel nichts zu tun. Wünsche kannst du Hunderte haben, alle gleichzeitig, aber durch hundert Ziellinien kannst du nicht gleichzeitig rennen. Pick dir aus deiner Wunschliste einen Wunsch heraus, mach ihn zu deinem Ziel, und dann fang an zu laufen!“ Der Vater rutschte seinen Sohn wieder ordentlich auf seinen Schoß und erläuterte ihm alles noch einmal. „Hör zu, Junge! Angenommen, du willst ein Auto, diese neue Erfindung, den Computer, ein Haus und ein Pferd haben!“

„Einen Computer hätte ich sehr gerne, aber was soll ich mit einem Pferd?“, warf der Junge fragend ein.

„Es ist nur ein Beispiel, und jetzt hör zu! Angenommen, du willst das alles haben, wo würdest du anfangen?“

„Ich weiß es nicht“, seufzte der kleine Balthasar und schaute angestrengt nach oben, um darüber nachzudenken.

„Siehst du!“, munterte der Vater ihn auf, „ich würde das auch nicht wissen. Alle vier Dinge zu bekommen, würde nämlich bedeuteten, dass ich mir ein weiteres übergeordnetes Ziel stecken muss. In diesem Fall das Geld. Ich muss also so viel verdienen, damit ich mir alle vier Dinge gleichzeitig leisten kann. Der Weg, den ich einschlagen müsste, wäre entbehrungsreich und lang. An allen vier Wünschen müsste ich erst einmal vorbeilaufen, um dann später zurückzugehen, um sie mir zu erfüllen. Aber es gibt auch einen anderen Weg. Mach dir für den Anfang nur einen deiner Wünsche zum Ziel! Der Weg dorthin ist realisierbar. Wenn du dieses Ziel erreicht hast, kannst du zum nächsten Ziel laufen. Ein Sieg, mein Junge, wird in kleinen Etappen gewonnen, immer nur in kleinen Etappen!“

Langsam verstand der kleine Balthasar, was sein Vater ihm sagen wollte. „Hast du dich deswegen für den Beruf des Totengräbers entschieden, Vater? War das dein Ziel?“

„M-hm …, fast“, nickte sein Vater. Das sei der Beruf, der ihn seinem Ziel näherbringen sollte; sein Wunsch sei es gewesen, eine Arbeit zu bekommen, die unabhängig von Rezession sei und gut bezahlt wurde, erklärte der Vater. In der Nachkriegszeit sei es schwierig gewesen, eine Arbeit zu finden. Verdammt schwierig! Deshalb habe er sich drei Berufe notiert, die gute Chancen hatten, ihn seinem Ziel näher zu bringen: Bäcker, Metzger und Totengräber. Diese habe er einander gegenübergestellt, und nachdem er das zu erwartende Einkommen, die künftigen wirtschaftlichen Entwicklungen und sein persönliches Interesse ermittelt hätte, sei der Beruf des Bäckers durch das Raster gefallen. Die frühen Arbeitszeiten hätten so ganz und gar nicht zu seinen persönlichen Vorlieben gepasst; auch die Einkünfte seien nicht sehr berauschend, da helfe es auch nichts, dass Brot immer ein Lebensmittel sein würde, welches Menschen benötigen würden. Der Vater räusperte sich: „Blieben also nur noch der Beruf des Metzgers und der des Totengräbers.“

Beide Berufe konnten durchaus mit einer gewissen Kontinuität aufwarten, denn auch in Zukunft würde der Mensch ein Fleischfresser bleiben, und somit wäre dieser Beruf auch weiterhin gefragt. Allerdings würde auch weiterhin gestorben werden, weshalb der Punkt 'wirtschaftliche Entwicklungen' nicht aussagekräftig genug war. In diesem Fall halfen Vater Rohrasch jedoch die persönlichen Vorlieben weiter.

Und so schied auch der Metzger aus, da dieser Beruf doch eine sehr blutige Angelegenheit sei. Mit Blut habe er so seine Probleme, ließ er seinen Jungen wissen. Wenn es aber seinem Ziel, nie arbeitslos zu werden, dienlich gewesen wäre, hätte er sich zwar überwunden, aber da noch eine Alternative vorhanden war, habe er sich eben für den Beruf des Totengräbers entschieden.

Dass er seinen Beruf nach diesem Prinzip ausgewählt und es tatsächlich geschafft habe, in seinem ganzen Leben nicht einmal beschäftigungslos zu sein, sei ein Beweis dafür, dass er richtig entschieden hatte.

An seinem elften Geburtstag schenkte Vater Rohrasch seinem Sohn den ersten Rechner. Es war ein Commodore C64. Ob er einer der Ersten war oder einer von vielen, der in das Computerzeitalter einstieg, wusste Balthasar Sebastian Rohrasch nicht. Ob er wegen dieses Geschenks seine Leidenschaft für Statistiken und Zergliederungen entwickelte? Vermutlich. Aber auch sein Vater hatte wohl seinen Teil dazu beigetragen.

Natürlich war der kleine Rohrasch zu Beginn, wie jeder Junge, mehr an den Spielen interessiert, doch im Laufe der Jahre entwickelte er eine Leidenschaft, wie sie nur ein Nerd verstehen würde. Er programmierte, entwarf und perfektionierte seinen Umgang mit dem Computer wie eine Köchin ihre Rezepte. Sein beruflicher Werdegang war ihm somit vorgezeichnet: Balthasar Sebastian Rohrasch wurde Finanzstratege. Bis ins Detail zergliederte er Finanzmarktinformationen und zog daraus Rückschlüsse, ob und inwieweit sich ein Unternehmen entwickeln würde.

Mitte der 90er-Jahre, da war er bereits 26 Jahre alt, kam ihm das Internet zu Hilfe. Die Datenbeschaffung war kein mühseliges Unterfangen mehr. Jeder stellte alles ins Netz, es musste nur noch analysiert werden. Die Informationsflut war nicht mehr aufzuhalten. Sehr zu Balthasar Sebastian Rohraschs Freude. Tagein tagaus hockte er vor seinem Bildschirm und übte sich im Umgang mit dieser für ihn faszinierenden Welt. Und das nicht nur beruflich.

Tief arbeitete er sich ins Netz. Er ergründete Dinge, die er, wenn er danach gefragt wurde, nur als dieses und jenes benannte. Angesprochen wurde er jedoch selten und schon gar nicht von Mädchen. Seine großporige Haut mit Narben, die von einer starken Akne herrührten, schreckte Mädchen ab. In seine Augen, die durch seine starke Brille auf unnatürliche Art groß erschienen, sahen sie nur ungern. Frauen fühlten sich in seiner Nähe ungefähr so wohl, wie ein mariniertes Steak auf Erdbeersorbet. Da half es auch nichts, dass er den analytischen Verstand seines Vaters besaß.

Dies störte den noch jungen Balthasar Sebastian Rohrasch aber nicht. Theoretisch wusste er ohnehin alles über Frauen. Er wusste, wie ein Zungenkuss funktionierte und auf was man dabei achten musste. Er wusste, wie man um ein Date bat und dass Kondome nicht nur vor ungewollter Schwangerschaft schützten. Aber nur weil man alles weiß, musste man noch lange nicht alles ausprobieren.

Bei einem war sich Balthasar Sebastian Rohrasch in späteren Jahren jedoch sicher. Den Beruf des Totengräbers würde sein Vater heute nicht mehr wählen. Nein, ganz sicher nicht, denn zu seines Vaters Zeiten verstarb man noch, wenn es an der Zeit war. Heute konnte man bestenfalls noch darauf hoffen, dass einem ein Herzinfarkt schnell aus dem Leben riss. Andernfalls hatte man eine geraume Zeit vor sich, in der sich Ärzte mit Hilfe von Maschinen auf Teufel komm raus der Lebenserhaltung verschrieben. So leicht starb es sich heute einfach nicht mehr. Heute musste ein Totengräber sich nicht nur auf Erdarbeiten verstehen, sondern auch in Geduld üben.

Aber nicht nur sein Arbeitsfeld hatte Balthasars Vater nach strtegischen Gesichtspunkten geplant, auch die Auswahl seiner Frau wurde im Vorfeld genauestens durchkalkuliert.

Er studierte Erziehung, Angewohnheiten und die Erwartungen, die seine künftige Frau an ihn stellen würde, fügte noch die für eine Frau nicht ganz unwichtigen wirtschaftlichen Anliegen dazu und verband dies alles mit seinen eigenen Interessen sowie Vorlieben. So gelangte er zu dem Ergebnis, dass die Mutter seines Sohnes die bestmögliche Wahl war.

Dem konnte Balthasar Sebastian Rohrasch beipflichten: Seine Mutter war die beste Mutter, die man sich nur wünschen konnte.

Vielleicht konnte er dies nicht immer so zeigen, aber er liebte sie wirklich.

Mit 32 Jahren, er lebte noch immer bei seinen Eltern in einem kleinen Häuschen am Rande des Starnberger Sees, wünschte sich seine Mutter nichts mehr, als dass ihr Sohn nun endlich in die Puschen käme und sich eine Frau suchte.

Diesen Wunsch konnte Balthasar Sebastian Rohrasch ihr allerdings nicht erfüllen. Nein, Ambitionen in Bezug auf eine Frau hegte er nicht. Die würde ihn doch von jenem und welchem abhalten oder sich gar noch Kinder von ihm wünschen. Nein, auch seine Neigungen im Hinblick auf Kinder waren eher gering. Seine Art, Entscheidungen zu treffen, hatte ihn dazu angehalten, das Pro und Contra für eine Frau aufzulisten, und das Ergebnis hatte wesentlich mehr Contras geliefert.

Sein Vater hielt seine Argumentation für sehr schlüssig. Er fand sich damit ab, dass er sein Wissen nie einem Enkel würde weitergeben können.

Doch dann verstarb Vater Rohrasch sehr plötzlich und ohne viel Aufsehen.

Nun übernahm Balthasar Sebastian Rohrasch die statistische Lebensplanung für sich und seine Mutter.

Fragen zu klären, wie, ob es Fisch oder Fleisch geben sollte, oblagen nun ihm. Wäre Gymnastik oder leichter Ballsport für seine Mutter besser? Würde eine Renovierung der Fenster einen Mehrwert für das künftige finanzielle Wohlergehen der Familie schaffen? Sämtliche Pros und Contras gegenübergestellt, fand er zu jeder Zeit eine zufriedenstellende Lösung.

Das lief lange gut, denn Mutter Rohrasch war eine liebenswerte, fleißige Dame, die ihn stets bei seiner Entscheidungsfindung unterstützte.

Dass er aber mit 40 Jahren seinen Beruf als Finanzstratege an den Nagel hängen, in ein Altenheim übersiedeln und für plötzliche Tode nichts mehr übrig haben würde, hätte er sich in seinem wüstesten Tabellarium nicht ausrechnen können.

2. Kapitel

Heiß und drückend lastete die Sommerhitze über Starnberg. Seit drei Wochen war kaum Regen gefallen; die Luft flirrte.

Balthasar Sebastian Rohrasch ruhte mit seiner Mutter im Garten unter dem Sonnenschirm auf den hölzernen Liegestühlen, auf denen er schon in seiner Kindheit gelegen hatte. Jeden Morgen bei Sonnenschein stellte die Mutter die Stühle auf; jeden Abend klappte sie sie wieder zusammen und räumte sie ordentlich in den Schuppen. Die Belange von Haus und Garten hielt sie in ihren Händen. So war es schon gewesen, seit er denken konnte.

Die Möbel, die Balthasar Sebastian Rohrasch aus seiner Kindheit kannte, standen auch in seinem Erwachsenenalter an ihrem Platz. Unverändert. Alles wirkte sauber, gepflegt, fast neu. Selbst die Betten überzog seine Mutter Tag für Tag frisch. Im Sommer hing die Bettwäsche im Garten, im Winter im Keller. Nie hatte sie gejammert, dass ihr die Arbeit zu viel wurde, nie gab es einen Tag, an dem sie nicht die Betten frisch überzog.

Stöhnend hielt sich Mutter Rohrasch die Hand an die Stirn und klagte über die entsetzliche Schwüle.

Balthasar Sebastian Rohrasch blickte von seinem Laptop auf, der sich auf seinem Schoß befand.

Ihr sonst so hübsch frisiertes Haar klebte förmlich an ihrem Kopf. Sie wirkte blass; ihre Beine zitterten, als sie aufstand, um im Haus Schutz vor der Hitze zu suchen.

Verwundert guckte Balthasar ihr nach. Derartiges war er von ihr ganz und gar nicht gewohnt. Egal, ob es heiß oder kalt war, seine Mutter war immer damit zurechtgekommen, und falls es nicht so gewesen sein mochte, hatte sie es sich zumindest nie anmerken lassen. Doch an diesem Tag legte sie sich schon während des Nachmittags hin, um sich etwas zu erholen, wie sie sagte.

Sicherlich ist es nur ein kleiner Infekt, überlegte er. Sicherlich nichts, worüber man länger nachdenken musste. Balthasar Sebastian Rohrasch wandte sich wieder seinem Rechner zu und gab sich einigen Netzrecherchen hin.

Erst am späten Nachmittag stand Mutter Rohrasch, frisch und ausgeruht, wieder auf. Körperlich zwar voller Elan, aber doch wortkarg wanderte sie im Garten umher, zupfte hier und da etwas Unkraut und erntete einige ihrer selbst gezogenen Tomaten. Danach verschwand sie in die Küche, um das Abendessen zu richten. Gemeinsam saßen sie am Tisch.

„Hast du dir etwas eingefangen?“, fragte Balthasar seine Mutter beiläufig. „Du warst heute sehr still.“

„Ich glaube nicht“, erwiderte sie, „es ist wahrscheinlich nur das Alter.“ Tief seufzte sie auf. „In meinem Alter können einem solch heiße Tage doch sehr zusetzen.“

„Was meinst du damit? Seit wann bist du in diesem Alter?“ Gedankenverloren holte er die Wurst vom Brot und schob sie sich in den Mund. Mit alten Menschen hatte er noch nie etwas zu tun gehabt. Sein Vater war ja erst 56 Jahre gewesen, als er starb; und seine Mutter war bisher topfit gewesen, was ihn über ihren Jahrgang nie besonders hatte nachdenken lassen. Deshalb war er einigermaßen darüber verblüfft, dass seine Mutter so etwas zur Sprache brachte.

Liebevoll tätschelte sie daraufhin seine Wange. „Was glaubst du denn? Dass ich ewig jung bleibe?“

Natürlich glaubte er das nicht, es war aber auch nicht so, dass er sich bisher dafür interessiert hatte.

***

Langsam kroch die Nacht hervor, und als Balthasar Sebastian Rohrasch seinen Rechner endlich herunterfuhr, war es 23:00 Uhr. Laut gähnend legte er sich in sein frisch bezogenes und gestärktes Bett, das Mutter Rohrasch für ihn gerichtet hatte. Er glaubte, gerade erst eingeschlafen zu sein, als er durch irgendetwas geweckt wurde.

Der Vollmond tauchte das Zimmer in ein diffuses Licht, der Wind blies durch die Baumkronen, die vor seinem Fenster zu sehen waren; und gerade wie in einem Horrorfilm hörte er erneut das Geräusch, das ihn geweckt hatte. Leise knarzte das Parkett. Irgendwer oder irgendetwas näherte sich seinem Bett. Kurzzeitig hielt er den Atem an.

Durch den Schleier seiner vom Schlaf verklebten Augen nahm er eine Gestalt in weißem Gewand wahr. Eine krächzende Stimme bedeutete ihm, dass es an der Zeit wäre. Er müsse jetzt aufstehen.

„Heilige Maria Mutter Gottes!“, hauchte er und schlug ein Kreuzzeichen. Innerhalb von Sekunden fühlte er, wie sich sein Blut wie Eiswürfel durch seine Adern presste. Unfähig sich zu rühren, lag er einfach nur da. Fest kniff er die Augen zusammen. Er wollte nicht sehen, was da vor ihm stand.

„Es ist Zeit für dich. Steh auf! Du musst dich auf den Weg machen!“, krächzte die Gestalt abermals. Doch nun etwas ungehaltener.

Der Tod hat es aber eilig, dachte sich Balthasar. Vorsichtig blinzelte er unter seiner Decke hervor. Der Tod hat weißes Haar.

Eine Hand griff nach seiner Schulter und schüttelte ihn. Ein Schauer durchfuhr Sebastian Balthasar Rohrasch. So fühlte sie sich also an, die Klaue des Todes, schoss es ihm weiter durch den Kopf. Er wollte aber noch nicht sterben, nicht jetzt, nicht heute. Er spürte den Kloß in seinem Hals; Schweiß trat ihm auf die Stirn. Völlig aufgelöst, zog er sich in der Verzweiflung eines Verlorenen die Bettdecke wieder über den Kopf und wimmerte: „Nein, geh weg, bitte, bitte, ich will noch nicht sterben! Nein, nein, geh weg!“ Schluchzend rollte er sich auf die andere Seite des Bettes. Und was dann geschah, war ihm selbst vor Gevatter Tod peinlich.

Die Angst ließ den Druck auf seiner Blase unerträglich werden. Verzweifelt versuchte Balthasar zu halten, was nicht mehr zu halten war.

Ein großer nasser Fleck bildete sich unter ihm, der sich unermüdlich weitläufig auf dem Laken ausbreitete, um schließlich in der Matratze zu versickern. Ein beißender Geruch breitete sich im Zimmer aus.

„Du solltest dich was schämen!“, dröhnte plötzlich die Stimme seiner Mutter in seinen Ohren. „Was bist du nur für ein Ferkel. Man möchte meinen, du bist gerade fünf Jahre alt.“

Da realisierte Balthasar erst, dass er es nicht mit dem Tod höchstpersönlich zu tun hatte, sondern, dass die Gestalt im weißen Gewand wahrhaftig seine Mutter im Nachthemd war.

Energisch zog seine Mutter die Decke weg. Sie ermahnte ihn, jetzt endlich aufzustehen und sich für die Arbeit fertigzumachen, der Frühstückstisch sei schon gedeckt. Angesichts der nassen Bettdecke in ihren Händen schüttelte sie ihren Kopf und streifte den Bezug ab. „Nein, nein, nein, dass ich sowas nochmal erleben muss!“, seufzte sie vor sich hin.

Balthasar Sebastian Rohrasch, der nun endgültig wach war, schaute auf seine Uhr. „Mutter!“, rüffelte er los. „Es ist zwei Uhr morgens! Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

„Pah, was du redest! Geh dich waschen, und dann komm zum Frühstück!“, schimpfte sie, drehte sich mit fliegendem Nachthemd herum und ging.

Während Balthasar Sebastian Rohrasch im Bad verschwand und sich einen frischen Schlafanzug überzog, hörte er seine Mutter mit den Kaffeetassen klimpern. Widerwillig trottete er in die Küche und nahm die Tasse Kaffee, die ihm gereicht wurde, entgegen. Müde setzte er sich an den Küchentisch und ließ seinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Fast wäre er in dieser Position eingeschlafen, als es unter ihm rumste.

Verdutzt blickte er auf und merkte, wie seine Mutter mit dem Wischmopp in der Hand den Küchenboden scheuerte. Dabei schlug sie unaufhörlich gegen sein Stuhlbein. Solange, bis er endlich aufstand, den Stuhl anhob und sie an der Stelle putzen ließ, die ihr gerade so wichtig zu sein schien. Danach lud sie wie selbstverständlich die Wäsche in die Waschmaschine.

Sprachlos sah Balthasar ihr zu.

Nachdem sie fertig war, gab sie ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn, wünschte ihm einen schönen Tag und legte sich wieder schlafen.

Bedröppelt blieb er am Tisch sitzen und überlegte sich eine Weile, was ihm an dem soeben Geschehenen seltsam vorkam. Ohne zu einem nennenswertes Ergebnis gekommen zu sein, legte er sich ebenfalls wieder hin. Er hatte immerhin noch gut dreieinhalb Stunden, bis er wirklich aufstehen musste.

Am nächsten Morgen wischte er die seltsame Nacht aus seinen Gedanken und fuhr gerädert zur Arbeit. Unendlich lange kam ihm dieser Arbeitstag vor, doch einmal würde er eine um die Ohren geschlagene Nacht schon überstehen, glaubte er.

Als er abends sein Schlafzimmer betrat, staunte er nicht schlecht. Denn weder war sein Bett frisch überzogen, noch überhaupt gemacht. So wie er es verlassen hatte, fand er es vor. Mit Knitterfalten im Laken musste er sich noch nie schlafen legen.

Sicherlich steckte seiner Mutter der Schlafmangel ebenfalls in den Knochen, suchte er eine Entschuldigung für das ungemachte Bett. Weiter kam er nicht, denn gleich darauf war er auch schon eingeschlafen.

Dass sich das Szenario der letzten Nacht jedoch wiederholen und wiederholen sollte, daran hätte er im Traum nicht gedacht.

Regelmäßig, gegen zwei Uhr, bekam er Besuch, und bereits im Morgengrauen zog der Duft von Sellerie, Knoblauch oder Zwiebeln durch das Haus. Warum nicht wenigstens Kuchen, verzweifelte er.

Unzählige Erklärungsversuche, dass es mitten in der Nacht sei, prallten auf Unverständnis. Zum ersten Mal war Balthasar Sebastian Rohrasch ratlos. All seine Analysen und Statistiken halfen ihm in diesem Fall nicht weiter, so sehr er sich auch bemühte. Über alte Menschen wusste er einfach zu wenig. Und während er sich unermüdlich von den Gewohnheiten, Krankheiten und Eigenheiten alter Menschen ein Bild zu machen versuchte, schritt die senile Bettflucht seiner Mutter unaufhaltsam voran.

Balthasar recherchierte. Tief im Netz glaubte er dann, die Lösung seines Problems endlich gefunden zu haben. Er verbot seiner Mutter sich tagsüber hinzulegen.

Vielleicht hätte es funktioniert, hätte sich nicht auch noch eine Krankheit hinzugesellt, die weitläufig als die Alzheimer-Krankheit bekannt war. Wieder fing er bei Null an und war keineswegs auf das vorbereitet, was ihn noch erwartete.

Eines Nachts, er befand sich im Tiefschlaf, traf ihn völlig unvorbereitet etwa Hartes auf den Kopf. Der Schreck und der höllische Schmerz ließen ihn aus dem Bett springen, was seine Mutter als Angriff auf ihre Person verstand. Und weil sie nicht wusste, wer er war und was er hier zu suchen hatte, holte sie erneut aus und traf ihn abermals. Sie schlug und schlug.

Balthasar Sebastian Rohrasch blieb nichts anderes übrig, als abzuhauen. Seinem alten Mütterchen hätte er diese Kraft, die sich in ihren Schlägen offenbarte, niemals zugetraut, doch von da an wusste er, dass man ein altes Mütterchen keinesfalls unterschätzen durfte. Die blauen Flecken, die er davon trug, taten ihm Tage danach noch weh.

Um ihrem nächsten Angriff vorzubeugen und um sie zu irritieren, richtete er sich ein Schlaflager in seinem Computerzimmer ein. Doch auch den Sherlock-Holmes-Instinkt eines alten Mütterchen durfte man nicht unterschätzen: Natürlich spürte sie ihn auf und briet ihm eins über. Daraufhin versteckte er ihren Besen, den sie jedoch genauso entdeckte wie ihn.

Er liebte seine Mutter wirklich, doch welche Alternativen hatte er noch?

Völlig überfordert warf er den Besen in den Kamin und ersetzte diesen durch einen Plastikfeger. Doch wenn er geglaubt hatte, dass nun ein schmerzfreies Schlafen möglich sei, irrte er sich gewaltig.

3. Kapitel

All seine Analysen, all seine Statistiken konnten ihm nicht weiterhelfen. Hilflos stand er dem Problem Alter gegenüber. Er wusste, er musste eine Entscheidung treffen, denn allein und ohne professionelle Hilfe käme er nicht weiter.

Im allwissenden Netz stieß er auf St. Benedikta. Nicht weit entfernt und rein äußerlich machte es einen idyllischen Eindruck.

Heimleiter Stulp, ein alter unsympathischer Mann, dem seine Betriebsblindheit förmlich aus dem Gesicht sprang, versicherte Balthasar Sebastian Rohrasch jedoch, eine gute Entscheidung getroffen zu haben. Seine Mutter sei bestens in St. Benedikta aufgehoben.

Mit einem mulmigen, dumpfen Gefühl der Hilflosigkeit verabschiedete er sich von seiner Mutter. Aber was blieb ihm anderes übrig, als den Worten des Stulp Glauben zu schenken?

Hätte er geahnt, dass seine Mutter in diesem Haus sich mehr oder weniger selbst überlassen blieb, und dass sie nicht mehr lange leben würde, hätte er sicherlich kehrt gemacht. Samt seiner Mutter.

Die erste Nacht wälzte sich Balthasar Sebastian Rohrasch unruhig im Bett. Gegen zwei Uhr morgens fuhr er beunruhigt hoch. Hatte er nicht gerade den Fußboden knarzen gehört? Kurzfristig geriet sein Herz außer Takt. Kam nun doch der Tod bei ihm vorbei? Oder war seine Mutter womöglich abgehauen und nach Hause zurückgekehrt?

Langsam drehte er den Kopf in Richtung Fenster. Schweißgebadet schreckte er hoch.

Schluckend saß er im Bett und schüttelte sich den Traum ab. Knurrig warf er die Decke zurück und ging in die Küche. Dort saß er mitten in der Nacht am Küchentisch und legte seinen Kopf auf die Tischplatte. So wie er es die ganzen letzten Monate getan hatte. Zehn Minuten blieb er reglos sitzen und starrte vor sich hin. Danach stand er auf und brühte sich einen Kaffee auf. Die Tasse in der Hand, tigerte er mit leerem Blick durch das Haus.

Die Stille war kaum zu ertragen. Er vermisste das Schleudern der Waschmaschine, sogar den Duft nach Gebratenem und die nächtlichen Putzanfälle seiner Mutter. Verdammt, er vermisste seine Mutter. Unschlüssig stand er vor ihrer ehemaligen Zimmertür, überlegte kurz, und dann legte er sich für den Rest der Nacht in ihr Bett.

Seine täglichen Besuche in St. Benedikta waren von Müdigkeit begleitet. Jetzt, wo er eigentlich die Nächte hätte schlafen können, saß er vor seinem Rechner und stellte Recherchen an. Über das Alter an sich, über Alterskrankheiten, alternative Betreuungsmöglichkeiten, Lebenserwartung im Altenheim. Gerade im Hinblick auf die Lebenserwartung waren die Aussichten nicht rosig.

Und dann gestand es Balthasar Sebastian Rohrasch sich ein. Mit St. Benedikta hatte er wohl nicht die beste Entscheidung seines Lebens getroffen. Und Entscheidungen hatte er schon wahrlich viele treffen müssen. Wie falsch sie aber wirklich war, musste Balthasar Sebastian Rohrasch feststellen, als bei einem seiner täglichen Besuche seine Mutter fixiert im Rollstuhl saß. Er wäre kein guter Sohn gewesen, wenn er nicht gefragt hätte, was das zu bedeuten hätte. Schrecklich war der Anblick, aber offensichtlich eine gängige Methode.

Sie sei eine sehr schlagkräftig alte Dame, erklärte Stulp ihm beruhigend, und die Entscheidung, gemeinsam mit dem Heimarzt, sei nur zu ihrem eigenen Schutz und dem der anderen.

Der Stulp war offensichtlich kein Mensch, der seine Entscheidungen ordentlich durchdachte. Denn warum sonst, kam man auf so eine Idee? Balthasar Sebastian Rohrasch sah es als seine Aufgabe an, Stulp seine Unterstützung anzubieten. Nach eingehender Recherche, unter analytischen Gesichtspunkten betrachtet, und unter Zuhilfenahme seiner Statistikkenntnisse, war die Lösung schnell gefunden: solche Patienten, wie seine Mutter, benötigten mehr Aufmerksamkeit und Betreuung. Mit einer bis zwei weiteren Fachkräften ließe sich das Problem sicherlich schnell lösen.

Das sei undenkbar, wies der Stulp empört diese abstruse Idee zurück. Das Heim trage sich gerade mal so selbst, mit mehr Personal könne er es doch gleich an die Wand fahren.

Er sei Finanzanalyst, stellte der Rohrasch daraufhin klar, und er wisse sehr wohl, wie ein Unternehmen Gewinn abwerfe. Hier und da einige Veränderungen, dann ließe sich aus St. Benedikta ein finanziell gut gestelltes Heim machen, dem es auch nicht an Personal mangeln würde.

Gegen die Verbohrtheit, des alten unsympathischen Stulp kam Balthasar Sebastian Rohrasch jedoch nicht an.

„Abgelehnt!“, verwies der Heimleiter ihn des Büros.

Aber der Rohrasch wäre nicht der Rohrasch gewesen, wenn er bei einmal gewonnenen Erkenntnissen locker gelassen hätte. St. Benedikta war seinem Geschmack nach viel zu unorganisiert. Dieses ständige Kommen und Gehen, der unregelmäßige Tagesablauf, die nicht durchdachten Zimmerbelegungen, alles das ließ ihn schwindlig werden. Wie sollte ein alter Mensch wie seine Mutter hier nur Beständigkeit empfinden, fragte er sich.

Balthasar Sebastian Rohrasch beendete sein Studium der Zwischenmenschlichkeit, das er theoretisch ohnehin voll drauf hatte. Nun galt es, sich ein neues Wissensgebiet anzueignen. Das Studium über das Leben und die Sterbegewohnheiten der alten Leutchen wurde zur Mission.

Bald war Balthasar Sebastian Rohrasch der Meinung, dass eine bessere Grundversorgung die hohe Todesrate dieses Heims sicherlich senken würde. Effizientere Zimmerbelegungen würden Probleme der Alterseinsamkeit lösen. Ähnliche Interessen sollten in einem Stockwerk zusammengelegt werden. Der Stulp würde sehen, wie gut das den alten Menschen tun würde.

Und so mischte er sich bei jedem Besuch ungefragt in den Heimalltag ein. Immerzu sah sich Heimleiter Stulp mit neuen Erkenntnissen konfrontiert. Erkenntnisse, die dieser Rohrasch aus dem Internet zog. Statistisch gesehen wäre der Rentner besser doch mit Diesem und Jenem versorgt.

Heimleiter Stulp raufte sich die Haare, noch bevor Balthasar Sebastian Rohrasch überhaupt die Schwelle von St. Benedikt übertreten hatte. Doch im Zuge dieser Kopfmassagen hatte der Leiter von St. Benedikta eine geniale Idee. Warum, die Einrichtung nicht einfach abstoßen?

Das Heim war unwirtschaftlich, er fühlte sich zu alt, zu überfordert, und außerdem nervte ihn der besserwisserische Rohrasch. Wenn der Rohrasch doch alles besser wusste, warum nicht ihn fragen? Der könnte die Betreuung seiner Mutter wieder selbst übernehmen, von der er sich einst so überfordert gefühlt hatte.

„Was halten Sie von einer Übernahme?“, fragte Stulp, als Balthasar Sebastian Rohrasch wieder eine seiner neu gewonnenen Erkenntnisse preisgab.

„Von einer Übernahme?“, fragte Rohrasch überrumpelt.

„Von einer Übernahme!“, antwortete Stulp.

„Und wie darf ich das bitte verstehen?“

„Sie übernehmen St. Benedikta. Ich gehe in den Ruhestand, und wer weiß, wenn meine Zeit gekommen ist, komme ich vielleicht als einer ihrer Bewohner zurück. Aber erst genieße ich mein Leben.“

„Sie würden sich also selbst in Ihr Heim begeben?“

„Nicht unbedingt, aber wer weiß schon, was später einmal ist. Vielleicht haben Sie es ja tatsächlich drauf?“

So führten sie das Frage-Antwort-Spiel eine Zeit lang im Büro fort, bis Stulp aufstand und zu seinem Fenster marschierte. Er winkte den Rohrasch um seinen Schreibtisch herum und wies mit dem Finger die Auffahrt hinauf zur Straße. „Sehen Sie den Friedhof?“

Rohrasch nickte, ohne wirklich hinzusehen. Schließlich fuhr er täglich daran vorbei. Viel interessanter war da schon der Blick auf Stulps Monitor. Kein Wunder, dass es hier so chaotisch zuging. Selbst der Desktop war ein einziges Durcheinander. In Rohrasch Fingern kribbelte es. Am liebsten hätte er sich hingesetzt und Ordnung geschaffen.

Heimleiter Stulp zog Balthasar Sebastian Rohrasch vom Schreibtisch weg ans Fenster. Auf der anderen Seite sah man die Grabsteine des gegenüberliegenden Friedhofes über die hüfthohe Friedhofsmauer ragen. Etwas weiter hinten war eine Kapelle mit einem kleinen Anbau auszumachen. Ehemals seien der Friedhof und St. Benedikta ein großes Gelände gewesen und das Altenheim eine ehemalige Klosterschwesternunterkunft, erzählte Stulp die Geschichte des Heimes. Irgendwann, das sei aber sicherlich schon an die 50 Jahre her, habe die Kirche eine neue Schwesternunterkunft errichtet. Größer und besser. Nachdem die Geistlichkeit samt Schwesternschaft ausgeflogen war, habe der Kirchenrat den Pfarrer Johann in die kleine Pfarrwohnung, die hinter der Kapelle stand, gesetzt.

Das Gelände sei geteilt worden, was dem Straßenbauamt nicht ungelegen gekommen war, denn ruckzuck wurde eine Verbindungsstraße Richtung Starnberg Stadt gebaut. Das alte Schwesternhaus wurde einer reichen alten Frau verkauft, mit der Auflage, dass der Name immer bestehen bleiben müsse.

Die alte Frau habe das Haus nach ihrem Tod an eine gemeinnützige Stiftung vererbt, die jedoch mehr an Barem als an Immobilien interessiert gewesen sei. Das Haus sei in den letzten 30 Jahren wohl so an die acht Mal verkauft worden, bis es dann irgendwann in seine Hände gelangte. Heute würden der Friedhof und das Altenheim nur noch den Namen gemeinsam tragen, erklärte der Heimleiter. Und außerdem meinte Stulp weiter, erspare der Friedhof in der direkten Nachbarschaft lange Transportwege. „Also? Übernehmen Sie?“, kam Stulp urplötzlich wieder auf seine eigentliche Frage zurück.

Balthasar Sebastian Rohrasch, der keine Entscheidung aus dem Bauch heraus treffen wollte, bat um etwas Bedenkzeit und stellte einige Überlegungen an, die jedoch durch den Tod seiner Mutter unterbrochen wurden.

Mag es vielleicht äußerlich nicht den Anschein erweckt haben, dass er im zwischenmenschlichen Bereich Gefühle zeigen konnte, dennoch saß seine Trauer tief. Für die nächsten Wochen stellte er seine Entscheidung deshalb zurück.

Lange dachte er über das nach, was kurz vor ihrem Tode, geschehen war. An ihrem Todestag, von dem er nicht wusste, dass es ihr Todestag sein würde, wurde sie noch einmal sehr klar. Balthasar Sebastian Rohrasch hatte an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten.

Liebevoll tätschelte sie sein Gesicht und bedankte sich bei ihm für seine täglichen Besuche, die der einzige Lichtblick in ihrem sonst so trostlosen Dasein in diesem Heim gewesen seien.

Erschüttert und überrascht war Balthasar Sebastian Rohrasch darüber. Überrascht deswegen, weil er nicht gedacht hätte, dass seine Mutter überhaupt noch etwas mitbekam, erschüttert deswegen, weil sie es mitbekam, aber es nicht mehr ausdrücken konnte. Am meisten schmerzte es ihn jedoch, dass sie ihre letzten Momente als trostlos beschrieb.

Dieser traurige Umstand war das letzte Puzzlestückchen, das ihm zu seiner Entscheidung noch gefehlt hatte.

Balthasar Sebastian Rohrasch unterschrieb die Übernahmepapiere und trat als neuer Heimleiter in ein fast morbides Unternehmen ein, dessen Bestand ebenfalls recht angeschlagen war. Unsicher war er, wie lange er diese Leutchen bei sich halten konnte.

Voller Tatendrang bugsierte er seinen Rechner in sein neues Büro und machte sich daran, sein selbst gestecktes Ziel zu erreichen. Er stellte einen neuen Arzt ein, neue Schwestern, die jedoch alle zuerst seinem Für und Wider standhalten mussten. Anschließend plante Balthasar Sebastian Rohrasch das Leben seiner Senioren, wie er es für seine Mutter getan hatte. Er schrieb ein Programm, mit dessen Hilfe St. Benedikta ein freudvolles Haus mit langer Verweildauer werden sollte.

4. Kapitel

Gewissenhaft räumte Esther Friedrichsen ihr neues Teeschränkchen in ihrem neuen Zimmer, in ihrer neuen Bleibe ein. Ackerschachtelhalm unter A. Beifuß, Brennnessel unter B. Schluchzend hielt sie inne und nestelte nach ihrem Taschentuch. Ohne ihren Karli hier zu sein schmerzte sie. „Das überlebe ich nicht“, flüsterte sie und schniefte in ihr fliederfarbenes Tuch. Mühsam versuchte sie, ihre Tränen zurückzuhalten. Dass sie ihren letzten Lebensabschnitt alleine gehen musste, war schwer zu ertragen.

„Natürlich werden Sie das!“, sagte eine flache Stimme hinter ihr. „Außer, Sie fallen auf der Stelle tot um.“

Erschrocken drehte sich Esther um.

In der Tür stand eine dünne alte Frau, aus deren Nase ein Schlauch ins Nirgendwo ihres Morgenrocks führte. Ihre fahle Haut wirkte wie Pergamentpapier, das über die Knochen gespannt war. Freundlich schaute die Dame Esther an und trat mühsam, einen Schritt vor den anderen setzend, ins Zimmer. Ihre Augen versprühten, trotz ihrer Gebrechlichkeit wahre Lebensfreude. Esther war beeindruckt und musste sogar lachen. „Das hoffe ich nicht, dass ich jetzt tot umfalle. Jetzt, wo ich gerade einräume.“

„Sie werden sehen … schon bald …“ Um zu Atem zu kommen, machte die Frau eine Pause; sowohl im Gehen als auch im Sprechen. „Schon bald werden Sie sich hier … sehr wohl fühlen.“ Mit Esthers Hilfe, ließ sie sich kraftlos auf die braungeblümte Couch sinken. Sie stellte sich als Martha Scholz vor. 98 Jahre weile sie mittlerweile auf Erden, und wenn es nach dem Rohrasch geht, würden es hundert werden. Bedenklich wackelte ihr Kopf bei diesen Worten. „Sie trinken Tee?“, fragte sie unvermittelt mit einem Blick auf Esthers Kräutergläser.

„Ja, ausschließlich. Und Wasser. Und Orangensaft. Und Kümmelschnaps nach dem Essen. Aber keinen Kaffee.“

„Kaffee trinke ich auch nicht, eigentlich trinke ich gar nichts von alledem.“ Martha schob ihren Morgenrock beiseite und ließ Esther einen Beutel sehen, der mit dem Schlauch in ihrer Nase verbunden war. Das sei ihre Verbindung zum Leben, erklärte Martha in Seelenruhe. Durch die Demenz vergesse sie ständig das Essen und Trinken. Der Rohrasch tue aber alles, um sie auch den hundertsten Geburtstag noch feiern zu lassen. Manchmal freue sie sich darauf, aber manchmal auch nicht, gestand Martha.

Esther fiel es schwer, den Blick von dem Beutel, der mit milchigtrüben, fast braunem Brei gefüllt war, abzuwenden. Mitfühlend vergaß sie bei diesem Anblick sogar ihren eigenen Kummer. Betroffen sank sie neben Martha auf die Couch. Dass man das Essen vergessen konnte, war für Esther eine erschreckende Vorstellung, wo sie doch so gerne aß.

„Ist es denn nicht schrecklich, die Selbstverständlichkeiten des Lebens zu vergessen?“, fragte Esther unverblümt. „Wenn ich in Ihre Augen sehe, machen Sie nicht den Eindruck, als hätten Sie je das Leben vergessen.“

„Heute so, morgen so. Aber keine Sorge!“, wackelte Martha mit ihrem Kopf, „heute ist ein guter Tag. Meine Erinnerungen an gestern sind zwar weg, aber dann waren sie auch nicht so wichtig. Die Lücke kann ich mit den heutigen Erlebnissen füllen.“

„Mit welcher Gelassenheit Sie das sagen! Dabei hätten Sie doch allen Grund, zu klagen“, meinte Esther einfühlsam.

„Ach Kindchen!“, dabei tätschelte Martha Esthers Hand, „man muss mit dem arbeiten, was einem das Leben beschert.“

Das klang so weise, fand Esther und nahm sich vor, diesen Spruch nie zu vergessen.

In den folgenden Wochen und Monaten besuchte Esther Friedrichsen die Dame, die mit ihrem Schicksal so klaglos umging, regelmäßig. Manchmal ging es gut, manchmal aber auch nicht. Wenn es gut ging, lachten sie gemeinsam, wenn nicht, kauerte Martha vor dem Fenster auf einem Stuhl und konnte sich nicht erinnern, dass sie Esther überhaupt kennengelernt hatte.

Doch dann kam der Tag, an dem der tapferen Martha Scholz, trotz ihres Willens, die Kraft ausging. Sie fragte Esther, ob in ihrem Kräuterschränkchen nicht etwas sei, was Erleichterung verschaffen würde. 99 Jahre seien doch wirklich genug, oder etwa nicht?

Zaghaft nickte Esther und hoffte, dass dies nun nicht allzu pietätlos sei.

„Nein Kindchen, … das war es nicht“, beruhigte Martha schwach. „Würdelos … wäre es, wenn ein weiterer Apparat mich, … zum Weiterleben zwingen würde.“ Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. „Und solange ich noch in irgendeinem Herzen ein Plätzchen habe, weile ich doch auch nach meinem 100ten auf Erden.“

Esther versprach, solange sie lebe, werde Martha ebenfalls leben, in ihrem Herzen.

Es war ein Donnerstag, als Esther Friedrichsen die tapfere Frau ein letztes Mal besuchte.

Wie versprochen, besuchte sie regelmäßig, immer montags, das Grab von Martha Scholz. An ihrem hundertsten Geburtstag brachte Esther Kuchen mit und zündete ein extra Licht an. 

5. Kapitel

Wie Säulen standen die Kastanien rechts und links neben dem Haus. Pflichtbewusst kehrte der Hausmeister herabfallende Blätter zusammen. Er rieb sich den Kopf, als eine Kastanie herabplumpste.

Esther Friedrichsen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Nicht ungefährlich, der Herbst!

Einen Moment lang blieb sie stehen und guckte ihm bei der Arbeit zu, danach stapfte sie weiter. In ihrer drallen Armbeuge baumelte ihr grauer Regenschirm mit dem Holzgriff. Den hatte sie immer dabei, wenn sie das Haus verließ. Nicht nur wegen des Vorteils, weil er bei Regen zu schützen vermochte, sondern auch deswegen, weil er bei zu viel Sonne ausreichend Schatten spendete. Außerdem ließ er sich prima als Spazierstock verwenden. Mit dem Schirm konnte sie zudem auf der großen Wiese, die sich hinter St. Benedikta bis in den Wald hinein erstreckte, das Gras auseinanderdrücken, ohne sich bücken zu müssen.