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Nachdem die Sterne erloschen sind …
Am 24. November 2034 geschieht das Unfassbare: Eine riesige Barriere legt sich um unser Sonnensystem, und die Sterne erlöschen. Wir schreiben das Jahr 2068: Für den Privatdetektiv Nick Stavrianos ist der sternenlose Himmel bereits eine Alltäglichkeit geworden. Außerdem hat er andere Sorgen: Er muss die junge Laura finden, ein Mädchen, das trotz einer schweren Gehirnschädigung aus einem Pflegeheim entwischt ist. Die Spur führt nach Hongkong, ins Zentrum der Genforschung. Doch bevor er Laura findet, wird Nick selbst gefangengenommen und von skrupellosen Forschern programmiert. Und dann erkennt er, dass zwischen dem verschwundenen Mädchen und der Barriere ein unglaublicher Zusammenhang besteht …
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Seitenzahl: 486
Veröffentlichungsjahr: 2016
GREG EGAN
QUARANTÄNE
Roman
Am 24. November 2034 geschieht das Unfassbare: Eine riesige Barriere legt sich um unser Sonnensystem, und die Sterne erlöschen. Wir schreiben das Jahr 2068: Für den Privatdetektiv Nick Stavrianos ist der sternenlose Himmel bereits eine Alltäglichkeit geworden. Außerdem hat er andere Sorgen: Er muss die junge Laura finden, ein Mädchen, das trotz einer schweren Gehirnschädigung aus einem Pflegeheim entwischt ist. Die Spur führt nach Hongkong, ins Zentrum der Genforschung. Doch bevor er Laura findet, wird Nick selbst gefangengenommen und von skrupellosen Forschern programmiert. Und dann erkennt er, dass zwischen dem verschwundenen Mädchen und der Barriere ein unglaublicher Zusammenhang besteht …
Titel der Originalausgabe
QUARANTINE
Aus dem australischen Englisch von Jürgen Martin
Überarbeitete Neuausgabe
© Copyright 1992 by Greg Egan
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Covergestaltung: Das Illustrat
Einen Klienten, der mich im Schlaf anruft, darf man getrost als paranoid bezeichnen.
Nun ja, kein Mensch möchte, dass ein heikles Thema an einem gewöhnlichen Videophon abgehandelt wird. Selbst wenn es keine Wanzen im Zimmer gibt, so entstehen doch bei der Umwandlung des codierten Signals in Bild und Ton elektrische Streufelder, die noch einen ganzen Block weiter zu empfangen sind. Die meisten Menschen geben sich aber mit der üblichen Lösung zufrieden: eine kleine Modifikation des Gehirns, die es in die Lage versetzt, die Decodierung des Signals selbst vorzunehmen und geradewegs an die Seh- und Hörzentren weiterzuleiten. Mit dem Modul, das ich benutze, nämlich Chiffre (von Neuro-Comm, fünftausendneunhundertundneunundneunzig Dollar), kann man dem Anrufer sogar antworten, ohne tatsächlich zu sprechen: Ein virtueller Kehlkopf sorgt für optimale Sicherheit in beiden Richtungen.
Sollte man meinen. Doch auch das Gehirn hat seine kleinen, feinen Streufelder. Man nehme also einen supraleitenden Detektor – kaum größer als eine Schuppe im Haar –, hefte ihn dem Opfer unbemerkt an die Kopfhaut, und schon ist man im Bild. Problemlos lassen sich so die Nervenimpulse verfolgen, die bei dieser Art von ›Ersatz‹-Wahrnehmung durchs Gehirn wandern, und ebenso problemlos in die entsprechenden Bilder und Töne übersetzen.
Daher also Dreamer (von Axon, siebzehntausendneunhundert Dollar). Es dauert einige Zeit, bis die nötigen Vorarbeiten für dieses Modul erledigt sind; aber wenn so nach sechs Wochen das individuelle Schema erst einmal feststeht, nach dem das begriffliche Denken in Nervenimpulse umgesetzt wird (und umgekehrt), dann ist man auf die Sinnesorgane und ihre Vermittlertätigkeit nicht länger angewiesen. Was der Anrufer einem zu sagen wünscht, das weiß man einfach, ohne dass man überhaupt einen Sprecher – ob virtuell oder nicht – vor sich sieht und hört. Auf dieser Ebene der Gehirntätigkeit kann, unter normalen Umständen, von einem Abhören keine Rede mehr sein. Natürlich gibt es einen Haken an der Sache: Die meisten Menschen finden es im Wachzustand höchst störend, wenn sich fremde Gedanken einfach so in ihrem Bewusstsein kristallisieren – manche nehmen sogar Schaden daran. Deshalb sollte man besser schlafen, wenn man auf diese Weise telefoniert.
Mit Träumen hat es, trotz des Namens, nichts zu tun; ich wache einfach auf und weiß es:
Laura Andrews ist zweiunddreißig Jahre alt, einhundertsechsundfünfzig Zentimeter groß, fünfundvierzig Kilogramm schwer. Kurzes, glattes braunes Haar, blassblaue Augen, lange, schmale Nase, anglo-irischer Typ. Sehr schwarze Haut. Wie bei den meisten Australiern mit ungenügender UV-Toleranz hat man auch ihren Genen etwas nachgeholfen; nun lässt die Melaninproduktion in der verdickten obersten Hautschicht nichts mehr zu wünschen übrig.
Laura Andrews leidet an einem schweren, angeborenen Hirnschaden. Sie kann gehen, sie kann essen, aber sie kann weder sich nicht mitteilen noch irgendetwas von dem verstehen, was man ihr sagt. Die Ärzte sagen, dass sie von ihrer Umwelt wenig mehr wahrnimmt als ein sechs Monate altes Baby. Seit ihrem fünften Lebensjahr ist sie Patientin am hiesigen Hilgemann-Institut.
Vier Wochen ist es her, dass ein Wärter ihr ständig verschlossenes Zimmer öffnete, um das Frühstück zu bringen, und feststellen musste, dass sie verschwunden war. Man suchte im Gebäude, dann auf dem Gelände und rief schließlich die Polizei. Die suchte noch einmal, auch in der weiteren Umgebung, klopfte an alle Türen, um die Anwohner zu befragen – vergebens. In Lauras Zelle fand sich kein Hinweis auf ein gewaltsames Eindringen, auch die Überwachungskameras hatten nicht die geringste Besonderheit aufgezeichnet. Die Polizei verhörte das Personal lange und gründlich, aber es fand sich niemand, der unter der Last eines etwaigen schlechten Gewissens zusammenbrach und gestand, das arme Mädchen weggezaubert zu haben.
Vier Wochen später noch immer keine Spur. Keiner, der sie gesehen hatte. Keine Leiche. Keine Lösegeldforderung. Die Polizei hatte den Fall offiziell noch nicht zu den Akten gelegt, doch schien alles getan. Man konnte es nur noch mit Abwarten probieren.
Manchmal ergab sich etwas beim Warten.
Meine Aufgabe soll sein, Laura Andrews zu finden und sicher ins Hilgemann-Institut zurückzubringen – oder wenigstens ihre Leiche zu finden –, sowie die nötigen Beweise zu besorgen, um die Verantwortlichen vor Gericht bringen zu können.
Mein anonymer Klient (Klientin?) vermutet, dass Laura entführt wurde, hüllt sich aber hinsichtlich eines Motivs in Schweigen. Im Augenblick habe ich kein Urteil, das ist nicht der Zustand, in dem man sich eine Meinung bilden kann: Hat man den Kopf voll mit Wissen, das einem auf diese Weise eingetrichtert wurde, dann sieht man die Sache zu sehr aus der Perspektive des Auftraggebers und geht womöglich irgendwelchen Lügen auf den Leim.
Ich öffne die Augen, schleppe mich mühsam aus dem Bett und hinüber zu dem Terminal in der Ecke des Zimmers. Ich habe es zum Prinzip gemacht, die finanzielle Seite niemals über Neuroinput abzuhandeln. Ein paar wenige Tasten, und ich sehe, dass man meinem Konto einen ausreichenden Honorarvorschuss angewiesen hat. Akzeptiere ich die Überweisung, dann bestätige ich dem Klienten, dass ich den Fall übernommen habe. Ich denke nach, ich muss die Einzelheiten noch einmal zurückrufen, ich muss wissen, was für einen Auftrag ich da übernehme: Es gibt immer einen Rest von Traumlogik bei solchen Telefonaten, ein Verdacht, dass man am Morgen erwachen und feststellen wird, dass alles nichts als Unsinn ist. Schließlich bestätige ich den Zahlungseingang.
Es ist eine heiße Nacht. Ich trete auf den Balkon und blicke auf den Fluss hinunter. Sogar früh um drei wimmelt es auf dem Wasser von Leuten, die sich vergnügen. Orange- und limonenfarben fluoreszieren die Segel der Windsurfer in der Dunkelheit; hin- und herzuckende Scheinwerfer von Zwölfmeterjachten strahlen heller als die Sonne. Auf den drei großen Brücken drängen sich Fußgänger und Radfahrer. Am östlichen Himmel, über dem Casino, blitzt und wirbelt die Leuchtreklame; gigantische Hologramme von Spielkarten, Würfeln, Champagnergläsern tanzen durch die Luft. Schläft denn keiner mehr in dieser Welt?
Ich blicke hinauf in den schwarzen, leeren Himmel und gerate, unerklärlicherweise, fast in Verzückung. Wir haben heute keinen Mond, keine Wolken, keine Planeten, und die einförmige Schwärze verweigert jederlei Anhaltspunkt, jederlei tröstliche Illusion über die Ausdehnung des Raums. Es könnte das andere Ende des Weltraums sein, worauf ich starre, es könnte auch die Innenseite meiner Augenlider sein. Ein Gefühl von Übelkeit und Schwindel steigt auf – kein Wunder, wenn Platzangst und die erneute Einsicht in die schlicht un-menschlichen Dimensionen der Barriere miteinander im Wettstreit liegen. Ich schaudere – sehr kurz, sehr heftig –, dann ist es vorbei.
Karen, meine verstorbene Frau, steht plötzlich neben mir auf dem Balkon. Auch diese Halluzination ist das Produkt eines Neuromoduls. Sie legt einen Arm um meine Hüfte und sagt: ›Nick? Was ist los?‹ Ihre Hand ist kühl, sie spreizt die Finger und streicht wie mit Spinnenbeinen über meinen Bauch. Fast hätte ich sie gefragt, ob sie jemals die Sterne vermisst habe. Aber ich lasse es sein. Das würde lächerlich sentimental klingen. Gut, dass ich mich gerade noch beherrschen kann.
Ich schüttle den Kopf. »Nichts.«
Das Grün auf dem Gelände des Hilgemann-Instituts ist so üppig und saftig, wie die Gentechnik – und ein leistungsfähiges Bewässerungssystem – es nur erlauben, auch wenn man im Hochsommer nichts als braune, vertrocknete Pflanzen erwarten sollte. In der Vormittagshitze glitzert der Rasen, als läge noch der Morgentau darüber; zweifellos wird er aus unterirdischen Leitungen ständig bewässert. Unter Bäumen, die irgendwie an Ahorn erinnern, schlendere ich den Weg zum Hauptgebäude entlang. Das Image, das man sich hier leistet, ist wirklich kostspielig. Ein so unbekümmerter Umgang mit Wasser muss bei den heutigen Preisen, die fast schon eine Strafe sind, mit astronomischen Summen zu Buche schlagen. Dabei sollen sie sich in den nächsten Monaten verdoppeln. Die dritte Kimberley-Pipeline, die das Wasser von den Stauseen zweihundertfünfzig Kilometer weiter im Norden hierher transportieren soll, ist inzwischen schon viermal teurer als geplant geworden. Die Pläne für eine Entsalzungsanlage sind auf Eis gelegt, wieder einmal – vermutlich hat eine Überschwemmung des Markts für Meeresmineralien dem Projekt den Todesstoß gegeben.
Der Weg mündet in eine kreisförmige Auffahrt, die ein Rondell umschließt, ein einziges Meer von Blumen in allen Farben. Genmanipulierte Kolibris (Marke IS) schweben über den Blüten, schießen wieder davon; ich bleibe stehen und beobachte sie eine Weile. Nur zu gerne würde ich einmal erleben, wie einer der Vögel seine Programmierung vergisst und aus dem Rondell entflieht. Ein vergeblicher Wunsch, natürlich.
Das Gebäude ist aus Holzimitat gebaut, im Stil eines Hotels oder Rasthauses im Grünen. Hilgemann-Institute gibt es auf der ganzen Welt, obwohl man keinen Menschen dieses Namens finden wird, der dafür verantwortlich zu machen wäre. Jedermann weiß, dass International Services seinen Marketingberatern ein kleines Vermögen bezahlte, damit sie den bestmöglichen Namen für den Geschäftszweig ›Psychiatrische Einrichtungen‹ fanden. (Ob das Wissen um die Herkunft des Namens dem Geschäft schadet oder im Gegenteil umsatzfördernd wirkt, weiß ich wirklich nicht.) IS betreibt auch Kliniken, Einrichtungen der Jugendfürsorge, Schulen, Universitäten, Gefängnisse und – neuerdings – auch Klöster. Für meinen Geschmack sehen sie alle wie Hotels aus.
Ich will zum Empfangsschalter gehen, aber das erübrigt sich.
»Mr. Stavrianos?«
Dr. Cheng, die Stellvertreterin des ärztlichen Direktors, mit der ich kurz telefoniert habe, wartet schon in der Halle auf mich. Das ist ungewöhnlich zuvorkommend und bringt mich um die Chance, meine Nase unbeaufsichtigt in alle möglichen Ecken zu stecken. Hier gibt es keine weißen Kittel, ihr Kleid hat ein verrücktes Muster in der Art von Escher: endlose Reihen von Blüten oder Vögeln, je nach Betrachtungsweise. Sie führt mich durch eine Tür mit der Aufschrift ›Zutritt nur für Personal‹ und weiter durch ein Labyrinth von Korridoren bis zu ihrem Büro. Wir setzen uns, abseits eines spartanischen Schreibtisches, in bequeme Polsterstühle.
»Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie mich so kurzfristig empfangen haben.«
»Nicht der Rede wert. Wir sind mehr als froh, an der Aufklärung mitarbeiten zu können. Auch wir wollen Laura finden, unbedingt. Aber eines muss ich Ihnen sagen: Ich kann mir nicht vorstellen, was Lauras Schwester sich von einer Klage gegen uns verspricht. Das hilft Laura doch nicht weiter, oder?«
Ich nicke beifällig. Vielleicht ist die Schwester – oder ihr Anwalt – mein Auftraggeber; aber wenn schon, wozu all diese Geheimnistuerei? Auch wenn ich nicht hier eingetrudelt wäre und mich als Vertreter der Gegenseite zu erkennen gegeben hätte, dann hätten die Hilgemann-Anwälte auch so angenommen, dass man einen Detektiv einschalten würde, früher oder später. Sie hatten längst ihren eigenen engagiert, so viel stand fest.
»Sagen Sie mir, was Ihrer Meinung nach mit Laura passiert ist.«
Dr. Cheng runzelt die Stirn. »Eines ist absolut sicher: Sie kann sich nicht aus eigener Kraft befreit haben. Laura könnte nicht einmal mit einer Türklinke umgehen. Jemand hat sie herausgeholt. Zwar ist das hier kein Gefängnis, doch haben wir ein nicht zu unterschätzendes Kontrollsystem. Nur ein sehr geschickter, sehr gut ausgerüsteter … Spezialist kann sie hier herausgeholt haben – in wessen Auftrag und aus welchem Grund, das kann ich mir beim besten Willen nicht denken. Für Lösegeldforderungen ist es inzwischen schon zu spät; abgesehen davon ist ihre Schwester nicht vermögend.«
»Könnten sie die falsche Person erwischt haben? Vielleicht sollte ein anderer Ihrer Patienten entführt werden – einer, dessen Familie ein beträchtliches Lösegeld zahlen könnte –, und sie haben ihren Irrtum erst bemerkt, als es zu spät war.«
»Das wäre denkbar.«
»Kennen Sie ein mögliches Opfer? Ein Patient aus sehr vermögendem …«
»Das kann ich wirklich nicht …«
»Nein, natürlich nicht. Entschuldigen Sie.« Auf ihrem Gesicht ist zu lesen, dass es wohl mehr als ein Name ist, der ihr durch den Kopf geht. Aber sie will natürlich nicht, dass ich deren Familien mit Fragen belästige. »Ich nehme an, Sie haben Ihre Sicherheitsvorkehrungen verstärkt?«
»Auch darüber kann ich leider nichts sagen.«
»Natürlich. Sprechen wir von Laura. Was ist mit ihrer Behinderung? Woher stammt dieser Hirnschaden?«
»Das lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen.«
»Gut, aber Sie haben doch eine Theorie? Welche möglichen Ursachen kommen in Frage? Röteln, Syphilis, Aids? Drogenmissbrauch der Mutter? Nebenwirkungen eines Medikaments, von Pflanzenschutzmitteln, Lebensmittelzusätzen …?«
Sie schüttelt mit Nachdruck den Kopf. »Das alles ist mit ziemlicher Sicherheit auszuschließen. Ihre Mutter hat alle üblichen Vorsorgeuntersuchungen absolviert, sie war nicht krank, sie war nicht drogensüchtig. Und mit einer keimschädigenden oder mutagenen Substanz lässt sich Lauras Zustand nicht erklären. Sie finden bei ihr keinerlei Missbildung, keine Stoffwechselstörung, keine abnormen Proteine, keine Gewebeveränderungen …«
»Warum ist sie dann so zurückgeblieben?«
»Es sieht so aus, als ob bestimmte wichtige Nervenverbindungen, die sich in einem frühen Stadium bilden, bei Laura fehlen – und dieses Fehlen machte jede weitere normale Entwicklung unmöglich. Die Frage ist, warum sich diese Nervenverbindungen nicht gebildet haben. Wie ich schon sagte, wir sind uns nicht sicher, doch vermute ich, dass es ein komplexer genetischer Defekt ist, ein Zusammenwirken mehrerer eher unauffälliger Faktoren, das sich dann bei der Embryonalentwicklung so katastrophal auswirkt.«
»Wüssten Sie das nicht, wenn es ein genetisches Problem wäre? Könnte man nicht ihre DNA untersuchen?«
»Es liegt kein bekannter und katalogisierter Defekt des Erbguts vor, wenn Sie das meinen – was nur beweist, dass es für die Gehirnentwicklung wesentliche Gene gibt, die wir erst noch identifizieren müssen.«
»Ist die Behinderung in ihrer Familie schon früher aufgetreten?«
»Nein, aber wenn mehrere Gene daran beteiligt sind, ist das nicht weiter überraschend; die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Verwandten dieselben Bedingungen vorliegen, ist gering.« Sie runzelt die Stirn. »Verzeihen Sie, aber hilft Ihnen das irgendwie bei der Suche?«
»Nun ja, wenn ein Hersteller von Medikamenten oder Lebensmitteln dafür verantwortlich wäre, dann würde er seine Interessen zu wahren versuchen. Es ist eine Weile her, ich weiß, aber es könnte doch sein, dass irgendein wenig bekanntes Forscherteam kurz vor einem wichtigen Durchbruch steht: Angenommen, sie könnten bald beweisen, dass das Wundermittel X, das einzig wahre Antidepressivum der dreißiger Jahre, in einem von hunderttausend Fällen aus einem Embryo das macht, was bei Laura passiert ist. Sie kennen sicher die Geschichte von Holistic Health Products in den Vereinigten Staaten: Bei sechshundert Menschen kam es zum Nierenversagen, nachdem sie regelmäßig ihre kleinen Aufheller eingenommen hatten. Und der Hersteller engagierte ein Dutzend professioneller Killer, und alle Opfer starben nach und nach bei bedauerlichen Unglücksfällen. Bei einem Toten kommt die Schadenersatzklage billiger als bei einem Lebenden. Gut, eine Entführung macht wenig Sinn, aber wer weiß? Vielleicht müssen sie Laura untersuchen, um sich mit Argumenten für den Prozess zu versorgen?«
»Für mich klingt das alles ziemlich paranoid.«
Ich zucke mit den Schultern. »Eine Berufskrankheit.«
Sie lacht. »Ihre oder meine? Aber lassen wir das. Ich habe Ihnen gesagt, dass es sich in Lauras Fall um einen angeborenen Defekt handelt.«
»Aber Sie sind sich nicht absolut sicher.«
»Nein.«
Ich stelle die üblichen Fragen zum Personal: Neueinstellungen und Entlassungen in den letzten Monaten … jemand, der Schulden oder andere Probleme hatte … jemand, der seinem Arbeitgeber eins auswischen wollte … Das alles hatte die Polizei schon mehr als einmal durchgemacht, aber nach vier Wochen ergebnislosen Nachforschens konnte auch irgendein unbeachtetes Detail sich als bedeutsam erweisen.
Nichts dergleichen.
»Kann ich ihr Zimmer sehen?«
»Aber sicher.«
Wir gehen durch Korridore, an deren Decken im Abstand von zehn Metern Kameras montiert sind. Ich schätze, dass man an wenigstens sieben Kameras vorbei muss, wenn man zu Lauras Zimmer geht, gleich aus welcher Richtung man kommt. Ein Daten-Chamäleon ist nicht billig, aber für sieben Stück mochte das Budget eines wirklichen Profis schon reichen. Hatte man so einen stecknadelkopfgroßen Prozessor erst einmal in der Datenleitung untergebracht, dann speicherte er das Bildsignal eines bestimmten Augenblicks – wenn der Korridor leer war – und gab es anschließend anstelle des richtigen Bildes weiter. Natürlich musste man beim Ein- und Ausblenden des gefälschten Bildes mit einigem hochfrequenten Rauschen rechnen, aber das war vom Rauschen eines normalen Videobands nicht zu unterscheiden. Solange man nicht jeden Meter des Lichtleiterkabels unter dem Elektronenmikroskop auf die winzigen Einstiche hin untersuchte, würde man nie feststellen können, ob eine solche Manipulation stattgefunden hat.
Die Tür, die ferngesteuert geöffnet und geschlossen wird, ist ein kaum größeres Hindernis.
Das Zimmer ist klein und spärlich möbliert. Auf einer Wand breitet sich ein fröhlich-buntes Bild mit Blumen und Vögeln aus. Es ist nicht das, was ich beim Erwachen gern sehen würde, aber was wusste ich schon über Lauras Geschmack. Es gibt ein einziges großes Fenster neben dem Bett, das fest in der Wand verankert ist und nicht den Eindruck macht, als hätte man bei seiner Konstruktion auch ans Öffnen gedacht. Die Scheibe ist aus hochfestem Kunststoff, der auch einer Gewehrkugel standhalten würde, obwohl man ihn mit der richtigen Ausrüstung schneiden und wieder verschließen kann, ohne dass eine sichtbare Naht bleibt. Ich nehme meine Kamera aus der Tasche und mache ein paar Aufnahmen; im polarisierten Licht des Laserblitzes konnte das schon anders aussehen. Aber auch das Falschfarbenbild zeigt keine Spannungslinien. Diese Fensterscheibe hat niemand angerührt.
Um die Wahrheit zu sagen: Es gibt nichts, was ich hier tun kann, was nicht die Spurensicherung der Polizei schon vor mir und besser getan hat. Sicher haben sie den Teppichboden holographisch auf Fußabdrücke untersucht, sicher haben sie ihn abgesaugt und jeden einzelnen Fusel, jeden Krumen biologischer Substanz analysiert. Sicher haben sie das Bettzeug ins Labor geschafft und auch den Boden draußen vor dem Fenster nicht vergessen, der das eine oder andere mikroskopisch kleine Indiz liefern konnte. Aber zumindest habe ich jetzt eine genaue Vorstellung von diesem Zimmer; das ist eine solide Grundlage für Spekulationen über die Vorgänge jener Nacht.
Dr. Cheng begleitet mich zurück in die Empfangshalle.
»Darf ich Sie etwas fragen, das nichts mit Laura zu tun hat?«
»Bitte?«
»Haben Sie hier viele Patienten mit Barrieren-Phobie?«
Sie lacht und schüttelt den Kopf. »Nicht einen einzigen. Barrieren-Phobie ist leider ganz aus der Mode gekommen.«
Weil ich mein Geschäft verstehe und weil ich innerhalb gewisser Grenzen auch zahlungsfähig bin, kann ich jederzeit über jede beliebige Person etwas herausfinden. Und das ohne allzu viel Mühe. Martha Andrews ist neununddreißig Jahre alt und arbeitet als Systemanalytikerin für WestRail. Sie ist geschieden und hat das Sorgerecht für ihre beiden Söhne. Ihr Einkommen ist durchschnittlich, ihre Schulden sind es auch, und ihre bescheidene Dreizimmerwohnung gehört ihr immerhin zu zweiundvierzig Prozent. Das Geld für das Hilgemann-Institut kommt aus einem Fond, den ihre Eltern hinterlassen haben. Ihr Vater starb vor drei Jahren, die Mutter ein Jahr später. Nicht gerade das geeignete Objekt für eine Erpressung.
Nach wie vor ist die wahrscheinlichste Hypothese die, dass Laura das Opfer einer Verwechslung wurde; das passt zwar nicht zu der professionellen Arbeitsweise der Entführer, aber einen Fehler macht schließlich jeder mal. Was ich jetzt brauche, ist eine Liste aller Patienten im Hilgemann. Auch einige Details über das Personal könnten nicht schaden.
Ich rufe den gewohnten Hacker-Service an.
Das Klingeln scheint irgendwo tief aus meinem Schädel zu kommen. Es ist offensichtlich, dass die Psychologen von Neuro-Comm diesen akustischen Effekt erdacht haben, um den Eindruck von Vertraulichkeit zu erwecken. Mich beeindruckt es nicht, ich kriege Platzangst. Gleichzeitig verblassen die Farben der Außenwelt, meine Augen sehen nur noch schwarz-weiß: Das soll die Ablenkung vermindern, aber tatsächlich empfindet man auch das nur als einen weiteren lästigen Zaubertrick.
Bella antwortet wie immer beim vierten Klingeln. Vielleicht ein Meter vor mir taucht ihr Gesicht auf, hebt sich lebhaft und lebensecht von dem Schwarzweiß der wirklichen Welt ab. Kopf und Hals, mehr von ihr ist nicht zu sehen, als würde ein Scheinwerfer vor abgedunkeltem Saal eine Bühnenszene ausleuchten. Sie lächelt kühl. »Andrew! Schön, Sie zu sehen. Was kann ich für Sie tun?« ›Andrew‹ heißt eine der Masken, die Chiffre für mich – sozusagen als Interface – nach draußen projiziert. Auch ihr Gesicht ist möglicherweise eine elektronisch erzeugte Maske, die Wort für Wort wiedergibt, was ein wirklicher Mensch im Hintergrund zu sagen wünscht – könnte aber auch ein reines Kunstprodukt sein, nichts weiter als das Interface irgendeiner Maschine, angefangen beim Ultra-Tech-Anrufbeantworter bis hin zur Personifikation des Computersystems selbst, das das Hacken besorgt. Mir ist es gleich, wer oder was Bella ist, solange sie/er/es oder alle zusammen mir die gewünschten Informationen liefern.
›Das Hilgemann-Institut in Perth. Ich brauche die Kranken- und Personalakten, komplett.‹
›Wie weit zurück?‹
›Ähm … sagen wir dreißig Jahre, wenn die Daten on line verfügbar sind. Ist der alte Kram archiviert und kostet der Zugriff ein Vermögen, dann vergessen Sie’s.‹
Sie nickt. ›Zweitausend Dollar.‹
Ich versuche nicht, zu handeln. Ich kenne meine Bella. ›Gut.‹
›Rufen Sie in vier Stunden wieder an. Benutzen Sie das Kennwort »Paradigma«.‹
Als mein Zimmer wieder die vertrauten Farben angenommen hat, fällt mir ein, dass zweitausend Dollar für Martha Andrews womöglich eine Menge Geld sind – von den fünfzehntausend ganz zu schweigen, die ich schon als Vorschuss bekommen habe. Natürlich, wenn ihre Anwälte zuversichtlich waren, was eine hohe Schadenersatzsumme plus fetter Spesen betraf, dann bedeuteten fünfzehntausend Dollar gar nichts. Dass sie anonym bleiben wollte, war übrigens nicht weniger ehrenrührig als meine Praktik, beim Telefonieren mit Bella einen anderen Namen zu benutzen. Wer sich nicht leisten kann, jedweder illegalen Methode aus dem Weg zu gehen, der sollte immer ein paar Sicherungen eingebaut haben, wenn er nicht eine Anklage wegen Beihilfe riskieren will.
Soll ich mit Martha sprechen? Ich sehe keinen Grund, warum ihre Anwälte etwas dagegen haben sollten. Und wenn sie mich eigenhändig engagiert hat (was nicht völlig ausgeschlossen ist, denn warum sollte sie nicht über Geldquellen verfügen, die mir verborgen geblieben waren?), dann war ihr die Anonymität doch wohl wichtiger gewesen als die unmissverständliche Aufforderung, ihr vom Leib zu bleiben.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu tun, als hätte ich zu keiner Zeit über die Identität meines Auftraggebers nachgedacht – auch wenn es in Wahrheit so ist, dass bis zur Stunde dieser Punkt das Faszinierendste an der ganzen Sache ist.
Martha sieht ihrer Schwester sehr ähnlich, vielleicht mit etwas mehr Fleisch auf den Knochen – ganz bestimmt aber mit sehr viel mehr Problemen. Am Telefon hat sie mich gefragt, für wen ich arbeite. ›Für das Institut?‹ Als ich sagte, dass ich den Namen des Auftraggebers nicht nennen dürfe, schien sie das als Bestätigung zu nehmen. (Tatsächlich ist das ziemlich absurd; IS gehört mehr als die Hälfte der Pinkerton-Agentur, so dass sie niemals einen kleinen, selbständigen Detektiv engagieren würden.) Jetzt, als ich ihr gegenübersitze, bin ich fast sicher, dass ihre Frage nicht geheuchelt war.
»Also wirklich, ich bin der letzte Mensch, der Ihnen helfen könnte, Laura zu finden. Das Institut war für sie verantwortlich, nicht ich. Ich verstehe nicht, wie so etwas passieren konnte!«
»Sicher, aber lassen wir die Schuldfrage doch für einen Augenblick beiseite. Haben Sie eine Idee, warum jemand Laura entführen könnte?«
Sie schüttelt den Kopf. »Wem sollte das etwas nützen?« Die Küche, in der wir sitzen, ist winzig und makellos sauber. Im Zimmer nebenan spielen ihre beiden Jungen, was in diesem Sommer alle spielen, ›Tibetische Zen-Dämonen auf LSD-Trip gegen haitianische Voodoo-Götter unter Kokain‹ – und sie spielen es nicht nur im Kopf wie die reichen Kinder: Ein markerschütternder Schrei von drüben, dass die Mutter zusammenzuckt, dann ein lauter Knall, Freudenschreie. »Wie ich schon sagte, ich kann Ihnen nicht mehr darüber sagen als irgendjemand sonst. Vielleicht wurde sie gar nicht entführt, vielleicht ist sie auf irgendeine Weise zu Schaden gekommen. Dass man sie misshandelte, meine ich, oder vielleicht hat man ein neues Medikament an ihr getestet, mit fatalen Folgen? Das sind nur Vermutungen, aber Sie sollten eine solche Möglichkeit nicht ganz ausschließen. Vorausgesetzt, Sie sind tatsächlich an der Wahrheit interessiert.«
»Sie standen Laura sehr nahe?«
Sie runzelt die Stirn. »Nahe? Hat man es Ihnen nicht gesagt, was mit ihr los ist?«
»Aber Sie fühlen sich ihr verpflichtet? Haben Sie sie manchmal besucht?«
»Nein, nie. Es hatte keinen Sinn, sie zu besuchen. Sie hätte nicht begriffen, was es bedeutete. Vielleicht hätte sie nicht einmal bemerkt, dass jemand da war.«
»Dachten Ihre Eltern auch so?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Meine Mutter hat regelmäßig nach ihr gesehen, einmal im Monat. Sie hat sich nichts vorgemacht, sie wusste, dass es für Laura keinen Unterschied machte, aber es gehörte sich eben. Ich will sagen, sie hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie es nicht getan hätte. Und als es dann die Module gab, die das beheben können, da war es schon zur festen Gewohnheit geworden. Aber ich für meinen Teil hatte damit nie Probleme; Laura ist für mich eigentlich kein Mensch, und ich wäre eine Heuchlerin, wenn ich etwas anderes sagen würde.«
»Darf ich das so verstehen, dass Sie für Ihren Auftritt vor Gericht doch noch etwas Betroffenheit einüben werden?«
Sie lacht, sie nimmt mir diese Bemerkung nicht übel. »Nein. Wir klagen auf Schadenersatz, nicht auf Schmerzensgeld. Es geht um die Verletzung der Aufsichtspflicht, nicht um die Gefühle der Angehörigen. Vielleicht bin ich eine Opportunistin, aber einen Meineid schwören werde ich nicht.«
Auf der Bahnfahrt zurück in die Stadt mache ich mir so meine Gedanken. Könnte Martha die Entführung eingefädelt haben, um Schadenersatz zu kassieren? Dass sie auf Schmerzensgeld verzichtete, dass sie nicht ein Maximum an Profit herauszuschlagen versuchte, konnte ein bewusster Schachzug sein, um die Sympathie des Gerichts auf ihrer Seite zu haben. Doch gibt es mindestens einen schwachen Punkt in dieser Theorie: Warum hatte sie dann kein Lösegeld eingeplant? Sie hätte es gerichtlich vom Hilgemann zurückfordern können. Damit hätte sie ein plausibles Motiv für die Entführung geliefert. Warum sollte sie ein Geheimnis daraus machen, das nach einer Erklärung schreit und den Verdacht eines Betrugs geradezu auf sich zieht?
Endlich der qualvollen, erstickenden Enge des Untergrunds entronnen, stelle ich fest, dass das Gewühl oben auf den Straßen kaum erträglicher ist. Eine Menge Leute, die sich nach Feierabend auf die Jagd nach Sonderangeboten gemacht haben – Überbleibsel des Weihnachtsgeschäfts –, Straßenmusikanten, die so untalentiert sind, dass ich mich am liebsten auf sie gestürzt und alle Buchungen ihrer kleinen Kreditkartenautomaten rückgängig gemacht hätte.
›Du bist ein mieses Stück‹, sagt Karen, und ich nicke dazu.
Während ich auf den Sandwich-Mann zugehe, nehme ich mir ganz fest vor, keinen Blick auf ihn zu verschwenden. Aber wenige Schritte hinter ihm drehe ich mich um und starre ihn unverhohlen an. Sein gottergeben gesenktes Gesicht ist bleich wie der Tod – ›Gott weiß, warum er uns weiße Haut gegeben hat!‹ –, und er trägt einen schwarzen Anzug, in dieser Hitze wohl das vorweggenommene Fegefeuer. Inmitten der hell gekleideten Menschen mit ihren nackten Armen und Beinen wirkt er wie ein Missionar des neunzehnten Jahrhunderts, den es auf einen afrikanischen Marktplatz verschlagen hat. Ich habe den Mann schon früher gesehen, mit denselben Tafeln auf Brust und Rücken, mit derselben beschwörenden Botschaft:
SÜNDER,
BEKEHRT EUCH!
DAS GERICHT
IST NAH!
Nah! Nach dreiunddreißig Jahren nah! Kein Wunder, wenn man immerzu nur auf den Boden vor seinen Füßen starrt. Was, zum Teufel, ist in seinem Kopf vorgegangen in diesen drei Jahrzehnten? Wacht er morgens auf und sagt sich – nun zum zehntausendsten Mal: ›Heute! Heute ist der Tag!‹ Das ist nicht Glaube, das ist Idiotie.
Ich stehe ein Weile da und beobachte ihn. Er geht langsam auf und ab, immer dieselbe Strecke, macht halt, wenn die Menschenflut zu stark gegen ihn anbrandet. Die meisten ignorieren ihn, aber ich sehe einen halbwüchsigen Jungen, der ihn wie aus Versehen anrempelt und zur Seite stößt. Hämische Freude überkommt mich, ich kann es nicht ändern, gleichzeitig schäme ich mich.
Ich habe keinen Grund, diesen Mann zu hassen. Leute, die an das Weltgericht und das kommende Tausendjährige Reich glauben, gibt es in allen Schattierungen – von frommen Idioten bis zu raffinierten Geschäftemachern, von ausgeflippten Wassermann-Jüngern bis zu terroristischen Massenmördern. Wer zu den Kindern des Chaos gehörte, der wanderte nicht mit Reklametafeln durch die Straßen. Dieses pathetische Aufziehmännchen für Karens Tod verantwortlich zu machen ist einfach Nonsens.
Aber es hilft nicht; während ich weitergehe, sehe ich noch immer das Gesicht des Mannes vor mir, das sich nun langsam in blutigen Brei verwandelt. Und es tut mir gut.
Ich war acht Jahre alt, als die Sterne erloschen.
Es war am 15. November 2034, zwischen 8 Uhr 11 und 8 Uhr 27 westeuropäischer Zeit.
Mit eigenen Augen habe ich jenen kreisrunden schwarzen Fleck nicht gesehen, der an dem der Sonne entgegengesetzten Punkt der Ekliptik zu wachsen begann, als würde sich der Schlund eines kohlschwarzen kosmischen Wurms öffnen. Ein Schlund, der sich anschickte, die ganze Welt zu verschlingen. Im Fernsehen habe ich es gesehen, ja, mehr als hundert Mal und aus jeder möglichen Perspektive – aber auf dem Bildschirm schien es nichts weiter als ein billiger Effekt aus Hollywoods Trickkiste zu sein (auf den Satellitenbildern war dieser Eindruck noch stärker; war das grelle Sonnenlicht herausgefiltert, dann konnte man deutlich erkennen, wie sich der ›Schlund‹ jenseits unseres Zentralgestirns wieder schloss – ein Vorgang von erschreckender, aber sehr künstlich wirkender Präzision).
Wie hätte ich es mit eigenen Augen sehen sollen, wo es doch in Perth später Nachmittag war, als es passierte. Die Nachricht erreichte uns noch vor Sonnenuntergang, und zusammen mit meinen Eltern stand ich auf dem Balkon, während es dämmerte. Wir warteten. Als ich Venus aufgehen sah und es den Erwachsenen lautstark verkündete, verlor mein Vater die Fassung und schickte mich auf mein Zimmer. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe; bestimmt kannte ich schon den Unterschied zwischen Sternen und Planeten, aber vielleicht habe ich irgendeinen albernen Witz gemacht. Als ich dann aus dem Fenster meines Zimmers starrte – ich hatte die Wahl zwischen einer schmutzigen Scheibe und einem staubigen Fliegengitter –, da sah ich – nichts. Einfach nichts, wie hätte mich das beeindrucken sollen. Später, als ich endlich ungehindert einen Blick auf den leeren Himmel werfen konnte, versuchte ich pflichtgemäß ehrfürchtig zu staunen. Es ging nicht. Der Blick war nicht aufregender als in einer Nacht mit geschlossener Wolkendecke. Es dauerte einige Jahre, bis ich verstand, wie erschüttert meine Eltern gewesen sein mussten.
Es gab Unruhen an diesem Tag, die Menschen liefen Amok. Wirklich schlimm war es natürlich da, wo die Erdenbürger das Schauspiel am Himmel mit eigenen Augen sehen konnten. Das war eine Frage von Längengrad und Wetter. Vom Westpazifik bis hinüber nach Brasilien war es Nacht, doch lagen über dem größten Teil von Nord- und Südamerika dichte Wolken. Klar war der Himmel über Peru, Kolumbien, Mexiko und Südkalifornien, also waren Lima, Bogota, Mexiko City und Los Angeles am härtesten betroffen. In New York, wo das Schauspiel elf Minuten nach drei in der Frühe begann, war es bitterkalt bei bedecktem Himmel, weshalb die Stadt weitgehend verschont blieb. Brasilia und Sao Paulo rettete das erste Licht des Morgens.
Hierzulande gab es keine Krawalle; auch für die Ostküste war der Sonnenuntergang zu spät gekommen, und so saßen die meisten Australier wie festgewachsen vor ihren Fernsehern und ließen andere Leute plündern und Häuser anzünden. Der Weltuntergang – das war einfach eine Nummer zu groß für dieses Land, das konnte es nur in Übersee geben. In Sydney kamen weniger Menschen zu Tode als an einem gewöhnlichen Silvesterabend.
Im Rückblick scheint es mir, als folgten die Erklärungsversuche dem Ereignis auf dem Fuße. Erklärungen, soviel man wollte. Die Analyse der Sternbedeckungen hatte praktisch sofort ergeben, welcher bemerkenswerten Symmetrie der Vorgang gehorchte; vielleicht war das für mich Antwort genug. Schon sechs Monate später erreichten die ersten Sonden die Barriere, wie man die undurchdringliche schwarze Wand praktisch von Anfang an genannt hatte – was immer man später über ihre wahre Natur herausfinden würde.
Die Barriere ist eine geometrisch perfekte Kugel mit einem Radius von zwölf Milliarden Kilometern, was etwa dem doppelten Abstand des Pluto von der Sonne entspricht; die Sonne steht im Mittelpunkt der Kugel. Die Barriere war mit einem Mal da, das Werk eines Augenblicks, obwohl der Abstand Erde/Sonne von acht Lichtminuten den Eindruck eines schwarzen Schlunds entstehen ließ, der langsam größer wurde und sich schließlich über das ganze Sonnensystem stülpte. Wo die Erde der Barriere am nächsten war, erloschen die Sterne zuerst, auf Höhe der Ekliptik jenseits der Sonne entsprechend der Laufzeit des Lichts zuletzt.
Die Barriere stellt zwar eine räumlich exakt abgegrenzte Fläche dar, doch fehlt ihr jede materielle Basis. Man könnte an den Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs denken, nur dass er in diesem Fall konkav gekrümmt ist. Die Barriere absorbiert das Sonnenlicht vollständig und sendet selbst nichts als eine Art kosmischer Hintergrundstrahlung aus, die aber weit energieärmer als die tatsächliche Hintergrundstrahlung ist, die uns nicht länger erreichen kann. Nähert sich eine Sonde der Barriere, dann stellt man eine starke Rotverschiebung fest, ebenso eine Zeitdilatation an Bord des Raumfahrzeugs – doch wurden nie Gravitationskräfte gemessen, die diese Effekte hätten erklären können. Bringt man Sonden auf eine Bahn, die die Barriere kreuzt, dann scheinen sie in immer kleineren Schritten immer langsamer zu werden, ohne je zum Stillstand zu kommen, wobei die Signale zunehmend schwächer werden und schließlich nicht mehr messbar sind. Die meisten Physiker glauben, dass, von Bord einer Sonde aus gesehen, sie ungehindert und ungebremst die Barriere passiert – und sind sich dabei sicher, dass dieses tatsächlich aber in einer Myriaden von Jahren entfernten Zukunft geschieht. Ob es hinter der uns bekannten Barriere noch weitere gibt, können wir naturgemäß nicht wissen. Kein Mensch kann sagen, was einen Astronauten auf einer Reise ohne Wiederkehr durch die Barriere hindurch erwarten würde. Vielleicht fände er das Universum in seiner Pracht ganz unverändert vor, vielleicht käme er gerade rechtzeitig auf der anderen Seite an, um seinen Untergang mitzuerleben.
Die Medien, die man monatelang mit Theorien abgespeist hatten, die noch phantastischer als jede Wirklichkeit waren, griffen das einzig vertraute Schlagwort aus dieser Diskussion auf: Das Sonnensystem, verkündeten sie prompt, sei in ein großes Schwarzes Loch ›gefallen‹, was erneut eine weltweite Panik auslöste, bevor man es noch richtigstellen konnte. Wenn um uns herum sich ein Ereignishorizont wölbte – folgerte man messerscharf –, dann mussten wir uns innerhalb eines Schwarzen Lochs befinden. So falsch es auch war, so vernünftig hörte es sich an. Die Wahrheit ist, dass der Ereignishorizont nicht uns umgibt, sondern im Gegenteil alles andere außer uns.
Obwohl eine Handvoll Theoretiker nachzuweisen versuchte, dass Phänomene dieser Art ganz natürlich seien und sich spontan überall in diesem Universum ereignen könnten, gab es eigentlich nur eine plausible Erklärung: Eine außerirdische Spezies, die über gigantische Möglichkeiten verfügte, hatte eine Mauer um uns errichtet, die uns vom Rest des Universums isolieren sollte.
Die Frage war nur: warum?
Sollte es ihre Absicht gewesen sein, uns von der Eroberung der Galaxie abzuhalten, dann hätten sie sich die Mühe sparen können. Im Jahr 2034 war noch kein Mensch weiter als bis zum Mars gereist. Die amerikanische Mondstation war sechs Jahre zuvor schon aufgegeben worden, nach nur achtzehn Monaten des Betriebs. Die einzigen Raumfahrzeuge, die je das Sonnensystem verlassen hatten, waren Sonden zu den äußeren Planeten, gestartet im späten zwanzigsten Jahrhundert, die nun im Schneckentempo auf zufälligen Bahnen durch den Sonnenfernen Raum krochen. Die für 2050 geplante unbemannte Mission zu Alpha Centauri war gerade eben auf das Jahr 2069 verschoben worden; man hoffte, dass zum hundertsten Jahrestag der ersten Mondlandung von Apollo XI die nötigen Gelder bereitwilliger flossen.
Natürlich mochten Außerirdische, die schon lange Zeit Raumfahrt betrieben, das unter einem anderen zeitlichen Aspekt betrachten. Die vielleicht tausend Jahre, die die Menschheit noch von den ersten Schritten in den interstellaren Raum trennten, mochten für sie die letzte, eben noch zu verantwortende Frist sein, bevor alles zu spät war. Trotz alledem – dass eine Zivilisation, die Raum und Zeit nach Belieben manipulierte, uns fürchten sollte, war doch grotesk; uns, die wir nicht einmal annähernd verstanden, was sie mit uns gemacht hatten.
Möglicherweise meinten sie es sogar gut mit uns. Möglicherweise bewahrten sie uns vor einem Schicksal, das weit schlimmer war, als in dieser Ecke des Weltraums eingeschlossen zu sein. Hier konnten wir, wenn wir uns ein wenig Mühe gaben, doch für die nächsten hundert Millionen Jahre blühen und gedeihen. Konnte es nicht sein, dass der galaktische Kern am Explodieren war und nur die Barriere Schutz vor der Strahlung bot? Konnte es nicht sein, dass andere, bösartige Aliens in dieser Gegend Amok liefen und nur auf diese Weise von uns abgehalten werden konnten? Es gab auch weniger dramatische Varianten dieser Idee. Vielleicht wollte man unsere zurückgebliebene, zerbrechliche Zivilisation vor den harten Realitäten der interstellaren freien Marktwirtschaft bewahren. Oder hatte man gar das ganze Sonnensystem zum galaktischen Naturschutzgebiet erklärt?
Dann gab es noch jene wenigen unerschrockenen Denker, die zur Diskussion stellten, ob nicht jede von Menschen erdachte Erklärung notwendigerweise anthropozentrisch und damit ausgemachter Quatsch sein müsse. Aber niemand lud solche Spielverderber zu einer Talkshow ein.
Am wenigsten um eine Antwort verlegen war man dort, wo das Beantworten letzter Fragen sozusagen gewerbsmäßig betrieben wird. Keine religiöse Gruppierung, die nicht rasch aus ihrem Vorrat von Glaubenssätzen etwas zum Besten geben konnte. Fundamentalisten aller Bekenntnisse weigerten sich ganz einfach, die Existenz der Barriere zur Kenntnis zu nehmen. War denn das Erlöschen der Sterne als Zeichen von Gottes Zorn nicht längst prophezeit worden? Stand es nicht von altersher in den Schriften, auf die eine oder andere Art – wenn man sie nur richtig interpretierte?
Meine Eltern, überzeugte Atheisten, hatten gewiss nicht versucht, mich in irgendeinem Sinne religiös zu beeinflussen. Die Freunde meiner Kindertage wuchsen in ähnlichen Verhältnissen auf, wenn sie nicht Nachkommen indochinesischer Einwanderer waren, an denen man hie und da noch eine Spur des Buddhismus der Großeltern finden konnte. Doch was immer christliche Fundamentalisten zu sagen hatten, die englischsprachigen Medien griffen es auf, ungehindert konnte es sich auf das Publikum ergießen. Deshalb war diese Spielart des Wahnsinns diejenige, die ich von allen am besten kannte – und am meisten verachtete. Die Sterne waren erloschen! Wenn das nicht die Apokalypse war, was dann? (Genaugenommen spricht die Offenbarung des Johannes von Sternen, die auf die Erde fallen – aber zu wörtlich nehmen durfte man die Schrift nun auch wieder nicht.) Auch jene Fanatiker, die bei jeder Jahrtausend- oder gar Jahrhundertwende aus dem Häuschen geraten, fanden Gehör. Die Jahre 2000 oder 2001 waren ärgerlicherweise bar jedes Menetekels gewesen, doch ließ sich vielleicht aus 2034 etwas machen: Angenommen, die historische Datierung war ein wenig ungenau, konnte dann nicht der fünfzehnte November 2034 der zweitausendste Jahrestag des Todes und der Auferstehung des Herrn sein? Warum sollte Ostern nicht im November liegen? Es wurden allerlei Erklärungen angeboten, bis hin zu einem Rechenexempel, das man ›Passah-Verschiebung‹ nannte. Aber ich war einfach nicht Masochist genug, um solchen Gedankengängen ernsthaft zu folgen.
Der Tag des Gerichts war gekommen – so, wie ihn jene sich vorstellten, die noch immer an die Erschaffung der Welt in sieben Tagen glaubten. Jene, die am Glauben schon immer gut verdient hatten. Und es gab ja das Fernsehen, da brauchte es keine geflügelten Reiter, damit die Geschäfte der Sekten florierten, von steuerabzugsfähigen Spenden gar nicht zu reden. Die großen Religionen gaben vorsichtige, sehr wortreiche Erklärungen ab, wonach den Aussagen der Wissenschaftler doch wohl zu trauen wäre, aber die Kirchenbänke leerten sich, die Schäflein suchten dort Zuflucht, wo es Seligkeit gegen bares Geld zu kaufen gab.
Selbst wenn man die Splittergruppen der großen Religionen nicht mitzählte, waren Tausende neuer Kulte entstanden, die nicht weniger straff und gewinnbringend organisiert waren als gewisse berüchtigte Sekten des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber während die Geschäftemacher schon absahnten, brüteten die echten Psychopathen noch vor sich hin. Es dauerte zwanzig Jahre, bis die Kinder des Chaos ans Licht der Öffentlichkeit traten, aber das ist nicht verwunderlich, wenn man weiß, wer zu ihnen gehören darf und wer nicht: Man muss am fünfzehnten November 2034 oder später geboren sein. Die Barriere, der schwarze Schlund, zeigte an, dass von nun an das Chaos regieren sollte. Es fing gleich mit einem Paukenschlag an, im Jahr 2054, indem sie das Wasserreservoir einer Kleinstadt in Maine/USA vergifteten. Mehr als dreitausend Leute starben. Heute sind sie in siebenundvierzig Ländern aktiv und haben nun schon an die hunderttausend Menschenleben auf dem Gewissen. Marcus Duprey, Gründer und selbsternannter Prophet, versorgt seine Jünger mit einer unaufhörlichen Flut von Gewäsch – halbverdaute Kabbalistik, Eschatologie auf Comic-Niveau –, aber ganz offensichtlich gibt es genug Verrückte, in deren Ohren das nach der Weisheit letzter Schluss klingt.
Schlimm genug, dass sie Häuser in die Luft sprengten, einfach so und ohne lange auszuwählen – schließlich waren sie doch Kinder des Chaos. Aber seit Duprey und siebzehn seiner Anhänger im Gefängnis saßen, betrachteten die Chaos-Jünger seine Freilassung als höchstes Ziel. Und mit diesem konkreten Ziel vor Augen verdoppelten sie ihre Anstrengungen, obwohl – oder vielleicht gerade darum – niemand ihre Forderungen zu erfüllen gedachte. Eine Eskalation ohne Ende. Was ich darüber denke, tut nichts zur Sache; es gibt aber Nächte, da lässt mich dieses Thema nicht mehr los, endlos kreisen immer dieselben Fragen in meinem Kopf. Ich wünsche nicht, dass Duprey freigelassen wird. Ich wünsche, man hätte ihn nie geschnappt.
Verrückte gab es zuhauf, nicht nur unter jenen, für die das tausendjährige Königreich Christi angebrochen war. Für die, die an gar nichts glaubten, gab es immerhin die Barrieren-Phobie – eine so heftige hysterische Reaktion, dass sie mit komplettem Irrsinn gleichzusetzen ist. Letzten Endes eine Art Platzangst – die Vorstellung, in einem Raumvolumen ›eingeschlossen‹ zu sein, das acht Trillionen Mal größer ist als das Erdvolumen. Heute hört es sich eher komisch an, wie eine Marotte, eine Modekrankheit der feinen Leute im neunzehnten Jahrhundert – aber tatsächlich gab es im ersten Jahr Millionen von Opfern. Kein Land blieb verschont von der Barrieren-Phobie, und die Gesundheitsbehörden befürchteten, dass die Kosten weltweit die der gesamten Aids-Epidemie übersteigen würden. Doch war die Zahl der Erkrankungen innerhalb von fünf Jahren praktisch auf Null gesunken.
Kriege und Revolutionen rund um den Globus wurden der Barriere zur Last gelegt – obwohl ich mich frage, wie jemand den zweifellos destabilisierenden Effekt von anderen Ursachen wie Armut, Überschuldung, Klimaveränderung, Hunger und Umweltverseuchung unterscheiden will. Vom überall und jederzeit gegenwärtigen religiösen Fanatismus ganz zu schweigen. Ich habe gelesen, dass die Leute in den ersten Jahren ernsthaft von einem Zusammenbruch der Zivilisation sprachen, vom Beginn eines neuen dunklen Zeitalters. Auch das war bald vorbei – doch kann ich auch heute noch nicht sagen, ob ich es als ein Wunder betrachte oder eine ganz normale Entwicklung, dass die Menschheit diesen Schock so rasch und fast beiläufig verarbeitet hat. Die Barriere hat alles verändert. Hatte sie nicht die Existenz von Außerirdischen mit fast gottgleicher Macht bewiesen, die uns ohne Vorwarnung oder Begründung eingesperrt hatten – die uns hinderten, in den Sternen unsere Bestimmung zu finden? Die Barriere hat nichts verändert. Waren die Außerirdischen nicht gänzlich uninteressiert an uns? Und waren die Sterne nicht völlig bedeutungslos für uns, solange die Sonne schien, die Pflanzen gediehen, das Leben auf der Erde weitergehen konnte wie zu allen Zeiten? Außerdem gab es auch in der unmittelbaren Nachbarschaft neue Welten zu entdecken und erforschen – genug für die nächsten paar tausend Jahre.
In den frühen fünfziger Jahren galt es als ausgemacht – niemand wusste, warum –, dass die Barrieren-Erbauer schon bald von sich hören lassen würden, um ihr Vorgehen zu begründen, sich zu rechtfertigen. Sekten entstanden, die mittels ihrer Rituale Kontakt mit den Fremden aufnehmen wollten; jede Art Ufo-Schwindel florierte. Doch die Jahre vergingen, ohne dass sich zwischen den Wolken eine Stimme erhob, und niemand wagte noch, auf eine baldige Erklärung für unsere Gefangenschaft zu hoffen.
Heute verschwende ich keinen einzigen Gedanken mehr auf das Warum. Dreißig Jahre, in denen die Leute ihre absurden Hypothesen vor einem ausgebreitet haben, sind einfach genug. Auch wenn die Barriere – indirekt – meiner Frau den Tod gebracht hatte – ich selbst hatte – indirekt – meinen Teil dazu beigetragen.
Was die Sterne betraf, so hatten wir nichts verloren. Verloren hatten wir in Wahrheit nur die Illusion, sie jemals erreichen zu können.
Wie immer meldet sich Bella pünktlich auf die Minute. Der Sturzbach von Daten ergießt sich in den umfangreichen Speicher von Chiffre. Ich mache mich daran, sie aus meinem Kopf auf das Terminal zu überspielen, als ich plötzlich stocke. Ein Anflug von Verfolgungswahn vielleicht; vielleicht nur gesunde Vorsicht. Ich beschließe, die Daten erst einmal dort zu lassen, wo sie sicher sind: in dem knöchernen Gehäuse meines Schädels.
Ich bin müde, dabei ist es erst kurz nach neun. Das ist kein Schlafbedürfnis, das ist der heimliche Wunsch, auf irgendeine Weise dem unerträglich öden Herumwühlen in den Hilgemann-Akten zu entgehen.
Ich rufe AutoMental auf (Axon, vierhundertundneunundneunzig Dollar) und gebe meine Anweisungen: Jeder einzelne Name soll daraufhin überprüft werden, ob in meinem natürlichen Gedächtnis eine Assoziation gespeichert ist (schließlich könnte es sein, dass ein naher Verwandter eines Patienten eine prominente Person ist); über die üblichen Auskunfteien sollen Informationen über die wirtschaftlichen Verhältnisse eingeholt und den Patientenakten beigegeben werden. Ich überlege kurz, ob ich direkt angesprochen werden will, wenn das Vermögen einen bestimmten Wert überschreitet, aber es fällt mir schwer, irgendeine Zahl zu nennen – außerdem kann ich ja, wenn der Vorgang abgeschlossen ist, die Patienten nach Vermögen auflisten lassen. Ich weise das Modul an, sich nur zu melden, wenn es auf einen mir schon bekannten Namen stößt.
Ich lasse mich aufs Bett fallen und schalte die Stereoanlage ein. Die Musik-ROM, die ich in letzter Zeit spiele, heißt ›Paradise‹ und ist von Angela Renfield. Es ist eine CD, die es in Hunderttausenden von Exemplaren gibt, doch ist jedes einzelne Stück, das sie spielt, einzigartig auf der Welt. Eine Reihe von Parametern hat die Renfield festgelegt, während andere nach Quasi-Zufallsfunktionen gesteuert werden, die Datum, Uhrzeit und Seriennummer des Abspielgeräts mit einbeziehen.
Heute Abend hat sich ein überwiegend minimalistischer Einfluss durchgesetzt. Nach mehreren Minuten, in denen in Abständen von fünf Sekunden nichts als immerzu derselbe (zugegeben eindrucksvolle) Akkord zu hören ist, drücke ich auf den Knopf: KOMPOSITION, und nach einer kurzen Pause ertönt eine neue Version der Musik. Eine deutliche Verbesserung.
›Paradise‹ habe ich schon mehr als hundertmal gehört. Anfangs konnte ich kaum glauben, dass die verschiedenen Versionen irgendetwas gemeinsam hatten, aber nach einigen Monaten verstand ich die zugrundeliegende Struktur ein klein wenig. Es erinnert an einen Familienstammbaum oder eine Übersicht über die Verwandtschaftsverhältnisse im Tierreich, doch hinkt ein solcher Vergleich. Zwar kann man jede Version als nahen oder entfernten Verwandten einer anderen einordnen, doch fehlen die gemeinsamen Vorfahren. Zwar stelle ich mir die einfacheren Versionen als die ›ursprünglichen‹ vor, aus denen die komplexeren entstanden sind, aber das ist nur ein Denkmodell. Was aus wem entstanden sein soll, ist letztlich eine willkürliche Entscheidung.
Einige der Rezensenten haben behauptet, dass man so nach dem zehnten Abspielen – bei genügend Musikverstand – das Kompositionsprinzip der Renfield durchschaut hätte, so dass das Abhören langweilig werde. Wenn das stimmt, dann bin ich froh, ein Ignorant zu sein … Das zweite Stück diese Abends hat etwas von einem blanken, glitzernden Stück Metall – ein Skalpell, geeignet, um Schicht für Schicht abgestorbenen Gewebes abzutragen. Ich schließe die Augen, als eine Trompetenmelodie beginnt, die immer höher aufsteigt und sich ganz unmerklich, ganz unwahrscheinlich, in den Klang elektronischer Harfen verwandelt. Flöten stimmen ein, ein kunstvolles, ja manieriertes Thema – doch glaube ich hinter allem Aufwand, hinter der Tarnung aus Harmlosigkeiten jenes scharfe Metall wiederzuerkennen. Es wird in hundert Masken erscheinen, neu geschliffen, poliert, wird emporgehalten werden, damit ich es bewundere. Und am Ende wird es eine spitze Nadel sein, die mein Herz durchbohrt.
Aber jetzt tauchen am unteren Rand meines Gesichtsfelds vier leuchtende Zeilen Text auf:
AutoMental:
Assoziation/natürliches Gedächtnis.
Casey, Joseph Patrick.
Leiter des Sicherheitsdienstes seit 12. Juni 2066.
Ich habe ganz vergessen, dass ich auch nach den Personalakten gefragt hatte – sonst hätte ich sie bei der Sichtung nicht berücksichtigt. Am liebsten würde ich erst einmal die Musik zu Ende hören, aber das hat keinen Sinn. Es würde mir jetzt keinen Spaß mehr machen. Ich drücke auf STOPP, und eine einzigartige, unwiederbringliche Version von ›Paradise‹ entschwindet für immer.
Casey ist fünf Jahre älter als ich, weshalb sein Ausscheiden aus dem Dienst kurz nach mir nicht ganz so überraschend kam. Wir sitzen in einer Ecke der überfüllten Bar und trinken Bier. Ein seltsamer Zeitvertreib. Was kann dieses Ritual für einen Sinn haben, wenn nicht ein einziges Mikrogramm Ethanol in den Blutkreislauf gelangt? Wenn ein kleines Modul den Bierkonsum berechnet und einen Kurzschluss im Gehirn produziert, dessen Wirkung genau der theoretisch genossenen Alkoholmenge entspricht? Kein Mensch lässt etwas so Giftiges wie Alkohol noch an sich heran. Aber wenn dieser Brauch ein Fossil aus Tausenden von Jahren Menschheitsgeschichte ist, so alt, dass wir seinen Sinn längst vergessen haben, was sollte man sich da sträuben?
»Nie bekommen wir dich zu sehen, Nick. Wo versteckst du dich?«
Wir? Ich brauche einen Augenblick, bis ich verstehe, was er meint. Nicht sich selber und seine Frau zu Hause, sondern die Bar voller Polizisten und Ex-Polizisten. Der Arm des Gesetzes, wie Politiker gerne sagen, als wären wir Teil eines einzigen Organismus, als machten uns die kleinen Module, die wir alle in unseren Köpfen herumtragen, zu einer Rasse für sich. Ich sehe mich um, ich bin richtig froh, dass ich keinen hier kenne.
»Du weißt, wie das ist.«
»Das Geschäft läuft gut?«
»Man kann davon leben. Als ich dich zuletzt gesehen habe, warst du bei der Rehab-GmbH. Was ist passiert?«
»IS hat sie aufgekauft.«
»Ach ja, ich erinnere mich. Eine Menge Entlassungen.«
»Ich hatte Glück. Gute Beziehungen – man fand einen anderen Posten für mich. Es gab Leute, die flogen nach dreißig Jahren Rehab-GmbH einfach auf die Straße.«
»Und wie ist es im Hilgemann?«
Er lacht. »Was meinst du? Einer, der an so einem Ort landet – einer, der nicht mit irgendeinem Modul in die Reihe zu kriegen ist –, der muss doch ein komplett bescheuerter Zombie sein. Sicherheit ist da kein Problem.«
»Nein? Auch nicht für Laura Andrews?«
»Sie haben dich eingeschaltet?« Er ist nicht überraschter, als die Höflichkeit verlangt. Klar, dass Dr. Cheng sich bei ihm über mich erkundigt hat, noch bevor sie meinen Anruf erwiderte.
»Ja.«
»Und für wen arbeitest du?«
»Was glaubst du wohl?«
»Will verdammt sein, wenn ich das weiß. Nicht für die Schwester, die hat die Winters engagiert. Kann dir egal sein, sie soll nicht Laura Andrews finden, sie soll aus mir einen Idioten machen. Sitzt wohl die ganze Zeit an ihrem Computer und sucht nach etwas, was sie dem Hilgemann und vor allem mir in die Schuhe schieben kann.«
»Möglich.« Nicht die Schwester! Wer dann? Angehörige eines anderen Patienten? Jemand, der glaubt, dass er nun Berge von Lösegeld scheffeln müsste, wenn die Entführer nicht alles versaut hätten – und der auf alle Fälle verhindern möchte, dass es einen zweiten, erfolgreichen Versuch gibt?
»Die Vorwürfe sind einfach lachhaft, weißt du. Es war keine Nachlässigkeit unsererseits. Erinnerst du dich an den Kerl, der das Sydney-Hilton verklagte, weil man dort seine Tochter entführt hatte? Er hat den Prozess mit Pauken und Trompeten verloren. So wird es hier auch sein.«
»Vielleicht.«
Er lacht etwas gequält. »Dir kann das alles egal sein, stimmt’s?«
»Ja. Und dir auch. IS wird dich nicht feuern, auch wenn sie den Prozess verlieren. Sie sind doch nicht blöd. Sie haben ein festes Budget für Sicherheitsvorkehrungen, genug, um die Patienten drinnen zu behalten. Sie wissen genau, was sie draufzahlen müssten, um aus der Klinik eine Festung zu machen. Schließlich betreiben sie lange genug auch Gefängnisse.«
Er zögert. Dann sagt er: »Genug, um die Patienten drinnen zu behalten? Ach ja? Laura Andrews war schon zweimal draußen.« Er starrt mich an. »Und wenn das jemals die Schwester zu hören kriegt, breche ich dir eigenhändig das Genick.«
Ich sehe ihm in die Augen, grinse ein wenig dümmlich, während ich auf die Pointe warte, damit ich seinen Scherz endlich verstehe. Er grinst nicht, starrt mich nur düster an. Ich sage: »Was soll das heißen, sie war draußen? Wie?«
»Wie? Verdammte Scheiße, wenn ich das wüsste! Wenn ich wüsste wie, dann wäre sie jetzt nicht wieder draußen, oder?«
»Aber … ich denke, sie kann nicht mal mit einer Türklinke umgehen?«
»Das sagen die Ärzte. Ja, kein Mensch hat sie je eine verdammte Tür öffnen sehen. Kein Mensch hat sie je etwas tun sehen, was eine Küchenschabe neidisch machen könnte. Aber jemand, der durch geschlossene Türen verschwindet, an Kameras, Bewegungsmeldern und allem Drum und Dran vorbei, dreimal, der ist nicht das, was er zu sein scheint. Na?«
Ich schnaube ärgerlich. »Worauf willst du hinaus? Du glaubst, dass sie dreißig Jahre lang totalen Schwachsinn simuliert hat? Dabei hat sie nicht einmal Sprechen gelernt! Du glaubst, man könnte im Alter von zwölf Monaten beginnen, den Schwachsinnigen zu spielen, und das absolut perfekt?«
Er zuckt mit den Schultern. »Wer weiß, was vor dreißig Jahren war? In den Akten steht dies und das, aber wir waren beide nicht dabei. Ich weiß nur, was sie in den letzten achtzehn Monaten getan hat. Wie würdest du das erklären?«
»Vielleicht ein idiot savante? Eine Schwachsinnige mit hochspezialisierten Fähigkeiten? Eine Entfesselungskünstlerin?« Casey verdreht die Augen. »Na gut, dann eben nicht. Aber … wie war das die ersten beiden Male? Wie weit kam sie?«
»Beim ersten Mal bis in den Park. Ein paar Kilometer weit das zweite Mal. Wir fanden sie am anderen Morgen, spazierte durch die Gegend und machte dabei dasselbe unschuldige, blöde Gesicht wie immer. Ich wollte eine Kamera in ihrem Zimmer haben, aber das Hilgemann machte nicht mit. Wegen dieser UN-Konvention über die Rechte der Geisteskranken. IS hat jede Menge einstecken müssen nach dieser Sache in dem texanischen Gefängnis; sie sind sehr, sehr vorsichtig geworden.« Er lacht. »Und wie sollte ich zusätzliche Maßnahmen begründen? Die Patienten sind hilflos wie junge Kätzchen. Die Zimmer haben eine Tür und ein Fenster, die vierundzwanzig Stunden am Tag überwacht werden – was soll ich da noch fordern? Ich meine, ich könnte natürlich dem verdammten Direktor sagen: ›Sie sind doch der Oberschlaumeier hier, sagen Sie mir doch, wie die Kleine rausgekommen ist! Sagen Sie, wie man sie aufhalten kann.‹«
Ich schüttle den Kopf. »Sie hat das unmöglich allein geschafft. Sie kann das nicht getan haben. Jemand hat sie rausgeholt. Jedes Mal.«
»Ja? Wer? Warum? Als was würdest du die ersten beiden Male bezeichnen? Probeläufe?«
Ich zögere. »Täuschungsmanöver? Damit der Eindruck erweckt wird, sie könnte sich aus eigener Kraft befreien – damit man, wenn sie sie tatsächlich mitnehmen, glaubt …« Casey verzieht schmerzlich das Gesicht, als wäre nun unwiderruflich die Grenze des Zumutbaren überschritten. Ich sage: »Okay. Hört sich albern an, ich geb’s zu. Aber ich kann einfach nicht glauben, dass sie so etwas tun kann.«
Es dauert immer eine Ewigkeit, bis ich einschlafe. Master (Human Dignity Ltd., neunhundertundneunundneunzig Dollar) kann das auf Wunsch erledigen, wie auf Knopfdruck. Aber irgendwie bringe ich es immer fertig, die Entscheidung vor mir herzuschieben. Es gibt immer einen Grund, noch zu warten, immer ein Problem, das zu überdenken ist – als ob man heute noch wie früher über jede ungelöste Frage endlos grübeln müsste.
Vielleicht leide ich auch an dem, was man ›Zenos Lethargie‹ nennt. Nun, da so vieles im Leben nichts weiter als eine Frage des aktiven Auswählens ist, neigen die Gehirne dazu, sich an den Problemen festzufressen. Nun, da so vieles durch bloßes Wünschen wahr werden kann, bauen die Leute immer neue zusätzliche Schritte in ihr Denken ein, um sich vor dem Wünschen, der großen Freiheit zu schützen. Sie wollen sich klarwerden, worüber sie sich klarwerden wollen, damit ihnen klar wird, was sie wollen. Eine Endlosschleife.
Was ich in diesem Augenblick will, ist endlich Klarheit im Andrews-Fall. Aber keines der Module in meinem Kopf könnte das für mich bewerkstelligen.
Karen sagt: ›Nun gut – du hast keine Ahnung, warum Laura entführt wurde. Also. Dann halte dich an die Fakten. Wo immer man sie hingebracht hat, irgendjemand muss sie irgendwo gesehen haben. Vergiss das Motiv, finde erst einmal heraus, wo sie ist!‹
Ich nicke. »Du hast Recht, wie immer. Ich werde eine Suchanzeige aufgeben …«
›Morgen.‹
Ich lache. »In Ordnung, morgen.«
Ich spüre die vertraute Wärme an meiner Seite. Ich schließe die Augen.
›Nick?‹
»Ja?«
Sie küsst mich ganz leicht. ›Träum von mir.‹
»Hallelujah! Ich kann sie sehen! Die Sterne, da sind sie!«
Erschrocken drehe ich mich um und sehe eine junge Frau auf der Straße knien, inmitten einer Menschenmenge. Sie hat die Arme ausgebreitet und starrt verzückt in den strahlend blauen Himmel. Für einen Augenblick ist sie wie zur Salzsäule erstarrt, vor Staunen überwältigt, dann kreischt sie wieder: »Ich kann sie sehen! Ich kann sie sehen!« Sie beginnt, sich mit den Fäusten gegen die Brust zu hämmern, sich hin- und herzuwiegen. Sie keucht, schluchzt.
War diese Sekte nicht seit zwanzig Jahren ausgestorben?
Die Frau kreischt, die Frau windet sich. Freunde stehen verlegen neben ihr, während die Passanten vorsichtig einen Bogen um die Szene machen. Ich sehe zu, mein Widerwille wächst, während Kindheitserinnerungen an allerlei merkwürdige Heilige, die sich auf der Straße austobten, wieder ans Licht kommen.
»All die wunderbaren Sterne! Die Sternbilder … Skorpion … Waage … Centaurus!« Tränen laufen ihr übers Gesicht.
Nur mühsam bekomme ich die aufsteigende Panik in den Griff. Was rege ich mich so auf? Es ist nur eine einzelne Frau, eine einzelne Verrückte. Das Aufsehen, das sie verursacht, beweist doch, wie selten solche Fälle heutzutage sind. Beweist, dass die meisten Menschen sich an die Barriere gewöhnt, sie akzeptiert haben. Wovor habe ich Angst? Dass jede Form der Barrieren-Hysterie, jede obskure Sekte, jede Massenpsychose vergangener Tage wiederkehrt?
Als ich mich gerade abgewendet habe, brechen die beiden Begleiter der jungen Frau in Lachen aus. Einen Augenblick später stimmt sie in das Gelächter ein – und mit einiger Verspätung habe ich begriffen. Sternenwelt ist wieder in Mode, das ist alles. Ein Planetarium unter der Schädeldecke. Ein raffiniertes Spielzeug, keine Vision. Ich habe die Rezensionen gelesen: Das Modul hat eine Menge zu bieten, angefangen beim naturgetreuen Blick auf den Nachthimmel (›Bewundern Sie den Sternhimmel, wie er sein müsste!‹)