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Johannes K. Soyener

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Beschreibung

Den Traum der Highlands im Herzen.

Es ist das Jahr 1866, die Bevölkerung von London fiebert mehr denn je dem großen Teeclipper-Rennen entgegen. Die Aufgabe: Den ersten Tee der neuen Ernte als schnellster von China nach London bringen. Die Schiffe: Extreme Clipper mit scharfgeschnittenem Bug unter einer Pyramide von Segeln. Die Eigner: Die Söhne des Clans Mackay - Whiskybrenner, Aktienspekulanten, Sklavenjäger, Opiumhändler und Schiffbauer. Sie bestimmen die Geschicke des schottischen Clans dessen wechselvolle Geschichte im Roman erzählt wird.

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Seitenzahl: 1129

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Über Johannes K. Soyener

Johannes K. Soyener, geboren 1945 in Altötting, wurde bekannt als Autor historischer Romane, insbesondere durch den Bestseller Der Meister des siebten Siegels (1994). Die Inhalte des Romans dienten auch als Vorlage des Dokumentationsfilmes »Das Imperium schlägt zurück«, gesendet in der Reihe »Mission X / ZDF 2002«. Es folgten u. a. der Teeclipper, die Venus des Velazques, Der Chirurg Napoleons, der Thriller Das Pharmakomplott und der Tatsachenroman Sturmlegende – Die letzte Fahrt der Pamir. Zuletzt erschien der Kriminalroman Toteissee (2016) Soyener interessiert sich seit Jahren für die Geschichte der Seefahrt und ihre historischen Großsegler. Er selbst ist leidenschaftlicher Skipper und hat mehrmals an Transatlantik-Regatten teilgenommen. Bekannt sind auch seine zahlreichen Reportagen zur Vendée Globe, die u.a. auf Zeit-Online veröffentlicht wurden. Fachartikel und Revierreportagen über die Bahamas, Seychellen und British-Virgin-Islands sind in verschiedenen Magazinen erschienen. Johannes K. Soyener lebt heute als freier Schriftsteller in Bremen.

Informationen zum Buch

Es ist das Jahr 1866, die Bevölkerung von London fiebert mehr denn je dem großen Teeclipper-Rennen entgegen. Die Aufgabe: Den ersten Tee der neuen Ernte als schnellster von China nach London bringen. Die Schiffe: Extreme Clipper mit scharfgeschnittenem Bug unter einer Pyramide von Segeln. Die Eigner: Die Söhne des Clans Mackay – Whiskybrenner, Aktienspekulanten, Sklavenjäger, Opiumhändler und Schiffbauer. Sie bestimmen die Geschicke des schottischen Clans dessen Geschichte im Roman erzählt wird.

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Johannes K. Soyener

Teeclipper

Inhaltsübersicht

Über Johannes K. Soyener

Informationen zum Buch

Newsletter

»Das Garraways« London 1869

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

»Loch Assynt« August 1832

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

»Die Whiskyschmuggler« Scoury House–Lochinver 1832

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Kapitel XI.

Kapitel XII.

»Whiskyjäger« Ardvreck Castle 1832

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Kapitel XI.

Kapitel XII.

»Cholera« Northern Highlands 1833

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

»WILD FIRE und SHAMROCK« Irische See 1834

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

London 1842

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

»Atlantik« Breite: 30° 30' Nord, 50° 20' West

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Kapitel XI.

Kapitel XII.

Kapitel XIII.

»Opium« 1842/1843 London–Aberdeen–Kanton

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

»Mackay and McKay« 1842-1845 New York

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

»SEA WITCH und Camellia sinensis« 1850 Hongkong–New York

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

»Goldrausch« 1850 Boston–New York–London

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

»Das Garraways« London 25. April 1859

Kapitel I.

»Die Herren des Windes« Glasgow–Fu-tschou-fu–London 1865/1866

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

»Manu forti!« Assynt 1869

Quellen

Personen

Impressum

»Das Garraways« London 1869

I.

»… Gunpowder, Mr. Mackay?«

»Was schlug der Big Ben?«

»Elf Uhr, Mr. Mackay!«

Magnus Mackay betrachtete kopfschüttelnd den Ring an seinem linkem Mittelfinger, auf dem ein haselnussgroßer Nugget gleißte. Sein Kopf war hellwach, seine Augen aufgerissen, als wäre ein Gebot Gottes verletzt worden. Dann sah er der Gestalt, die ihm mit herablassender Stimme geantwortet hatte, ins Gesicht: »Sie sind eine Null, eine echte Niete!«

Die ungesunde Blässe auf dem Gesicht des Bediensteten wechselte ins Aschfahle. Magnus polierte mit dem rechten Ärmel bedächtig den Goldnugget, dann ließ er unerwartet die Faust auf den Tisch krachen, als wollte er das Gold vor Zorn in die Tischplatte aus Elfenbein rammen. Der Kellner wich einen Schritt zurück.

»Gunpowder? Um diese Zeit?« Magnus liebte jenen chinesischen Grüntee, den er zum Entspannen äußerst schätzte – allerdings nur in den Nachmittagsstunden. »Bring Tarry Souchong – first flush! Dazu Lammkoteletts und Röstkartoffeln.«

»Tarry Souchong! First flush! Lammkotelett und Röstkartoffeln! Wie Sie wünschen, Mr. Mackay …« wiederholte der Bedienstete unterwürfig und entschwand eilig.

Magnus Mackay, Highlander, Nachkomme aus der Sippe »Angusis Eyg de Strathnaver« und vormals Herr von Scoury House, wartete im Kaffeehaus Garraways bei Tee und Brunch auf seinen schwarzen Diener Malcolm, der ausgeschickt worden war, seinem Herrn die Tagesausgabe der Times zu bringen.

Magnus Puls schlug schneller, als er sich eines Beitrags in eben jener Zeitung erinnerte, von dem er hier im Garraways vor genau fünfzehn Jahren Kenntnis bekommen hatte. Es war ein Brief eben jenes französischen Diplomaten und Ingenieurs Ferdinand Marie de Lesseps gewesen, den dieser im November 1854 an Herrn Bruce, Agent und Generalkonsul Ihrer Britannischen Majestät in Ägypten, geschrieben hatte. Magnus hatte ihn seitdem so oft gelesen, dass ihm der Text teilweise wörtlich im Gedächtnis geblieben war.

Ein bedauernswertes Vorurteil, die Folge jener politischen Feindseligkeit, welche unglücklicherweise schon so lange zwischen Frankreich und England besteht, hat allein die Ansicht verbreiten können, dass ein Werk der Zivilisation und des Fortschritts wie die Eröffnung des Suezkanals den Interessen Großbritanniens zuwiderliefe … Wenn man die Vorteile dieses ungeheuren Unterfangens einer unparteiischen Prüfung unterzieht und sich von seinem Einfluss auf die Wohlfahrt aller Völker genau Rechenschaft gibt, wird man es als eine Ketzerei ansehen, die Ansicht zu äußern, dass ein Unternehmen, welches die Entfernungen zwischen Osten und Westen um die Hälfte abzukürzen bestimmt ist, für England, der Beherrscherin von Gibraltar, Malta, der ionischen Inseln, von Aden, von bedeutenden Kolonien auf der Ostküste Afrikas, in Indien, Singapur und Australien, nicht erwünscht sei.

Die Mitteilung meiner Denkschrift und die mir vom König erteilte Vollmacht erspart es mir, noch einmal auf die Einzelheiten dieses Unternehmens einzugehen. Sie werden selbst einsehen, dass es hier nicht um besondere Privilegien für den einen oder anderen Staat, sondern einzig und allein darum geht, eine freie Gesellschaft zu gründen, an welcher sich Aktionäre aller Nationen unter gleichen Bedingungen beteiligen können …«

Nicht allein der Geist, der aus diesen Zeilen sprach, war es, was Magnus fesselte, sondern das feine Geflecht aus Ursache und Wirkung, das ihn seit jeher fasziniert hatte.

Dieses Geflecht erstreckte seine Ausläufer bis hinein in das Garraways. Die großen Ereignisse kündigten sich hier meist früher an als in der Times. Dort fand man sie zwar etwas später niedergeschrieben, doch dafür waren sie dann amtlich. Was der Leser allerdings nicht in der Times beschrieben fand, waren die Kontraste, die sich zwischen den Menschen ausbildeten: die Augenblicke der Ergriffenheit, des Jubels, der Leidenschaften und der Niederlagen. Nichts war fesselnder und dramatischer, als zu hören, wie die Besucher des Garraways die Ereignisse und Umwälzungen der Zeit drehten und wendeten. Oft falsch, paradox, manchmal auch zutreffend. Die Kunst für die Zuhörer bestand darin, dies herauszufinden.

Die Vielfalt der Meinungen spiegelte sich umgekehrt in der Einrichtung des Garraways wieder. Es besaß einfach alles. Neben Büfetts, bemalten Stühlen, einzelnen Blumenpodesten, beweglichen Zeitungs- und Buchstellagen sah man langweiliges klassizistisches Mobiliar, platziert zwischen teuren Möbeln bedeutender Londoner Kunsttischler, die in Mahagoni und Rosenholz ausgeführt waren.

Hinzu kamen die einzelnen Sitzecken. Die »Spekulantenecke« im linken vorderen Teil war in einem streng griechischen und maskulinen Charakter gehalten. Gleich gegenüber standen zwei Tische und Stühle im gotischen Stil. Die Ecke hieß »Parlatorium der Mönche«; dort nahmen vorzugsweise die Herren der Bank von England Platz. Dagegen hieß der Platz gleich eine Tischreihe davor die »Maklerecke«. Zwölf Stühle mit Lehnen in Form einer Lyra, mit sauber lackierten Bambusrohr-Sitzen, zu 14 Shilling das Stück. Sie waren bei John Robins in der Warwick Street in Soho gekauft, bei dem auch Magnus Einrichtungsgenstände fertigen ließ.

Zudem verfügte das Garraways im hinteren Bereich über eine Bibliothek mit einem angrenzenden Lesezimmer und einer zusätzlichen Kücheneinrichtung. Diese Räume blieben für Clubmitglieder reserviert. Die gesamte Einrichtung wurde von Taprell & Holland geliefert. Das Arrangement war derart elegant und angenehm, dass einige Ladies vehement gegen dieses Etablissement wetterten, da sie befürchteten, es würde ihre Männer von ihrem Familienkreis fernhalten. Die Mitgliedschaft im »Club Garraways« wurde nur an ausgewählte Herren vergeben und blieb auf die Zahl fünfzig beschränkt.

Magnus war seit zehn Jahren Mitglied, jedoch bevorzugte er in den Morgenstunden die »Halle«. In diesen Stunden war der Besuch moderat, der Lärmpegel mäßig, kurzum, zum Studium der Times ideal. Die vorgeschaltete morgendliche Teestunde genoss er daher besonders. Gleichzeitig betrachtete er zu gern die Nachbildungen zweier Aphrodite-Statuen, die den Eingang flankierten. Links die respektable, bekleidete Venus Genetrix, die Mutter Roms, und ihr gegenüber die kapitolinische Venus als heilige Dirne, die ihre Hände schützend vor nackter Brust und Scham hält. Magnus lächelte verschmitzt. »Ladies der Broker« wurden sie genannt – vor und nach misslungener Spekulation …! Außerdem liebte er das durch den Nebel gebrochene Licht, wie es zur dieser Jahreszeit schräg durch die hohen bogenförmigen gestalteten Glasfenster hereinfiel, was ein Gefühl des Unterirdischen, ja Mystischen erzeugte …

Er scharrte mit den Füßen auf dem Flor des dicken Teppichs, der nur in jener Ecke des Kaffeehauses den hellen Marmorboden abdeckte, und blickte ungeduldig abwechselnd durch das linke und rechte hohe Fenster, das den Blick großzügig auf die leere Change Alley freigab. Es sah kalt und neblig da draußen aus. Die äußerst dürre Besetzung im Garraways um jene Tageszeit verhieß zudem nichts Gutes. Sicher belagerte die in Panik geratene Meute von Kaufleuten und Spekulanten gerade Lloyd’s Coffee House im Obergeschoss des Gebäudes der Schiffsversicherung, das gleich um die Ecke lag, und fühlte schon mal vor, ob die verlorenen Millionen Pfund Sterling auch ersetzt würden.

Der Gedanke daran verstärkte seine Anspannung. Wenn die Nachricht in der Times, wie von ihm erwartet, heute schwarz auf weiß vorlag, so dürfte dies morgen schon erhebliche Auswirkungen auf das Empire haben. Die Börse würde heftig reagieren. Wenige Investitionen der letzten Jahre, sowohl in die Werften als auch in die Clipperschiffe, würden sich jetzt noch rentieren. Um das Vermögen seiner Söhne Morgan und Kenneth machte er sich wenig Sorgen; er hatte sie rechtzeitig vorgewarnt. Was seinen dritten Sohn Angus betraf, so hatte dieser so viel in die Geschäfte der Mackays investiert, dass der Clan heute zu ihm als seinem Chief aufsah; so ändern sich, dachte er mit einer Mischung aus Bitterkeit und heimlichem Stolz, die Zeiten. Doch was Angus’ amerikanische Besitztümer betraf, so fürchtete er sie, wenn nicht schon verloren, so doch aufs äußerste gefährdet …

Politik und Handel. Kein Handel ohne Krieg, kein Krieg ohne Beeinträchtigung des Handels. Warum sollte es morgen anders sein, vor allem gerade dort, wo sich gleich drei Erdteile treffen? Seine Augen wanderten an der geschnitzten gotisch gestalteten Wandverkleidung entlang, die dem Garraways den Hauch einer Privatkapelle verlieh, bis sie an dem Portrait des Premierministers verweilten. Was verfolgte Gladstone mitsamt seiner Regierung? Warum überließ man Frankreich den Triumph ganz allein, den Pharaonen-Traum zu verwirklichen?

Im gleichen Moment stieg in ihm eine Erkenntnis auf, die sein schottisches Blut aufwallen ließ: Endlich war die alte egoistische Politik Englands ins Herz getroffen! Der längst im Griff geglaubte Hass kroch wieder hervor. Der Geist des Verlierers begann wieder nach Rache zu schreien.

Seit der Schlacht von Culloden, wo das Heer der Schotten vernichtend geschlagen worden war, herrschte im Norden ein englisches Schreckensregiment. Was jedoch mehr schmerzte als das Schwert des Feindes in der schottischen Brust, war die Erinnerung an die Zeit, als die Clanväter begannen, ihre Ehre zu verkaufen. Die führenden Häupter lechzten nach dem verschwenderischen Leben der englischen Landlords. Doch dazu brauchten sie Geld und immer mehr Geld, um deren Lebensstil zu kopieren. Die Lösung lag auf der Hand: Was nützten die crofter in den Highlands, die auf dem kargen Boden ein erbärmliches Leben fristeten, wenn man das Land gewinnbringend als Schafweide nutzen konnte?

Schafe statt Menschen, so lautete das erklärte Ziel der Oberhäupter der führenden Highland-Clans. Die Flüsse zum Meer glichen ein gutes halbes Jahrhundert lang reißenden Abflussrinnen, auf denen die Highland-Bevölkerung gleichsam hinaus in die Welt gespült wurde.

Wild und romantisch mochten den Städtern die Highlands erscheinen, doch Magnus empfand es anders. Er hasste die Heuchler aus London, die in den zerklüfteten Hügeln des Nordens Britanniens Alpen sehen wollten, eine Bühne für Schwärmerei und gesunden Sport. Für ihn war es die Heimat, die er nie vergessen konnte. Jedesmal wenn er hörte, dass die Highlander bereitwillig und selig auf die andere Seite der Welt segelten, war es, als fügte man ihm eine neue Brandwunde zu.

»Verleugnet nicht, dass ihr statt des versprochenen Paradieses ein Kreuz auf Schottland gestellt habt, unter dem die noch lebenden Kinder, Frauen und Männer nun arm und nackt sitzen. Ohne Nahrung, ohne Geld, ohne Hoffnung bleibt der Norden völlig zerstört!« hatte er erst unlängst einem englischen Offizier ins Gesicht geschleudert, der sich damit brüstete, in Indien Unruhen genauso im Keim erstickt zu haben wie seinerzeit unter den aufständischen Schotten.

Jede Niederlage Englands wertete er daher als gerechten Ausgleich für die Erniedrigung und Zerschlagung des Clans der Mackays, sowie als Genugtuung für das Auseinanderbrechen seiner Familie vor nunmehr dreiunddreißig Jahren …

Der Clan Mackay wurzelte tief an den Ufern des Loch Assynt. Sein Sippenverband glich einer Pyramide, deren Spitze der Chief bildete. Der vergab Land an seine Clansleute, die dafür bezahlten. Sie hatten keine geschriebenen Pachtverträge, doch der Verbleib auf den Flecken, auf denen von Jahr zu Jahr die karge Ernte eingebracht wurde, war durch Sitte und Tradition gewährleistet. War der Flecken groß genug, konnte der Pächter sich einen Subpächter nehmen. Ein verschwenderisches Leben war damit nicht zu führen, aber keine Versuchung unter der Sonne war fähig, die Menschen aus diesem Teil der Welt herauszulocken.

Der Stolz der Mackays hatte nie von Reichtum und ihrer Stellung in den Highlands abgehangen. Magnus Mackay, als Chieftain von Scoury House, liebte die komplizierten, aber vertrauten Beziehungen zwischen ihm und seiner Sippe über alles. Sie waren eine mystische Einheit. Das Leben in den Highlands war in jener Zeit etwas, was Magnus, seine Sippenmitglieder und auch die anderen Clans trotz der gnadenlosen und abschreckenden Zustände kaum verändern mochten. Ihre Lebensart und ihre Bindungen zu dem Land waren tief und stark und den harten Bedingungen bewundernswert angepasst. Sie sprachen das Gaidhlig, die alte keltische Sprache, und wussten wenig von der Welt jenseits ihrer Hügel.

Doch die Bruderschaft innerhalb der Sippe begann zu bröckeln. Der Finger der Zukunft berührte ihren Clan. Der Galgen über den Sippen war längst aufgestellt …

Magnus’ Aufmerksamkeit richtete sich auf eine Gruppe von zehn jungen Männern, die er durch das linke Bogenfenster beobachtete, wie sie aus der einheitlichen Schmuddeligkeit des Londoner Novembernebels heraus auf das Garraways zuhielten. Er erkannte die Brokergruppe sofort an ihrer Kleidung. Ihre Spitze bildeten die beiden, die man in diesen Kreisen nur ›Bear‹ und ›Bull‹ nannte. Der eine trug den Namen, da er den bassiers zugeordnet wurde. Die »Bären« stellten die Pessimisten an der Börse, wogegen diejenigen, die à la hausse spekulierten, den »Bullen« zugeordnet wurden. Hinter den beiden folgten drei Jungbroker: ein servitor, ein novice und ein pupil.

Etwas abgesetzt von den anderen machte Magnus den doctor aus. Der Ruf eines »Doktors« war unter Brokern eine Auszeichnung der Unbeliebtheit, die nur demjenigen zuteil wurde, der es auf dem Spielfeld der Effektenspekulation auch verdiente. Er stand an der Spitze jener Hierarchie von erfahrenen Maklern, die mit Verachtung auf die anderen herabsahen, jedoch novices benutzten, um für sie selbst Geschäfte abzuschließen. So etwa verstanden die Broker von der Stock Exchange selbst ihre Hackordnung.

Als letzte der Gruppe stapften zwei Händler und zwei Spekulanten einher, die in der »City«, dem Börsen- und Finanzviertel von London, auch dealer und jobber genannt wurden, Männer die sich auf den Handel bestimmter Wertpapierklassen spezialisiert hatten. Sie stellten im »Zoo Garraways«, wie sie den Ort selbst bezeichneten, die gelehrigen Affen.

Vor zweihundert Jahren trafen sich im gleichen Käfig Elefanten, Löwen, Krokodile, Schlangen und Ratten. Da waren Pelzverkäufer, die für die Hudson’s Bay Company ihre Geschäfte abwickelten, versteigerten gerissene Makler am gleichen Ort Fischfang-, Walfang-, Küsten- und Handelsschiffe jeden Typs, einschließlich Prisen- und Wrackschiffe, verhökerten Händler Kaffee, Gewürze oder auch Wrackwaren. Die Nation stand kurz davor, sich in Alkohol zu ertränken.

Später, als Thomas Garraway herausfand, dass Reeder, Kapitäne und Spekulanten statt an der Börse, deren Räumlichkeiten denkbar ungemütlich waren, ihre Geschäfte lieber beim »Kauffee« aushandelten, servierte er ihnen bald mit dem Kaffee die neuesten Depeschen aus der Handelsschifffahrt. Sie bevorzugten bald die seriöse und ruhige Atmosphäre eines Kaffeehauses, um die neuesten Nachrichten zu erfahren. Fortan wurden überall in der Stadt und besonders in der City Kaffeehäuser eröffnet. Dann kam der Tee.

Garraway selbst war in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der erste Mann in England gewesen, der an jener Stelle versucht hatte, Tee für £ 10 das Pfund an den Mann zu bringen, mit dem Versprechen, der Sud würde »die Heilung aller Krankheiten« bewirken. Seitdem war der spirit of tea in diesen Mauern zu Hause und Garraways »Kaffeehaus« nach wie vor wichtigster Treffpunkt der Schiffsmakler geblieben. Neu hinzugekommen waren Offiziere und Kapitäne aller Nationen, Spekulanten, Juweliere, Truthahnverkäufer und Drogendealer; aber vor allem galt das Garraways als der Treffpunkt für die informationshungrige Meute aus den umliegenden Banken, der Börse, den Auktionslokalen und Lagerhäusern rund um die Leadenhall Street und besonders unter den Teehändlern der Mincing Lane. Sogar die Herren der St. Katharine Dock Company fanden den Weg bis in die Change Alley nicht zu beschwerlich. Sie alle kamen, um an diesem Ort das »exzellente Kraut« zu trinken.

Zusammen ergab dies an manchen Tagen eine absolut verrückte Teegesellschaft – oder ein »echtes chaotisches französisches Durcheinander«, wie Malcolm, sein Diener, oft bemerkte. Mackay suchte zu jeder freien Stunde diesen Ort auf, und platzte auch das Garraways oft aus den Nähten, Magnus wich kein Teeblatt zurück! Er liebte dieses Flair. Hatte doch der Lärm und das Gewühl einen ganz anderen Charakter als in den Städten Schottlands. Dort war es oft der hervordrängende und sich breitmachende Dünkel. Im Garraways war es das Geschrei des Marktes.

Magnus Mackay hatte sich darüber hinaus an diesem Ort ein äußerst wichtiges Privileg erobert: einen festen Punkt im Universum. Zwar klagte er an seinem Lieblingsplatz immer über das schwache Licht, während er morgens die Times studierte. Doch in die Nähe der Fenster hinüberzuwechseln, noch dazu mit dem Rücken zum Glas, das lehnte er strikt ab. Ein wesentlicher Grund seiner Treue zum Garraways, der Blick durch die hohen Glasfenster hindurch auf »seine« Alley, wäre damit gleichsam gestorben. So überraschte er eines Tages seine Freunde und Gegner mit einem Stuhl, den er von Malcolm hereintragen und hin in der hinteren linken Ecke des Garraways abstellen ließ, von wo aus man den besten Überblick genoss.

Es war eine Sitzgelegenheit, die man sonst nur in Londons feinsten Bibliotheken zu sehen bekam: Auf der linken Armlehne sah man ein notenpultähnliches Gebilde aufgesetzt; die rechte Armlehne zierte ein Scharnier mit einem Arm, auf dem ein bronzener Kerzenleuchter prangte. Beide Vorrichtungen konnte er mit dem geringsten Druck beliebig näher bringen oder weiter entfernen. Es war der edle Bibliothekstuhl der Firma Morgan & Saunders.

Nach anfänglichem Schweigen brach alles in Heiterkeit aus. Saßen oder vielmehr lagen doch einige der Gäste selbst in solchen bettartigen Stühlen, freilich nur, wenn es die Geschäfte zuließen. Dann aber vor eigenem Kamin hinter eigenen Mauern. Die Begeisterung über Mackays ausgefallene Idee fegte alle Einwände hinweg. Ab diesem Tage gehörten der Stuhl und sein Besitzer zum Garraways.

Die Gruppe Männer stoppte, ankerte plötzlich wenige Meter vor dem Eingang und stand kurz darauf wie ein Klumpen eng zusammen. Die Verzerrung der Geräusche durch die Fensterscheibe machte ein Zuhören unmöglich. Mackay war berühmt für seinen Instinkt, Ereignisse vorauszusehen und die Reaktion der Menschen darauf richtig einzuschätzen. Sein Wissen um Kurse, Aktiengesellschaften und Renditen waren im Garraways Legende. »Mackay weiß nichts, aber er versteht alles!« hieß es in Kreisen der Broker, Schiffsmakler, Tee- und Goldhändler. So hasste er Kurse, Bilanzen, Umsatztabellen, Statistiken und sonstige Unsinnigkeiten. Sein Rüstzeug waren die Phantasie und das Gespür für unsolide Aktiengründungen, Scheingeschäfte und Spekulationskrisen.

Aus dem wilden Gestikulieren direkt vor dem Bogenfenster schloss Magnus, dass eine hitzige Debatte im Gange war. Die ernsten, gespannten Gesichtszüge ließen die sonst vorherrschende gute Laune zur Mittagspause vermissen. Die Gesichter der Männer deuteten jedoch etwas anderes an als Ernst oder schlechte Laune. Als weitere mögliche Deutung fiel ihm »Erstarrung« ein, wobei er deren Ursache in die Nähe seiner eigenen Befürchtungen rückte.

»Ihr Tee, Mr. Mackay!«

Magnus sah kurz auf, registrierte das Mahagonitablett, musterte das Teeservice darauf und erwiderte die Ankündigung mir einem knappen, knorrigen: »Danke!«

Im letzten Jahr hatte er erleben müssen, dass ein Kellner versuchte, ihm das falsche Teeservice unterzuschieben, was das Subjekt beinahe den Arbeitsplatz gekostet hatte. Für diesen speziellen Tee war ausnahmslos die Kanton-Schale mit dem Rosenmedaillon-Dekor, komplettiert mit Kanne, Zuckerdose und Sahnekännchen, vorgesehen. Magnus liebte diese seltene Art des Kantonporzellans, welches sich vom Exportporzellan, das im Dekor meist unterglasurblau gemalte Schiffe und chinesische Landschaften aufwies, deutlich unterschied. Die Unverwechselbarkeit war zudem gesichert durch die datierte Inschrift: Laoda 1779. Eine Transkription aus dem Chinesischen, was soviel bedeutete wie »Dschunkenmeister«. Jenes Teeservice war im Garraways nur ein einziges Mal vorhanden. In dieser Teekanne, dem kostbarsten Werkzeug im Umgang mit Tee, durfte nur der schwarze Tarry Souchong, der mit dem ausgeprägtesten Rauchgeschmack, serviert werden.

Magnus ließ es sich nicht nehmen, als erste Handlung den Deckel der Teekanne anzuheben, um das Innere zu inspizieren. Was er sah, stellte ihn zufrieden. Die Innenwand war braunschwarz gefärbt, die Kanne war demnach seit ihrer Existenz nur mit klarem Wasser gespült und danach mit abgehobenen Deckel an der Luft getrocknet worden. Wäre die Kanne nicht derart beschichtet, würde das Aroma des Tees nicht die gewünschte Stärke erreichen. Der Genuss wäre dahin, auch wenn es einer feinen und geschulten Zunge bedurfte, den Unterschied richtig herauszuschmecken. Magnus Mackay war in dieser Hinsicht ein schwieriger Gast.

Glücklich, wer weit weg von der Börse weilt, ging es ihm durch den Kopf. Er schloss die Augen, und seine Gedanken versanken für einen Moment völlig im Inneren der Teekanne. Sie umschloss seine gustatorischen Empfindungen wie ein Schrein. Er versuchte den rauchigen Geschmack auf den Rändern der Zunge und dem Zungengrund vorzuspüren, schlürfte im Geiste schon aus der Schale und versuchte auch die Sensibilität des Gaumenbogens und der hinteren Rachenwand mit einzubeziehen.

Er beugte sich herab bis zum Ausgussschnabel der Kanne und schnüffelte. Die erste Duftwahrnehmung verschaffte ihm den erwünschten Reiz. Sein Geruchskompass war in jenem Moment ganz auf Tarry Souchong eingenordet. Er setzte behutsam die Schale an die Lippen.

Schon nach dem ersten genussvollen Schlürfen fühlte er sich vom Aroma des Tees wieder einmal gekapert.

II.

»Wer Ägypten hat, hat Indien!«

Beide Türflügel flogen auf. Es war der Mann, den sie ›Bear‹ nannten, Pratt Jenkins mit bürgerlichem Namen.

Die wenigen Gäste, die verstreut an den Tischen saßen, schauten zum Eingang hin. Auch Magnus blickte missmutig auf, da er den plötzlichen Radau als äußerst störend empfand. Der entstandene Luftzug verkürzte die Reizdauer des Teearomas auf seiner Gaumenfläche. Ärgerlich! Eine ähnliche Intensität würde er am gleichen Tage auf seinem Zungen- und Nasenareal nicht mehr empfinden können …

Jenkins hatte zudem an der Börse den Ruf eines Giftpilzes, da er Gerüchte jeglicher Art wachsen hörte. Damit war die Teezeremonie für Magnus an diesem Tage vorbei.

»Herrgott! In dieser Situation wird für lange Zeit kein Geld zu machen sein. Seit wann sorgen wir nur im eigenen Land für Zucht und Ordnung? England wird schneller in den Abgrund rutschen als zu Zeiten des Dreckskerls Napoleon! Die Effekten werden sinken! Mit wem ich auch gesprochen haben – überall Unsicherheiten über Unsicherheiten! Schuster, Schneider, Gastwirte, Astrologen, Matrosen, Fechtmeister, das gesamte Spekulationsvolk der Alley, ja nicht einmal die Genuesen und Mailänder sind bereit, auch nur eine Aktie zu riskieren.«

Das Lamento steigerte sich: »Keine Kontrakte, keine Spekulationen und somit keine Aussicht auf Gewinne! Die Glanzaktien werden zu gefallenen Engeln! Und der Profit bleibt sowieso auf der Strecke!« kam als Stakkato die Antwort von ›Bull‹ James Kaellgren, einem breitschultrigen Hünen.

Eine Springflut von weiteren acht jungen Männer drängte hinter ›Bear‹ und ›Bull‹ herein. Das Broker-, Händler- und Spekulantenrudel hatte hohe, steife Zylinder mit breiten Krempen auf, war glattrasiert und bis auf ›Bull‹ einheitlich gekleidet. Je höher der Spekulationsgewinn, je großartiger die Fondsspekulation, je pathologischer deren Zustände und je heftiger die spekulativen Exzesse dieser Gilde, um so mehr büßte anscheinend ihre Kleidung an Farbigkeit ein, wie Magnus feststellte. Sie zählten zur »dritten Klasse« und stellten damit die zahlenmäßig größte Gruppe an der Börse und in den Kaffeehäusern. Obwohl dies kein Privileg war, versuchten sie wichtigtuerisch, das Garraways lautstark für sich zu erobern.

Magnus selbst zählte sich zur »zweiten Klasse«, und das seit nunmehr über fünfzehn Jahren. Dies war die Gruppe der Kaufleute. Ein Teil von ihnen mied die Börse wie die Großkaufleute und Großkapitalisten, aus der sich die »erste Klasse« zusammensetzte. Man nannte sie »die Fürsten der Börse«. Sie besuchten diese niemals selbst, sondern überließen die Arbeit zuverlässigen Maklern. Die Effekten dienten der Anlage ihrer Kapitalien, und sie waren mit dem Zinsgenuss zufrieden. Die Kurse ihrer Papiere waren ihnen in der Regel gleichgültig. Magnus selbst kaufte und verkaufte Aktien wie andere Waren. Als Makler bevorzugte er die »Bären«, die Pessimisten, die auf fallende Kurse setzten.

»Geboren wirst du als Bulle und sterben wirst du als Bär!« hatte ihm 1837 Leone Levi bei seinem ersten Kauf von Mines-d’asphalte-de-Pyrimont-Syssel-Aktien prophezeit. Levi war einer der erfolgreichsten Broker, der an der New Yorker, Wiener und Amsterdamer Börse genauso heimisch war wie in den Kaffeehäusern Londons. Er hatte damals den entwurzelten Highlander unter seine Fittiche genommen, als dieser zum ersten mal die Change Alley betrat, um seine letzte Chance zu ergreifen …

Das Leben sollte aus Geben und Nehmen bestehen, aber in den Highlands hatten sie nur genommen. Hungersnöte und Seuchen hatten die Highlander als Schicksalsschläge hingenommen. Doch die clearances, die Vertreibungen durch englische Großgrundbesitzer und die eigenen Lairds, hatte den Clans den Todesstoß versetzt. Nur wenige hatten in ihren armseligen Hütten ausgeharrt, um als Pächter dahinzuvegetieren, stets dem unbarmherzigen Druck der Schafzüchter ausgesetzt. Und die anderen, die nicht als Krämer und Wanderarbeiter geendet hatten oder hinter den mechanischen Webstühlen und in den neuen Eisenhütten von Glasgow verschwunden waren, zog es mit Macht und verführt von den Vertreibungsprämien der Highlands and Islands Emigration Society in die Neue Welt, um ihr Glück zu suchen.

Magnus Mackay hatte sein Glück in London gesucht, in der Change Alley, doch ohne Leone Levi hätte er es nie zu fassen bekommen. Die Wende war gekommen, als er sich auf der Straße nach etwas Blinkendem gebückt hatte – einem Shilling, der in der Gosse gelegen hatte – und dabei fast mit dem Juden zusammenstieß, der dem gleichen Impuls folgte. Damals hatte Levi sich seiner angenommen, hatte ihm den ersten entscheidenden Hinweis gegeben. Die »Asphaltaktie« war die Vielgeküsste, war das goldene Kalb in jenen Wochen, um das sich alle Klassen, alle Konfessionen scharten. Die Menge spekulierte damals à la hausse, als wäre sie im Wahn …

Leone Levi hatte ihn damals eindringlich gewarnt, als er zum ersten mal seinen Fuß in die City setzte: »Zügle die unmäßige Gier! Sie frisst nicht nur die berufsmäßigen Makler, Händler und Spekulanten, sondern auch so was wie dich, der sich, statt soliden und nützlichen Gewerben nachzugehen, in Spekulationen stürzt und sich dadurch meist endgültig ruiniert.«

Magnus lernte schnell zu erkennen, dass reelle Kaufgeschäfte selten vorkamen. Dafür dominierten Differenzgeschäfte, bei denen nur fiktiv Aktien gekauft und zu einem vereinbarten Zeitpunkt wieder verkauft wurden, ohne dass die Bezahlung der vollen Kaufsumme vorlag oder überhaupt beabsichtigt war – und dies nicht nur an der Stock Exchange, der eigentlichen Börse. Magnus bezeichnete diese Art von Handel als »Geschäfte mit leeren Taschen«. Obwohl sie verboten waren, suhlten sich Makler, Händler, Spekulanten und das City-Publikum mit Wonne darin. »Warum sollte gerade die Fondsgeschäfte eine von den anderen Geschäften abweichende Behandlung erfahren?« hörte man die Verfechter der Legalisierung aller Termingeschäfte rufen. »Werden nicht fortwährend fiktive Kaufkontrakte abgeschlossen, die denen an der Fondsbörse analog sind? Unterliegt nicht Getreide, Baumwolle, Eisen und vieles andere mehr einem lebhaften spekulativen Verkehr?«

Mochten sich die Warentransaktionen dem Schutz des Gesetzes entziehen, die Fondsspekulationen und deren Ausschreitungen bewirkten eine fortwährende Schädigung der allgemeinen Moral, da kein Richter in den Lage war, die Rechtsungültigkeit eines Geschäftes zweifelsfrei festzustellen. Dies geschah nicht selten sehr zum Schaden der Makler; denn während sich gewissenlose Spekulanten für den Fall des Misslingens in der Regel durch die Uneinklagbarkeit von Forderungen bequem aus der Affäre zogen, konnten die ehrenhaften Makler sich ihrer Verpflichtungen auf diese Weise nicht entledigen.

Die Regierung scheute die klare Linie, da Maßregelungen nach Sitte und Brauch unwirksam blieben und die Angst vor dem Verlust der Autorität des Gesetzes überwog. Die Aussicht auf leichten Gewinn fegte die Furcht vor Strafen und drohenden Verlusten hinweg wie ein Orkan das Herbstlaub. So wurde die Fondsspekulation in der City zu einem unvermeidlichen Hazardspiel, dessen einziger bestimmender Faktor der Zufall war.

Obwohl Magnus Mackay Differenzgeschäfte seit seinem Glück mit den Mines-d’asphalte-de-Pyrimont-Syssel-Aktien hasste, so vergaß er nie, dass die »dritte Klasse« Schöpfer und Träger der Börsennachrichten war. Er war sich bewusst, dass sie in allen Ecken und Enden dieser Welt nach Informationen suchte, auf die er sich seit mehr als einem Jahrzehnt stützte, um selbst lukrative Abschlüsse zu tätigen.

Die wenigen Worte, mit denen sich sein erstes Effektengeschäft damals in der Alley anbahnte, hallte noch immer in seinen Ohren. Eine Aktie tönte besonders laut – vor allem Nachts in seinen Träumen. Und das seit 1837: »Ich gebe ihnen die Mines d’asphalte de Pyrimont-Syssels zum Wert von …!«

Hätte Levi ihm damals nicht geholfen, so wäre der endgültige Untergang der Mackays besiegelt gewesen. Die Familie war auseinandergerissen. Seine Töchter hatte er unter Wert verheiraten müssen. Nur seine Söhne waren ihm geblieben – bis auf Angus, den jüngsten, den er am meisten liebte und der vor ihm geflohen war …

Damals aber begann sein Aufstieg in London. Die Handschläge kurz danach waren nicht mehr zu zählen. Für die Verlierer von Differenzgeschäften war das Garraways die Teufelsgrotte der Fondsspiele, in der die Klagen, Flüche, Schreie, Ekstasen tausendfach wie durch ein Labyrinth hallten, für die Gewinner war es das sichere Leuchtfeuer – hell auf tausend Klippen …

Magnus erinnerte sich an einen weiteren Grundsatz den Leone Levi ihm wie Honig in die Furchen seines Gehirnes eingeträufelt hatte und der sein Überleben in der City garantierte:

»Die Summe der nicht wissbaren Umstände überwiegt unendlich die Summe des wissbaren.«

Levis Grundsatz wurde auch zu seinem Credo.

Der Stimmen des »Effektenrudels« brandeten bis zur Decke. Magnus ließ seinen Blick gelangweilt über alle hinwegschweifen, während die Gruppe noch unschlüssig nach einem geeigneten Tisch suchte. An der bleichen Stirn von ›Bull‹, die das Leiden der Ungewissheiten widerspiegelte, blieb sein Blick hängen. Ein verwelkter Jüngling, wie ein fleckiger Pfirsich, der schon mehrmals vom Tisch gerollt ist, ging es ihm durch den Kopf. ›Bull‹ bevorzugte noch einen rotbraunen Twine der vierziger Jahre, unter dem eine unpassende Weste, gefertigt aus einem Mackenzie-Tartan, hervorquoll. Sein Bauch war die Ursache, und dieser passte zufällig zum nichtssagenden Motto der Mackenzies: Luceo non uro, was soviel bedeutete wie: ›Ich brenne nicht, ich leuchte!‹

Trotz seiner Häme gegenüber den Mackenzies missbilligte Magnus jeden Faden davon auf dem fetten Bauch des Bullen. Er war kein Schotte!

›Bull‹ kam aus Manchester! James Kaellgren war Engländer!

Ein Frevel!

Kein Highlander käme auf die Idee, die Farben eines anderen Clans zu tragen. Magnus war sich sicher: ›Bull‹ kannte weder die schottischen Traditionen noch die Bedeutung der Tartanmuster. Hätte er sie gekannt, hätte er Mackenzie eher gegen den Tartan der Camerons getauscht; denn seinen Äußerungen nach war er Feuer und Flamme für das alte Motto der Camerons: For king and country! Doch war ihm auch dies sicher nicht bewusst. Alle anderen trugen die seit letztem Jahr beliebt gewordenen zweireihigen Sakkos: wenig tailliert und rundum sackartig geschnitten. Vielleicht waren darin Innentaschen verborgen für den Fall, dass jemals Aktienbündel in der Stock Exchange verschenkt werden sollten …

Die jungen Männer nahmen geräuschvoll am runden Zehnertisch Platz. Sie wollten Gehör finden – ein Umstand, den Magnus zeit seines Lebens äußerst zu schätzen wusste. Er ahnte, dass sie gleich loslegen würden, sich über Ereignisse der vergangenen und kommenden Tage auszulassen und ihre Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. War Magnus für den Moment glücklich, weit weg von den Geschäften gewesen zu sein, so überhörte er nun den Lärm, um sich ganz auf den Zehnertisch zu konzentrieren.

›Bull‹ fixierte die Jobber, die respektvoll ein wenig Abstand von ihm zu wahren suchten:

»Keine Kontrakte! Und was bedeutet das, ihr geeks?«

Das allein war schon eine Unverschämtheit, denn geek war die abwertende Bezeichnung für einen aufstrebenden Jungbroker, für die gerissenen, ausgebufften Spekulanten jedoch eine grobe Beleidigung. Servitors, novices und pupils waren weitere, aber geduldete Bezeichnungen für Jungbroker, die sich offen mit der Faust auf der Straße gegen diejenigen wehrten, die geek allzu oft über ihre Lippen ließen. Betretenes Schweigen herrschte daraufhin für einen Moment am Tisch, das gebrochen wurde durch den servitor John Keyworth. Er überriss die Situation am Tisch nicht, wetzte unruhig auf dem Stuhl hin und her und stieß nach einigem Zögern heftig hervor:

»Einige sind seit heute durchgedreht, verbrannt und begraben!«

Kaum hatte er die Worte hervorgepresst, brach der Damm der Zurückhaltung unter den anderen:

»Die Liquidität wird rasant kippen. Und ohne Liquidität haben viele Anleger für uns nur noch einen Tritt in ’n Arsch übrig!«

Sofort sprudelten am Tisch Argumente und Ansichten zwischen den Jungbrokern und den Händlern durcheinander:

»Das hat uns allen dieser Lesseps eingebrockt!«

»Ich will, dass der Kerl als Leiche den Nil runterschwimmt!«

»Einverstanden!«

»Das gibt Aufruhr in den teuren Kakerlakenpalästen rund um Grosvenor Square und die City!«

»Dann bringen wir eben die Kanalaktien unter die Leute! Ihr werdet sehen …«

»Da wird nichts daraus!«

»Ich hab’ das Gefühl, eine Klippe runterzurutschen …«, bemerkte Händler David Scott, der älteste unter ihnen. Gleich darauf legte ihm Pratt Jenkins, der »Bär«, die Hand auf die Schulter und bremste damit das Durcheinander.

»David, du boy plunger«, mischte ›Bull‹ sich ein, womit er sich schon wieder eine ausgewachsene Beleidigung leistete, »du läufst doch seit Tagen wie ein Blinder ohne Stock herum. Wo war das versprochene anlegefreudige Publikum?«

Scott sah den Hünen sauertöpfisch an.

»Was glotzt du so?« reizte dieser ihn weiter. »Du solltest endlich auf die besseren Informationen in der City achten. Ansonsten kannst du dein Geld schneller am Spieltisch verlieren.«

»Er verspielt sein Geld lieber mit Frauen!« rief der jobber Paul Sarnoff schadenfroh dazwischen.

Die Runde grölte vor Vergnügen.

»South-Eastern, Lancashire & Yorkshire waren doch gut gezeichnet!« versuchte sich Scott gegen die Anwürfe zu wehren.

Der ›Bear‹ höhnte ihn: »124 ¼ bis 124 ¾! Was ist das schon?« Etwas gemäßigter fuhr er fort: »Eisenbahnaktien sind derzeit nicht gut. Und wenn schon, dann bitte nur Obligationen. Morgen sind Midland und vor allem Great Eastern gefragt. Besser aber, du schließt British Mines ab!«

»Was empfiehlst du?« fragte der zweite jobber in der Gruppe, Lionel Robbins, mit knarrender Stimme zurück.

»Das sagt dir ›Bear‹!«

Jenkins hüllte sich in düsteres Schweigen. Seine Augen waren starr auf die Mitte des Tisches gerichtet. Immer wenn Magnus die beiden, ›Bear‹ und ›Bull‹, anschaute, hatte er einen Moment lang das Gefühl, doppelt zu sehen. Beide waren großgewachsen, ausgestattet mit beachtlichen Nasenlängen, Henkelohren und um die Augen Tränensäcke der zu früh Gealterten.

»Warum antwortest du nicht?« ›Bull‹ stieß ihn an der Schulter.

»Du bist ein geborenes Schwatzmaul!« zischte ›Bear‹ zurück.

»He, he! Wir haben uns zusammengesetzt, weil wir miteinander schwatzen wollten, und nun willst du kein Wort herauslassen? Warum bist du dann überhaupt mitgegangen?«

Jenkins wand sich, atmete tief durch, dann knallte er die Faust auf den Tisch und presste heraus: »Ich mag nicht, wenn jemand verspottet wird …«

»Nein, nein! Niemand wird verspottet, James«, versuchte ihn ›Bull‹ zu beschwichtigen. »Ich wollte das nicht …« Übertrieben sanftmütig, mit dem Schmelz einer Chopin-Etüde in seiner Stimme lockte er den »Bären«: »Was wir brauchen, sind deine Tipps für morgen. Wir wissen, dass du ein genialer Broker bist.«

Keiner am Tisch wagte ein weiteres Wort. Nach einer kurzen Pause setzte ›Bull‹ nach: »Und nun zier dich nicht. Sieh nur, wir geben uns deinen Belehrungen völlig hin!«

Der Bär ließ sich die Ketten anlegen. Er ging brav in die vorgegebene Richtung: »British Mines!«

»Und welche?«

»South Caradon und West Seton!«

»West Seton gehen in Ordnung. South Caradon werden bei 345 stagnieren. Bis Dezember wird sich das nicht ändern!« mischte sich eine andere Stimme mit unverkennbarem Brooklyn-Akzent dazwischen.

Isaac Cohn, den sie in der City wegen seiner Geriebenheit und Klarheit den »Doktor« nannten, griff in die Diskussion ein. Ein kluger, gerissener Börsianer, der alle Kniffe der Alley beherrschte, der die Dinge durchschaute. Ein Fehler, den kaum einer verzieh. Zudem war er Jude, ausgestattet mit einem verlogenen Charme und dazu hässlich wie die Nacht. Schön wurde er erst mit seinen Erfolgen, erarbeitet durch kalkulierte Herausforderungen, indem er seine Geschäfte auszureizen verstand wie kein anderer.

Fragte man ihn nach seinem Erfolgsrezept, dann ergoss sich ein Schwall von nichtssagenden Kürzeln. »Die Witterung behalten. Das Gegenteil von dem tun, was einem gerade vorschwebt. Den Fluss nicht umlenken wollen, sondern den Kahn darin steuern.« Er stand auf der Kommandobrücke und ließ seine armseligen jobber Tag und Nacht die Kessel heizen. Aber seine Wettervorhersage, was die Kurse von morgen betraf, war immer richtig gewesen. Was ihn auszeichnete, waren die zwei wertvollsten Eigenschaften der Börsenmakler, die er auf das genialste verband: Er besaß beides, Bullenhörner und Bärentatzen!

Was für eine Verschwörung, ging es Magnus durch den Sinn. Es ist unbegreiflich! Alle Regeln gelten nicht mehr!

»British Mines! British Mines! Unsinn! Nur American Railways sind für die nächsten Wochen von Bedeutung.« versuchte ›Bull‹ seine Kompetenz herauszustreichen. »Aber bitte, wenn der Baissier und der ›Doctor‹ es so sehen wollen …«

Die Jungbroker am Tisch reagierten sofort und plapperten überschäumend ihr Wissen über den Tisch:

»Ich tippe auf Atlantik & Great Western, N. Y.!«

»Ach was! Nur Bonds der Marietta & Cincinnati Railways kommen in Frage!«

»Am schnellsten steigen zur Zeit die New York Central $ 100 Shares; 90 zu 100 standen sie gestern …«

»Mit 5,1 Prozent durchschnittlicher Verzinsung sind unsere Eisenbahnobligationen derzeit mit Abstand die ertragreichsten Papiere. Im fernen Westen dagegen gibt es nichts Neues!« stoppte der ›Doctor‹ das Durcheinander. »Die Papiere werden dort die Grenzen der Vernunft nicht überschreiten. Jedenfalls bis Ende des Jahres nicht. Amerika mit seinen Banditen und Wilden hatten noch Jahre für seinen sinnlosen Bürgerkrieg zu bluten. Eher versinkt England im Meer, als dass hier am Tisch etwas Gewinnträchtiges über American Railways gefunden wird. Und außerdem, wer kauft schon Aktien von einem Kontinent, der in seiner Entwicklung weit hinter Australien liegt? Daran orientieren sich nur boy plungers und semisuckers!«

Anscheinend hielt er die Vermutungen der Jungbroker für eine Räuberpistole. Oder wollte er nur von den guten Papieren der American Railways ablenken? Durch den Zigarrenrauch, in den er sich trotz Dauerhustens einnebelte, sah Magnus nur schemenhaft Habichtnase und Spitzkinn, während der ›Doctor‹ arrogant verkündete:

»Es bereitet mir wenig Spaß, mich vor Ihnen zu produzieren. Aber ich bin heute guter Laune und will Ihnen etwas verraten.«

Daraufhin rückten die Börsenspieler, die Ohren spitzend, näher an den Tisch heran, während der ›Doctor‹ lässig seine Füße ausstreckte. Auch ›Bull‹ und ›Bear‹ gingen etwas näher an den Tisch heran. Für Magnus war es ein untrügliches Zeichen, dass auch er besser die Ohren spitzen sollte.

»Was darf ich den Herren bringen?« unterbrach der Kellner die eingekehrte Stille. Damit hatte er den Zeitpunkt richtig abgewartet, um eine Bestellung entgegennehmen zu können.

»Gunpowder für alle! Und einmal Kaffee mit Haut für mich!« entschied ›Bull‹ ungehalten für die Runde am Tisch. Er selbst ließ sich gern den Kaffee mit Milch servieren, so dass sich beim Abkühlen eine Schicht darauf bildete. Nachdem sich kein Widerspruch regte, forderte er den ›Doctor‹ auf: »Also beginnen Sie!«

Dieser ließ sich etwas mehr Zeit als nötig, begann dann jedoch konzentriert:

»Nur wer die Entwicklung einer Sache auf mehrere Jahre voraussehen kann, kann davon viel profitieren. Es gibt ein Projekt, das vielversprechend in die Zukunft weist …« Eine weitere Pause ließ die Ohren der Zuhörer wachsen. Der ›Doctor‹ hatte sie nun am Haken und kostete es aus, sie zappeln zu lassen:

»Gentlemen, es ist der Kanal. Nur wer auf Ägypten, Paris und den Suezkanal setzt, der wird in Zukunft fette Spekulationsgewinne einsacken können.«

»Ach was? Ihr Tipp ist ja enttäuschend, ›Doctor‹!« unterbrach ihn ›Bull‹ augenblicklich. »Wie ich gehört habe, hat der Vicomte de Lesseps die Baukosten seines Kanals ursprünglich auf rund 160 Millionen Francs geschätzt – in Wirklichkeit überschritten sie, wenn meine Informationen stimmen, die kalkulierte Summe um knapp das Dreifache. Zudem rechnete er mit einer Bauzeit von fünf Jahren – und was glaubt ihr, wie lange sie tatsächlich dauerte?« Er blickte in die Runde, um sich die Antwort abzuholen:

»Mindestens doppelt so lange!« antwortete ihm Harry Frost mit leuchtenden Augen.

»Sehr gut! Und nun zum springenden Punkt, meine Freunde. 400.000 Aktien im Gesamtwert von 200 Millionen Francs wurden ausgegeben, von denen jedoch nur 286.000 gezeichnet wurden. Wenn der ägyptische Vizekönig und das französische Parlament nicht im Laufe der Jahre weitere 214 Millionen beschafft hätten, dann wäre dort heute noch Wüste. Das geringe Interesse an den Aktien zeigt uns, dass das ganze Kanalprojekt nicht funktioniert, weil es nicht funktionieren kann. Der Kanal wird die Pleite des Jahrhunderts werden!«

»Und was funktioniert daran nicht?«

»Ganz einfach: Es glaubt keiner daran, dass neben ein paar Küstendampfern und einigen Daus sonst noch etwas darin baden wird. Die Clipper brauchen Wind und nochmals Wind – und diesen stetig. Das Mittelmeer gibt ihn nicht her. Die Dampfschiffe benötigen außerdem auf diesen großen Strecken ein sicheres Netz von Kohledepots, und das möglichst bis nach Hongkong! Da diese bis heute nicht existieren, ist hinter dem Kanal das Ende schon gekommen.«

»Wie steht es mit den Wasserpegeln?« versuchte Jungbroker Harry Frost ein weiteres Mal zu beweisen, dass er über alles im Bilde war. »Es heißt doch, dass der Spiegel des Roten Meeres mehr als neun Meter höher liegen soll als der des Mittelmeeres! Es soll beim Fluten zur Katastrophe kommen.«

»Und ich frage mich«, klinkte sich John Keyworth, ein anderer Jungbroker, hastig ein, »warum wir überhaupt einen solchen neuen weltpolitischen Ansatz gegenüber dem alten Rivalen Frankreich widerstandslos hingenommen haben.«

»Hört, hört! Weltpolitischer Ansatz …?« höhnte die Runde.

»Nein, nein! Das ist alles ausnahmslos dicke Londoner Nebeltaktik«, beschwor ›Bull‹ die Männer am Tisch. »Unsere Regierung wollte diesen Kanal ganz einfach nicht, und unser Gesandter Stephenson sollte im Gegenzug eine von uns gelieferte und mit Kohle versorgte Eisenbahn vor Ort durchsetzen. Das wäre eine echte Lösung des Problems gewesen, denn der Kanal wird nie rentabel sein. ›Bear‹ kann auf Baisse spekulieren. Die Kanalaktien werden sinken wie der Wasserpegel bei St. Malo zur Ebbe. Kurzum, liebe Freunde, das Ganze geht bankrott, bevor das nächste Jahr seiner Vollendung entgegensieht.« Herablassend richtete er sich an Isaac Cohn: »›Doctor‹, ich kann Ihre Auffassung über die Kanalaktien daher nicht teilen.«

Dieser ließ sich nicht provozieren, sondern entgegnete überlegt: »Mr. Jenkins, das Ziel benötigt die Vision, die euch allen fehlt. Ihr werdet daher die großen goldenen Spielbretter der Welt nie betreten. Ihr lebt und liebt die Zufälle des Heimfelds. Ich will euch davon nicht abbringen, aber tut nicht so, als würdet ihr auf eurem Platz vom Sitzen aus das völlig neue Spielbrett des Nahen und Fernen Ostens verstehen.«

»Wenn alles so einfach ist, warum dann die ganze Aufregung heute in der City?« griff nun ›Bear‹ in die Diskussion ein.

»Leicht zu erklären, ›Bear‹!« riss ›Bull‹ gereizt erneut das Wort an sich. »Es gibt allzu viele Idioten, die dem Kanal aufgrund der rein rechnerischen Verkürzung der Seerouten nach Indien, Australien und China eine rosige Zukunft voraussagen. Das geht hauptsächlich gegen England, seine Clipper und damit gegen unsere besten Werften und Schiffbauer. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Millionen werden dort unten weiter in den Kanal geschaufelt. Ein Pharaonengrab, randvoll gefüllt mit Francs. Der Suezkanal ist jetzt schon für Ägypten und Frankreich ein wirtschaftliches Fiasko. Obwohl ein großer Teil unserer Regierung und ein noch größerer Teil der Unternehmer und die besten Händler der Mincing Lane es richtig sehen, werden morgen die Investoren und Anleger panikartig reagieren. Beides zusammen erzeugt keine gute Stimmung in der City.«

›Bear‹ strich sich über das Haar, danach knetete er sein Kinn. Sein Blick wanderte zum ›Doctor‹, der sich jedoch zurückhielt.

»Wenn nun alles eine grandiose Täuschung ist, ›Bull‹?« sagte er. »Was ist wenn du dich irrst? Was wird, wenn alle Welt ab morgen nur noch den Kanal benutzt?«

»Wart’s ab! Sicher ist, die Clipper werden das Mittelmeer meiden wie die Pest. Lass sie es meinetwegen mit Dampfern probieren, dann ist bei Aden der letzte königlich-britische Kohlebunker erreicht. Den Rest überlasse ich deiner Phantasie.«

Lionel Robbins, der Spekulant, hob mit sorgenvoller Miene höflich die Hand als Zeichen dafür, dass er eine Frage stellen wollte.

»Auf was nun sollen wir morgen setzen?«

»Auf alles was mit Clipper, Clipperwerften und Frachten in Verbindung steht, du semisucker!« schleuderte ›Bull‹ ihm entgegen. »Sonst wirst du abgeschossen. Werde endlich zum Wolf! Die Lämmer an der Börse, die es nicht glauben, wollen von dir und mir geschoren oder geschlachtet werden. Sie betteln geradezu darum. Gib ihnen die Sicherheit, dass ihre Wolle gebraucht wird, und sei überzeugt vom baldigen Versanden des Suezkanals!«

Im selben Moment flog erneut die Glastür auf. Magnus Mackay sah eine Horde von Männern, die wie ein Hurrikan ins Garraways hereinwirbelten und auf die leeren Tische zustürzten. Mitten im Auge des Hurrikans entdeckte er Malcolm, seinen treu ergebenen Diener, mit der emporgereckten rechten Hand die Times umklammernd.

III.

Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, die Change Alley münde als Rennstrecke direkt in das Garraways. Eine Woge von Menschen ergoss sich über die Teppiche und brodelte zwischen den Tischen dahin. Wie auf ein Signal hin begann ein Wettrennen zu den letzten freien Stühlen. Die erste Welle schwappte darüber hinweg und brach sich bei den Stehplätzen der langen Theke wie an einer felsigen Steilküste. Die zweite prallte schon am Eingang auf die stehende Masse Mensch, als wären sie Wellenbrecher im Sturm.

Schrill und grell drang ein Chor von Stimmen vom Eingang herüber an Magnus Mackays Ohr:

»Raus! Alles raus, was nicht hineingehört, ihr Kröten! «

»Alle Dealer und Händler raus! Solche wie euch machen wir fertig!«

»Scheißegal! Platz da! Macht Platz!«

»Was wollt ihr denn alle an dem beschissensten Ort der Welt?«

»Gleich ruf ich meinen Schläger Jerry! Kapiert ihr das? … Oder nicht?«

»Was ist dein Problem? … Was hast du ausgefressen? … Hau ab! … Nein, da hinten ist unser Tisch und den werden wir uns erobern! … Du willst ein Mörder werden, ja?«

Magnus war sich sicher: Mincing Lane gemischt mit Leadenhall, das Ganze garniert mit Docksleuten.

Durch das Menschengewühl hindurch sah er, wie ›Bull‹, vor Wut schnaubend, von zwei weiteren Brokern samt seinem gekippten Stuhl über den Teppich zur Theke hinüber geschleppt wurde. Es schien, als wäre er mit Stricken an seinem Stuhl festgebunden, denn geschickt hinderte ihn ›Bear‹ am Abspringen. Sein Freund packte ihn an der Schulter und presste ihn fest auf den Stuhl. Bullen- und Bärenhatz lösten zu dieser Stunde nicht selten die corridas der Börsenspieler ab. Das Herz konnte einem stocken vor der erdrückenden Masse Mensch, die jede Gemütlichkeit aus dem Garraways vertrieb.

Magnus selbst tat, als kümmere ihn das alles nicht. Entspannt ruhte er zurückgelehnt in seinem Sessel und beobachtete das wüste Treiben. Er spürte den Zeitgeist eine neue Richtung einschlagen. Er fühlte sich bestätigt: Immer gegen den Strom schwimmen! Das, woran alle glauben, damit werden Vermögen verspielt …

»Sir, Ihre Times!«

Budd Malcolm, sein Lakai, stand plötzlich wie eine Basaltsäule rechts neben dem Sessel.

Magnus blickte langsam zu seinem virtuosen Diener hoch: »Du musst dich ja wie ein Zirkusartist durch das Lokal geschwungen haben.«

Und als ob jener gerade zu dieser Stunde Audienz im schottischen Schloss seines Herrn hätte, so ehrfurchtsvoll überreichte er diesem die Zeitung mit den Worten: »Heute ist sie Ihr Glaubensträger, Sir.«

»Dann werden die Nachrichten wohl in Stahl gestochen sein, mein lieber Budd« antwortete er diesem in wohlwollendem Ton, »wie es einer Bibel angemessen ist.« Sein Auge fixierte den obersten Rand:

THE TIMES

Friday, November 19, 1869

Eilig überblätterte er die langen Spalten der Rubriken MONEY-MARKET & CITY INTELLIGENCE, ignorierte den geliebten COTTON REPORT und nahm weder Rücksicht auf den TRADE REPORT noch Kenntnis von den Kommentaren und langen Tabellen der RAILWAY, MINING, AND OTHER SHARES. Seine Augen flogen die Spalten hinab und hinauf. Plötzlich umkrallten seine Hände die Seiten fester und zogen sie zum Zerreißen stramm:

»Den Tisch beiseite! Die Kerze! Das Pult näher!« erging der Befehl an Malcolm. Sein Diener verschaffte ihm mit kundiger Hand die gewünschte Leseposition. Magnus Augen gingen näher an das Gedruckte heran. Er begann dort zu lesen, wo der Abschnitt mit den Worten begann: »M. De Lesseps is a man of genius …«

Monsieur de Lesseps ist ein Genie. In der Verfolgung seiner großen Idee hat er einen unbezwingbaren Geist der Zähigkeit gezeigt. Entmutigung hat er nie gespürt. Müdigkeit hat er nie gekannt. Bei seinem Fortschreiten hat er nie eine Pause eingelegt. Und so wie er bisher gewesen ist, so scheint er auch jetzt zu sein, wo seine Arbeit in allen wesentlichen Aspekten vollzogen ist und zur Ruhe einlädt.

Am Mittwoch Abend gab es hohen Pomp und Festivität in Ismailia. Der Traum von Jahren war Wirklichkeit geworden. Die Schiffe zweier Ozeane trafen sich in dem Seehafen inmitten der Wüste, nachdem sie infolge ihrer doppelten Reise die Landenge von einem Ende bis zum anderen durchquert hatten. Eine zahlreiche Flotte brachte kaiserliche, königliche und illustre Reisende aus dem Mittelmeer zu diesem Rastpunkt auf der halben Strecke zwischen den beiden Meeren. Gleichzeitig mit diesen kam vom Golf von Suez eine Gruppe von Ozean-Dampfschiffen. Die Durchfahrt des Kanals war damit vollzogen. Die Behauptungen, die mit so großer Zuversichtlichkeit bis zum Vorabend des Mittwochs wiederholt wurden, dass noch viele Monate vergehen und riesige Summen noch ausgegeben werden müssten, ehe die Durchfahrt gemacht werden könnte, wandten sich zum Misskredit ihrer Autoren als die Vorhut der beiden Flotten einander auf dem See Timsah salutierten. Der Triumph von M. de Lesseps war damit vollkommen.

Aber selbst in der Stunde seines Ruhmes blieb M. de Lesseps seinem Charakter treu. Inmitten des Jubels und der Danksagungen wandte sich der Planer des Kanals von dem ab, was bereits erreicht worden war, um die Hindernisse zu kritisieren, die dem Wohlergehen seiner Arbeit noch im Wege stehen. Die Feindschaft der Natur war besiegt worden. Die Schwierigkeiten der mechanischen Wissenschaft waren überwunden worden. Die Eifersucht und Intrigen kurzsichtiger Politiker waren vereitelt worden. Aber es blieben noch immer, sagte M. de Lesseps, Hindernisse für seine Unternehmung. Die europäischen Großmächte – sicher ohne die Absicht, ein solches Resultat hervorzurufen – verhinderten die Entwicklung des Kanals und lähmten die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft, indem sie die Eigenrechte vorbehielten, die ihnen in den Territorien des Sultan konzediert worden sind. M. de Lesseps rief zur Zusammenarbeit aller Männer des öffentlichen Lebens im ganzen Christentum, um Druck auf die jeweiligen Regierungen auszuüben und sie dazu zu bewegen, einer Abänderung ihrer Rechte zuzustimmen.

»Die Ecksteine der Existenz werden neu gesetzt«, dachte sich Magnus bei der eben gelesenen Hymne auf den Franzosen. Ein Schmunzeln umspielte für einen Augenblick seinen Mund. Das Lächeln war gleichzeitig Ausdruck seiner Bewunderung für die Formulierungskunst der Times:

Wenn uns die Feststellung etwas überrascht, dass sich die französische Regierung am hartnäckigsten gegen irgendeine Änderung des Systems sträubt, dürfen wir diese Aussage vielleicht mit einiger Genugtuung hinnehmen, da sie uns von irgendeinem besonderen Feindseligkeitsgefühl gegenüber dem Erfolg des Kanals freispricht.

»Haha«, feixte Magnus in seinem Sessel laut. »Da hatte der Schreiber wohl große Mühe, die eigenen Fehler von Parlament und Krone einzugestehen und zugleich seiner Hoffnung auf den wirtschaftlichen Misserfolg des Suezkanals Ausdruck zu verleihen!«

Malcolm sah verdutzt, hatte er seinen Herrn doch selten so gelöst erlebt.

»Das kann nicht alles sein!« bemerkte Magnus mit ernst gewordener Miene. Er wusste, das die offizielle politische Einschätzung der Eröffnung des Suezkanals und die daraus resultierenden Konsequenzen in der Times immer an anderer Stelle zu suchen waren. Magnus fieberte die folgenden Spalten entlang, dem Unbestimmten entgegen. Einige Seiten weiter fand er, was er suchte. Wiederum begann er angestrengt zu lesen:

Vor drei Tagen informierten wir die Öffentlichkeit, dass die Britische Admiralität sich dazu entschlossen hatte, bei den Kampfschiffen der Zukunft auf Masten, Segel und Takelage zu verzichten und sich zum Zwecke der Fortbewegung allein auf den Dampfantrieb zu verlassen.

Gestern hat unserer Amerika-Korrespondent berichtet, dass die Regierung der Vereinigten Staaten zu einer Resolution genau entgegengesetzten Charakters gekommen war und entschieden hatte, ihre Kriegsschiffe wieder zu vollausgestatteten Segelschiffen zu machen. Da die Amerikaner im Rufe einer größeren Weisheit in Sachen Marinenverwaltung stehen, wird man sich natürlich fragen, welches Land in einer so wichtigen Frage recht hat und welches nicht und ob unsere Verantwortlichen gute Gründe für das System haben, das sie bevorzugen …

Magnus senkte die Zeitung. Seine Vermutungen wurden bestätigt. Er fühlte sich wie in einem Theater, gleichzeitig als Zuschauer und als Akteur. Am liebsten hätte er seine Entdeckungen und die Erkenntnisse daraus laut hinausgeschrien.

Was für ein Ereignis! Was für eine Niederlage und bittere Erkenntnis für England. Sie opfern die Beweglichkeit der Sicherheit. Rule Britannia! Das war einmal. Denn wenn England nicht mehr in der Lage war, jederzeit rasch und entschieden mit militärischer Stärke auf allen Weltmeeren einzugreifen, dann bedeutete dies den Anfang vom Ende des Britischen Empire.

Es fiel ihm schwer, sich zu zügeln. Verächtlich blickte er auf das Treiben vor seinem Thron. Die Brut von Spekulanten, Börsen-, Schiffs-, Dock- und Handelsherren waren für ihn alles Schlafwandler, die vor Angst bebten, sie könnten zur Unzeit erwachen. In seinen Augen verdiente die Zwangsgemeinschaft jedoch das Erwachen nicht. Magnus las noch einmal den ersten Satz. Er war für ihn eine Offenbarung.

Im gleichen Augenblick verspürte er die unauslöschliche Sehnsucht, die vor gut zwei Jahren wieder aus allen Organen hervorgekrochen war und seine Seele immer stärker quälte. Es war die Sehnsucht nach der Heimat. Das Verlangen und der heißersehnte Wunsch, die ganze Familie wieder dort zusammenzuführen, woher sie gekommen waren: Angus, seine Brüder Kenneth und Morgan, deren Familien und die verstreuten Familien seiner drei Töchter Mistress, Florence und Catherine. Je mehr sich sein Körper dem Grab zuneigte, um so unerbittlicher geißelten den alten Mann die Nacht- und Tagträume. Das Leben flutete von ihm weg. Der Lebensstrand war seicht geworden. Er sah den Ort, an dem all seine Sehnsüchte und Wünsche gestillt werden konnten. Die Bilder schoben sich in den letzten Jahren unerbittlich klar und immer häufiger vor sein Auge. Eines davon sah er am deutlichsten vor sich: das Loch Assynt …

Doch das Licht, in dem er das Ardvreck Castle, das Scoury House, das Wasser und die Berge sah, war kalt, winterlich. Manchmal meinte er anmutsvolle Engel zu sehen, wie sie durch die Schatten der Nebel glitten – immer hin und her zwischen der Feste und dem Haus, als könnten sie sich nicht entscheiden, wohin sie gehörten –, mal waren es Gespenster. Die Vergangenheit ließ nur Seufzer durch die Zeiten branden. Manchmal hörte er sich im Traum die Namen seiner Söhne schreien. Doch von den steilen Wänden hallte ihm immer nur sein eigener Name entgegen: Mackay! Magnus Mackay! Er kämpfte gegen die Klänge an, wehrte sich verzweifelnd gegen die Schritte, die ihn immer näher an die Gestade der Ewigkeit heranführten, bis er mit rasendem Herzklopfen aufwachte, das Kissen mit den Händen fest umklammert …

Magnus spürte, wie die Sehnsucht aus dem Brustkorb heraufkroch, die Kehle zusammenschnürte und die Augen feucht werden ließen.

»Sir? Sir! Fühlen Sie sich nicht wohl?« vernahm er von weit her Malcolms Baß.

»Es … Es ist … schon gut, Buddy.«

Malcolm beugte sich tief an das Ohr seines Herrn. »Ich wollte Sie bei der Lektüre nicht stören, Sir. Aber … ein Brief aus Glasgow …«

Magnus rutschte auf die Vorderkante seines Sessels. Er nahm den Brief aus Malcolms Hand. Er las zunächst den Absender: Angus Mackay, Glasgow.

Sein Herz pochte im Hals. Er fetzte das Siegel auf. Seine Hände begannen zu zittern. Still las er Zeile für Zeile. Nach wenigen Augenblicken lehnte er sich ganz langsam zurück in seinen Sessel, faltete den Brief fast andächtig und blickte starr durch die hohen Bogenfenster hinaus in das trübe Grau.

Malcolm bemerkte, wie seinem alten Herrn Tränen aus den Augen quollen und über die gegerbten, faltigen Wangen hinabflossen. Erstaunt sah er herab. Derartiges hatte er in den ganzen fünfundzwanzig Jahren seines Dienstes bei dem harten Highlander nie gesehen. Stumm wartete er ab. Langsam verstand er, das was er in den letzten beiden Tagen ohne Wissen seines Herrn hatte ausführen müssen.

Magnus sprach wie zu sich selbst: »Das Himmelreich ist gekommen.« Dann blickte er zu Budd auf. »Auf nach Hause! Wir wollen packen und dann ab zur Themse!«

Zum ersten mal begann nun Malcolm das Geschehen zu bestimmen. »Nicht nötig, Sir …«, sprach er gedehnt und geheimnisvoll. »Wir lassen uns gleich zur Themse bringen.«

Die Querfurchen auf Magnus Stirn wurden zu dicken Falten. »Was erlaubst du dir!«

»Anweisungen. Alles gute und genaue Anweisungen, Sir.«

»Von wem?«

»Vom Scoury-Clan der Mackays vom Loch Assynt!«

Magnus wischte sich mit dem Jackenärmel über beide Wangen und erhob sich widerspruchslos aus seinem Sessel. Sein Blick streifte das Mahagonitablett mit dem nunmehr kalten Tee, glitt jedoch darüber hinweg, ohne etwas wahrzunehmen. Etwas unbeholfen richtete er seinen Rock, und kurz darauf hatte er sich wieder gefasst.

»Na denn!« Mit erhobener Faust rief in das Getümmel hinein: »Aus dem Weg! Manu forti! Manu forti!« Es war der alte Schlachtruf der Mackays.

Kaum war er drei Schritte zum Ausgang hin gegangen, drehte er sich um: »Nimm den Sessel mit, Malcolm!«

Die kleine Prozession bewegte sich zum Ausgang hin. Vor der Glastür hielt Isaac Cohn ihn am Ärmel fest.

»Sie haben es plötzlich sehr eilig, Mr. Mackay. Ich sah, wie Sie blätterten … Etwas Intimes in der Times?« Er stockte. Auch er begriff, dass etwas Einschneidendes passiert sein musste. Allerdings wusste Cohn über Magnus mehr, als dieser selbst ahnte: »Sie gehen nach Glasgow?«

Magnus nickte still. Isaac Cohn nahm spontan Magnus Hände und drückte sie stumm. In der offenen Tür stehend, drehte sich Magnus noch einmal um und fragte Cohn: »Können Sie mir verraten, was Sie hinsichtlich der Schiffsladungen durch den Suezkanal letzte Woche berechnet haben?«

Cohn flüsterte dem alten Highlander ins Ohr: »Ich habe gehört und berechnen lassen, dass die europäischen und amerikanischen Schiffsladungen, welche das Kap Horn und das Kap der guten Hoffnung passieren, sich auf 6 Millionen Tonnen jährlich belaufen und dass der Welthandel schon bei der Hälfte dieser Ladungen eine Ersparnis von 150 Millionen Francs erreichen würde, wenn die Schiffe ihren Weg durch den arabischen Meerbusen nähmen …

Sie werden sehen, die Zukunft des Kanals ist wolkenlos, die Gewinnspannen sind gigantisch; aber man muss abwarten können. Die Situation wird von selbst reifen!«

Magnus sah tief in Isaacs Augen, und er wusste, er sagte die Wahrheit. Nun ergriff er umgekehrt Cohns Hände. »Ich danke Ihnen!«

Auf der Change Alley blieb Magnus für einen Moment stehen, schloss die Augen und ließ im Kopf aus tausend Kehlen die Spekulantenrufe erschallen. Die Frische belebte ihn. Der Gedanke, dass er nun nach dreiunddreißig Jahren für immer von der Alley Abschied nehmen würde, stimmte ihn friedlich. Für London hatte er seine Seele hingegeben, dazu den familiären Frieden und jede Hoffnung auf ein ruhiges Alter. Er kramte einen Shilling aus seiner Tasche. Es war derselbe Shilling, den er damals fast an gleicher Stelle vom Boden aufgehoben hatte. Die Münze hatte ihm immer Glück gebracht, wenn er mit ihr – Kopf oder Zahl – die Entscheidung suchte. Er warf den Shilling im hohen Bogen hinaus auf die Alley, auf dass ihn ein anderer aufheben möge, der das Glück nötiger hatte als er.

In der Kutsche, eingehüllt in wärmende Decken, erinnerte er sich an den Tag, an dem alles begann – damals am Loch Assynt, im Scoury House, August 1830, als der »wollene Schnee« über den Canisp getrieben wurde …