Diaspora - Greg Egan - E-Book

Diaspora E-Book

Greg Egan

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Beschreibung

Das atemberaubende Bild unserer Zivilisation in tausend Jahren

Am Ende des nächsten Jahrtausends steht die Menschheit vor einem tiefgreifenden Umbruch. Sie hat nicht nur die Grenzen ihres Heimatplaneten hinter sich gelassen und das Sonnensystem bevölkert, sondern auch die Beschränkungen des eigenen Körpers überwunden: von Geburt an ist jeder Mensch Teil eines gigantischen virtuellen Netzes. Doch der vermeintliche Fortschritt erweist sich als äußerst brüchig, als aus den Tiefen des Alls eine Katastrophe droht, die die Zivilisation in einem Schlag vernichten könnte – wenn sie nicht den nächsten Schritt vollbringt und den letzten Rätseln des Universums auf die Spur kommt.

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EPUB

Seitenzahl: 533

Veröffentlichungsjahr: 2016

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GREG EGAN

DIASPORA

Roman

Das Buch

Am Ende des nächsten Jahrtausends steht die Menschheit vor einem tiefgreifenden Umbruch. Sie hat nicht nur die Grenzen ihres Heimatplaneten hinter sich gelassen und das Sonnensystem bevölkert, sondern auch die Beschränkungen des eigenen Körpers überwunden: von Geburt an ist jeder Mensch Teil eines gigantischen virtuellen Netzes. Doch der vermeintliche Fortschritt erweist sich als äußerst brüchig, als aus den Tiefen des Alls eine Katastrophe droht, die die Zivilisation in einem Schlag vernichten könnte – wenn sie nicht den nächsten Schritt vollbringt und den letzten Rätseln des Universums auf die Spur kommt.

Der Autor

Titel der Originalausgabe

DIASPORA

Aus dem australischen Englisch von Bernhard Kempen

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1997 by Greg Egan

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

Danksagung des Autors

Ein Teil dieses Romans ist eine Bearbeitung der Story ›Wang’s Carpets‹, die in der von Greg Bear herausgegebenen Anthologie New Legends veröffentlicht wurde.

Danksagung des Übersetzers

Inhalt

Erster Teil

1 – Waisenkind

2 – Wissenssuche

3 – Brückenschlag

Zweiter Teil

4 – Lacerta

5 – Ausbruch

6 – Divergenz

Dritter Teil

7 – Kozuchs Erbe

8 – Abkürzungen

9 – Freiheitsgrade

Vierter Teil

10 – Diaspora

11 – Wang-Teppiche

Fünfter Teil

12 – Schwere

13 – Swift

14 – Einbettung

Sechster Teil

15 – 5+1

16 – Dualität

Siebenter Teil

17 – Teilung der Einheit

18 – Zentren der Schöpfung

Achter Teil

19 – Verfolgung

20 – Invarianz

Glossar

Literaturhinweise

Erster Teil

Yatima betrachtete die Doppler-Verschiebung der Sterne rund um die Polis und verfolgte die erstarrten konzentrischen Wellen der Farbe, die am Himmel expandierten und konvergierten. Hie fragte sich, welche Geschichte sie erzählen würden, wenn sie endlich ihr Ziel eingeholt hätten. Sie hatten Fragen ohne Ende aufgeworfen, aber der Informationsfluss konnte nicht nur eine Einbahnstraße bleiben. Wenn die Transformer zu wissen verlangten: »Warum seid ihr uns gefolgt? Warum seid ihr einen so weiten Weg gekommen?« – wo sollte hie dann anfangen?

Yatima hatte Geschichten aus der Prä-Introdus-Ära gelesen, die auf nur einem Niveau erzählt und von der Fiktion bestimmt wurden, dass Individuen so unteilbar wie Quarks waren und planetare Zivilisationen in sich geschlossene Universen darstellten. Weder heine persönliche Geschichte noch die der Diaspora würde sich in diesen imaginären Rahmen einzwängen lassen. Die wirkliche Welt enthielt viel größere und kleinere Strukturen, viel einfachere und komplexere Strukturen als der winzige Ausschnitt, den intelligente Lebewesen und ihre Gesellschaften umfassten, und es war eine erhebliche Kurzsichtigkeit hinsichtlich des Maßstabs und der Ähnlichkeit erforderlich, um sich dem Glauben hinzugeben, dass alles, was sich außerhalb dieser dünnen Schicht befand, ignoriert werden konnte. Es ging nicht nur um die Frage, ob man sich freiwillig in einer geschlossenen Welt aus synthetischen Formen isolierte; denn die Körperlichen waren niemals gegen diese Kurzsichtigkeit gefeit gewesen, genauso wenig wie die Bürger mit dem weitesten Horizont. Zweifellos hatten die Transformer in einer bestimmten Phase ihrer Geschichte ebenfalls darunter gelitten.

Natürlich mussten sich die Transformer der sehr großen, sehr toten himmlischen Maschinerie bewusst sein, die die Diaspora nach Swift und darüber hinaus getrieben hatte. Ihre Frage würde lauten: »Warum seid ihr einen so viel weiteren Weg gekommen? Warum habt ihr euer eigenes Volk hinter euch gelassen?«

Yatima konnte nicht für heinen Reisebegleiter sprechen, doch für hie lag die Antwort am entgegengesetzten Ende der Skala, im Bereich des sehr Einfachen und sehr Kleinen.

1 – Waisenkind

Konishi-Polis, Erde

23 387 025 000 000 KSZ

15. Mai 2975, 11:03:17.154 WZ

Der Konzeptor war eine nicht-bewusste Software, die bereits so alt wie die Konishi-Polis war. Ihr Hauptzweck bestand darin, den Bürgern der Polis die Erschaffung von Nachkommen zu ermöglichen: das Kind eines Elternteils oder zweier oder zwanzig Eltern, teils nach ihrem Vorbild geschaffen, teils nach ihren Wünschen oder auch nach den Launen des Zufalls. Doch gelegentlich, ungefähr einmal pro Teratau, erschuf der Konzeptor einen Bürger ohne jede Eltern.

In Konishi entstand jeder polisgeborene Bürger aus einem Mentalkeim, einer Kette von Anweisungen, ähnlich einem digitalen Genom. Die ersten Mentalkeime waren vor neun Jahrhunderten von DNS-Strängen übersetzt worden, als die Gründer der Polis die Shaper-Programmiersprache erfunden hatten, mit der die grundlegenden Prozesse der Neuroembryologie simuliert werden konnten. Doch jede solche Übertragung war notwendigerweise unvollkommen, da sie die biochemischen Details zugunsten weitgefasster, funktionaler Äquivalenzen verwischte, wodurch die Vielfalt und Gesamtheit des Genoms der Körperlichen nicht gewahrt werden konnte. Da sich der Bestand an Eigenschaften reduziert hatte, nachdem die alten DNS-Schablonen überholt waren, war es besonders wichtig, dass der Konzeptor die Konsequenzen neuer Variationen für die Mentalkeime genau erfasste. Jede Veränderung zu meiden würde das Risiko der Stagnation heraufbeschwören; sie leichtsinnig gutzuheißen wäre dagegen eine Gefährdung der Gesundheit jedes Kindes.

Die Mentalkeime von Konishi waren auf Milliarden von Feldern aufgeteilt: kurze Segmente, jedes nur sechs Bit lang, von denen jedes einen einfachen Befehl enthielt. Sequenzen aus mehreren Dutzend Anweisungen ergaben Shaper, die grundlegenden Subprogramme, die während der Psychogenese zur Anwendung kamen. Die Auswirkungen nicht erprobter Mutationen auf fünfzehn Millionen interagierende Shaper ließen sich kaum im Voraus abschätzen. In den meisten Fällen hätte die einzige zuverlässige Methode darin bestanden, jede Aktion zu berechnen, die auch der geänderte Keim ausgeführt hätte … also war es einfacher, gar keine Voraussagen zu treffen, sondern abzuwarten, bis der Keim gewachsen war und sich der Geist entwickelt hatte.

Das angehäufte Wissen des Konzeptors über seine Arbeit lag in Form einer Sammlung von kommentierten Diagrammen der Entwicklung des Konishi-Mentalkeims vor. Die Diagramme des höchsten Levels waren komplexe mehrdimensionale Strukturen, die den eigentlichen Keim an Ausmaß weit übertrafen. Doch es gab noch ein einfacheres Diagramm, das von den Konishi-Bürgern dazu benutzt worden war, die Fortschritte des Konzeptors im Verlauf der Jahrhunderte abzuschätzen. Es stellte die Milliarden Felder als Längengrade dar und die vierundsechzig möglichen Befehle als Meridiane. Jeder individuelle Keim ließ sich als Weg denken, der im Zickzack vom oberen bis zum unteren Rand der Darstellung verlief, wobei für jeden Koordinatenpunkt eine bestimmte Anweisung stand.

An den Stellen, von denen bekannt war, dass nur ein einziger Befehl eine erfolgreiche Psychogenese veranlassen konnte, führten die Wege zu einer einsamen Insel oder einer schmalen Landenge zusammen, die sich ockergelb gegen ozeanblau abzeichnete. Diese Infrastrukturfelder ergaben die grundlegende mentale Architektur, die allen Bürgern gemeinsam war und die sowohl das allgemeine Muster als auch die kleineren Details lebenswichtiger Subsysteme gestaltete.

Ansonsten dokumentierte das Diagramm die Spannweite der Möglichkeiten: als kompakte Landmasse oder verstreute Archipele. Eigenschaftsfelder entsprachen einer Auswahl von Anweisungen, deren Auswirkungen auf die Detailstruktur des Geistes bekannt waren. Die Variationen reichten von polaren Extremen des angeborenen Temperaments oder der Ästhetik bis zu winzigsten Unterschieden der neuralen Architektur, die unauffälliger als die Linien auf der Handfläche eines Körperlichen waren. Sie wurden in Grüntönen dargestellt, die ebenso kontrastreich oder kaum unterscheidbar wie die entsprechenden Eigenschaften waren.

Die übrigen Felder, auf denen noch keine Veränderungen der Keime getestet worden waren und sich keine Vorhersagen treffen ließen, waren als unbestimmt klassifiziert. Dort wurde die einzige getestete Anweisung, die einzige Landmarke, grau auf weiß repräsentiert: ein Berggipfel, der eine Wolkenschicht durchstieß, die alles verbarg, was sich östlich und westlich davon befand. Aus der Ferne waren keine weiteren Details zu erkennen; was immer sich unter den Wolken befand, ließ sich nur aus erster Hand erfahren.

Immer wenn der Konzeptor ein Waisenkind erschuf, setzte er alle günstigen mutierbaren Eigenschaftsfelder auf zulässige Anweisungen, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden, da keine Rücksicht auf die Wünsche von Eltern genommen werden musste. Dann selektierte er aus Tausenden unbestimmter Felder und behandelte sie mehr oder weniger auf dieselbe Weise. Er schüttelte Tausende von Quantenwürfeln, um einen zufälligen Kurs durch die terra incognita zu legen. Jedes Waisenkind war ein Entdecker, der losgeschickt wurde, unerforschte Gebiete zu erkunden.

Und jedes Waisenkind stellte selbst ein unerforschtes Gebiet dar.

Der Konzeptor verpflanzte das neue Waisenkind ins Gedächtnis der Plazenta – ein einzelner Informationsstrang inmitten eines Vakuums aus Nullen. Der Keim bedeutete sich selbst nichts, in seiner Einsamkeit hätte er genauso gut die letzte Morse-Botschaft sein können, die zwischen fernen Sternen durch die Leere irrte. Doch die Plazenta war eine virtuelle Maschine, die die Anweisungen des Keims ausführen sollte, während Dutzende weiterer Softwareschichten bis zur Polis selbst hinunterführten, ein Gitter aus flimmernden molekularen Schaltern. Eine Sequenz aus Bits, ein Strang passiver Daten konnte überhaupt nichts bewirken oder verändern – doch in der Plazenta mit all den unwandelbaren Regeln auf den tieferen Niveaus herrschten alle Voraussetzungen, um die Programmierung des Keims zu erfüllen. Er fiel wie eine Lochkarte in einen Jacquard-Webstuhl; er war keine abstrakte Botschaft mehr, sondern wurde zu einem Teil der Maschine.

Wenn die Plazenta den Keim dechiffrierte, bewirkte sein erster Shaper, dass der umgebende Raum mit einem simplen Datenmuster ausgefüllt wurde, mit einer erstarrten numerischen Wellenspur, die die Leere wie Milliarden perfekt aneinandergereihter Sanddünen durchzog. Damit war jeder Punkt von seinen unmittelbaren Nachbarn am selben Wellenberg differenziert – obwohl die einzelnen Wellenberge und -täler wiederum völlig identisch waren. Das Gedächtnis der Plazenta war in Form eines Raums mit drei Dimensionen angelegt, während die an jedem Punkt gespeicherten Zahlen eine vierte implizierten. Also waren auch diese Dünen vierdimensional.

Dann wurde eine zweite Welle hinzugefügt, die versetzt zur ersten verlief und leicht moduliert war, wodurch sie jeden Hügel in eine Reihe ansteigender Grate zerschnitt. Eine dritte und vierte kam hinzu, und jede folgende Welle bereicherte das Muster, indem die Symmetrien kompliziert und frakturiert wurden – Richtungen wurden definiert, Neigungen konstituiert und eine Hierarchie der Maßstäbe etabliert.

Die vierzigste Welle pflügte durch eine abstrakte Topographie, die keinerlei Ähnlichkeit mit der kristallinen Regelmäßigkeit ihres Ursprungs mehr aufwies, nachdem die Grate und Furchen so verschlungen wie die Wirbel eines Fingerabdrucks waren. Nicht jeder Punkt war einzigartig geworden, aber es gab nun genügend Strukturen, um als Rahmen für alles weitere geeignet zu sein. Darauf gab der Keim die Anweisung, dass Hunderte Kopien seiner selbst über die soeben kalibrierte Landschaft verteilt wurden.

In der zweiten Iteration las die Plazenta alle Befehle der replizierten Keime aus – und anfangs waren die übertragenen Anweisungen überall dieselben. Dann folgte irgendwann die Anweisung, dass in der Bit-Sequenz jedes Keims bis zu einem Feld vorgesprungen werden sollte, das einem bestimmten Muster der umgebenden Daten benachbart war, einer Abfolge von Wellen mit einer bestimmten Form, die auffällig, aber nicht einzigartig war. Da jeder Keim sich an einer anderen Stelle befand, lag auch jede lokale Version dieser Landmarke an einem anderen Ort, worauf die Plazenta nun die nächsten Anweisungen von einem unterschiedlichen Teil jedes Keims auszulesen begann. Die Keime selbst waren immer noch allesamt identisch, doch nun konnte jeder eine andere Menge Shaper auf die Umgebung einwirken lassen, womit die Grundlagen für unterschiedlich spezialisierte Regionen der Psychoblastula, des embryonalen Geistes, gelegt wurden.

Diese Technik war uralt, denn auch die unbestimmten Zellen des Stiels einer knospenden Blüte folgten einem selbst abgesteckten Muster aus chemischen Signalen, um sich zu Kelchblättern, Blütenblättern, Staubfäden und Fruchtblatt zu differenzieren. Ein verpupptes Insekt sättigte sich selbst mit Proteinen, deren unterschiedliche Konzentration die unterschiedlichen Genkaskaden auslösten, die zur Ausprägung von Hinterleib, Brust und Kopf führten. Konishis digitale Version schöpfte die Essenz dieses Prozesses ab: Zuerst wurde der Raum durch charakteristische Markierungen aufgeteilt, dann beeinflussten die Landmarken alle weiteren Anweisungen, indem spezialisierte Subprogramme ein- und ausgeschaltet wurden – die wiederum den Gesamtzyklus in kleinerem Maßstab wiederholten und die ersten Grobstrukturen in Wunder der filigranen Präzision transformierten.

Nach der achten Iteration enthielt das Gedächtnis der Plazenta einhundert Billionen Kopien des Mentalkeims – mehr waren nicht erforderlich. Die meisten schnitzten weiterhin neue Details in die Landschaft, doch einige verzichteten ganz auf die Shaper und spulten stattdessen die Shrieker ab. Das waren kurze Schleifen aus Instruktionen, die Impulsströme in das primitive Netzwerk schickten, das sich zwischen den Keimen gebildet hatte. Die Straßen dieses Netzwerks waren einfach die höchsten Grate, die die Shaper gestaltet hatten, und die Impulse waren kleine Pfeilspitzen, die ein bis zwei Stufen höher aufragten. Die Shaper hatten in vier Dimensionen gearbeitet, so dass die Netzwerke selbst dreidimensional waren. Die Plazenta hauchte diesen Konventionen Leben ein und ließ die Impulse wie Trillionen Wagen über die Gleise zwischen den Billionen Kreuzungen einer Einschienenbahn von zehntausend Stockwerken rasen.

Einige Shrieker sandten metronomische Bit-Ströme aus, andere produzierten ein Stottern in pseudo-zufälligen Mustern. Die Impulse bewegten sich durch das Labyrinth, das stellenweise noch im Entstehen begriffen war – während in diesem Stadium fast jede Bahn mit allen anderen verbunden war, weil noch keine einschränkenden Entscheidungen gefallen waren. Neue Shaper wurden vom Verkehr geweckt und aktiviert; sie demontierten die überflüssigen Kreuzungen und behielten nur jene bei, an denen eine ausreichende Anzahl von Impulsen gleichzeitig eintraf. Aus all den zahllosen Alternativen wählten sie die Bahnen aus, auf denen synchron gearbeitet werden konnte. Es gab auch Sackgassen in den sich entwickelnden Netzwerken, doch wenn sie zu häufig benutzt wurden, bemerkten es andere Shaper und konstruierten entsprechende Verbindungen. Es spielte keine Rolle, dass diese ersten Datenströme ohne Bedeutung waren. Beliebige Signale genügten, um bei der Konstruktion der Maschinerie des Denkens auf dem niedrigsten Niveau behilflich zu sein.

In vielen Poleis wuchsen gar keine neuen Bürger heran, sondern wurden direkt aus vorgegebenen Subsystemen zusammengestellt. Die Konishi-Methode jedoch garantierte eine gewisse quasi-biologische Robustheit, eine gewisse Nahtlosigkeit. Gleichzeitig wachsende Systeme, die während ihrer Bildung interagierten, lösten die meisten ihrer Defekte aus eigener Kraft, ohne dass ein externer Mentalkonstrukteur notwendig war, der alle fertigen Komponenten aufeinander abstimmte, um zu gewährleisten, dass sie sich nicht gegenseitig störten.

Trotz all dieser organischen Plastizität und Kompromissfähigkeit konnten die Infrastrukturfelder dennoch Gebiete für eine Handvoll standardisierter Subsysteme abstecken, die für jeden Bürger identisch waren. Zwei davon waren Kanäle für hereinkommende Daten – einer für Gestalt und einer für Linear, die zwei primären Modalitäten aller Konishi-Bürger – ferne Abkömmlinge des Sehens und Hörens. Mit der zweihundertsten Iteration des Waisenkindes waren diese Kanäle voll ausgebildet, doch die inneren Strukturen, an die sie ihre Daten weitergaben, die Netzwerke, die diese Daten klassifizierten und ihnen Bedeutung gaben, waren noch unentwickelt und unerprobt.

Die Konishi-Polis selbst lag zweihundert Meter tief unter der sibirischen Tundra, doch über Kabel und Satellit konnten die Kanäle Daten mit jedem Forum innerhalb der Polis-Koalition austauschen, genauso mit Sonden, die jeden Planeten und jeden Mond des Sonnensystems umkreisten, mit Drohnen, die die Wälder und Ozeane der Erde durchstreiften – von zehn Millionen Quellen verschiedener konkreter oder abstrakter Sinnesdaten. Das erste Problem der Wahrnehmung bestand darin zu lernen, aus dieser Überfülle auszuwählen.

In der Psychoblastula des Waisenkindes begann der halb ausgebildete Navigator, der mit den Kontrollen der Input-Kanäle verbunden war, einen Strom von Anfragen nach Informationen auszugeben. Auf die ersten paar tausend Anfragen erfolgte lediglich ein monotoner Strom aus Fehlermeldungen, weil ihre Syntax fehlerhaft war oder sie auf nicht vorhandene Informationsquellen zugreifen wollten. Doch jede Psychoblastula besaß die angeborene Neigung, irgendwann die Bibliothek der Polis zu finden (wenn nicht, hätte es Jahrtausende beansprucht), und der Navigator versuchte es so lange, bis er eine gültige Adresse gefunden hatte und Daten über die Kanäle hereinkamen: das Gestalt-Bild eines Löwen, zusammen mit dem Linear-Wort für dieses Tier.

Der Navigator gab unverzüglich die Versuch-und-Irrtum-Methode auf und produzierte krampfartig Wiederholungen, mit denen er dasselbe starre Bild des Löwen immer wieder aufrief. Das ging so lange weiter, bis selbst die einfachsten seiner embryonischen Veränderungsdifferenzierer ihr Dauerfeuer einstellten und er wieder mit dem Experimentieren begann.

Allmählich bildete sich ein halbbewusster Kompromiss zwischen den zwei Formen der Proto-Neugier des Waisenkindes heraus – zwischen dem Drang, neue Dinge zu erleben, und dem Drang, wiederholte Muster zu erzeugen. Es durchstöberte die Bibliothek und lernte, wie Bündel aus zusammenhängenden Informationen abgerufen wurden – eine zeitliche Sequenz aufgezeichneter Bilder und dann die abstrakteren Querverweise. Es verstand noch nichts von den Inhalten, aber es war darauf programmiert, sein Verhalten zu verstärken, wenn es das richtige Gleichgewicht zwischen Beständigkeit und Veränderung gefunden hatte.

Bilder und Töne, Symbole und Gleichungen strömten durch die Netzwerke des Waisenkindes, ohne dass etwas von den Details hängenblieb – weder die Gestalt im Raumanzug, die auf grauer und weißer Felsoberfläche vor einem pechschwarzen Himmel stand, noch der reglose, nackte Körper, der sich unter einem grauen Schwarm aus Nanomaschinen auflöste. Es nahm lediglich die einfachsten Regelmäßigkeiten und allgemeinsten Assoziationen auf. Die Netzwerke entdeckten das Muster Kreis/Kugel: in Bildern der Sonne und der Planeten, in Iris und Pupille, in einer zu Boden gefallenen Frucht, in Tausenden verschiedener Gegenstände, Kunstwerke und mathematischer Diagramme. Sie entdeckten das Linear-Wort für ›Mensch‹ und verknüpften es versuchsweise mit den Regelmäßigkeiten, die das Gestalt-Icon für ›Bürger‹ definierten, und mit den Eigenschaften, die es als Gemeinsamkeit der vielen Bilder von Körperlichen und Gleisner-Robotern erkannte.

Nach der fünfhundertsten Iteration hatten die Kategorien, die aus den Informationen der Bibliothek gewonnen werden konnten, in den Netzwerken ein Heer von winzigen Subsystemen zur Klassifikation der eingehenden Daten erzeugt: Zehntausende von Wort- und Bild-Fallen, die alle zum Zuschnappen bereit waren, Zehntausende monomanischer Mustersensoren, die in den Datenstrom starrten und ständig nach ihren speziellen Zielobjekten Ausschau hielten.

Dann stellten diese Fallen Verbindungen untereinander her, die sie zunächst dazu benutzten, ihr Urteilsvermögen aufeinander abzustimmen und Entscheidungen zu vergleichen. Wenn die Falle für das Bild eines Löwen zuschnappte, dann wurden alle Fallen für den Linear-Namen, für die Laute, die andere Löwen von sich gegeben hatten, für gemeinsame Züge ihres beobachteten Verhaltens (die Jungen ablecken, Antilopen jagen) hypersensitiv. Manchmal lösten die hereinkommenden Daten ein ganzes Bündel miteinander verbundener Fallen gleichzeitig aus, was wiederum ihre wechselseitige Verflechtung stärkte, doch manchmal feuerten übereifrige Assoziationsfallen vorzeitig ihre Signale ab. Die Gestalt eines Löwen wurde erkannt – und obwohl das Wort ›Löwe‹ noch nicht registriert wurde, aktivierte sich vorsorglich die Falle für das Wort ›Löwe‹ … und schließlich auch die Fallen für das Ablecken von Jungen und das Jagen von Antilopen.

Das Waisenkind hatte begonnen, Vorhersagen zu treffen und Erwartungen zu entwickeln.

Um die tausendste Iteration hatten sich die Verbindungen zwischen den Fallen zu einem komplexen Netzwerk ausgewachsen, in dem ganz neue und eigene Strukturen auftauchten – Symbole –, die sich gegenseitig genauso mühelos auslösen konnten, wie es durch Daten von außen geschah. Die Löwen-Bild-Falle war für sich genommen nicht mehr als eine Schablone gewesen, die vor die Welt gehalten wurde, um eine Übereinstimmung oder eine fehlende Übereinstimmung festzustellen – ein Urteil ohne weitere Bedeutung. Das Symbol des Löwen dagegen konnte ein unbegrenztes Geflecht von Bedeutungen implizieren, und dieses Geflecht ließ sich jederzeit anzapfen, ob nun ein Löwe sichtbar war oder nicht.

Aus dem simplen Wiedererkennen wurde allmählich der erste Ansatz von Bedeutung.

Die Infrastrukturfelder hatten für das Waisenkind Standard-Ausgabekanäle für Linear und Gestalt eingerichtet, doch der entsprechende Navigator, der benötigt wurde, um nach außen gehende Daten an eine bestimmte Adresse in Konishi oder anderswo zu schicken, war noch nicht aktiv. Während der zweitausendsten Iteration forderten die ersten Symbole nichtsdestoweniger Zugang zu den Output-Kanälen. Sie benutzten die Schablonen ihrer Falle, um den Klang oder das Bild nachzuahmen, das jedes von ihnen wiederzuerkennen gelernt hatte – und es spielte keine Rolle, ob sie die Linear-Worte ›Löwe‹, ›Junges‹ oder ›Antilope‹ ins Leere sprachen, denn die Input- und Output-Kanäle waren intern zusammengeschlossen.

Das Waisenkind hörte erstmals sich selbst denken.

Nicht das gesamte Gedankenchaos, denn es konnte nicht allen Dingen gleichzeitig eine Stimme – oder auch nur ein Bild – geben. Von den Myriaden Assoziationen, die jede Szene aus der Bibliothek wachrief, konnten jeweils nur ein paar Symbole die Kontrolle über die entstehenden Netzwerke zur Spracherzeugung gewinnen. Und obwohl Vögel am Himmel kreisten und das Gras im Wind wogte und eine Wolke aus Staub und Insekten von den Tieren aufgewirbelt wurde – und noch sehr viel mehr –, blieben trotzdem vor dem Verschwinden der ganzen Szene als einzige Symbole übrig:

»Löwe jagt Antilope.«

Erschrocken unterbrach der Navigator den Strom externer Daten. Die Linear-Worte zirkulierten von Kanal zu Kanal und hoben sich deutlich von der Stille ab; die Gestalt-Bilder riefen immer und immer wieder die Essenz der Jagd wach, eine idealisierte Rekonstruktion, entkleidet von allen vergessenen Details.

Dann verblasste das Gedächtnis, und der Navigator griff erneut auf die Bibliothek zu.

Die eigentlichen Gedanken des Waisenkindes reduzierten sich nie auf eine einzige geordnete Abfolge – eher wurden Symbole in immer vielfältigeren und komplexeren Kaskaden abgefeuert –, aber durch positive Rückkopplung wurde der Fokus schärfer, und im Geist erzeugten die stärksten Vorstellungen einen lauten Nachhall. Das Waisenkind hatte gelernt, ein paar Fäden aus den endlosen, tausendsträngigen Argumenten der Symbole auszusortieren. Es hatte gelernt, seine eigene Erfahrung als Geschichte zu erzählen.

Das Waisenkind war jetzt fast einen halben Megatau alt. Es verfügte über ein Vokabular von zehntausend Worten, über ein Kurzzeitgedächtnis, über Erwartungen, die sich mehrere Tau in die Zukunft erstreckten, und einen einfachen Bewusstseinsstrom. Aber es hatte immer noch keine Ahnung davon, dass es selbst in einer Welt existierte.

Der Konzeptor verfolgte aufmerksam jede Iteration des sich entwickelnden Geistes und notierte gewissenhaft die Auswirkungen der zufällig ausgewählten unbestimmten Felder. Ein vernunftbegabter Beobachter hätte diese Informationen vielleicht als eine Vielzahl fragilster, ineinander verschlungener Fraktale visualisiert, wie verflochtene, hauchzarte Null-g-Kristalle, die immer feinere Verästelungen kreuz und quer in die Plazenta vorschoben, während die Felder dechiffriert und abgearbeitet wurden und sich ihr Einfluss über immer weitere Netzwerke ausdehnte. Doch der Konzeptor visualisierte nichts, er verarbeitete lediglich die Daten und gelangte zu bestimmten Schlussfolgerungen.

Bis zu diesem Punkt schienen die Mutationen keine Schäden angerichtet zu haben. Jede individuelle Struktur im Geist des Waisenkindes funktionierte im Wesentlichen den Erwartungen entsprechend, und der Austausch mit der Bibliothek sowie Stichproben einzelner Datenströme wiesen keine Anzeichen globaler Störungen auf.

Wenn Schäden an einer Psychoblastula festgestellt wurden, gab es im Prinzip nichts, was den Konzeptor daran hinderte, in das Geschehen einzugreifen und jede missgestaltete Struktur zu reparieren, doch die Konsequenzen konnten genauso unvorhersehbar sein wie das Wachstum eines unbeeinflussten Keims. Begrenzte ›chirurgische‹ Eingriffe führten manchmal zu Inkompatibilitäten mit den übrigen Strukturen der Psychoblastula, während Änderungen, die weitreichend und gründlich genug waren, um einen Erfolg zu garantieren, ins Gegenteil umschlagen konnten, wenn sie praktisch die ursprüngliche Psychoblastula auslöschten und sie durch eine Auswahl von Teilen ersetzten, die aus erfolgreichen Vorbildern geklont waren.

Doch es konnte auch riskant sein, gar nichts zu unternehmen. Sobald eine Psychoblastula Selbstbewusstsein erlangte, wurde ihr die Bürgerschaft verliehen, womit ein Eingriff ohne ihr Einverständnis unmöglich wurde. Dieses Prinzip war keineswegs nur eine Angelegenheit von Konventionen oder Richtlinien, sondern war in das Fundament der Polis eingearbeitet. Ein Bürger, der dem Wahnsinn verfiel, konnte mehr als ein Teratau im Zustand der geistigen Verwirrung und des Leids verbringen, während der Geist zu sehr gestört war, um die Genehmigung zur Hilfe zu erteilen oder auch nur die Selbstauslöschung zu wählen. Das war der Preis der Autonomie: das unveräußerliche Recht auf Wahnsinn und Schmerz, das nicht vom Recht auf Ruhe und Ungestörtheit abzutrennen war.

Also hatten die Bürger von Konishi den Konzeptor darauf programmiert, im Zweifelsfall Vorsicht walten zu lassen. Er setzte seine aufmerksame Beobachtung des Waisenkindes fort und war bereit, die Psychogenese beim ersten Anzeichen einer Fehlfunktion abzubrechen.

Kurze Zeit nach der fünftausendsten Iteration begann der Output-Navigator des Waisenkindes Signale abzufeuern – worauf ein heftiges Tauziehen einsetzte. Dieser Navigator war darauf programmiert, eine Rückkopplung zu erwarten, jemanden oder etwas anzusprechen, das auf irgendeine Weise reagierte. Doch der Input-Navigator hatte sich längst daran gewöhnt, sich auf die Polis-Bibliothek zu beschränken, ein Verhalten, das intensiv belohnt wurde. Beiden Navigatoren war außerdem der Drang immanent, sich aufeinander abzustimmen, sich mit derselben Adresse zu verbinden, um dem Bürger zu ermöglichen, im gleichen Zusammenhang zu hören und zu sprechen, was eine nützliche Voraussetzung für ein Gespräch war. Doch das bedeutete, dass das sprachliche und bildliche Gebrabbel des Waisenkindes an die Bibliothek zurückgeschickt wurde, die es vollständig ignorierte.

Angesichts dieses totalen Desinteresses schickte der Output-Navigator Unterdrückungssignale in die Netzwerke der Veränderungsdifferenzierer, um die Attraktivität der aufregenden Bibliotheksinformationen zu schwächen und den Input-Navigator aus seinen eingefahrenen Gleisen zu drängen. In einer wilden, wahnsinnigen Jagd sprangen die zwei Navigatoren von Landschaft zu Landschaft, von Polis zu Polis, von Planet zu Planet, auf der Suche nach jemandem, der zur Kommunikation bereit war.

Auf diesem Weg erhaschten sie tausend zufällige Blicke auf die physische Welt: das Radarbild eines Staubsturms, der über das Meer aus Dünen rings um die nordpolare Eiskappe des Mars tobte, die schwache Infrarotspur eines kleinen Kometen, der in der Atmosphäre des Uranus verging – ein Ereignis, das Dekaden zurücklag, aber immer noch im detaillierten Gedächtnis des Satelliten gespeichert war. Sie stießen sogar auf die Realzeitübertragung einer Drohne, die gerade die ostafrikanische Savanne überflog und sich einem Löwenrudel näherte, doch im Gegensatz zu den dynamischen Bildern der Bibliothek schien diese Szene erstarrt, so dass die Navigatoren sich nach einigen Tau weiterbewegten.

Als das Waisenkind auf die Adresse eines Konishi-Forums stieß, sah es einen Platz, der mit glatten Rhomben in Mineralblau und -grün gepflastert war. Sie waren in einem Muster flüchtiger Regelmäßigkeiten angeordnet, die sich jedoch nie in vollem Ausmaß wiederholten. Ein Springbrunnen sprühte flüssiges Silber in einen orangefarbenen Himmel mit vereinzelten Wolkenstreifen. Wo jeder Strahl sich auf halbem Wege in spiegelnde Tröpfchen auflöste, deformierten sich die glänzenden Kugeln zu winzigen geflügelten Schweinchen, die die Fontäne umschwirrten, die Flugbahnen ihrer Artgenossen kreuzten und fröhlich grunzten, bevor sie wieder ins Becken eintauchten. Der Platz wurde von gemauerten Kreuzgängen gesäumt, deren Innenräume von weiten Bögen und kunstvoll geschmückten Kolonnaden gebildet wurden. Einige der Bögen wiesen ungewöhnliche Krümmungen auf, wie von Escher oder Klein gestaltet, als seien sie durch unsichtbare zusätzliche Dimensionen gedreht worden.

Das Waisenkind kannte ähnliche Strukturen aus der Bibliothek und wusste für die meisten auch die Linear-Worte. Die Landschaft selbst war nicht sehr bemerkenswert, so dass das Waisenkind nichts dazu sagte. Es hatte schon tausend Szenen mit sich bewegenden und sprechenden Bürgern betrachtet, aber es war sich deutlich eines Unterschiedes bewusst, obwohl es nicht genau benennen konnte, worin dieser bestand. Die Gestalt-Bilder erinnerten es im Wesentlichen an die Icons, die es schon zuvor gesehen hatte, oder an die stilisierten Körperlichen, die es aus darstellenden Kunstwerken kannte – die weitaus vielfältiger und wechselhafter waren, als reale Körperliche es jemals sein konnten. Ihre Formen waren weder durch physiologische noch physikalische Aspekte beschränkt, sondern lediglich durch die Konventionen der Gestalt – dem Bedürfnis, abseits von allen Nuancen und Subtilitäten vor allem eine Primärbedeutung zu verkünden: Ich bin ein Bürger.

Das Waisenkind sprach das Forum an: »Menschen!«

Die Linear-Gespräche zwischen den Bürgern waren öffentlich, aber gedämpft – je leiser desto weiter im Verhältnis zur Landschaft entfernt. Das Waisenkind nahm nur ein unveränderliches Raunen wahr.

Es versuchte es erneut: »Menschen!«

Das Icon des nächsten Bürgers – mit einer blendenden Gestalt in vielen Farbtönen, wie eine Statue aus Buntglas, etwa zwei Delta groß – drehte sich zum Waisenkind um. Eine angeborene Struktur im Input-Navigator rotierte den Blickwinkel des Waisenkindes so, dass er direkt auf das Icon gerichtet war. Der Output-Navigator folgte automatisch den Bewegungen seines Kollegen, nachdem er ein Icon des Waisenkindes hergestellt hatte – in diesem Fall eine grobe, unbewusste Nachahmung des Bürgers –, und drehte es in dieselbe Richtung.

Der Bürger glitzerte blau und golden. Hein lichtdurchlässiges Gesicht lächelte, und hie sagte: »Hallo, Waisenkind.«

Endlich eine Antwort! Der Rückkopplungssensor des Output-Navigators schaltete den Schrei der Langeweile ab und dämpfte die Rastlosigkeit, die die Suche angetrieben hatte. Es überflutete den Geist mit Signalen, die jedes System unterdrückten, das intervenieren und es von dieser wertvollen Entdeckung ablenken könnte.

Das Waisenkind äffte nach: »Hallo, Waisenkind.«

Der Bürger lächelte erneut – »Ja, hallo« –, dann wandte hie sich wieder heinen Freunden zu.

»Menschen! Hallo!«

Nichts geschah.

»Bürger! Menschen!«

Die Gruppe ignorierte das Waisenkind. Der Rückkopplungssensor regelte den Zufriedenheitswert herunter und ließ die Navigatoren wieder rastlos werden. Nicht rastlos genug, um das Forum zu verlassen, aber um sich darin zu bewegen.

Das Waisenkind flitzte von Ort zu Ort und rief ständig: »Menschen! Hallo!« Es bewegte sich ohne Kraftaufwand oder Trägheit, ohne Schwerkraft oder Reibung, sondern hielt sich lediglich an die letzten bedeutenderen Datenabfragen des Input-Navigators, die von der Landschaft als Position und Blickwinkel des Waisenkindes interpretiert wurden. Die entsprechenden Daten des Output-Navigators bestimmten, wo und wie die Sprache und das Icon des Waisenkindes in die Landschaft eingefügt wurden.

Die Navigatoren lernten, wie man sich nahe genug an die Bürger heranbewegte, um mühelos verstanden zu werden. Einige antworteten »Hallo, Waisenkind«, bevor sie sich wieder abwandten. Das Waisenkind gab ihre jeweiligen Icons gespiegelt zurück: einfach oder komplex, in Rokoko oder spartanischem Stil, in pseudo-biologischen oder pseudo-artefaktischen Formen, deren Umrisse von Helices aus leuchtendem Rauch gebildet wurden, die mit sich windenden, zischenden Schlangen ausgefüllt waren, mit farbenfrohen Fraktalmustern geschmückt oder in gestaltloses Schwarz gehüllt. Doch immer lag dieselbe zweibeinige Affengestalt zugrunde, eine Konstante im Chaos der Variationen, wie der Buchstabe A in hundert von verrückten Mönchen illustrierten Manuskripten.

Nach und nach begannen die Netzwerke zur Input-Klassifikation den Unterschied zwischen den Bürgern im Forum und all den Icons, die es in der Bibliothek gesehen hatte, zu begreifen. Genauso wie das Bild besaß jedes der hiesigen Icons ein nicht-visuelles Gestalt-Etikett – eine Eigenschaft ähnlich dem typischen Geruch eines Körperlichen, wenn auch stärker lokalisiert und mit weitaus reichhaltigeren Möglichkeiten. Das Waisenkind erkannte keinen Sinn dieser neuen Art von Daten, doch jetzt reagierte sein Infotrop – eine Struktur, die sich erst später entwickelt und als zweite Ebene die einfacheren Detektoren für Neuheit und Muster überwachsen hatte – allmählich auf das Verständnisdefizit. Es nahm den zaghaften Hinweis auf eine Regelmäßigkeit auf – jedes Icon eines Bürgers ist mit einem einzigartigen und unveränderlichen Etikett verbunden – und brachte seine Unzufriedenheit zum Ausdruck. Das Waisenkind hatte bislang darauf verzichtet, die Etiketten zu spiegeln, doch jetzt näherte es sich, angespornt vom Infotrop, einer Gruppe aus drei Bürgern und imitierte einen von ihnen, einschließlich des Etiketts. Eine Reaktion erfolgte unverzüglich.

»Hör sofort damit auf, Idiot!«, rief der Bürger verärgert.

»Hallo!«

»Niemand wird dir glauben, wenn du ich zu sein behauptest – und ich erst recht nicht. Verstehst du? Jetzt verschwinde!« Dieser Bürger hatte metallische, zinngraue Haut. Hie schaltete hein Etikett ein und aus, um heinen Standpunkt zu unterstreichen. Das Waisenkind tat es hie nach.

»Nein!« Jetzt produzierte der Bürger ein zweites Etikett neben dem Original. »Siehst du? Ich fordere dich heraus, und du kannst gar nicht antworten. Warum lügst du also?«

»Hallo!«

»Verschwinde!«

Das Waisenkind war gefesselt, denn soviel Aufmerksamkeit war ihm bisher noch nie zuteil geworden.

»Hallo, Bürger!«

Das Zinngesicht erschlaffte – zerschmolz beinahe vor übertriebenem Unmut. »Weißt du nicht, wer du bist? Kann es sein, dass du deine eigene Signatur nicht kennst?«

Ein anderer Bürger schaltete sich ruhig hinzu. »Es muss das neue Waisenkind sein – das sich noch in der Plazenta befindet. Es ist dein jüngster Mitbürger, Inoshiro. Du solltest es willkommen heißen.«

Dieser Bürger war von kurzem, goldbraunem Fell bedeckt. Das Waisenkind sagte: »Löwe.« Es versuchte, diesen neuen Bürger zu imitieren – und plötzlich lachten alle drei auf.

»Es möchte wie du sein, Gabriel«, sagte der dritte Bürger.

Der erste Bürger – der mit der Zinnhaut – sagte: »Wenn es seinen eigenen Namen nicht kennt, sollten wir es ›Idiot‹ nennen.«

»Sei nicht so grausam. Ich könnte dir Erinnerungen zeigen, mein kleines Teil-Geschwister.« Das Icon des dritten Bürgers war eine strukturlose schwarze Silhouette.

»Niemand würde freiwillig Blanca sein wollen.«

Das Waisenkind imitierte nacheinander alle drei Bürger. Diese reagierten, indem sie gleichzeitig seltsame Linear-Laute ohne Bedeutung riefen – »Inoshiro! Gabriel! Blanca! Inoshiro! Gabriel! Blanca!« –, während das Waisenkind die Gestalt-Bilder und -Etiketten produzierte.

Die temporären Musterdetektoren erkannten die Verbindung, und das Waisenkind stimmte in den Linear-Singsang ein. Es machte sogar noch eine Weile weiter, als die anderen verstummt waren. Doch schon nach wenigen Wiederholungen wurde das Muster schal.

Der Bürger mit der Zinnhaut legte heine Hand auf die Brust und sagte: »Ich bin Inoshiro.«

Der Bürger mit dem goldenen Fell legte heine Hand auf die Brust und sagte: »Ich bin Gabriel.«

Der Bürger in schwarzer Silhouette gab heiner Hand eine dünne weiße Begrenzungslinie, damit sie nicht verschwand, als hie sie auf die Brust legte und sagte: »Ich bin Blanca.«

Das Waisenkind ahmte die Bewegungen jedes Bürgers nach und sprach dabei die Linear-Worte nach. Für alle drei waren nun Symbole gebildet worden, die ihre Icons samt Etiketten und die Linear-Worte miteinander verknüpften – obwohl die Etiketten und die Linear-Worte nach wie vor mit nichts anderem verbunden waren.

Der Bürger, bei dessen Icon alle ›Inoshiro‹ gerufen hatten, sagte: »So weit, so gut. Aber wie bekommt es nun einen eigenen Namen?«

Der Bürger, dessen Etikett mit ›Blanca‹ verknüpft war, sagte: »Waisenkinder geben sich selbst einen Namen.«

Das Waisenkind sprach nach: »Waisenkinder geben sich selbst einen Namen.«

Der Bürger mit dem Wort ›Gabriel‹ zeigte auf den mit dem Wort ›Inoshiro‹ und sagte: »Hie ist …?« Darauf sagte der Bürger, der mit dem Wort ›Blanca‹ verknüpft war: »Inoshiro.«

Dann zeigte der Bürger mit dem Wort ›Inoshiro‹ auf den anderen Bürger und sagte: »Hie ist …?« Diesmal antwortete der Bürger mit dem Wort ›Blanca‹: »Blanca.« Das Waisenkind machte mit und zeigte dorthin, wohin auch die anderen zeigten, gelenkt von angeborenen Systemen, die ihm die Orientierung in der Geometrie der Landschaft ermöglichten, und vervollständigte mühelos die Muster, wenn niemand anderer es tat.

Dann zeigte der Bürger mit dem goldenen Fell auf das Waisenkind und sagte: »Hie ist …?«

Der Input-Navigator drehte den Blickwinkel des Waisenkindes um einhundertachtzig Grad, um zu sehen, worauf der Bürger zeigte. Als es hinter dem Waisenkind nichts entdeckte, drehte es die Perspektive zurück und brachte sie näher an den Bürger mit dem Goldfell heran – wobei für einen kurzen Moment die Koordination mit dem Output-Navigator unterbrochen wurde.

Plötzlich sah das Waisenkind das Icon, das es selbst projizierte – ein primitives Amalgam aus den Icons aller drei Bürger, aus schwarzem Fell und gelbem Metall. Und es war nicht nur das gewöhnliche schwache mentale Bild aus den verknüpften Kanälen, sondern ein definierbares Objekt innerhalb der Landschaft.

Das musste es sein, worauf der Bürger mit dem goldbraunen Fell und dem Wort ›Gabriel‹ zeigte.

Das Infotrop drehte durch. Es konnte die unvollendete Regelmäßigkeit nicht vervollständigen, es konnte die spielerische Frage nach diesem seltsamen vierten Bürger nicht beantworten, obwohl das Loch im Muster ausgefüllt werden musste.

Das Waisenkind beobachtete, wie der vierte Bürger inmitten der Landschaft Form und Farbe veränderte … und diese Veränderungen entsprachen exakt seinen eigenen zufälligen Zappeleien. Manchmal imitierte es einen der anderen drei Bürger, manchmal spielte es einfach nur mit den Möglichkeiten der Gestalt. Die Regelmäßigkeitsdetektoren ließen sich davon eine Weile faszinieren, doch das Infotrop wurde um so unruhiger.

Das Infotrop kombinierte immer wieder aufs neue alle verfügbaren Faktoren und setzte sich ein kurzfristiges Ziel: Es wollte, dass sich das zinnhäutige ›Inoshiro‹-Icon genauso veränderte, wie sich das Icon des vierten Bürgers veränderte. Das löste schwache Erwartungssignale für die relevanten Symbole aus, ein mentales Bild des erwünschten Ereignisses. Doch obwohl das Bild eines pulsierenden, sich windenden Bürger-Icons mühelos die Kontrolle über den Gestalt-Output-Kanal gewann, war es nicht das ›Inoshiro‹-Icon, das sich veränderte – sondern nur das des vierten Bürgers, genauso wie zuvor.

Der Input-Navigator bewegte sich aus eigenem Antrieb auf dieselbe Position wie der Output-Navigator zurück, worauf der vierte Bürger unvermittelt verschwand. Das Infotrop trieb die beiden Navigatoren wieder auseinander, und plötzlich war der vierte Bürger wieder da.

Der ›Inoshiro‹-Bürger sagte: »Was macht es da?« Der ›Blanca‹-Bürger antwortete: »Schau einfach zu und hab Geduld. Du könntest daraus sogar etwas lernen.«

Ein neues Symbol war im Entstehen begriffen, eine Repräsentation des seltsamen vierten Bürgers – des einzigen, dessen Icon durch eine Art gegenseitiger Anziehung mit dem Blickwinkel des Waisenkindes innerhalb der Landschaft verknüpft war, und des einzigen, dessen Aktionen das Waisenkind ohne jede Mühe vorhersehen und kontrollieren konnte. Waren nun alle vier Bürger von derselben Art – so wie alle Löwen, alle Antilopen, alle Kreise – oder nicht? Die Verbindungen zwischen den Symbolen blieben vorläufig.

Der ›Inoshiro‹-Bürger sagte: »Ich finde es langweilig! Soll doch jemand anderer Babysitter spielen!« Hie umtanzte die Gruppe und imitierte abwechselnd die ›Blanca‹- und ›Gabriel‹-Icons, bis hie zu heiner ursprünglichen Gestalt zurückkehrte. »Wie ist mein Name? Ich weiß es nicht! Was ist meine Signatur? Ich habe gar keine! Ich bin ein Waisenkind! Ich bin ein Waisenkind! Ich weiß nicht einmal, wie ich aussehe!«

Als das Waisenkind beobachtete, wie der ›Inoshiro‹-Bürger die Icons der anderen beiden übernahm, hätte es beinahe vor Verwirrung seinen gesamten Klassifikationsplan aufgegeben. Der ›Inoshiro‹-Bürger verhielt sich nun mehr wie der vierte Bürger – obwohl heine Aktionen immer noch keine Übereinstimmung mit den Absichten des Waisenkindes aufwiesen.

Das Symbol des Waisenkindes für den vierten Bürger verfolgte genauestens das Erscheinungsbild und die Position jenes Bürgers, aber es begann auch damit, die Essenz der eigenen mentalen Bilder und kurzfristigen Ziele des Waisenkindes herauszudestillieren, wodurch es alle Aspekte des geistigen Zustandes des Waisenkindes zusammenfasste, die irgendeine Verknüpfung zum Verhalten des vierten Bürgers aufzuweisen schienen. Doch nur wenige Symbole besaßen scharf abgegrenzte Konturen; die meisten waren undeutlich und wechselhaft wie Plasma tauschende Bakterien. Das Symbol für den ›Inoshiro‹-Bürger kopierte einige der Mentalzustandsstrukturen aus dem Symbol für den vierten Bürger und spielte seinerseits damit herum.

Zunächst war die Fähigkeit, hochgradig komprimierte ›Mentalbilder‹ und ›Ziele‹ zu repräsentieren, keine Hilfe – weil alles immer noch mit dem geistigen Zustand des Waisenkindes verknüpft war. Die blind geklonte Maschinerie für das ›Inoshiro‹-Symbol gab weiterhin Vorhersagen ab, dass sich der ›Inoshiro‹-Bürger den Absichten des Waisenkindes entsprechend bewegen würde – doch es kam niemals zu einer Übereinstimmung. Angesichts dieser wiederholten Fehlschläge wurden die Verbindungen bald aufgegeben – und das winzige, grobe Modell eines Geistes, das noch im Innern des ›Inoshiro‹-Symbols übrig war, wurde freigesetzt, um den ›Inoshiro‹-Geisteszustand zu finden, der die beste Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Verhalten des Bürgers hatte.

Das Symbol probierte verschiedene Verknüpfungen, verschiedene Theorien aus, um jene zu finden, die am sinnvollsten erschien … und dann erkannte das Waisenkind plötzlich die Tatsache, dass der ›Inoshiro‹-Bürger den vierten Bürger imitiert hatte.

Das Infotrop bemächtigte sich dieser Offenbarung – und versuchte den vierten Bürger zu veranlassen, seinerseits den ›Inoshiro‹-Bürger zu imitieren.

Der vierte Bürger rief: »Ich bin ein Waisenkind! Ich bin ein Waisenkind! Ich weiß nicht einmal, wie ich aussehe!«

Der ›Gabriel‹-Bürger zeigte auf den vierten Bürger und sagte: »Hie ist ein Waisenkind!« Der ›Inoshiro‹-Bürger stimmte lustlos zu: »Hie ist ein Waisenkind. Aber warum ist hie so langsam?«

Vom Infotrop getrieben, versuchte das Waisenkind noch einmal, das ›Hie ist …?‹-Spiel zu spielen, und diesmal benutzte es die Antwort ›ein Waisenkind‹ für den vierten Bürger. Die anderen bestätigten diese Wortwahl, und bald waren diese Worte fest mit dem Symbol für den vierten Bürger verknüpft.

Als die drei Freunde des Waisenkindes die Landschaft verließen, blieb der vierte Bürger zurück. Doch der vierte Bürger hatte seine Fähigkeit, interessante Überraschungen zu präsentieren, erschöpft, so dass das Waisenkind, nachdem es noch einige andere Bürger ohne Erfolg belästigt hatte, in die Bibliothek zurückkehrte.

Der Input-Navigator hatte das einfachste Indexsystem, das von der Bibliothek benutzt wurde, erlernt, und als das Infotrop nach einer Möglichkeit suchte, die leeren Stellen der Muster zu schließen, die in der Landschaft gebildet worden waren, gelang es ihm, den Input-Navigator an Positionen der Bibliothek zu schicken, die sich auf die mysteriösen Linear-Worte der vier Bürger bezogen: Inoshiro, Gabriel, Blanca und Waisenkind. Jedes dieser Worte war mit Datenmengen indiziert, die jedoch keinerlei Beziehung zu den Bürgern selbst hatten. Das Waisenkind sah so viele Bilder von Körperlichen, oftmals geflügelt, die mit dem Wort ›Gabriel‹ assoziiert waren, dass es ein Gesamtsymbol aus den entdeckten Regelmäßigkeiten konstruierte, doch dieses neue Symbol überschnitt sich kaum mit dem des Bürgers mit dem goldenen Fell.

Das Waisenkind gab immer wieder die vom Infotrop initiierte Suche auf, wenn alte Adressen der Bibliothek, die sich seinem Gedächtnis eingeprägt hatten, die Aufmerksamkeit des Input-Navigators erregten. Als es irgendwann eine Szene sah, in der ein schmutziges Kind der Körperlichen eine leere Schüssel aus Holz hochhielt, wurde dem Waisenkind langweilig, so dass es sich wieder vertrauterem Territorium näherte. Unterwegs stieß es auf eine Szene mit einem erwachsenen Körperlichen, der neben einem verwirrten Löwenjungen kauerte und es auf die Arme nahm.

Neben ihnen lag eine Löwin am Boden, reglos und blutüberströmt. Der Körperliche streichelte den Kopf des Jungen. »Arme kleine Yatima.«

Etwas an dieser Szene faszinierte das Waisenkind. Es flüsterte der Bibliothek zu: »Yatima, Yatima.« Es hatte dieses Wort noch nie zuvor gehört, aber es schien eine starke Resonanz zu erzeugen.

Das Löwenjunge maunzte. Der Körperliche schnurrte: »Mein armes kleines Waisenkind.«

Das Waisenkind wechselte zwischen der Bibliothek und der Landschaft mit dem orangefarbenen Himmel und der Fontäne aus fliegenden Schweinchen. Manchmal waren seine drei Freunde da, manchmal spielten andere Bürger eine Weile mit ihm, und manchmal war auch nur der vierte Bürger da.

Das Aussehen des vierten Bürgers war während der verschiedenen Besuche nie dasselbe. Er neigte dazu, dem eindrucksvollsten Bild zu ähneln, das das Waisenkind im Verlauf der letzten paar Kilotau in der Bibliothek gesehen hatte. Dennoch war er leicht zu identifizieren, da er der einzige Bürger war, der nur dann sichtbar wurde, wenn sich die zwei Navigatoren auseinanderbewegten. Jedes Mal, wenn das Waisenkind in der Landschaft eintraf, veränderte es die Perspektive auf sich selbst und betrachtete den vierten Bürger. Manchmal variierte es das Icon, damit es größere Ähnlichkeit mit einer bestimmten Erinnerung aufwies, oder passte es an die ästhetischen Präferenzen der Input-Klassifikations-Netzwerke an. Diese Neigungen waren zu Anfang von einigen wenigen Eigenschaftsfeldern abgesteckt worden, um dann durch folgende Datenströme vertieft oder überschwemmt zu werden. Manchmal imitierte das Waisenkind den Körperlichen, der das Löwenjunge aufgehoben hatte: groß und schlank, mit tiefschwarzer Haut und braunen Augen, in ein purpurrotes Gewand gekleidet.

Und als der Bürger, der mit ›Inoshiro‹ verknüpft war, einmal mit gespieltem Bedauern sagte: »Armes kleines Waisenkind, du hast ja immer noch keinen Namen«, da erinnerte sich das Waisenkind an die Szene und erwiderte: »Arme kleine Yatima.«

Der Bürger mit Goldfell sagte: »Ich glaube, jetzt weiß es ihn.«

Von da an nannten alle den vierten Bürger ›Yatima‹. Sie sagten es so häufig und machten ein solches Aufhebens darum, dass das Waisenkind bald eine genauso enge Bindung zu diesem Symbol gewann wie zu ›Waisenkind‹.

Das Waisenkind beobachtete den mit dem Symbol ›Inoshiro‹ verknüpften Bürger, wie hie dem vierten Bürger in triumphierendem Singsang zurief: »Yatima! Yatima! Ha ha ha! Ich habe fünf Eltern und fünf Teil-Geschwister, und ich werde immer älter als du sein!«

Das Waisenkind ließ den vierten Bürger antworten: »Inoshiro! Inoshiro! Ha ha ha!«

Aber dann wusste es nicht mehr, was es als nächstes sagen sollte.

Blanca sagte: »Die Gleisner justieren einen Asteroiden – in diesem Augenblick, in Realzeit. Kommst du mit, um es dir anzuschauen? Inoshiro und Gabriel sind auch da. Folge mir einfach!«

Blancas Icon wechselte das Etikett und war dann plötzlich verschwunden. Das Forum war nahezu leer, in der Nähe des Springbrunnen hielten sich ein paar Reguläre auf, die, wie das Waisenkind wusste, nicht reagieren würden, und dann war da noch wie immer der vierte Bürger.

Blanca kehrte zurück. »Was ist los? Weißt du nicht, wie du mir folgen sollst, oder willst du nicht mitkommen?« Die Sprachanalyse-Netzwerke des Waisenkindes hatten die Feinabstimmung der angeborenen Universalgrammatik verbessert und richteten sich zusehends auf die Konventionen der Linear-Kommunikation aus. Worte wurden zu mehr als nur isolierten Auslösern für Symbole, von denen jedes eine einzige, feste Bedeutung besaß. Allmählich wurden die Interpretationskaskaden der Symbole durch die Feinheiten von Ordnung, Zusammenhang und Beugung moduliert. Dies war eine Anfrage nach Aufklärung über die Absichten des vierten Bürgers.

»Spiel mit mir!« Das Waisenkind hatte gelernt, den vierten Bürger mit ›ich‹, ›mir‹ oder ›mich‹ zu bezeichnen, statt ›Yatima‹ zu verwenden, doch das war lediglich die Anwendung von Grammatik und kein Selbstbewusstsein.

»Ich möchte den Asteroiden sehen, Yatima.«

»Nein! Spiel mit mir!« Das Waisenkind schlängelte sich aufgeregt um hie herum, während es Erinnerungsfragmente projizierte: wie Blanca gemeinsame Landschaftsobjekte erzeugt hatte – rotierende nummerierte Würfel und hüpfende bunte Bälle – und wie hie dem Waisenkind gezeigt hatte, wie man damit interagierte.

»Also gut! Ich habe ein neues Spiel für dich. Ich hoffe, dass du schnell lernst.«

Blanca produzierte ein Extra-Etikett – das denselben allgemeinen Geschmack wie das vorige hatte, aber nicht mit ihm identisch war – worauf hie wieder verschwand – um im nächsten Augenblick wieder zu erscheinen, ein paar hundert Delta entfernt. Das Waisenkind hatte hie sofort entdeckt und folgte unverzüglich.

Blanca sprang noch einmal. Und noch einmal. Jedes Mal produzierte hie ein neues Etikett mit einer leichten Geschmacksvariation, bevor hie verschwand. Als das Spiel für das Waisenkind gerade langweilig zu werden begann, blieb Blanca für den Bruchteil eines Tau aus der Landschaft verschwunden, bevor hie wieder auftauchte. In dieser Zeit versuchte das Waisenkind zu raten, wo hie als nächstes materialisieren würde, und hoffte, dass es zuerst am entsprechenden Punkt war.

Doch es schien kein erkennbares Muster zu geben. Blancas solider Schatten sprang wahllos über das Forum, zwischen den Kreuzgängen und der Fontäne, und das Waisenkind lag mit seinen Vorhersagen immer daneben. Es war frustrierend … doch Blancas Spiele hatten in der Vergangenheit für gewöhnlich irgendein subtiles Muster aufgewiesen, daher ließ das Infotrop nicht locker, sondern kombinierte die vorhandenen Musterdetektoren zu immer neuen Koalitionen, um endlich eine Lösung für das Problem zu finden.

Die Etiketten! Als das Infotrop die Erinnerung an die einfachen Gestalt-Daten der Etiketten, die Blanca produzierte, mit der Adresse verglich, die die angeborenen Geometrie-Netzwerke berechneten, wenn das Waisenkind sie kurz darauf wieder zu Gesicht bekam, stellte es fest, dass sich Teile der zwei Sequenzen fast vollständig deckten. Jedes Mal aufs neue. Das Infotrop verband diese zwei Informationsquellen miteinander, indem es sie als zwei Methoden erkannte, um dasselbe in Erfahrung zu bringen, worauf das Waisenkind über die Landschaft sprang, ohne abzuwarten, wo Blanca erschien.

Diesmal überlappten sich ihre Icons, und das Waisenkind musste zurückweichen, als es bemerkte, dass Blanca tatsächlich an dieser Stelle aufgetaucht war. Damit wurde der Erfolg, den das Infotrop bereits forsch behauptet hatte, bestätigt. Beim zweiten Mal kompensierte das Waisenkind automatisch und variierte die Adresse leicht, um eine Kollision zu vermeiden, genauso wie es gelernt hatte, dasselbe zu tun, wenn es Blanca nach Sicht verfolgte. Beim dritten Mal traf das Waisenkind vor hie am Ziel ein.

»Ich habe gewonnen!«

»Gut gemacht, Yatima! Du bist mir gefolgt!«

»Ich bin dir gefolgt!«

»Wollen wir uns jetzt den Asteroiden ansehen? Zusammen mit Inoshiro und Gabriel?«

»Gabriel!«

»Das soll vermutlich ein Ja sein.«

Blanca sprang, das Waisenkind folgte hie – und der Platz mit dem Springbrunnen löste sich in Milliarden Sterne auf.

Das Waisenkind betrachtete diese seltsame neue Landschaft. Hier strahlten die Sterne in fast allen Frequenzen, von kilometerlangen Radiowellen bis zu hochenergetischer Gammastrahlung. Der ›Farbraum‹ der Gestalt ließ sich nahezu unbegrenzt erweitern, und das Waisenkind war in der Bibliothek bereits auf einige astronomische Darstellungen gestoßen, die eine ähnliche Spannweite aufwiesen, doch die meisten terrestrischen Szenen sowie die meisten Landschaften gingen kaum über Infrarot und Ultraviolett hinaus. Selbst die Satellitenbilder von planetaren Oberflächen wirkten im Vergleich dazu trist und gedämpft, denn die Planeten waren viel zu kalt, um in einem solchen Spektrum erstrahlen zu können. Es gab Andeutungen einer subtilen Ordnung innerhalb des Chaos aus Farben – Regelmäßigkeiten in den Emissions- und Absorptionslinien, ausgeprägte Konturen der Wärmestrahlung –, doch das Infotrop gab sich fasziniert der Datenüberfülle hin und ließ sich einfach davon berieseln. Für eine gründliche Analyse wären noch tausend weitere Hinweise nötig gewesen. Die Sterne hatten keine geometrischen Eigenschaften – sie waren punktförmig, weit entfernt und ihre Adressen in der Landschaft unmöglich zu berechnen –, doch das Waisenkind hatte den flüchtigen mentalen Eindruck, sich in ihre Richtung zu bewegen, und stellte sich für einen Augenblick die Möglichkeit vor, sie aus der Nähe zu betrachten.

Das Waisenkind entdeckte eine Gruppe von Bürgern in der Nähe, und als es seine Aufmerksamkeit vom Hintergrund der Sterne abwandte, bemerkte es noch weitere Gruppen, die über die Landschaft verstreut waren. Einige ihrer Icons reflektierten die Umgebungsstrahlung, doch die meisten waren nur auf Abruf sichtbar und gaben nicht vor, auf irgendeine Weise mit dem Sternenlicht zu interagieren.

Inoshiro sagte: »Musstest du es unbedingt mitbringen?«

Als sich das Waisenkind hie zuwandte, erblickte es einen Stern, der wesentlich heller als alle anderen war, viel kleiner als der vertraute Anblick am irdischen Himmel, aber ohne den gewöhnlich vorhandenen Filter aus Gas und Staub.

»Die Sonne?«

Gabriel sagte: »Ja, das ist die Sonne.« Der Bürger mit dem goldenen Fell schwebte neben Blancas Icon, das genauso klar wie sonst zu erkennen war, weil es noch dunkler als der kühle, dünne Strahlungshintergrund zwischen den Sternen war.

»Warum hast du Yatima mitgebracht«, jammerte Inoshiro. »Hie ist noch zu jung! Hie wird überhaupt nichts verstehen!«

»Beachte hie einfach nicht, Yatima«, sagte Blanca.

Yatima! Yatima! Das Waisenkind wusste genau, wo Yatima war und wie hie aussah, ohne dass es die Navigatoren trennen und sich vergewissern musste. Das Icon des vierten Bürgers hatte sich als der große Körperliche im roten Gewand stabilisiert, der in der Bibliothek das Löwenjunge adoptiert hatte.

Inoshiro adressierte das Waisenkind. »Keine Sorge, Yatima, ich werde versuchen, es dir zu erklären. Wenn die Gleisner diesen Asteroiden nicht justieren, besteht die Möglichkeit, dass er in dreihunderttausend Jahren – in zehntausend Teratau – die Erde trifft. Und je früher sie ihn trimmen, desto weniger Energie ist nötig. Aber sie konnten es nicht früher tun, weil die Gleichungen zu chaotisch sind. Deshalb konnten sie erst jetzt ein Modell des Kurses erstellen.«

Das Waisenkind verstand gar nichts. »Blanca wollte, dass ich mir den Asteroiden ansehe! Aber ich wollte ein neues Spiel spielen!«

Inoshiro lachte. »Was hat hie gemacht? Dich entführt?«

»Ich folgte hie, und hie sprang und sprang … dann folgte ich hie!« Das Waisenkind vollführte kurze Sprünge um die kleine Gruppe, um seine Worte zu veranschaulichen, obwohl es dabei nicht direkt darstellte, wie es von einer Landschaft in eine andere gesprungen war.

»Psst!«, sagte Inoshiro. »Es geht los.«

Das Waisenkind nahm dieselbe Blickrichtung wie hie ein und sah dann in der Ferne einen unregelmäßigen Felsbrocken, der von der Sonne beschienen wurde, während die andere Hälfte im dunklen Schatten lag, und der sich schnell auf die Versammlung der Bürger zubewegte. Die Landschaftssoftware schmückte das Bild des Asteroiden mit Gestalt-Etiketten, die Informationen über seine chemische Zusammensetzung, seine Masse, seinen Drehimpuls oder seine Bahnwerte enthielten. Das Waisenkind kannte einige dieser Eigenschaften aus der Bibliothek, aber es hatte keine klare Vorstellung, was sie zu bedeuten hatten.

»Eine winzige Abweichung des Lasers, und die Körperlichen werden schmerzvoll sterben!« Inoshiros Zinnaugen glühten.

Blanca entgegnete trocken: »Und nur dreihundert Jahrtausende für einen erneuten Versuch.«

Inoshiro wandte sich dem Waisenkind zu und fügte beruhigend hinzu: »Uns würde trotzdem nichts geschehen. Selbst wenn Konishi auf der Erde ausgelöscht würde, gäbe es noch genügend Backups im ganzen Sonnensystem.«

Jetzt war der Asteroid dem Waisenkind nahe genug, dass es seine Landschaftsadresse und seine Größe berechnen konnte. Er war immer noch ein paar hundertmal weiter entfernt als der fernste Bürger, aber er kam sehr schnell näher. Die wartenden Zuschauer waren ungefähr in einer Kugelschale angeordnet, die etwa zehnmal so groß wie der Asteroid war – und das Waisenkind erkannte sofort, dass der Asteroid, wenn er seine Bahn beibehielt, genau durch das Zentrum dieser imaginären Kugel fliegen würde.

Jeder beobachtete konzentriert den Felsbrocken. Das Waisenkind fragte sich, um welche Art Spiel es sich hierbei handeln mochte. Es hatte ein Gattungssymbol gebildet, das nicht nur die drei Freunde des Waisenkindes, sondern alle Fremden in dieser Landschaft umfasste, und dieses Symbol hatte die angeborene Eigenschaft des vierten Bürgers angenommen, bestimmte Überzeugungen von Objekten zu entwickeln, die sich als sehr nützlich erwiesen hatten, um ihr Verhalten vorherzusagen. Vielleicht warteten die Leute hier ab, ob der Fels einen plötzlichen Sprung durchführte, so wie Blanca gesprungen war. Das Waisenkind glaubte jedoch, dass sie sich täuschten, denn der Fels war kein Bürger und würde daher auch nicht mit ihnen spielen.

Das Waisenkind wollte allen mitteilen, wie einfach die Bahn des Felsbrockens war. Es überprüfte noch einmal seine Hochrechnungen, aber nichts hatte sich verändert. Kurs und Geschwindigkeit waren genauso konstant wie zuvor. Dem Waisenkind fehlten die Worte, um der Menge diesen Sachverhalt verständlich zu machen – aber vielleicht konnten sie etwas lernen, indem sie den vierten Bürger beobachteten, so wie der vierte Bürger vieles von Blanca gelernt hatte.

Das Waisenkind sprang durch die Landschaft genau in die Bahn des Asteroiden. Ein Viertel des Himmels wurde grau und pockennarbig, und eine unregelmäßige Erhebung auf der sonnenwärtigen Seite warf einen tiefen Schatten über die sich nähernde Fläche. Einen Augenblick lang war das Waisenkind zu erstaunt, um sich bewegen zu können – die Ausmaße, die Geschwindigkeit und die klobige, zweckfreie Erhabenheit dieses Dings ließen es gebannt erstarren –, doch dann passte es seine Geschwindigkeit dem Felsen an und gab diese Information an die Menge weiter.

Die Leute begannen aufgeregt zu schreien. Ihre Worte wurden zwar nicht vom fiktiven Vakuum verschluckt, waren aber nach Entfernung innerhalb der Landschaft abgestuft und vermischten sich zu einem pulsierenden Raunen. Das Waisenkind entfernte sich vom Asteroiden und sah, wie die nächsten Bürger ihm zuwinkten und gestikulierten.

Das Symbol des vierten Bürgers, das direkt mit dem Geist des Waisenkindes verbunden war, hatte bereits geschlussfolgert, dass der vierte Bürger die Bahn des Asteroiden verfolgte, um zu ändern, was die anderen Bürger dachten. Also hatte das Modell des Waisenkindes vom vierten Bürger die Eigenschaft gewonnen, Überzeugungen über die Überzeugungen anderer Bürger zu entwickeln … und die Symbole für Inoshiro, Blanca, Gabriel und die Menge griffen nach dieser Innovation, um sie für sich auszuprobieren.

Als das Waisenkind in die kugelförmige Arena zurückfiel, hörte es, wie die Menschen lachten und jubelten. Alle betrachteten den vierten Bürger, obwohl das Waisenkind allmählich zu der Vermutung gelangte, dass niemandem die Bahn des Asteroiden hätte gezeigt werden müssen. Als es sich wieder umblickte, um sich zu vergewissern, dass der Kurs des Felsbrockens unverändert war, leuchtete plötzlich ein Punkt auf der Erhebung in starkem Infrarot auf – bis es zu einem Lichtausbruch kam, der tausendmal heller als der sonnenbeschienene Fels war und dessen thermisches Spektrum viel heißer als die Sonne strahlte.

Das Waisenkind erstarrte und ließ den Asteroiden näher kommen. Eine Wolke aus glühenden Gasen strömte aus einem Krater in der Erhebung auf dem Felsen. Das Bild war voller neuer Gestalt-Etiketten, die allesamt unbegreiflich waren, doch das Infotrop prägte ein Versprechen in den Geist des Waisenkindes: Ich werde lernen, sie zu verstehen.

Das Waisenkind überprüfte weiterhin die Landschaftsadressen der Referenzpunkte, die es verfolgt hatte, und fand schließlich eine mikroskopische Änderung in der Flugrichtung des Asteroiden. Der Lichtblitz und diese winzige Kursänderung waren es, was alle gebannt hatten beobachten wollen? Der vierte Bürger hatte sich über das getäuscht, was sie wussten, was sie dachten, was sie wollten … und jetzt wussten sie es? Die Implikationen sprangen zwischen den Symbolen hin und her, mentale Modelle, die mentale Modelle spiegelten, während sich das Netzwerk um Bedeutung und Stabilität bemühte.

Bevor der Asteroid das Icon des vierten Bürgers überlagern konnte, sprang das Waisenkind zu seinen Freunden zurück.

Inoshiro war wütend. »Warum hast du das gemacht? Du hast alles verdorben. Du Baby!«

Blanca fragte sanft: »Was hast du gesehen, Yatima?«

»Der Felsen ist ein wenig gesprungen. Aber ich wollte, dass die Leute glauben … er würde es nicht tun.«

»Idiot! Immer musst du dich in den Vordergrund drängen!«

»Yatima?«, sagte Gabriel. »Warum glaubt Inoshiro, dass du mit dem Asteroiden geflogen bist?«

Das Waisenkind zögerte. »Ich weiß nicht, was Inoshiro denkt.«

Die Symbole für die vier Bürger verschoben sich zu einer Konfiguration, die sie schon Tausende Male zuvor ausprobiert hatten: den vierten Bürger, Yatima, von den anderen abgesetzt, als etwas Einzigartiges isoliert – doch diesmal, weil dieser vierte Bürger der einzige war, dessen Gedanken das Waisenkind mit Gewissheit erkennen konnte. Und während das Symbol-Netzwerk fieberhaft nach einer besseren Methode suchte, um diesem Wissen Ausdruck zu verleihen, verfestigten sich zirkuläre Verbindungen, lösten sich redundante Verbindungen auf.

Es gab keinen Unterschied zwischen dem Modell für Yatimas Überzeugungen von den anderen Bürgern, die innerhalb des Symbols für Yatima steckten … und den Modellen der anderen Bürger, die in ihren jeweiligen Modellen steckten. Das Netzwerk erkannte endlich diese Tatsache und begann damit, die überflüssigen Zwischenstadien zu verwerfen. Das Modell für Yatimas Überzeugungen wurde zum ganzen und größeren Netzwerk des symbolischen Wissens des Waisenkindes.

Und das Modell von Yatimas Überzeugungen von Yatimas Geist wurde zum Gesamtmodell von Yatimas Geist – kein Miniaturduplikat und auch keine grobe Zusammenfassung, sondern ein straffes Bündel von Verbindungen, die auf die Sache selbst zurückführten.

Das Bewusstsein des Waisenkindes strömte durch diese neuen Verbindungen, während eine Rückkopplung eine vorübergehende Instabilität erzeugte: Ich denke, dass Yatima denkt, dass ich denke, dass Yatima denkt …

Dann identifizierten die Symbol-Netzwerke die letzten Redundanzen, trennten noch ein paar interne Verbindungen, und schließlich brach die Endlosschleife zu einer einfachen, stabilen Resonanz zusammen:

Ich denke …

Ich denke, dass ich weiß, was ich denke.

Yatima sagte: »Ich weiß, was ich denke.«

Inoshiro erwiderte lässig: »Wie kommst du darauf, dass es irgendwen interessieren könnte?«

Zum fünftausenddreiundzwanzigsten Mal verglich der Konzeptor die mentale Architektur des Waisenkindes mit dem, was in der Polis als Selbstbewusstsein definiert war.

Jetzt war jedes Kriterium erfüllt.

Der Konzeptor griff auf den Teil seiner selbst zu, der die Plazenta betrieb, und hielt ihn an, hielt gleichzeitig das Waisenkind an. Er modifizierte die Maschinerie der Plazenta, so dass sie nun unabhängig lief und von innen heraus programmiert werden konnte. Dann konstruierte er eine Signatur für den neuen Bürger – zwei einzigartige megadigitale Zahlen, eine privat, die andere öffentlich – und bettete sie in den Sekretär des Waisenkindes ein, eine sehr kleine Struktur, die bislang inaktiv gewesen war und nur auf diese Schlüssel gewartet hatte. Dann schickte er eine Kopie der öffentlichen Signatur in die Polis hinaus, damit sie katalogisiert und gezählt werden konnte.

Schließlich übergab der Konzeptor die virtuelle Maschine, die zuvor die Plazenta gewesen war, an das Betriebssystem der Polis und überantwortete ihm die vollständige Kontrolle über den Inhalt – wie eine Wiege, die in einem Fluss ausgesetzt wurde. Dies war jetzt das Exo-Ich des neuen Bürgers, seine Hülle, sein nicht-bewusster Panzer. Der Bürger war frei, es nach Belieben umzuprogrammieren, doch die Polis würde nicht mehr erlauben, dass es von einer anderen Software angetastet wurde. Die Wiege war unsinkbar – außer durch Aktionen von innen.

»Hör auf damit!«, sagte Inoshiro. »Als wen willst du dich jetzt ausgeben?«

Yatima musste die Navigatoren nicht trennen, hie wusste auch so, dass hein Icon das Aussehen nicht verändert hatte, aber nun ein Gestalt-Etikett produzierte. Es war von der Art, die die Bürger gesendet hatten, als hie zum ersten Mal die Landschaft mit den fliegenden Schweinchen besucht hatte.

Blanca schickte Yatima eine andere Art von Etikett, das eine Zufallszahl enthielt, die mit der öffentlichen Hälfte von Yatimas Signatur codiert war. Bevor Yatima sich auch nur Gedanken über die Bedeutung dieses Etiketts machen konnte, hatte hein Sekretär längst automatisch auf diese Herausforderung reagiert. Er decodierte Blancas Botschaft, um sie mit Blancas öffentlicher Signatur neu zu verschlüsseln und sie als dritte Etikettversion zurückzugeben. Behauptung der Identität. Herausforderung. Reaktion.

»Willkommen in Konishi, Bürger Yatima«, sagte Blanca und wandte sich an Inoshiro. Hie wiederholte Blancas Herausforderung und murmelte missmutig: »Willkommen, Yatima.«

Gabriel sagte: »Und willkommen in der Polis-Koalition.«

Yatima beobachtete die drei belustigt – ohne sich der zeremoniellen Worte bewusst zu sein, da hie noch zu verstehen versuchte, was sich in hie verändert hatte. Hie sah heine Freunde, die Sterne, die Menge und spürte hein eigenes Icon … doch während diese gewöhnlichen Gedanken und Wahrnehmungen ungehindert vorbeiströmten, schien eine neue Art von Frage durch den schwarzen Raum hinter allem zu rotieren. Wer denkt dies? Wer sieht diese Sterne und diese Bürger? Wer denkt über diese Gedanken und diese Wahrnehmungen nach?

Und die Antwort kam unverzüglich, nicht nur in Worten, sondern im antwortenden Summen des einzigen Symbols unter den Tausenden, das alle anderen vereinnahmte. Nicht um jeden Gedanken zu spiegeln, sondern um alle zu verbinden. Um sie zusammenzuhalten wie eine Haut.

Wer denkt dies?

Ich.

2 – Wissenssuche

Konishi-Polis, Erde

23 387 281 042 016 KSZ

18. Mai 2975, 10:10:39.170 WZ

»Womit hast du Probleme?«