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Wettlauf gegen die Zeit
Auf der von Rebellen heftig umkämpften Molukken-Insel Teranesia treten bei Tieren merkwürdige genetische Veränderungen auf, die unmöglich natürlichen Ursprungs sein können. Unter Lebensgefahr versuchen die Wissenschaftler herauszufinden, was die Ursache für diese rätselhaften Mutationen sein könnte. Wer hat die Abweichung in der DNS in die Wege geleitet und zu welchem Zweck? Als die Veränderungen schließlich auch auf die Menschen übergreifen, gerät die Lage außer Kontrolle. Gibt es in letzter Sekunde eine Lösung – oder muss alles Leben weiträumig vernichtet werden, um die irdische Ökologie zu retten?
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Seitenzahl: 460
Veröffentlichungsjahr: 2016
GREG EGAN
TERANESIA
Roman
Auf der von Rebellen heftig umkämpften Molukken-Insel Teranesia treten bei Tieren merkwürdige genetische Veränderungen auf, die unmöglich natürlichen Ursprungs sein können. Unter Lebensgefahr versuchen die Wissenschaftler herauszufinden, was die Ursache für diese rätselhaften Mutationen sein könnte. Wer hat die Abweichung in der DNS in die Wege geleitet und zu welchem Zweck? Als die Veränderungen schließlich auch auf die Menschen übergreifen, gerät die Lage außer Kontrolle. Gibt es in letzter Sekunde eine Lösung – oder muss alles Leben weiträumig vernichtet werden, um die irdische Ökologie zu retten?
Titel der Originalausgabe
TERANESIA
Aus dem australischen Englisch von Bernhard Kempen
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 1999 by Greg Egan
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Covergestaltung: Das Illustrat
Die Insel war zu klein, um von Menschen besiedelt zu werden, und lag zu weit von den üblichen Schifffahrtsrouten entfernt, um als Landmarke für die Navigation dienen zu können. Deshalb hatten die Bewohner der Kai- und Tanimbar-Inseln niemals einen Grund gehabt, ihr einen Namen zu geben. Die Herrscher von Java und Sumatra, die von den Gewürzinseln Tribut verlangt hatten, schienen nichts von ihrer Existenz gewusst zu haben; und Prabir hatte sie auf keiner der niederländischen und portugiesischen Karten ausfindig machen können, die gescannt und ins Netz gestellt worden waren. Für die gegenwärtige indonesische Regierung war sie nur ein Fleck auf der Karte von Maluku propinsi, der genauso wie tausend weitere unbewohnbare Felsen nur der Vollständigkeit halber aufgeführt wurde. Prabir hatte die Gelegenheit, die sich ihm bot, bereits erkannt, bevor sie Kalkutta verlassen hatten, und er hatte sofort damit begonnen, eine Liste aller Möglichkeiten zusammenzustellen, aber es war keine leichte Entscheidung. Erst nachdem er schon über ein Jahr auf der Insel gelebt hatte, fand er einen Namen, mit dem er zufrieden war.
Er probierte das Wort an seinen Klassenkameraden und Freunden aus, bevor er es während eines Gesprächs mit seinen Eltern fallen ließ. Sein Vater hatte anerkennend gelächelt, doch dann hatte er Bedenken angemeldet.
»Warum Griechisch? Wenn du keine einheimische Sprache verwenden möchtest … warum nimmst du dann nicht Bengali?«
Prabir hatte ihn verwirrt angestarrt. Namen klangen blöde, wenn sie auf Anhieb zu verstehen waren. Warum sollte man sich mit einem lahmen Großen Fluss begnügen, wenn man einen majestätischen Rio Grande haben konnte? Das hätte gerade sein Vater am besten verstehen müssen. Denn Prabir war doch nur seinem Beispiel gefolgt.
»Aus demselben Grund, aus dem du dem Schmetterling einen lateinischen Namen gegeben hast.«
Seine Mutter hatte gelacht. »Jetzt hat er dich kalt erwischt!« Und sein Vater hatte sich schließlich gefügt und Prabir emporgehoben, um ihn durch die Luft zu wirbeln und zu kitzeln. »Also gut, also gut! Teranesia!«
Doch das war noch vor der Geburt von Madhusree gewesen, als sie selbst noch gar keinen Namen gehabt hatte (abgesehen von der viel zu wörtlichen ›versehentlichen Beule‹). Schließlich stand Prabir also am Strand, hatte seine Schwester hochgehoben, drehte sie langsam herum und sang: »Teranesia! Teranesia!« Madhusree starrte nur auf ihn und interessierte sich mehr dafür, wie er dieses seltsame Wort aussprach, als für das Panorama, das er ihr eigentlich zeigen wollte. War es normal, bereits im Alter von fünfzehn Monaten kurzsichtig zu sein? Prabir beschloss, sich darüber sachkundig zu machen. Er ließ sie ein Stück herunter und küsste schmatzend ihr Gesicht, dann taumelte er und hätte beinahe die Balance verloren. Sie nahm schneller an Gewicht zu, als sich seine Kraft entwickeln konnte. Seine Eltern behaupteten, gar nicht mehr an Kraft zuzunehmen; trotzdem weigerten sich inzwischen beide, ihn wie früher aufzuheben.
»Die Revolution wird kommen«, sagte Prabir zu Madhusree und überprüfte den blendend weißen Sand auf Muscheln oder Korallen, bevor er sie absetzte.
»Was?«
»Wir werden unsere Körper neu designen. Dann werde ich immer genügend Kraft haben, um dich hochzuheben. Selbst wenn ich einundneunzig bin und du dreiundachtzig.«
Sie lachte nur, als er über diese metaphysisch ferne Zukunft sprach. Prabir war sich ziemlich sicher, dass Madhusree eine mindestens genauso klare Vorstellung von der Zahl dreiundachtzig hatte wie er beispielsweise von zehn hoch einhundert. Er beugte sich über sie, zeigte ihr achtmal hintereinander die offene Hand und dann drei Finger. Sie beobachtete ihn verunsichert, aber fasziniert. Prabir blickte in ihre pechschwarzen Augen. Seine Eltern verstanden Madhusree nicht, sie erkannten nicht den Unterschied zwischen dem, was sie für sie empfanden, und dem, was sie war. Prabir konnte es nur deshalb verstehen, weil er sich dunkel daran erinnerte, wie es bei ihm gewesen war.
»Ach, du süßes Ding!«, krähte er.
Madhusree lächelte verschwörerisch.
Dann blickte Prabir über den Strand und auf das ruhige, türkisfarbene Wasser der Banda-See. Die Wellen, die sich am Riff brachen, wirkten von hier aus recht harmlos, aber er hatte genügend übelkeitserregende Überfahrten mit der Fähre nach Tual und Ambon mitgemacht, um zu wissen, wie sehr ein stetiger Monsunwind – ganz zu schweigen von einem Sturm – das Meer aufpeitschen konnte. Teranesia wurde zwar vor der Gewalt des offenen Ozeans geschützt, doch die großen Inseln, die die Abschirmung bildeten – Timor, Sulawesi, Seram, Neuguinea – waren fern und unsichtbar. Selbst der nächste ähnlich unscheinbare Felsen war zu weit entfernt, um ihn vom Strand aus sehen zu können.
»In geringer Höhe ist die Entfernung zum Horizont ungefähr gleich der Quadratwurzel aus dem Produkt deiner Höhe über dem Meeresspiegel und dem Erdradius mal zwei.« Prabir stellte sich ein rechtwinkliges Dreieck vor, dessen Scheitel aus dem Erdmittelpunkt, einem Punkt am Horizont und seinen Augen bestand. Er hatte sich diese Funktion von seinem Notepad darstellen lassen und kannte inzwischen viele Punkte der Kurve auswendig. Die Neigung des Strandes war recht stark, sodass sich seine Augen schätzungsweise zwei Meter über dem Meeresspiegel befanden. Das bedeutete, dass er fünf Kilometer weit sehen konnte. Wenn er den Vulkankegel Teranesias bestieg, bis die nächste der benachbarten Tanimbar-Inseln in Sicht kam, konnte er anhand der Höhe, die er dann erreicht hatte – und die er über sein Notepad vom Satelliten-Navigationssystem abfragen konnte –, genau berechnen, wie weit die Inseln entfernt waren.
Aber er wusste die Entfernung längst von Landkarten: fast achtzig Kilometer. Also konnte er die Formel umdrehen und sie dazu benutzen, um seine Höhe über dem Meeresspiegel zu bestimmen. Der niedrigste Punkt, von dem aus er Land sehen konnte, lag bei fünfhundert Metern. Er würde die Stelle mit einem Stock im Boden markieren. Prabir wandte sich dem Zentrum der Insel zu, dem schwarzen Gipfel, der knapp über die Kokospalmen hinausragte, die den Strand säumten. Es würde bestimmt ein langer Aufstieg werden, vor allem, wenn er Madhusree die meiste Zeit tragen musste.
»Möchtest du zu Ma?«
Madhusree verzog das Gesicht. »Nein!« Normalerweise konnte sie nie zu viel von Ma bekommen, aber sie wusste genau, wenn er sie nur abschieben wollte.
Prabir zuckte die Achseln. Er konnte das Experiment auch noch später durchführen; es lohnte sich nicht, deswegen einen Wutanfall zu riskieren. »Willst du vielleicht schwimmen gehen?« Madhusree nickte begeistert und rappelte sich auf, dann lief sie mit unsicheren Schritten zum Wasser. Prabir ließ ihr ausreichend Vorsprung, dann stürmte er laut grölend über den Sand hinterher. Sie warf ihm einen verächtlichen Blick über die Schulter zu, fiel hin und stand wieder auf. Prabir lief im Kreis um sie herum, während sie ins seichte Wasser watete. Seine Füße ließen das Wasser aufspritzen, aber er achtete darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen, weil es unfair wäre, ihr ins Gesicht zu spritzen. Als sie hüfttief im Meer stand, tauchte sie ein und begann mit regelmäßigen Bewegungen ihrer pummeligen Armchen zu schwimmen.
Prabir erstarrte und beobachtete sie voller Bewunderung. Es war sinnlos zu leugnen, dass auch er gelegentlich dieses Madhusree-Gefühl verspürte. Die gleiche süße Erregung, die gleiche Zärtlichkeit, der gleiche unverdiente Stolz – all die Regungen, die er auch in den Gesichtern seines Vaters und seiner Mutter beobachtete.
Er seufzte schwer und ließ sich rückwärts ins Wasser fallen. Er berührte den Boden, öffnete die Augen, um das Brennen des Salzes zu spüren und eine Weile das verschwommene Sonnenlicht zu betrachten, bevor er sich wieder erhob und sich am ganzen Körper angenehm nass fühlte. Er schüttelte sich die Haarsträhnen aus den Augen und watete dann hinter Madhusree her. Das Wasser reichte ihm bis zu den Rippen, als er sie eingeholt hatte. Dann schwamm er an ihrer Seite weiter.
»Alles in Ordnung?«
Es war unter ihrer Würde, ihm darauf eine Antwort zu geben. Stattdessen warf sie ihm wegen dieser indirekten Beleidigung einen bösen Blick zu.
»Schwimm nicht zu weit hinaus.« Wenn sie allein waren, galt die Regel, dass Prabir noch Boden unter den Füßen haben musste. Es ärgerte ihn ein wenig, aber die Aussicht, eine strampelnde und kreischende Madhusree in Sicherheit bringen zu müssen, war wesentlich unangenehmer.
Prabir hatte seine Taucherbrille zu Hause gelassen, aber er konnte trotzdem sehr viel im klaren Wasser erkennen, wenn er den Kopf hoch genug emporreckte. Wenn er innehielt, damit der Schaum und die Turbulenzen, die er verursachte, verschwanden, konnte er beinahe die Sandkörner auf dem Meeresgrund zählen. Das Riff lag immer noch hundert Meter voraus, aber unter ihm befanden sich bereits dunkelrote Seesterne, Schwämme und einsame Seeanemonen, die sich an Korallenbruchstücke klammerten. Dann entdeckte er ein konisches gelb und braun gefärbtes Schneckengehäuse, das so groß wie seine Faust war, und tauchte, um es aus der Nähe zu betrachten. Im Wasser wurde alles wieder verschwommen, und er musste mit dem Gesicht beinahe den Boden berühren, um zu erkennen, dass das Gehäuse bewohnt war. Er ärgerte die bleiche Molluske mit Luftblasen, und als sie sich vor ihm zurückzog, wich auch er verlegen zurück, indem er ein paar Schritte auf den Händen ging, bevor er sich wieder aufrichtete. Er leerte geräuschvoll seine Nasenhöhlen, die voller Meerwasser waren, und drückte dann die Zunge an seinen brennenden Gaumen. Es fühlte sich an, als hätte man ihm einen Schlauch durch die Nase eingeführt.
Madhusree schwamm zwanzig Meter vor ihm. »He!«, rief er. Dann unterdrückte er seine Panik; er wollte ihr auf gar keinen Fall einen Schrecken einjagen. Er folgte ihr mit langen Schwimmzügen, hatte sie schon bald erreicht und beruhigte sich wieder. »Wollen wir umkehren, Maddy?«
Sie antwortete nicht, aber auf ihrem Gesicht erschien ein unsicherer Ausdruck, als hätte sie plötzlich das Vertrauen in ihre Schwimmfähigkeit verloren. Prabir schätzte mit einem Blick die Tiefe ab; hier konnte er auf keinen Fall mehr stehen. Er konnte sie nicht einfach schnappen und ans Ufer zurückwaten, während er ignorierte, wie sie schrie und sich wehrte.
Er schwamm neben ihr und versuchte sie in eine Kurve zu drängen, aber er hatte viel mehr Angst vor einem Zusammenstoß als sie. Wenn er sie einfach packte und herumwarf, wenn er ein Spiel daraus machte, würde sie vielleicht nicht protestieren. Er trat Wasser und streckte lächelnd die Arme nach ihr aus. Sie gab ein wimmerndes Geräusch von sich, als hätte er sie bedroht.
»Ssscht. Keine Angst.« Mit leichter Verspätung hatte auch er verstanden; ihm ging es genauso, wenn er einen Bach auf einem Baumstamm überquerte oder sich auf sumpfigem Gelände bewegte und sein Vater oder seine Mutter ungeduldig wurden und ihn festhalten wollten. Es gab kaum etwas, das einen mehr verunsicherte. Er erstarrte nur dann vor Schreck, wenn jemand ihn beobachtete oder ihn zur Eile antrieb. Allein konnte er alles vollbringen, beiläufig und ohne große Konzentration – sogar hoch über dem Boden umkehren. Madhusree wusste, dass sie umkehren musste, aber das Manöver war zu abenteuerlich, um auch nur daran zu denken.
Prabir rief erregt: »Schau nur! Draußen am Riff! Ein Wassermann!«
Madhusree folgte unsicher seiner Blickrichtung.
»Genau geradeaus. Wo die Wellen brechen.« Prabir stellte sich eine Gestalt vor, die sich aus der Brandung erhob und ein wenig Wasser von jedem Brecher stahl. »Das sind nur sein Kopf und seine Schulter, aber der Rest wird auch bald zu sehen sein. Schau, seine Arme kommen frei!« Prabir stellte sich feuchte, durchscheinende Arme vor, die sich aus dem Wasser erhoben, die Hände zu Fäusten geballt. »Ich habe ihn schon einmal gesehen, vom Strand aus«, flüsterte er. »Ich habe ihm eine seiner Muscheln gestohlen. Ich dachte, er würde es nicht bemerken … aber du weißt ja, wie sie sind. Wenn man ihnen etwas wegnimmt, finden sie einen immer.«
Madhusree war völlig verwirrt. Prabir erklärte: »Ich kann sie ihm nicht zurückgeben. Ich habe sie nicht dabei; sie ist in meiner Hütte.«
Einen Augenblick lang schien Madhusree einwenden zu wollen, dass das kein Hinderungsgrund war. Prabir konnte einfach versprechen, die Muschel später zurückzugeben. Doch dann kam ihr offenbar in den Sinn, das ein solches Geschöpf vermutlich nicht sehr geduldig und vertrauensvoll wäre.
Ihre Miene hellte sich auf. Prabir war in Schwierigkeiten.
Der Wassermann ließ die Arme sinken und stemmte sich gegen das Riff, um auch den Rest seines Körpers ins Dasein zu zwingen. Die Schmerzen der Geburt ließen ihn aufbrüllen und die glänzenden Zähne blecken.
Prabir bewegte sich nervös im Kreis. »Ich muss von hier verschwinden, bevor er seine Beine freibekommt. Wenn man sieht, wie er losrennt, ist es zu spät. Niemand hat diesen Anblick überlebt, um ihn anschließend beschreiben zu können. Kannst du mich zurück ans Ufer führen? Mir den Weg zeigen? Ich kann nicht mehr denken. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich habe zu viel Angst.«
Inzwischen hatte Prabir sich so sehr in die Phantasie hineingesteigert, dass ihm die Zähne klapperten. Er hoffte nur, dass er nicht zu weit gegangen war; Madhusree konnte ohne die geringsten Skrupel schmerzhafte Furchen in seine Haut kratzen, während sie für seine Protestschreie taub blieb. Doch genauso konnte sie untröstlich in Tränen ausbrechen, wenn ihn irgendetwas anderes quälte.
Doch jetzt starrte sie völlig ruhig auf den Wassermann und versuchte die Gefahr einzuschätzen. Sie hatte Wasser getreten, seit das Geschöpf aufgetaucht war, und sich bereits um neunzig Grad zur Seite gedreht. Und nun schwamm sie einfach los, steuerte das Ufer an und hatte alle Schwierigkeiten vergessen.
Es war harte Arbeit, Angst vorzutäuschen, ohne sie zu überholen, wenn ihre Arme nur etwa ein Viertel so lang wie seine waren. Prabir blickte zurück und rief: »Schneller, Maddy! Ich sehe schon seinen Brustkorb!« Der Wassermann hatte eine wutverzerrte Fratze und nahm allmählich die Haltung eines Sprinters vor dem Start ein. Auf die gespreizten Finger gestützt, wiegte er sich vor und zurück, um den Rest seines Körpers aus den Wellen zu zerren. Prabir sah, wie das Geschöpf tief einatmete, durch die glasige Haut das Wasser aus den Lungen presste und sich auf die Welt der Luft einstellte.
Madhusree klatschte bereits mit offenen Händen aufs Wasser, wie sie es zu tun pflegte, wenn sie müde wurde. Prabir schätzte, dass er schon bald wieder stehen konnte, aber er wollte nicht eher eingreifen, als nötig war. »Ich werde es schaffen, nicht wahr? Ich muss nur ruhig atmen und meine Finger zusammenhalten.« Madhusree warf ihm einen gereizten Blick zu, der ihn aufforderte, sie nicht zu bevormunden, und durchkämmte das Wasser auf übertriebene Weise, bis sie schließlich seinen Rat annahm und wieder Tempo machte.
Prabir hielt an und drehte sich um, damit er einschätzen konnte, wann das Geschöpf die Verfolgung aufnehmen würde. Das letzte Stadium war stets das Schwierigste, weil es mühsam war, sich festzuhalten, während man die Beine unter dem Körper anzog. Prabir schloss die Augen und stellte sich vor, er wäre der Wassermann. Er kauerte sich zusammen, die Unterarme gegen die Wellen gestemmt, und strengte sich mit dem ganzen Körper an, bis seine Muskeln eine sichtbare Welle schwappen ließen. Endlich wurde er belohnt: Er spürte die warme Luft in seinen Kniekehlen und auf den Waden. Sein rechter Fuß kam frei; die Sohle berührte leicht die Wasseroberfläche und wurde von der kabbeligen See gekitzelt, als wäre jede winzige Welle ein Grashalm.
Er öffnete die Augen. Der Wassermann erhob sich zu voller Größe und war sprungbereit, während er nur noch durch einen Fuß in der Brandung festgehalten wurde.
Prabir schrie und schwamm Madhusree hinterher. Nach wenigen Sekunden war er überzeugt, dass die Jagd begonnen hatte. Aber er wagte es nicht, sich umzuschauen. Wenn man sah, wie der Wassermann lief, war man verloren.
Die Hektik seiner Schwimmzüge erregte Madhusrees Aufmerksamkeit. Sie drehte sich um, verlor den Rhythmus und begann zu strampeln. Prabir holte sie ein, als ihr Kopf unter der Wasseroberfläche verschwand. Er schlang einen Arm um sie und suchte mit den Füßen nach dem Grund. Seine Zehen berührten den Sand, während Madhusree an seiner Brust in Sicherheit war.
Er hetzte mit alptraumhafter Langsamkeit durch das Wasser, aber er trieb seinen bleiernen Körper voran. Er lief genau durch eine Stelle mit braunem Seegras und erschauderte bei jedem Schritt. Die Halme waren keineswegs scharf oder schleimig, aber es fühlte sich immer an, als würde sich darunter irgendetwas verbergen. Madhusree klammerte sich an ihn, ohne sich zu beklagen, und blickte gebannt zurück. Prabir spürte, wie sich seine Nackenhärchen sträubten. Er konnte jederzeit verkünden, dass das Spiel vorbei war, dass es keinen Verfolger gab, dass alles nur erfunden war. Madhusree war nur ein Passagier in seinen Armen, für sie galten die Regeln nicht, aber wenn er sich jetzt umgedreht hätte, würde die einfache Tatsache seines Überlebens eindeutig beweisen, dass der Wassermann niemals wirklich gewesen war.
Doch er wollte Madhusree das Spiel nicht verderben.
Beinahe knickten ihm die Beine ein, als er den Strand erreichte, aber er konnte sich fangen und lief noch ein paar Schritte weiter. Als er sich auf dem trockenen Land bewegte, fühlte er sich schon wesentlich kräftiger. Dann ging er in die Hocke und stellte Madhusree ab, bevor er sich umdrehte und mit dem Gesicht zum Meer in den Sand setzte, den Kopf gesenkt, damit er besser nach Luft schnappen konnte.
Das plötzliche Ende seiner Anstrengung machte ihn schwindlig, und er hatte dunkle Nachbilder vor den Augen. Doch Prabir war ziemlich überzeugt, dass er einen nass schimmernden Fleck auf dem von der Sonne gebackenen Sand erkennen konnte, einen Schritt hinter der Wasserlinie, und dass die Feuchtigkeit vor seinen Augen verdunstete.
Madhusree erklärte völlig ruhig: »Will zu Ma.«
Prabir durfte die Schmetterlingshütte nicht betreten. Weil der Malaria-Impfstoff bei ihm nicht wirkte, hatte er eine Kapsel unter der Haut eines Arms, die machte, dass sein Schweiß einen abstoßenden Einfluss auf Moskitos hatte. Der Geruch der Substanz hatte vermutlich keine schädliche Auswirkung auf die Schmetterlinge, aber er konnte ihr Verhalten beeinflussen, und selbst das geringste Risiko einer Kontamination konnte den Wert aller Untersuchungen seiner Eltern zunichte machen.
Er stellte Madhusree ein paar Meter vor dem Eingang ab, worauf sie der Stimme ihrer Mutter entgegenwatschelte. Prabir lauschte, als der Tonfall höher wurde. »Wo bist du gewesen, mein Liebling? Wo bist du nur gewesen?« Madhusree antwortete mit einem unzusammenhängenden Monolog über den Wassermann. Prabir spitzte so lange die Ohren, bis er sich vergewissert hatte, dass er nicht verleumdet wurde; dann ging er und setzte sich auf die Bank vor seiner Hütte. Es war noch Vormittag, und auf dem Strand war es unangenehm heiß geworden, aber der größte Teil des Kampungs würde bis Mittag im Schatten bleiben. Prabir konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als sie eingetroffen waren, vor fast drei Jahren, zusammen mit einem halben Dutzend Arbeiter von Kai Besar, die ihnen helfen sollten, einen geeigneten Platz zu roden und die vorgefertigten Hütten aufzubauen. Er wusste nicht genau, ob es scherzhaft gemeint war, als die Männer den Ring aus sechs Gebäuden mit einem Wort bezeichnet hatten, das ›Dorf‹ bedeutete. Jedenfalls hatte sich der Begriff gehalten.
Ein vertrauter Lärm war vom Rand des Kampungs zu hören; ein Fruchttauben-Pärchen hatte sich auf dem Ast eines Muskatnussbaumes niedergelassen. Die blau-weißen Vögel waren größer als Hühner und etwas stromlinienförmiger, aber immer noch recht plump, sodass es Prabir immer wieder erstaunte, dass sie tatsächlich fliegen konnten. Einer der Vögel streckte den auf komische Weise dehnbaren Schnabel und schloss ihn um eine Muskatnuss von der Größe einer kleinen Aprikose; der andere sah mit dümmlichem Ausdruck zu, gurrte und entfernte sich dann, um selbst nach etwas Essbarem zu suchen.
Prabir hatte sich vorgenommen, sein Experiment zur Höhenmessung durchzuführen, sobald er von Madhusree befreit war, doch auf dem Rückweg vom Strand hatte er über einige Komplikationen nachgedacht. Zum einen war er sich nicht sicher, ob er einen Unterschied zwischen dem Ufer einer fernen Insel und einem Berg im Innern einer Insel erkennen würde, wenn diese Erhebung aufgrund ihrer Höhe über dem Horizont sichtbar wurde. Das wäre jedoch möglich, wenn er seinen Vater überreden konnte, ihm sein Fernglas zu überlassen. Aber es gab noch ein weiteres, viel schwerer wiegendes Problem. Durch atmosphärische Temperaturdifferenzen wurde das Licht gebrochen, sodass der Lichtstrahl, den er als eine Seite des pythagoreischen Dreiecks benutzen wollte, in Wirklichkeit leicht gekrümmt war. Es war derselbe Effekt, der die Sonne knapp über dem Horizont scheinbar anschwellen ließ. Natürlich hatte bestimmt schon irgendwer eine Methode entwickelt, wie sich dieser Einfluss berücksichtigen ließ, und es dürfte keine Schwierigkeit sein, die entsprechenden Gleichungen zu finden und sein Notepad damit zu programmieren. Doch selbst wenn er sämtliche Temperaturdaten fand, die er benötigte – sei es aus einem meteorologischen Modell der Region oder aus einem Satelliten-Thermaldiagramm –, würde er gar nicht richtig verstehen, was er tat. Er würde nur blind irgendwelchen Anweisungen folgen.
Plötzlich hörte Prabir seinen Namen im Gemurmel, das aus der Schmetterlingshütte drang – aber nicht von Madhusree, die ihn kaum aussprechen konnte, sondern von seinem Vater. Er versuchte auf die folgenden Worte zu horchen, aber die Fruchttauben wollten keine Ruhe geben. Er suchte am Boden nach etwas, das er auf sie werfen konnte, doch dann gelangte er zur Erkenntnis, dass jeder Versuch, sie zu vertreiben, vermutlich in einem langwierigen und lautstarken Vorgang resultieren würde. Er stand auf und ging auf Zehenspitze zur Rückseite der Hütte, um ein Ohr ans Fiberglas zu legen.
»Wie wird er damit zurechtkommen, wenn er in Indien wieder auf eine normale Schule geht, sechs Stunden am Tag in einem festen Klassenzimmer, wo es ihm praktisch nie gelingt, auch nur fünf Minuten lang stillzusitzen? Je schneller er sich daran gewöhnt, desto geringer wird der Schock sein. Wenn wir warten, bis wir hier fertig sind, ist er … was weiß ich? … elf oder zwölf Jahre alt. Dann dürfte er nicht mehr zu kontrollieren sein!« Prabir erkannte, dass sein Vater schon seit längerer Zeit gesprochen hatte. Zu Beginn eines Streitgesprächs war er immer sehr ruhig, als hätte er gar keine Meinung zum Thema. Es dauerte mehrere Minuten, bis seine Stimme den gegenwärtigen Grad der Erregung angenommen hatte.
Seine Mutter lachte – ihr Hört-hört-Lachen. »Du warst elf, als du zum ersten Mal ein Klassenzimmer betreten hast!«
»Ja, und es war schwer genug für mich. Zumindest kam ich in Kontakt mit anderen menschlichen Wesen. Wie soll er sich vernünftig sozialisieren, wenn ihm nur ein Satellitenlink zur Verfügung steht?«
Es folgte ein sehr lange anhaltendes Schweigen, dass Prabir sich bereits fragte, ob seine Mutter zu leise sprach, um sie von außerhalb der Hütte hören zu können. Doch dann sagte sie wehleidig: »Aber wo? Kalkutta ist zu weit weg, Rajendra. Wir würden ihn nie sehen.«
»Es ist ein Dreistundenflug.«
»Von Jakarta!«
Sein Vater erwiderte durchaus berechtigt: »Wie soll ich es sonst messen? Wenn du die Zeit addierst, die es von hier nach Jakarta dauert, klingt jeder Ort auf der Erde zu weit entfernt!«
Prabir empfand eine irritierende Mischung aus Heimweh und Angst. Kalkutta. Im Vergleich zu Ambon fünfzigmal so viel Menschen und Verkehr, zusammengepfercht auf fünfmal so viel Landfläche. Selbst wenn er sich irgendwann wieder an die Menschenmassen gewöhnte, kam ihm die Vorstellung, ohne seine Eltern und Madhusree ›heim‹zufahren, viel schlimmer vor, als an irgendeinem anderen Ort ausgesetzt zu werden – so surreal und verwirrend, als würde man eines Morgens aufwachen und feststellen, dass sie alle über Nacht verschwunden waren.
»Nun, Jakarta kommt nicht infrage.« Keine Erwiderung war zu hören; vielleicht hatte sein Vater lediglich zustimmend genickt. Darüber hatten sie schon oft gesprochen: In ganz Indonesien entluden sich immer wieder Aggressionen gegen die chinesische ›Händlerklasse‹; und obwohl die indische Minderheit vergleichsweise winzig und unsichtbar war, schienen seine Eltern zu befürchten, er könnte jedes Mal verprügelt werden, wenn wieder einmal die Preise erhöht wurden. Prabir konnte sich nicht recht vorstellen, dass Menschen ein so bizarres Verhalten an den Tag legen würden, aber der Anblick uniformierter und reglementierter Kinder, die während des Schulausfluges nach Ambon patriotische Lieder sangen, machte ihn dankbar für jeden Grund, der ihn von indonesischen Schulen fernhielt.
Sein Vater wechselte in einen versöhnlicheren Tonfall. »Wie wäre es mit Darwin?« Prabir erinnerte sich noch recht deutlich an Darwin, weil sie dort zwei Monate verbracht hatten, als Madhusree geboren wurde. Es war eine saubere, ruhige, wohlhabende Stadt – und da sein Englisch viel besser als sein Indonesisch war, hatte er dort weniger Schwierigkeiten gehabt, sich mit anderen Menschen zu unterhalten als in Ambon. Trotzdem wollte er nicht dorthin verbannt werden.
»Vielleicht.« Wieder Schweigen, dann sagte seine Mutter plötzlich begeistert: »Was ist mit Toronto? Er könnte dort bei meiner Cousine wohnen!«
»Jetzt redest du Unsinn. Die Frau ist geistesgestört!«
»Aber sie ist harmlos. Und ich schlage keineswegs vor, dass sie für seine Erziehung verantwortlich sein soll. Wir werden sie lediglich für Kost und Logis entschädigen. Dann müsste er wenigstens nicht in einem Schlafsaal mit lauter fremden Kindern wohnen.«
Sein Vater prustete. »Er hat sie noch nie gesehen!«
»Trotzdem gehört sie zur Familie. Und da sie unter meinen Verwandten die einzige ist, die noch mit mir spricht …«
Unvermittelt wechselte das Gesprächsthema zu den Eltern seiner Mutter. Prabir hatte das alles schon oft genug gehört, sodass er nach einigen Minuten in den Wald ging.
Er musste sich überlegen, wie er das Thema ansprechen und seine Ansichten verdeutlichen konnte, ohne erkennen zu lassen, dass er gelauscht hatte. Und er musste schnell handeln, denn seine Eltern besaßen ein grenzenloses Selbstvertrauen, dass sie stets zu seinem Besten handelten. Wenn sie eine Entscheidung getroffen hatten, konnte er nichts mehr unternehmen, um sie aufzuhalten. Es war wie eine Ad-hoc-Religion: Die Wir-wollen-ja-nur-dein-Bestes-Kirche. Sie schrieben alle heiligen Gebote selbst nieder und jammerten dann, dass ihnen keine andere Wahl blieb, als sich daran zu halten.
»Verräter«, murmelte er. Das hier war seine Insel; sie hatten es nur ihm zu verdanken, dass sie hier überleben konnten. Wenn er die Insel verließ, würden sie innerhalb einer Woche sterben – durch die Geschöpfe. Madhusree könnte versuchen, sie zu beschützen, aber man konnte sich niemals sicher sein, auf welcher Seite sie wirklich stand. Prabir stellte sich die Besatzung einer Fähre oder eines Versorgungsschiffs vor, die nach einem verpassten Rendezvous und mehrtägiger Funkstille vorsichtig den Kampung betrat und dort niemanden außer Madhusree vorfand. Wie sie mit fettverschmiertem Grinsen herumwatschelte, umgeben von ungespülten Schüsseln mit den Überresten von Mahlzeiten aus gebratenen Schmetterlingen, verfeinert mit einem mysteriösen, süßlich duftenden Fleisch.
Prabir lief weiter, während seine Lippen stumme Flüche bildeten. Nur allmählich wurde ihm bewusst, dass der Boden immer steiler anstieg und immer mehr dunkle Felsen durch den Erdboden stießen. Ohne dass er darüber nachgedacht hatte, war er auf dem Pfad gelandet, der ins Zentrum der Insel führte. Anders als der Weg vom Strand zum Kampung – der von den Kai-Leuten angelegt worden war und von Prabir instand gehalten wurde – war dieser Pfad ein reines Zufallsprodukt, das sich aus der natürlichen Bodenbeschaffenheit und den gegebenen Abständen zwischen Bäumen und Farnen ergab.
Es war Schwerstarbeit, den Anstieg zu bewältigen, aber er befand sich im Schatten des Waldes, und der Schweiß, der ihm von den Ellbogen tropfte oder an den Beinen hinab lief, zeigte leicht kühlende Wirkung. Blauschwänzige Eidechsen flüchteten hektisch, wenn er ihnen zu nahe kam, was er nur beiläufig registrierte. Aber es gab auch rote Laufkäfer, die so groß wie sein Daumen waren und sich auf einem umgestürzten Baumstamm tummelten, und überall schwarze Ameisen. Wenn Prabir für die Ameisen nicht genauso unangenehm gerochen hätte wie die Tigerkäfer für ihn, wäre er nach wenigen Minuten von Bissen übersät gewesen. Er hielt sich nach Möglichkeit an nackten Erdboden, doch wenn er so nicht weiterkam, lief er lieber über bewachsene Flächen statt über vulkanisches Gestein – um seine Fußsohlen zu schonen. Der Boden war mit kleinen blauen Blumen, olivgrünen Kriechpflanzen oder niedrigen Farnen mit hängenden Wedeln bewachsen. Manche der Pflanzen waren äußerst zäh, aber nur wenige hatten Dornen. Das ergab Sinn, denn hier gab es nichts, das versuchen könnte, sie abzugrasen.
Der Boden wurde zunehmend steiler und felsiger, und der Wald lichtete sich. Immer mehr Sonnenlicht drang zwischen den Bäumen hindurch, und der Bodenbewuchs wurde trockener und rauer. Prabir wünschte sich, er hätte einen Hut mitgenommen, um sein Gesicht zu schützen, und vielleicht wären sogar Schuhe angebracht gewesen. Der dunkle Fels war größtenteils durch Verwitterung eingeebnet, aber stellenweise gab es noch scharfe Kanten.
Die Bäume blieben zurück. Dann kletterte er den nackten Obsidian des Vulkankegels hinauf. Nach nur wenigen Minuten unter freiem Himmel war seine Haut getrocknet. Er spürte zwar kleine Schweißausbrüche auf den Unterarmen, sie waren jedoch zu unergiebig, um sichtbare Tropfen zu bilden, weil sie sofort verdunsteten. Im Wald waren seine Shorts klitschnass vor Schweiß gewesen; nun war der Stoff hart wie Pappe geworden und sonderte einen seltsamen frischen Geruch ab. Bevor er mit Madhusree zum Strand aufgebrochen war, hatte er sich mit Sonnenschutz eingesprüht; nun hoffte er, dass er im Wasser nicht zu viel davon verloren hatte. Man hätte seine Moskito-Kapsel um eine UV-absorbierende Substanz ergänzen sollen, um ihm die Mühe zu ersparen, das Zeug ständig von außen auftragen zu müssen.
Die Revolution wird kommen.
Der Himmel war ein gebleichtes Weiß; wenn er zur Sonne aufblickte, war es, als würde man in einen Glutofen starren. Die Augen zu schließen war sinnlos, er musste die Helligkeit mit dem Unterarm ausblenden. Doch als er hoch genug gestiegen war, um über die höchsten Bäume des Waldes blicken zu können, stieß Prabir einen krächzenden Begeisterungsruf aus. Das Meer breitete sich unter ihm aus, wie beim Blick aus einem Flugzeug. Der Strand war noch nicht zu sehen, aber die Lagune, das Riff und dahinter das tiefere Meer.
Nie zuvor war er so hoch hinauf gestiegen. Und obwohl seine Familie bestimmt nicht die ersten Menschen waren, die ihren Fuß auf diese Insel gesetzt hatten, war es undenkbar, dass ein gestrandeter Fischer sich jemals die Mühe gemacht hatte, hier heraufzuklettern, um die Aussicht zu bewundern, während er sich unten im Wald ein neues Boot bauen konnte.
Prabir beobachtete den Horizont. Als er seine Augen vor der Sonnenglut abschirmte, blieb der Schweiß auf seiner Stirn lange genug flüssig, um durch die Brauen zu sickern und ihm die Sicht zu nehmen. Er wischte sich die Augen mit seinem Taschentuch trocken, das bereits mit Meerwasser und dem Schweiß des Fußmarsches durch den Wald getränkt war. Es war, als hätte er sich die Augen mit purem Salz eingerieben. Verärgert blinzelte er und ignorierte das Brennen, bis er überzeugt war, dass nirgendwo Land zu sehen war.
Dann stieg er den Vulkan weiter hinauf.
Ein Ausflug zum Krater stand außer Frage; selbst wenn er Wasser und Schuhe dabeigehabt hätte, wäre der Aufstieg einfach zu schwierig. Anhand der Vegetationsmuster auf Satellitenbildern hatte seine Mutter geschätzt, dass der Vulkan seit mindestens einigen tausend Jahren inaktiv war, doch Prabir hatte entschieden, dass knapp unter der Oberfläche des Kraters Lava zirkulierte und immer stärker nach draußen drängte. Hier oben gab es wahrscheinlich Feueradler, die die dünne Kruste aufpickten, um an das geschmolzene Gestein zu gelangen. Vielleicht kreisten sie sogar in diesem Augenblick über ihm. Da sie hell wie die Sonne strahlten, warfen sie keinen Schatten.
Alle fünf Minuten hielt er an, um nach Land Ausschau zu halten, während er sich wünschte, er hätte auf der Fähre aufmerksamer auf das Aussehen der verschiedenen Inseln geachtet. Der Horizont war so verschwommen, dass er fürchtete, er könnte sich durch Wolkenbänke täuschen lassen, hinter denen sich lediglich ein fernes Gewitter verbarg, das im Anzug war. Er hatte sich am rechten Fuß verletzt, aber der Schnitt war nicht besonders schmerzhaft. Also verzichtete er auf eine genauere Untersuchung, um sich nicht durch den Anblick der Wunde entmutigen zu lassen. Seine Fußsohlen waren dick genug, um die Hitze des Felsens ertragen zu können, aber er konnte sich nirgendwo setzen, um auszuruhen, oder sich mit den Händen abstützen.
Als schließlich ein undeutlicher grauer Fleck zwischen dem Himmel und dem Meer erschien, lächelte Prabir nur und schloss die Augen. Er hatte nicht mehr die Energie, um seinen Triumph angemessen auszukosten oder ihm gar in irgendeiner Form Ausdruck zu verleihen. Er schwankte eine Weile in der surrealen Hitze und dachte über seine Dummheit nach, dass er den Aufstieg völlig unvorbereitet begonnen hatte. Trotzdem war er froh, dass er es getan hatte. Dann suchte er sich einen scharfkantigen Stein und kratzte eine Linie in den Felsen, ungefähr dort, wo die ferne Insel erstmals sichtbar geworden war.
Die Höhe über dem Meeresspiegel konnte er nicht notieren. Vermutlich wich sie nicht sehr von den fünfhundert Metern ab, die er in seiner Naivität errechnet hatte. Er musste noch einmal mit seinem Notepad herkommen, um die genaue Zahl vom GPS ermitteln zu lassen. Dann konnte er zurückrechnen und den Einfluss der Lichtbrechung bestimmen.
Doch eine simple Linie war nicht genug. Zwar ließ sie sich kaum mit den natürlichen Strukturen des Felsens verwechseln, aber sie war trotzdem nicht sehr auffällig. Nur mit großem Glück würde er sie bei einem erneuten Aufstieg wiederfinden. Seine Initialen einzuritzen kam ihm zu kindisch vor, also notierte er das Datum: 10. Dezember 2012.
Im Glückstaumel machte er sich auf den Rückweg zum Wald. Zweimal rutschte er aus und verletzte sich an der Hand, was ihn jedoch nicht sehr beunruhigte. Er hatte der Insel nicht nur einen Namen gegeben, sondern bereits damit begonnen, sie zu vermessen. Damit hatte er sich mindestens das gleiche Recht wie seine Eltern erworben, hier bleiben zu dürfen.
Das Nachmittagsgewitter näherte sich ihm von hinten, aus nördlicher Richtung, während er abstieg. Prabir blickte auf, als die ersten dicken Tropfen ringsum auf die Felsen klatschten, und er sah hell glänzende Perlen aus weißem Licht vor dem Hintergrund der Wolken. Dann erhoben sich die Feueradler aus dem Sturm, und der Himmel war nur noch ein eintöniges Grau.
Er legte den Kopf in den Nacken und trank den Regen, während er flüsterte: »Teranesia. Teranesia.«
Prabir war gegen drei wieder im Kampung. Niemand hatte ihn vermisst. Wenn er keine Schule hatte, konnte er gehen, wohin er wollte. Wenn er in Schwierigkeiten geriet, konnte er mit seiner Uhr Hilfe rufen. Er fühlte sich erschöpft und leicht schwindlig, also ging er direkt zu seiner Hütte und ließ sich in die Hängematte fallen.
Sein Vater weckte ihn, als er im grauen Licht der Abenddämmerung neben der Hängematte stand und leise seinen Namen sprach. Prabir schreckte hoch, denn er hatte eigentlich mithelfen sollen, das Abendessen zuzubereiten, doch nun roch er bereits die Essensdüfte aus der Küche. Warum hatten sie ihn so lange schlafen lassen?
Sein Vater legte ihm eine Hand auf die Stirn. »Du bist etwas heiß, Prabir. Wie fühlst du dich?«
»Mir geht es gut, Baba.« Prabir ballte die Hände zu Fäusten, um die Schnitte zu verstecken. Sie waren kein Problem, aber er wollte nach Möglichkeit vermeiden, dass er erklären – oder lügen – musste, wie es dazu gekommen war. Sein Vater wirkte ungewöhnlich ernst. Würde er gleich, hier und jetzt, die Entscheidung verkünden, dass Prabir eingeschult werden sollte?
»In Jakarta gab es einen Putsch«, sagte sein Vater. »Ambon steht unter Kriegsrecht.« Er sprach in bewusst sachlichem Tonfall, als würde er über etwas Unwesentliches reden. »Ich habe keine Verbindung mit Tual bekommen, also weiß ich nicht genau, was dort geschieht. Vielleicht können wir uns auf längere Zeit keine neuen Vorräte beschaffen, deshalb wollen wir einen kleinen Garten anlegen. Und wir brauchen jemanden, der sich darum kümmert. Willst du diese Aufgabe übernehmen?«
»Ja.« Prabir versuchte im schwachen Licht das Gesicht seines Vaters zu studieren. Erwartete er wirklich, dass Prabir sich mit diesem Minimum an Informationen begnügte? »Was ist in Jakarta geschehen?«
Sein Vater stieß ein angewidertes Schnaufen aus. »Der Minister für Innere Sicherheit hat sich selbst zum ›Notstandsinterimspräsidenten‹ ernannt, mit Rückendeckung durch die Armee. Der Präsident steht unter Hausarrest. Die Sitzungen des Parlaments wurden suspendiert; etwa tausend Menschen haben sich zu einer Mahnwache vor dem Gebäude versammelt. Die Sicherheitskräfte haben sie bis jetzt in Ruhe gelassen, was erstaunlich ist.« Er strich sich besorgt über den Schnurrbart und fügte dann zögernd hinzu: »Aber in Ambon gab es eine große Protestdemonstration, als die Nachricht bekannt wurde. Die Polizei hat versucht, die Demonstranten aufzuhalten. Jemand wurde erschossen, dann begann die Menge, Verwaltungsgebäude zu plündern. Sechsundvierzig Menschen starben, hieß es im World Service.«
Prabir war fassungslos. »Das ist ja schrecklich.«
»Das ist es. Und für viele Leute wird es der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die Unterstützung für die ABRMS kann jetzt nur noch größer werden.«
Prabir strengte sich an, zwischen den Zeilen zu lesen. »Du meinst, sie könnten Fähren versenken?«
Sein Vater zuckte zusammen. »Nein! So schlimm ist es nicht. Mach dir nicht solche Gedanken!« Um ihn zu beruhigen, legte er Prabir eine Hand auf die Schulter. »Aber die Menschen werden sich Sorgen machen.« Er seufzte. »Du weißt, dass wir jedes Mal, wenn wir die Fähre benutzen wollen, den Kapitän bezahlen müssen, damit er den Umweg macht. Wie liegen ein gutes Stück abseits der normalen Route zwischen Saumlaki und Tual. Das Geld ist eine Entschädigung für den zusätzlichen Treibstoff und Aufwand – und für den kleinen Anteil, der an jedes Mitglied der Besatzung geht.«
Prabir nickte, obwohl ihm noch nie richtig bewusst geworden war, dass sie keine legitime Dienstleistung in Anspruch nahmen, sondern Schmiergelder für einen Gefallen bezahlen mussten.
»Und das könnte nun schwieriger werden. Niemand wird mehr bereit sein, einen unplanmäßigen Zwischenstopp an einer einsamen Insel einzulegen. Aber das ist nicht so schlimm; wir können uns zur Not selbst versorgen. Und vielleicht ist es sogar besser, wenn wir unauffällig bleiben. Niemand wird uns behelligen, wenn wir niemandem in die Quere kommen.«
Prabir nahm seine Worte schweigend in sich auf.
Sein Vater deutete mit einem Kopfnicken zur Tür. »Komm jetzt, aber wasch dich vorher. Und sag deiner Mutter nicht, dass ich dich beunruhigt habe.«
»Das hast du gar nicht.« Prabir stieg aus der Hängematte. »Aber wohin wird das alles führen?«
»Wie meinst du das?«
Prabir zögerte. »Aceh. Kalimantan. Irian Jaya. Hier.« Wenn er und sein Vater in den vergangenen Jahren gemeinsam die Nachrichten gehört hatten, hatte sein Vater ihm immer mehr über die regionale Geschichte erzählt, worauf Prabir das Thema im Netz weiter verfolgt hatte. Irian Jaya und die Molukken waren von Indonesien annektiert worden, als die Niederländer sich Mitte des vergangenen Jahrhunderts zurückgezogen hatten. In beiden Regionen gab es einen hohen Anteil von Christen und separatistische Bewegungen, die fest entschlossen waren, Osttimor in die Unabhängigkeit zu folgen. Aceh, das an der Nordwestspitze von Sumatra lag, war ein ganz anderer Fall – die moslemischen Separatisten hielten die Regierung für viel zu weltlich – und Kalimantan blickte auf eine lange und komplizierte Geschichte mit zahlreichen Einwanderungen und Eroberungen zurück. Die Regierung in Jakarta hatte beschwichtigend von einer ›begrenzten Autonomie‹ für diese abgelegenen Provinzen gesprochen, doch der Minister für Innere Sicherheit hatte vor wenigen Wochen mit einer Bemerkung Schlagzeilen gemacht, in der es um die ›Eliminierung der Separatisten‹ ging. Der Präsident hatte ihn ermahnt, seine Sprache zu mäßigen, aber die Armee schien der Ansicht zu sein, dass es genau die richtige Sprache war.
Sein Vater ging neben ihm in die Hocke und senkte die Stimme. »Soll ich dir sagen, was ich glaube?«
»Ja.« Prabir hätte ihn beinahe gefragt, warum sie plötzlich flüsterten. Aber er kannte den Grund bereits. Sie saßen für einen unabsehbaren Zeitraum auf der Insel fest, und er musste zumindest einen Teil der Gründe erfahren, aber in erster Linie hatte sein Vater die Anweisung erhalten, ihm keine Angst einzujagen.
»Ich glaube, das javanische Imperium steht kurz vor dem Ende. Und genauso wie die Niederländer und die Portugiesen und die Briten werden auch sie irgendwann lernen müssen, innerhalb ihrer eigenen Grenzen zu leben. Aber es ist kein einfacher Lernprozess. Zu viel steht auf dem Spiel: Erdöl, Fischgründe, Holz. Selbst wenn die Regierung bereit wäre, sich aus den problematischeren Provinzen zurückzuziehen, gibt es immer noch Leute, die sehr viel Geld mit Konzessionen verdienen, die noch in der Suharto-Ära vergeben wurden. Und dazu gehören auch eine Menge Generäle.«
»Glaubst du, dass es zum Krieg kommt?« Im selben Augenblick, als er das Wort aussprach, spürte Prabir, wie ihm eiskalt wurde – wie es auch geschah, wenn er genau vor sich einen Python auf einem Ast sah. Nicht weil er wirklich um sein Leben fürchtete, sondern vor Entsetzen über all die unsichtbaren Tode, die bereits die einfache Existenz dieses Geschöpfes implizierte.
»Ich glaube«, sagte sein Vater vorsichtig, »dass es zu Veränderungen kommt. Und sie werden sich nicht reibungslos vollziehen.«
Plötzlich nahm er Prabir in die Arme und hob ihn hoch. »Oh, bist du schwer geworden!«, stöhnte er. »Du wirst mich zerquetschen!« Es war nicht nur scherzhaft gemeint, denn Prabir spürte, wie seine Arme unter der Anstrengung zitterten. Doch es gelang ihm, die Hütte zu verlassen; er duckte sich, damit sie zusammen durch den Eingang passten, dann drehte er sich langsam im Kreis, als er Prabir lachend durch den Kampung trug, unter Palmwedeln und erwachenden Sternen.
Prabir hatte seinem Vater das Leben gestohlen, aber letztlich war sein Vater selbst schuld daran, zumindest teilweise. Und da das Original in keiner Weise beeinträchtigt wurde, handelte es sich eigentlich gar nicht um einen richtigen Diebstahl. Eher um eine Art Cloning.
Als Prabir um die Erlaubnis gebeten hatte, ihre Satellitenverbindung zum Netz für mehr als nur die Schulaufgaben benutzen zu dürfen, hatte er seinem Vater versprechen müssen, nicht einmal dem harmlosesten Fremden sein wahres Alter zu verraten. »Es gibt Leute, die sich bei der ersten Begegnung mit einem Kind sofort Dinge wünschen, die nur zwischen Erwachsenen geschehen sollten«, hatte er geheimnisvoll erklärt. Prabir hatte diesen Euphemismus sofort decodiert, obwohl er sich nicht recht vorstellen konnte, wie ihm jemand schaden sollte, der mehrere tausend Kilometer entfernt war. Er war in Versuchung gewesen zu erwidern, dass es noch mehr Leute geben dürfte, die ihn wie einen Erwachsenen behandeln wollten, wenn er sich als solchen ausgab, aber er hatte intuitiv gespürt, das dies kein Thema war, zu dem sein Vater klugscheißerische Bemerkungen tolerieren würde. Auf jeden Fall war er völlig zufrieden damit, sein Alter nicht offenbaren zu dürfen, weil er dann nicht so herablassend behandelt wurde.
Als Prabir zu seinem neunten Geburtstag den Zugang erhalten hatte, war er sofort Mitglied von Diskussionsgruppen zu den Themen Mathematik, indonesische Geschichte und madagassische Musik geworden. Die Beiträge der anderen Mitglieder las er sich aufmerksam durch oder hörte sie ab, bevor er einen eigenen Kommentar abgab, und niemand schien seine Bemerkungen ausgesprochen kindisch zu finden. Manche Leute versahen ihre Beiträge mit Porträtfotos, andere nicht. Es war also nichts Ungewöhnliches, wenn er es nicht tat. Die Gruppen konzentrierten sich streng auf die jeweiligen Themen, und niemandem wäre im Traum eingefallen, sich auf privateres Territorium zu begeben. Die Frage, wie alt er war oder wie er seinen Lebensunterhalt bestritt, wurde einfach nie gestellt.
Erst als er direkte Nachrichten mit Eleanor austauschte, einer Geschichtswissenschaftlerin, die in New York City lebte, fühlte sich Prabir in die Enge gedrängt. Nach zwei kurzen Beiträgen über das Majapahit-Reich begann Eleanor ihm von ihrer Familie, ihren Studenten, ihren tropischen Fischen zu erzählen. Bald wechselte sie vom reinen Text auf Video und schickte Prabir kleine Filme, die zeigten, wie es in ihrer Wohnung und in Manhattan aussah. All das konnte natürlich gefälscht sein, aber nur mit großem Aufwand, und vermutlich hätte es seinen Vater problemlos überzeugt, dass Eleanor ehrlich und absolut vertrauenswürdig war und Prabir ihr ohne Schwierigkeiten sein wahres Alter verraten konnte. Aber es war bereits zu spät. Prabir hatte auf Eleanors erste Beschreibung ihrer Familie mit einem Bericht seiner Reise von Kalkutta zu einer namenlosen Insel in der Banda-See geantwortet. Er hatte geschrieben, dass er von seiner Frau und seinem kleinen Sohn begleitet wurde und sie hier Schmetterlinge studieren wollten. Diese exotische Geschichte hatte sie sofort begeistert und eine Unmenge von Fragen nach sich gezogen. Prabir hatte es nicht fertig gebracht, ihr die Antworten schuldig zu bleiben, aber er besaß auch nicht genügend Selbstvertrauen, um die komplette Biographie eines Erwachsenen auszuspinnen, ohne sich in Widersprüche zu dem zu verstricken, was er ihr bereits anvertraut hatte. Also schlachtete er weiter das Leben seines Vaters aus, bis es undenkbar geworden war, sowohl Eleanor als auch seinem Vater die Wahrheit zu gestehen.
Rajendra Suresh war im Alter von sechs Jahren auf den Straßen von Kalkutta ausgesetzt worden. Er hatte sich geweigert, Prabir zu erzählen, woran er sich noch aus seinem früheren Leben erinnerte; also hatte Prabir Eleanor mitgeteilt, dass er gar keine Erinnerungen an seine Vergangenheit hatte. »Ich könnte der Sohn einer Prostituierten oder der verlorene Sprössling einer der reichsten Familien der Stadt sein.«
»Hätten reiche Eltern nicht längst nach dir gesucht?«, hatte Eleanor gefragt. Worauf Prabir ihr von vagen Träumen berichtet hatte, in denen es um intrigante Onkel und vorgetäuschte, aber verpfuschte Geiselnahmen ging.
Rajendra hatte die nächsten fünf Jahre als Bettler überlebt, bis er erstmals der Indian Rationalist Association begegnet war. (Prabir war seit frühester Kindheit eingeschärft worden, dass diese Organisation außerhalb der Familie niemals mit den Initialen bezeichnet werden durfte, es sei denn, unmittelbar darauf folgte eine unmissverständliche Erklärung des Sachverhalts.) Für die Unterbringung in einem Waisenhaus waren die finanziellen Mittel zu knapp, aber man hatte ihm zwei kostenlose Mahlzeiten pro Tag und einen Platz im Klassenzimmer angeboten. Das hatte genügt, um ihn vor dem Verhungern zu bewahren und ihn vor den Klauen des ›Mad Albanian‹ zu schützen, dessen Diener die Stadt auf der Jagd nach Kindern und Leprakranken durchstreiften. Prabir hatte Alpträume über den Mad Albanian gehabt – die viel zu schlimm waren, um sie Eleanor anzuvertrauen –, in denen ein buckliges, runzliges Geschöpf ihn durch Gassen und die Kanalisation hetzte und ihm mit einem Lappen, der mit dem Blut eines Lamms getränkt war, die Füße waschen wollte.
Das erklärte Ziel der IRA bestand darin, das Land von der Verdummung des traditionellen Aberglaubens zu befreien und gleichzeitig die Schranken der Kaste und des Geschlechts niederzureißen, die diesen Unsinn aufrechterhielten. Noch bevor sie ihre sozialen Projekte initiiert hatten – die Versorgung der Straßenkinder mit Nahrung und Bildung, die Unterrichtung der Frauen in Wirtschaft und Selbstverteidigung –, waren die Rationalisten von Kalkutta gegen die Gurus und Propheten angetreten, die Wunderheiler und Mystiker, die in der Stadt ihr Unwesen trieben, und hatten sie als Betrüger entlarvt. Im Alter von zwölf Jahren hatte Rajendra miterlebt, wie ein Mitbegründer der Bewegung, Prabir Ghosh, einen selbsternannten Heiligen herausforderte, der seinen Lebensunterhalt mit der Heilung von Schlangenbissen verdiente. Ghosh hatte von ihm verlangt, das Leben eines Hundes zu retten, der zusammen mit einer Kobra in einen Käfig gesperrt worden war. Vor dem Publikum aus tausend begeisterten Anhängern hatte der Heilige fünfzehn Minuten lang magische Gesten vollführt und immer verzweifeltere Gebete gemurmelt, während das arme Tier in Todeskrämpfen zuckte, bis er schließlich zugegeben hatte, dass er keinerlei magische Fähigkeiten besaß, und empfahl, dass jeder, der von einer Schlange gebissen wurde, unverzüglich im nächsten Krankenhaus Hilfe suchen sollte.
Rajendra war tief von der – wenn auch reichlich verspäteten – Ehrlichkeit des Mannes beeindruckt gewesen. Manche Scharlatane strengten sich an, den Bluff aufrechtzuerhalten, nachdem sie längst ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hatten. Doch die Überzeugungskraft dieser Demonstration hatte ihn noch viel mehr beeindruckt. Es war allgemein bekannt, dass viele Schlangen gar nicht giftig waren, und ein leichter Biss oder eine kräftige Konstitution konnte bewirken, dass manche Leute die Begegnung mit einer wirklich giftigen Spezies überlebten. Der Ruf des Heiligen musste sich dadurch entwickelt haben, dass er Menschen ›geheilt‹ hatte, die ohnehin überlebt hätten. Jeder Erfolg war ein freudiges Wunder, das lauthals verkündet wurde, um mit zahlreichen Ausschmückungen hundertfach nacherzählt zu werden – ganz im Gegensatz zu jedem traurigen und keineswegs wundersamen Todesfall. Aber diese einfache öffentliche Probe hatte alle zweifelhaften Punkte ausgeräumt: Die Schlange war giftig, die Bisse waren tief und zahlreich … und das Opfer war vor den Augen von tausend Zeugen gestorben.
Während des minutenlangen Schweigens, das auf den Tod des Hundes folgte, hatte sich Rajendra für seine Berufung entschieden. Leben und Tod waren große Geheimnisse für ihn, aber kein Geheimnis war unantastbar. Die frühesten Versuche, diese Dinge zu verstehen, so hatte er überlegt, mussten an scheinbar unüberwindlichen Hürden gescheitert sein, um schließlich zu verunglückten Erkenntnissystemen zu versteinern oder degenerieren. Das war der Ursprung der Religionen. Doch irgendwo hatte es immer irgendjemanden gegeben, der die Suche voller Vertrauen fortgesetzt hatte; irgendwer hatte immer die Kraft gefunden, weiterhin zu fragen: Sind die Dinge, an die ich glaube, wahr? Dieses Erbe würde er antreten. Hindus, Moslems, Buddhisten, Sikhs, Jains, Parsen und Christen, von den aufrichtigsten Mystikern, die sich selbst etwas vormachten, bis zu den zynischsten Betrügern, sie alle konnten niemals mehr als einen billigen Abklatsch auf die Suche nach der Wahrheit vollbringen. Er wollte die Wahrheit über jeden Glauben stellen und auf die Jagd nach den Geheimnissen des Lebens und des Todes gehen.
Er wollte Biologe werden.
Vier Jahre später arbeitete Rajendra als Buchhalter in einem Lagerhaus, machte ein Abendstudium und half sonntags in der IRA-Schule aus, als Radha Desai die Selbstverteidigungskurse für Frauen übernahm. Jede Woche sah er, wie sie eintraf, in einen einfachen weißen Karateanzug gekleidet, von einem Mann Anfang Dreißig chauffiert, der eindeutig kein Diener war. Rajendra benötigte einen ganzen Monat, um festzustellen, dass sie weder verheiratet noch verlobt war. Der Chauffeur war ihr älterer Bruder, und der einzige Grund, warum sie nicht selbst fuhr, war ihre Sorge, dass der Wagen geplündert werden könnte.
Prabir fiel es schwer, nicht laut aufzulachen, als er beschrieb, wie seine Eltern zueinander gefunden hatten, aber er wusste, dass Eleanor brennend an dieser Geschichte interessiert war, auch wenn er nicht allzu viele authentische Details parat hatte und improvisieren musste. In Prabirs Version hatte Rajendra versucht, den Chor, mit dem seine Klasse aus Bettlern das kleine Einmaleins aufsagte, synchron auf die Rufe Radhas abzustimmen, während sie die Liegestütze und Kniebeugen ihrer Gruppe auf dem Hof zählte. So konnte er jedes ihrer Worte verfolgen, ohne seine Klasse zu vernachlässigen. Und wenn sie kurz vor der Mittagspause genau vor dem Fenster seines Klassenzimmers vorbeikam, starrte er auf den Boden, täuschte eine Migräne vor oder legte sich eine Hand vor die Augen, damit sich ihre Blicke nicht zufällig trafen und die altklugen Schüler nicht an seinem Gesicht ablesen konnte, was los war.
Prabirs Mutter bezeichnete ihre Eltern als ›pseudosozialistische Heuchler der oberen Mittelklasse‹. Wenn ihre Tochter Frauen der unteren Kasten in Karate unterrichtete und in ständigem Kontakt mit berüchtigten Atheisten stand, konnte man das als fortschrittlich und kühn betrachten. Wenn man dagegen erzählte, dass sie einen Buchhalter geheiratet hatte, der drei Jahre jünger als sie war und sich aus den Slums nach oben gekämpft hatte, eignete sich das nicht unbedingt zur beiläufigen Erwähnung auf einer Party. Sein Vater betrachtete es versöhnlicher und pflegte nur zu sagen: »Was soll man angesichts ihres Hintergrundes schon erwarten?«
Radha studierte Genetik an der Universität von Kalkutta. Beide trafen sich früh am Morgen heimlich in Parks und Cafés – bevor Rajendras Arbeit begann und lange bevor Radhas erste Vorlesung begann, aber sie hatte die Möglichkeit, jederzeit ihr Karate-Training vorzuschieben. Rajendra mühte sich immer noch mit der Highschool-Biologie ab, aber Radha konnte ihm Nachhilfe geben. In dieser Zeit richteten sie ihren Blick auf ein gemeinsames Ziel: Sie wollten später als Forscher zusammenarbeiten. Irgendwann, irgendwie. Prabir war überzeugt, dass es Liebe auf den ersten Blick gewesen war – obwohl keiner seiner Eltern jemals etwas in dieser Richtung erwähnt hatte –, aber letztlich war es die Biologie, die sie zusammengeschweißt hatte, enger als unter normalen Voraussetzungen. Prabir prustete, als er heimliche Treffen auf Parkbänken schilderte – Finger, die zitternd die Seiten von Lehrbüchern umblätterten, Geflüster über die Phasen des Lebenszyklus einer Zelle. Doch obwohl all diese Dinge ihn amüsierten und verlegen machten und gelegentlich an seinem Gewissen nagten, fühlte er sich niemals wie ein Dieb oder ein Verräter, der fremde Geheimnisse preisgab. Auch wenn er diese Geschichte in erster Linie für Eleanor erzählte, wurde die Beschäftigung mit dem Leben seiner Eltern zu etwas Ähnlichem wie Madhusree in die Augen zu starren und zu verstehen, was er dort sah. Doch in diesem Fall hatte er keine Erinnerungen, an denen er sich orientieren konnte, nur Bücher und Filme, die vorsichtigen Andeutungen seiner Eltern und seine eigene Phantasie, um alles weitere zu ergänzen.
Rajendra bekam ein Stipendium, mit dem er die Universität besuchen konnte. Als sich ihnen plötzlich viel mehr Gelegenheiten boten, sich zu sehen, ließ ihre Diskretion nach. Als ihre Affäre bekannt wurde, zog Radha aus und kappte alle Verbindungen zu ihrer Familie. Sie war noch nicht für eine akademische Stellung qualifiziert, aber sie konnte sich ihren Lebensunterhalt als Laborassistentin verdienen. Eines Nachts wurde Rajendra auf dem Universitätsgelände von vier Männern überfallen und krankenhausreif geschlagen. Es konnte nie bewiesen werden, wer sie geschickt hatte. Als er sich erholt hatte, versuchte Radha ihm beizubringen, sich zu verteidigen, aber Rajendra erwies sich als der unbegabteste Schüler, den sie jemals gehabt hatte. Er war kräftig, aber hoffnungslos ungeschickt, möglicherweise als Folge der Mangelernährung in seiner Kindheit.
Damit Eleanor sich deswegen kein schlechtes Bild von seinem Vater machte – zu diesem Zeitpunkt konnte Prabir selbst nicht mehr genau unterscheiden, um wessen Ehre es eigentlich ging –, schickte er ihr ein Foto, das Rajendra in einer IRA-Parade zeigte, wie er einen Wagen durch Kalkutta zog, an einem Seil, das allein durch zwei Metallhaken gehalten wurde, die in der Haut seines Rückens steckten. Nun, nicht ganz allein, denn neben ihm ging ein Freund, der die Last mit ihm teilte. Die sichtbare Spannung der Seile und die von den Haken langgezogene Haut ließen es aussehen, als stünden beide Männer kurz davor, enthäutet zu werden, aber trotzdem lächelten sie. (Ein Lächeln über zusammengebissenen Zähnen, aber selbst jemand, der auf normale Weise einen Wagen durch die Hitze von Kalkutta zog, hätte vor Anstrengung die Zähne zusammengebissen.)