Terror vor Europas Toren - Wilfried Buchta - E-Book

Terror vor Europas Toren E-Book

Wilfried Buchta

0,0
20,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Vormarsch der Milizen des selbsternannten Islamischen Staats gehört derzeit zu den beherrschenden Nachrichtenthemen. In ihm zeigt sich eine neue Qualität des Terrors, der mit dem Export des Heiligen Kriegs, des Dschihad, auch nach Europa überzuschwappen droht. Doch wie konnte es zu dieser bedrohlichen Entwicklung kommen? Wilfried Buchta, ein ausgewiesener Kenner der Region, zeichnet die fatalen Ereignisse im Nahen Osten nach. Er beleuchtet dabei die Rolle der wichtigsten Akteure und Machtfaktoren und erklärt, welche Handlungsoptionen dem Westen heute noch bleiben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 636

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wilfried Buchta

Terror vor Europas Toren

Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Der Vormarsch des selbsternannten »Islamischen Staates« gehört derzeit weltweit zu den beherrschenden Nachrichtenthemen. In ihm zeigt sich mit dem Export des Heiligen Krieges, des Dschihad, eine völlig neue Qualität des Terrors. Wie konnte es zu der bedrohlichen Entwicklung des internationalen Dschihadismus kommen, der im Januar 2015 – bei den Anschlägen auf die Redaktion von »Charlie Hebdo« in Paris – auch Europa erreicht hat? Wilfried Buchta, ein ausgewiesener Kenner der Region, der zwischen 2005 und 2011 als politischer Analyst für die Vereinten Nationen in Bagdad gearbeitet hat, zeichnet in diesem Buch die fatalen Ereignisse im Nahen Osten nach – von den Ursprüngen bis heute.

Vita

Wilfried Buchta ist promovierter Islamwissenschaftler. Von 2005 bis 2011 arbeitete er in Bagdad als politischer Analyst für die UNO-Mission im Irak.

Die Schiiten sind das unüberwindbare Hindernis, die lauernde Schlange, der listige und bösartige Skorpion, der spähende Feind und das einsickernde Gift […] Der Schiismus ist eine Religion, die nichts mit dem Islam gemein hat […]. Sie ist voll von offenem Polytheismus, sie gebietet es, Gräber zu verehren, Heiligenschreine zu umwandern und die Genossen des Propheten Ungläubige zu nennen […] Wenn es uns glückt, sie in einen Religionskrieg hineinzuziehen, wird es möglich sein, die schlafenden Sunniten aufzuwecken, weil sie dann die unmittelbare Gefahr spüren, ausgelöscht zu werden. […] Sie sind der nahe und gefährliche Feind der Sunniten, auch wenn die Amerikaner ein Erzfeind bleiben.

Aus einem von den US-Geheimdiensten im Februar 2004 abgefangenen Brief von Abu Musab al-Zarqawi, dem Führer der IS-Vorläuferorganisation Al-Qaida in Iraq (AQI), an Usama Bin Ladin, den Führer von Al-Qaida

Inhalt

Kapitel EinsWie Phönix aus der Asche: Die Rückkehr des »Islamischen Staates«

Der Angriff auf Mossul im Juni 2014

Ein neuer »Kalif« erhebt Anspruch auf die Führerschaft im globalen Dschihad

Der »Islamische Staat«, ein Konkurrent der Al-Qaida

Leben und Sterben unter dem schwarzen Banner des Propheten

Iraks Kurden – die Gewinner des Konflikts?

Malikis unaufhaltsamer Machtverlust

Amerikas widerwilliges Engagement

Kapitel ZweiVergangenheit, die nicht vergehen will: Glaubensspaltungen im Islam

Schiiten und Sunniten

Die zwölf Imame der Schiiten

Das Konzept der »Großen Verborgenheit«

Die Schia unter den sunnitischen Kalifen

Die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten

Die besondere Stellung der schiitischen Geistlichen

Khomeinis Prinzip der »Herrschaft des Rechtsgelehrten«

Der Dschihad bei Sunniten und Schiiten

Kapitel DreiVon Monarchen, Diktatoren und Kriegen: Der Irak im 20. Jahrhundert

Der Irak bis 1918

Von der Monarchie zu Saddam Hussein

Die Gründung der Republik Irak

Der Irak unter der Baath-Herrschaft

Saddams Alleinherrschaft und der Krieg gegen den Iran

Iraks Schiiten zwischen Anpassung und Rebellion

Die Daawa-Partei

Der »Islamic Supreme Council of Islamic Revolution in Iraq« (ISCI)

Der Krieg um Kuwait und der Aufstand der Schiiten

Der gescheiterte Aufstand von 1991: ein immerwährendes Trauma der Schiiten

Das UNO-Sanktionsregime und die Konsolidierung eines kurdischen Nordens

Retribalisierung und Saddams Glaubenskampagne

Die Entstehung eines kurdischen Proto-Staats

Saddams Glaubenskampagne

Aufstieg und Fall des »Weißen Löwen«

Zerbröckelte Fundamente: Irak am Ende der Ära Saddam Husseins

Kapitel VierVon Clinton über George W. Bush bis zur US-Invasion: Washingtons Irak-Politik

Der 11. September 2001 verändert die Welt

Iraks Exilopposition, eine demokratische Alternative?

Iraks verhinderter de Gaulle: Ahmad Chalabi

Chalabi und die Petra-Bank-Affäre

Chalabi und sein Zerwürfnis mit der CIA

Chalabis US-Verbündete: Neokonservative und aggressive Nationalisten

Chalabi und die getürkten Überläufer

Chalabi und der Balanceakt zwischen den USA und Iran

Bushs neue Irak-Politik: Akteure, Ziele und innere Widersprüche

Das Bush-Kabinett und die Führungsschwäche des Präsidenten

Das Versagen des »National Security Council« unter Rice

Der Entschluss zum Krieg und die Rechtfertigung gegenüber der Weltgemeinschaft

Rumsfelds Kriegspläne und Chalabis Wechsel auf die dunkle Seite der Macht

Chalabis geplatzter Traum einer provisorischen Regierung

Der Irakfeldzug und der Ausbruch des Chaos

Die ORHA und Garner: Ein Mann auf verlorenem Posten

Kapitel FünfWashington öffnet die Büchse der Pandora: Die US-Zivilverwaltung im Irak

Das Besatzungsregime der USA im Irak

Der Irak wird ent-baathifiziert

Die Auflösung der Streitkräfte

Die Berufung des Irakischen Regierungsrats

Der Aufstand und der Abu-Ghraib-Skandal

Der Abu-Ghraib-Skandal

Reformen in Wirtschaft und Medien

Die neue Medienfreiheit – ein zweischneidiges Schwert

Der revidierte Fahrplan für die Demokratisierung

Zwischen Quietisten und Islamisten: Iraks Schiiten

Kapitel SechsWahlen, eine totgeborene Verfassung und Bürgerkrieg: Machttransfer im Irak

Die Interimsregierung von Ayad Allawi

Der zweite Sadr-Konflikt

Die zweite Falluja-Krise

Ein »neuer Irak« entsteht: Die Wahlen von 2005

Die Wahlen vom 30. Januar 2005

Die Provinzwahlen

Bilanz der Interimsregierung Allawi

Die Regierung von Ibrahim al-Jaafari

Iraks Quelle der Zwietracht: Die neue föderale Verfassung

Die wichtigsten Verfassungsgrundsätze im Überblick

Das Verfassungsreferendum vom 15. Oktober 2005

Die USA und die neue Verfassung

Das Vorspiel zum Bürgerkrieg

Das Anwachsen des konfessionellen Hasses

Al-Qaida im Irak und die Kriegserklärung an die Schiiten

Zarqawis Brief an Usama Bin Ladin: Kriegserklärung an die Schia

Der Bürgerkrieg und die erste Maliki-Regierung

Die Wahlen von Dezember 2005 und die Regierungsbildung 2006

Blutige Ernten in Bagdad: Der Bürgerkrieg eskaliert

Saddams Hinrichtung

Kapitel SiebenMalikis Comeback, der US-Truppenabzug und die Ausgrenzung der Sunniten: Die Regierung Nuri al-Malikis

Die US-Truppenaufstockung und das Ende des Bürgerkriegs

Bagdads Schiitisierung, Sadrs Schwächung und die sunnitischen Sahwa-Räte

Der neue starke Mann und das Truppenabzugsabkommen

Maliki und das »Status of Forces Agreement« mit den USA

Die Parlamentswahlen von 2010 und die zweite Maliki-Regierung

Iraks Kurden im Dauerstreit mit Bagdad

Maliki in den Fußstapfen Saddam Husseins

Maliki in den Fußstapfen Saddams

Ein Staat fällt unter die Räuber: Kleptokratie und Korruption

Kapitel AchtWie Iraks Hydra des Terrors entstand: Die Geschichte des »Islamischen Staates«

Der Gründervater und seine Ideologie: Abu Musab al-Zarqawi

Die Ausrufung des »Islamischen Staates im Irak«

Syriens Bürgerkrieg als Brandbeschleuniger für den »Islamischen Staat«

Von einer Miliz zum Terrorstaat: Der Aufbau staatlicher Funktionen

Die Finanzquellen des »Islamischen Staates«

Einblicke in das Innenleben einer Bürokratie des Terrors

Der »Schatten-Kalif«: Abu Bakr al-Baghdadi und seine Anhänger

Die Anhänger und Kämpfer des »Islamischen Staates«

Kapitel NeunQuo vadis? Der Nahe Osten, die USA und Europa heute

Die USA und das Dilemma ihrer Irak-Politik

Washingtons Neuengagement wider Willen

Iraks neue sunnitische Nationalgarde: ein totgeborener Plan

Obamas Anti-Terror-Koalition und ihre Offensive gegen den »Islamischen Staat«

Irans langer Schatten am Tigris

Deutschland und die Dschihadisten

Zwischen Expansion und Implosion: Die Zukunft des »Islamischen Staates«

Irakisch-Kurdistans schleichende Sezession

Chancen und Risiken einer Rückeroberung von Mossul

Die Lage in Syrien

Der IS zwischen Expansion und Implosion

Im Würgegriff von Korruption und Sektenhass: Der Irak

Abadi als Gefangener in Malikis Schatten

Der Terrorismus erreicht die Mitte Europas: Die Anschläge in Paris vom 7. Januar 2015

Europa und der Staatszerfall im Irak und in Syrien

Regionale Trends und Szenarien für den Irak

Nachwort

Dank

Abkürzungen

Literatur

Anmerkungen

Wie Phönix aus der Asche: Die Rückkehr des »Islamischen Staates«

Vergangenheit, die nicht vergehen will: Glaubensspaltungen im Islam

Von Monarchen, Diktatoren und Kriegen: Der Irak im 20. Jahrhundert

Von Clinton über George W. Bush bis zur US-Invasion: Washingtons Irak-Politik

Washington öffnet die Büchse der Pandora: Die US-Zivilverwaltung im Irak

Wahlen, eine totgeborene Verfassung und Bürgerkrieg: Machttransfer im Irak

Malikis Comeback, der US-Truppenabzug und die Ausgrenzung der Sunniten: Die Regierung Nuri al-Malikis

Wie Iraks Hydra des Terrors entstand: Die Geschichte des »Islamischen Staates«

Quo vadis? Der Nahe Osten, die USA und Europa heute

Kapitel EinsWie Phönix aus der Asche: Die Rückkehr des »Islamischen Staates«

Der Angriff auf Mossul im Juni 2014

Der 9. Juni 2014 markiert einen Wendepunkt in der langen Geschichte blutiger Auseinandersetzungen im Nahen Osten. An diesem Tag – einem Donnerstag, an dem sich die Muslime überall auf der Welt auf den religiösen Ruhetag der Woche vorbereiteten – begann die dschihadistische Terrormiliz »Islamischer Staat im Irak und Syrien« (ISIS) unter ihrem Anführer Abu Bakr al-Baghdadi einen gut vorbereiteten Angriff auf die irakischen Regierungstruppen in und um Mossul. Für die von Schiiten dominierte Regierung in Bagdad kam die von 1.500 ISIS-Kämpfern ausgeführte Blitzoffensive gegen Mossul, die Hauptstadt der fast rein sunnitischen Provinz Ninawa, wie aus heiterem Himmel. Die militärische Gesamtstärke des ISIS hat man für Juni 2014 auf 6.000 Mann geschätzt – eine verschwindend kleine Zahl, zumal wenn man sie mit Bagdads Streitkräften vergleicht. Diese wiesen damals – zumindest auf dem Papier – eine Mannschaftsstärke von 350.000 Mann auf, von denen 50.000 Soldaten in Mossul stationiert waren. Dass der »David« des ISIS ungeachtet des Überraschungsmoments etwas gegen den »Goliath« aus Bagdad würde ausrichten können, wäre keinem Beobachter in den Sinn gekommen.

Al-Baghdadis Vorgänger, der Jordanier Abu Musab al-Zarqawi, hatte die Organisation 1999 unter dem Namen »Gotteseinheit und Heiliger Krieg« (al-tauhid wa al-jihad) gegründet, bevor er in den Kampf gegen die US-Besatzungsmacht zog, die das Land an Euphrat und Tigris nach dem Irakkrieg von 2003 beherrschte. Nachdem Zarqawi gegenüber dem Führer von Al-Qaida, Usama Bin Ladin, einen Treueschwur (baia) abgelegt hatte, entschloss er sich im Oktober 2004, seine Organisation in »Al-Qaida im Irak« (AQI) umzubenennen. Mit der zumindest nominellen Anbindung an die legendäre Al-Qaida von Bin Ladin verfolgte Zarqawi ein ganz bestimmtes Ziel: Er wollte sein Renommee unter anderen dschihadistischen Gruppen im Irak heben und ihnen Sympathisanten und Kämpfer abspenstig machen. Sein Kalkül ging auf, machte ihn jedoch zu einem Hauptgegner der US-Truppen im Irak: Im Juni 2006 gelang es US-Spezialeinheiten, Zarqawi zu töten. Sein erster Nachfolger, Abu Omar al-Baghdadi (2006–2010), setzte jedoch den Kampf fort und benannte die Organisation in »Islamischer Staat im Irak« (ISI) um. Seit 2008 militärisch erheblich geschwächt, verlor ISI stark an Einfluss im Irak. Nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im April 2011, in dem es neuen Bedarf an Kämpfern für den Heiligen Krieg, den Dschihad, gab, verlagerte ISI deshalb einen Großteil seiner Aktivitäten nach Syrien. Zu dieser Zeit benannte Abu Bakr al-Baghdadi die Organisation, dem erweiterten Wirkungsgebiet entsprechend, in »Islamischer Staat im Irak und Syrien« (ISIS) um. Mit der Blitzoffensive gegen Mossul stieg ISIS wie Phönix aus der Asche und kehrte machtvoller und effektiver als je zuvor wieder in sein Stammland zurück.

Bei seiner Offensive stützte sich ISIS nicht nur auf Geheimberichte lokaler Informanten, sondern auch auf die massive Hilfe mehrerer hunderttausend lokaler Sympathisanten und Unterstützer. Wie war das möglich? Mossul, mit knapp zwei Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Irak, war seit den 1960er Jahren eine Hochburg der Anhänger des Regimes von Saddam Hussein. Und sie blieb es bis heute. Ein großer Teil der Führungskader der Saddam ergebenen Baath-Partei sowie der Militärkräfte und Nachrichtendienste stammte aus Mossul und seinem Umland. Nach dem Irakkrieg und dem Fall Saddam Husseins im April 2003 tauchten Tausende von Baath-Kadern in den Untergrund ab, sehr viele von ihnen in Mossul. Unter ihnen waren auch Saddam Husseins Söhne Qusay und Uday. Aufgespürt von US-Spezialeinheiten, lieferten sie sich in Mossul im Juli 2003 mit ihren amerikanischen Verfolgern ein letztes tödliches Gefecht.

Von 2006 bis 2008 tobte im Irak ein konfessioneller Bürgerkrieg zwischen bewaffneten Milizen der Schiiten und Sunniten, den beide Seiten mit großer Grausamkeit führten. Sein Hauptschlachtfeld war die sechs Millionen Einwohner zählende Hauptstadt Bagdad. In diesem urbanen Häusermeer, das nach Fläche und Einwohnerzahl fast doppelt so groß ist wie Berlin, kam es während jener zwei Jahre zu blutigen religiösen Säuberungen ganzer Stadtviertel. Am Ende der Kämpfe hatten die Schiiten Bagdads ihre Wohngebiete und ihren Einfluss auf Kosten der unterlegenen Sunniten erheblich ausgedehnt – mit der Folge, dass schätzungsweise mehr als eine Million Sunniten, freiwillig oder gezwungenermaßen, Bagdad verließen. Mehrere hunderttausend verbitterte und verarmte Sunniten fanden in Mossul eine neue Heimat oder wurden dort im Einklang mit uralten Traditionen tribaler Solidarität von Stammesverwandten aufgenommen. Ihr Zuzug vergiftete noch vollends die bereits vorhandene Atmosphäre in Mossul und den anderen sunnitischen Provinzen im Nordirak – dort herrschte eine Stimmung, die von tiefem Misstrauen, Ablehnung und Hass gegenüber der schiitisch dominierten Zentralregierung in Bagdad beherrscht war.

Zwei weitere Geschehnisse spielten ISIS in die Hände. Der erste Faktor war der erneute Seitenwechsel vieler Milizionäre der islamischen Erweckungsräte (sahwa). Die Bezeichnung sahwa ist ein Sammelbegriff für diverse sunnitische Stammesmilizen, die sich ab Ende 2006 von »Al-Qaida im Irak« (AQI), der Vorläuferorganisation von ISIS, abgewendet hatten. Washingtons Versprechen von größerer politischer Teilhabe und regelmäßigen monatlichen Soldzahlungen Glauben schenkend, waren sie auf die Seite der US-Okkupationstruppen und der von ihnen unterstützten irakischen Regierung übergetreten. Die Unterstützung durch die Sahwa-Milizen war einer der Gründe, warum die US-Armee den Bürgerkrieg 2008 beenden konnte. Als jedoch Washingtons Generäle ab 2009 im Zuge des vereinbarten schrittweisen Abzugs der US-Truppen die militärische Verantwortung für das Land schrittweise der irakischen Zentralregierung übergaben, begann auch der Stern der Sahwa-Milizen langsam wieder zu sinken. Iraks neuer starker Mann, Premierminister Nuri al-Maliki, kam seinem gegenüber den USA abgegebenen Versprechen nur halbherzig nach. Anstatt sämtliche Sahwa-Milizen in die irakischen Streitkräfte zu integrieren, geschah dies nur für einen kleinen Teil von ihnen, und selbst das nur befristet und unter Vorbehalten. Als die USA Ende 2011 ihre Truppen ganz abgezogen hatten, entzog Maliki vielen der in die irakischen Streitkräfte integrierten Sahwa-Milizionäre den Monatssold.

Der zweite Umstand war die gezielte Politik der Ausgrenzung von wichtigen sunnitischen Politikern, die Premierminister Maliki nach seiner Wiederwahl 2010 noch entschiedener als zuvor praktizierte. Einige dieser Politiker, die Maliki vermutlich als Rivalen und Hemmnisse ansah, wurden unter fadenscheinigen Vorwürfen ihrer politischen Ämter enthoben und gerichtlich verfolgt. Malikis autoritärer Regierungsstil brachte ihm auch von Seiten zivilgesellschaftlicher Gruppen den Vorwurf des Machtmissbrauchs ein. Daraufhin kam es 2012 und 2013 zu zahlreichen friedlichen Protestdemonstrationen in sunnitischen Städten gegen seine Regierung. Nicht gewillt, dieser Welle an Protesten mit Zugeständnissen die Spitze zu nehmen, verlegte sich Maliki auf einen Kurs der Repression und befahl den Sicherheitskräften, die Demonstrationen gewaltsam aufzulösen – was im April 2013 in einem Massaker an Unschuldigen kulminierte. Maliki-treue Sicherheitskräfte töteten in Hawija 41 friedliche Demonstranten, die sich in einem Akt zivilen Ungehorsams in einem Friedensprotestcamp auf den Boden gesetzt hatten. Mehrere hundert andere wurden verletzt.

Damit hatte Maliki unwissentlich den Rubikon überschritten. Denn seither betrachtete die große Masse der irakischen Sunniten Premierminister Maliki als ihren Feind. Dass der erneute Aufschwung von ISIS im Irak just Ende 2013 einsetzte, ist somit keine Laune des Schicksals: Er fällt zusammen mit Fehlentwicklungen beim Aufbau der Armee des Irak, der Ende 2003 begann, nachdem die USA die alte irakische Armee aufgelöst hatten. Die neue Armee, die mit US-amerikanischer Hilfe entstand, wurde als eine weitgehend schiitische Armee aufgebaut. Das hatte damit zu tun, dass die Amerikaner sich seit Ende 2003 einem weitgehend sunnitischen Aufstand gegenübersahen und Schiitenparteien die Wahlen von 2005 und damit die Regierungsmacht gewannen. Der 2010 neugewählte Premierminister Maliki sah die Schiiten als seine Machtbasis an und handelte dementsprechend, indem er die Schiitisierung der Armee weiter vorantrieb. Die neuen Offiziere wurden nach dem Kriterium politischer Loyalität zu Maliki ausgesucht – sie erwiesen sich als ebenso unfähig wie korrupt. In den sunnitischen Landesteilen verhielt sich diese Armee wie eine Besatzungsarmee. Sie bewirkte dadurch, dass die arabischen Sunniten des Nordwestens des Irak zuerst ein Jahr lang protestierten. Später gingen sie, provoziert durch die Haltung der Regierung und ihrer Armee, zum bewaffneten Widerstand über. Entscheidende Unterstützung fanden die durch ISIS dominierten sunnitischen Dschihadisten des Widerstands im Untergrund. Insgesamt verstärkte Maliki mit seiner Politik den Groll und die große Unzufriedenheit unter vielen Sunniten, die sich ohnehin als gedemütigte Verlierer der unter der Ägide der USA erfolgten politischen Neuordnung des Irak fühlten. Das sollte sich für Maliki schließlich im Juni 2014 rächen. Mehrere unterschiedliche Gruppierungen und Kräfte der Sunniten, die nichts außer ihrer gemeinsamen Ablehnung des Machtmonopols der Schiiten einte, trieb er mit seinem unnachgiebigen Vorgehen in die Arme von ISIS. Es bildete sich nun ein sunnitisches Dreierbündnis aus dschihadistischen Glaubensfanatikern, frustrierten Moderaten aus der urbanen Mittelklasse, den Stämmen und Sahwa-Milizen sowie aus entmachteten Baath-Parteikadern und entlassenen Offizieren: ISIS sollte hierbei den Ton angeben.

Das Feld war also bereitet, als die ISIS-Offensive im Juni 2014 auf Mossul zurollte. Innerhalb von zwei Tagen hatte ISIS die gesamte Stadt, die mehr Einwohner als Hamburg hat, sowie große Gebiete nördlich, westlich und südlich von ihr erobert. Eine erstaunliche Tatsache, denn den ISIS-Kämpfern standen doch in und um Mossul mehr als 50.000 Mann der Regierungstruppen gegenüber, die ihnen zahlenmäßig haushoch überlegen und zudem noch mit modernsten amerikanischen Waffen ausgerüstet waren! Doch der Entschlossenheit ihrer hochmotivierten, disziplinierten Gegner, die zudem noch von einer Welle der Unterstützung von Teilen der lokalen Bevölkerung getragen waren, hatte Bagdads Armee nichts entgegen zu setzen.

Anders ausgedrückt: Der ISIS-Vormarsch ging mit einer gegen Bagdad gerichteten sunnitischen Volkserhebung einher. Diese Volkserhebung machte sich ISIS zunutze, indem sie sich an ihre Spitze stellte, sie koordinierte und bald auch dominierte. Dagegen war Iraks Armee machtlos. Ihre mehrheitlich schiitischen Soldaten verfügten zudem über eine geringe Kampfmoral und hatten nur eine lediglich rudimentäre militärische Ausbildung. Außerdem wurden sie von äußerst korrupten Offizieren geführt. So verwundert es nicht, dass binnen weniger Stunden nach dem Einmarsch der ISIS-Einheiten die irakischen Offiziere und Soldaten das Weite suchten. In panischer Furcht warfen sie ihre Uniformen weg und überließen ihre Waffen kampflos dem Feind. Bei der Plünderung des Hauptquartiers des dritten Armeeregiments in Mossul fiel dem ISIS neues und hocheffizientes Kriegsgerät aus US-Rüstungsschmieden im Wert von etwa 1,5 Milliarden US-Dollar in die Hände, darunter schwere konventionelle Waffen wie Panzer, Schützenpanzer, Haubitzen und Flakwerfer. Von diesem gewaltigen Bestand erbeuteter Waffen, die der ISIS bald sowohl im Kampf gegen die kurdischen Peschmerga im Irak und in Syrien als auch in den Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Dschihadisten in Syrien anwenden sollte, konnte die Truppe noch lange zehren.

Die Offensive von Mossul markiert den Beginn eines zweiten konfessionellen Bürgerkriegs im Irak. Doch obwohl auch dieses Mal vor allem Sunniten gegen Schiiten kämpften, war der interne Aufbau der gegnerischen Lager ein anderer. Anders als im ersten Bürgerkrieg von 2006 standen sich nicht zahlreiche nichtstaatliche Akteure in Gestalt von zumeist unkoordiniert operierenden sunnitischen und schiitischen Milizen gegenüber, die vor allem in wenigen dichtbesiedelten Großstädten gegeneinander fochten. Stattdessen kämpfte dieses Mal auf der einen Seite ein von ISIS geführtes sunnitisches Bündnis gegen die von Schiiten dominierte Zentralregierung, deren Ausgrenzungspolitik einen Großteil der Sunniten zu Feinden gemacht hatte. Im Unterschied zum Bürgerkrieg von 2006 fanden die Kämpfe nun sowohl in dünnbesiedelten ländlichen Regionen wie auch in Großstädten statt. Und anders als 2006 richtete ISIS seine Offensiven nun auch gegen die Kurden, was die Kurden wiederum in ein gemeinsames Abwehrbündnis mit Bagdad zwang. Und noch ein weiterer wichtiger Unterschied zu 2006 zeigte sich: Durch den transnationalen Akteur ISIS, dessen Operationsgebiet sich sowohl auf irakisches wie auch syrisches Territorium erstreckte, war der zweite Konfessionskrieg im Irak nun direkt mit dem Bürgerkrieg verknüpft, der seit 2011 in Syrien herrschte. Die Konflikte im Irak und Syrien befeuerten sich also gegenseitig, was angesichts der gewachsenen Zahl externer und interner Akteure ein Entwirren dieses transnationalen Problemknäuels extrem erschwerte.

Im Zuge der Eroberung von Mossul ergriff eine halbe Million der Stadtbewohner die Flucht, unter ihnen auch Athil al-Nujaifi, der Gouverneur der Provinz. Die allermeisten wandten sich jedoch nicht in den überwiegend schiitischen Süden, sondern brachten sich auf dem autonomen Territorium der kurdischen Regionalregierung von Massoud Barzani in Sicherheit. In Mossul befreite ISIS mehrere tausend unter Terrorverdacht einsitzende sunnitische Häftlinge aus den Gefängnissen. In Badoush, Mossuls Hauptgefängnis, luden ISIS-Kämpfer am 10. Juni 2014 etwa 1.550 Insassen auf Lastwagen und fuhren sie zu einer nahegelegenen Schlucht. Dort schieden sie die Gefangenen in Sunniten und Schiiten. Die Schiiten wurden mit einer Eins beginnend nummeriert und mussten sich mit hinter dem Nacken gefalteten Händen an der Bruchkante der Schlucht niederknien. Dann befahlen die ISIS-Kämpfer jedem Gefangenen, seine Nummer laut auszurufen, woraufhin er mit Schüssen in Kopf und Genick getötet wurde. Nach Angaben der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) und dem Menschenrechtsbüro der United Nations Assistance Mission in Iraq (UNAMI) in Bagdad, die sich beide auf Aussagen von Augenzeugen und Überlebenden stützen, hat ISIS an diesem Tag zwischen 600 und 750 Gefangene ermordet. Die allermeisten von ihnen waren Schiiten neben einer kleinen Zahl von Yeziden und Kurden.1

Bei der Plünderung von staatlichen und privaten Banken erbeutete der ISIS in Mossul einen Betrag von 600 Millionen US-Dollar. Das Gesamtvermögen von ISIS (in Geld und Waffen) soll schon vorher bei 875 Millionen US-Dollar gelegen haben. Nun waren die Kriegskassen so gut gefüllt, dass der ISIS sie auch dazu verwenden konnte, um quasi-staatliche Funktionen und soziale Dienstleistungen zu finanzieren, die dem ISIS den notwendigen Rückhalt in Teilen der lokalen Bevölkerung sicherten.

Nach den Siegen im Nordirak hielt der ISIS nicht inne, sondern setzte seinen Eroberungszug nach Süden fort und eroberte fast kampflos am 12. Juni 2014 Takrit, die Hauptstadt der Provinz Salahudin und zugleich der Geburtsort des früheren irakischen Diktators Saddam Hussein. Nach der Einnahme von Takrit hatten 3.000 irakische Soldaten vor den ISIS-Truppen kapituliert und sich in der vormals US-amerikanischen Militärbasis »Camp Speicher« ergeben. Als sie unbewaffnet und in Zivilkleidung aus ihrer Kaserne heraustraten, um sich in Gefangenschaft zu begeben, teilten die ISIS-Kämpfer sie in sunnitische und schiitische Gefangene ein. Danach wurden alle Schiiten in drei aufeinander folgenden Exekutionswellen erschossen und in Massengräbern verscharrt. Ein im September 2014 veröffentlichter Bericht von Human Rights Watch, der sich auf Zeugenaussagen und Luftbildaufnahmen der Gräber stützt, geht von bis zu 770 Ermordeten aus.2 Wenige Tage nach dem Fall von Takrit hatten ISIS-Einheiten schon die weiter südlich liegende, ökonomisch wichtige Ölraffinerie-Stadt Baidschi, knapp 80 Kilometer nördlich von Bagdad, erreicht und große Teile der Anlagen in ihre Gewalt gebracht. Erst im Gebiet zwischen Baidschi und Takrit brachten irakische Regierungstruppen und zu Hilfe geeilte Kampfverbände schiitischer Milizionäre aus Bagdad den ISIS-Vormarsch zum Stehen. Während sich im Süden die Front zu stabilisieren begann, übernahm die Terrormiliz-Gruppe im Norden und Westen die Kontrolle über mehrere Ölfelder und den größten Staudamm des Irak, die Talsperre von Mossul.

Dass sich Unheil ankündigte, hätte die Maliki-Regierung bereits im Frühjahr 2014 ahnen können, als ISIS in der notorisch unruhigen Westprovinz Anbar wieder aufgetaucht war. Im März 2014 hatten kleine hochmobile und mit wendigen Pritschenwagen ausgestattete ISIS-Kampftrupps eine Reihe von kleinen Ortschaften und militärischen Außenposten eingenommen. Zudem waren seit Jahresbeginn Hunderte sunnitischer Soldaten in der an Syrien grenzenden Provinz desertiert und zu ISIS übergelaufen. Im April fiel Falluja, die alte Hochburg sunnitischer Rebellen, in die Hände von ISIS: Spätestens dort zeigte sich, dass die ISIS-Einheiten den immobilen Regierungstruppen deutlich überlegen waren. Wenig später machte al-Baghdadis Terrortruppe weitere Geländegewinne und konnte sogar mehrere Stadtviertel von Ramadi, der Provinzhauptstadt, unter ihre Kontrolle bringen und den Regierungstruppen gefährlich nahe auf den Leib rücken. Falluja und Ramadi eröffneten ihnen ein potenzielles Einfallstor nach Bagdad, wo ISIS-Truppen sich bis Mai in die unmittelbare Nähe des im Westen von Bagdad gelegenen internationalen Flughafens der Hauptstadt vorkämpften. Im Zuge der ISIS-Offensive musste die Zentralregierung im April 2014 sogar das im Westen Bagdads gelegene berüchtigte Gefängnis von Abu Ghraib räumen lassen, da es mitten im Kampfgebiet stand. Vor der Räumung war es ISIS-Kommandoeinheiten bei einem Überfall geglückt, knapp 1.000 inhaftierte dschihadistische Gesinnungsgenossen zu befreien.

Kurzum: Mitte Juni 2014 hatte ISIS mit seinem Vormarsch die Karten im Spiel um die Macht im Irak völlig neu gemischt. ISIS verdankte seinen Sieg der Zusammenarbeit mit Ex-Baath-Offizieren und einem Teil der Stammeserweckungsräte, die unter Führung des ISIS ein gegen die Schiiten in Bagdad gerichtetes Bündnis schlossen. Ohne die Unterstützung der Baath-Aktivisten hätte der ISIS auch die Millionenstadt Mossul niemals einnehmen können. Seit 2003 im Untergrund aktiv und den Blicken offizieller Stellen entzogen, hatten Parteigänger der alten Baath-Partei in Teilen der Stadt eine parallele Schattenregierung aufgebaut, die mit effizienten Nachrichtennetzwerken und Verwaltungsstrukturen agierte. Darauf konnte ISIS aufbauen. Geheime Finanzdokumente des ISIS, die später westlichen Nachrichtendiensten in die Hände fielen, belegen, dass die Organisation in Mossul bereits vor der Juni-Offensive durchschnittlich 10–12 Millionen US-Dollar monatlich aus Schutzgelderpressung einnahm. Obendrein fanden sich auch unter den führenden ISIS-Kommandeuren auffällig viele frühere hochrangige Baath-Offiziere der alten Armee und der Republikanischen Garden, die beide 2003 von den USA aufgelöst worden waren. Ohne deren Kampferfahrung, militärtaktisches Geschick und Professionalität hätte ISIS nicht in so kurzer Zeit derart große Geländegewinne machen können.

Ein neuer »Kalif« erhebt Anspruch auf die Führerschaft im globalen Dschihad

Am 29. Juni 2014 verkündete ein ISIS-Sprecher öffentlich die Gründung des Kalifats (im Arabischen: khilafa). Zugleich gab er bekannt, dass sich der Führer des ISIS, der bislang unter dem Kriegsnamen Abu Bakr al-Baghdadi bekannt gewesen war, fortan den Titel »Kalif Ibrahim – Befehlshaber der Gläubigen« zulege. Darüber hinaus verkündete der Sprecher, dass der neue offizielle Name der Organisation ab sofort schlicht »Islamischer Staat« (IS) laute. Wenige Tage später, am 4. Juli 2014, zeigte sich der IS-Chef »Kalif Ibrahim« in der großen Zentralmoschee von Mossul zum ersten Mal in der Öffentlichkeit. Er hielt eine längere Predigt vor seinen Anhängern, in der er alle Muslime der Welt aufforderte, sich dem »Islamischen Staat« anzuschließen und ihm den Gefolgschaftseid (arabisch: baia) zu schwören, der den klassischen Kalifen gebührt.

Die Ausrufung eines eigenen Kalifats war ein Paukenschlag. Denn dadurch erhob der selbsternannte Kalif den Anspruch, der Anführer aller Muslime weltweit zu sein. Das Wort »Kalifat« hat seinen Ursprung in dem arabischen Begriff khilafa (Nachfolge), womit die legitime Nachfolge Mohammeds als politischer und geistig-spiritueller Führer aller Muslime gemeint ist. Die Frage, wer Kalif (arabisch: khalifa), also legitimer Nachfolger des Propheten, sein sollte, spaltete schon wenige Jahrzehnte nach dessen Tod (632) die islamische Gemeinde; sie führte zu der bis heute nicht aufgehobenen Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten.

Nach den vier »rechtgeleiteten Kalifen« oder Nachfolgern des Propheten – Abu Bakr, Omar, Othman und Ali – folgte das Kalifat der Omaijaden (661 bis 750) von Damaskus. Ihm schloss sich das der Abbasiden (751 bis 1258) von Bagdad an, das zeitweise vom Maghreb bis nach Indien und Mittelasien hinein reichte und heute gemeinhin als die Epoche des größten Glanzes der islamischen Zivilisation gilt. Die Mongolen unter ihrem Khan Hülagu eroberten 1258 Bagdad und zerschlugen das Abbasiden-Kalifat, das als politischer Schatten seiner selbst überlebte, verkörpert in angeblich nach Kairo entkommenen Abbasiden-Nachkommen. Als die Osmanen-Sultane 1517 Ägypten eroberten, ließen sie sich die Kalifatswürde übertragen und führten sie zusammen mit dem Amt des Sultans fort. Seit dieser Zeit war das osmanische Vielvölkerreich ein Kalifat, und der Sultan in Istanbul betrachtete sich selbst als legitimen Nachfolger des Propheten Mohammed. Obwohl die muslimischen Araber 400 Jahre unter der Fremdherrschaft der osmanischen Türken lebten, atmete deren Kalifats-Reich dennoch weiterhin den Geist des Islam, wie sie ihn deuteten. Dann geschah das, was viele heutige Islamisten als die »Ursünde« des Westens gegen den Islam ansehen: die Zerschlagung des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg in den Jahren zwischen 1922 und 1924. Kemal Atatürk, der Gründervater der modernen Türkei, schaffte das altersschwache Sultanat und Kalifat ab. 1923 proklamierten die Türken die Republik, ein Jahr später wurde auch die Institution des Kalifats für aufgehoben erklärt.

Zwar legte kein westlicher Staat selbst die Axt an den Stamm des Kalifats. Doch der Übeltäter, der es an ihrer Stelle tat, Kemal Atatürk, war in seinem Denken und Handeln von den in Europa entstandenen Konzepten wie Säkularismus und Volkssouveränität beherrscht. Dies führte, so die Ansicht der Islamisten, im Gleichklang mit den kolonialen Expansionsbestrebungen der großen christlichen Mächte Europas zwangsläufig dazu, dass im Nahen Osten unabhängige Nationalstaaten auf den Trümmern des Osmanischen Reiches entstanden. Der Identitätskern dieser Staaten ist das Konzept der Nation, ein Konzept, dessen Akzeptanz den heutigen Islamisten und Dschihadisten als Götzendienst (arabisch: shirk) gilt: Dabei wird die Nation anstelle Gottes angebetet und zum höchsten Wert erklärt. In den Augen der meisten heutigen Islamisten, Salafisten und Dschihadisten bedeutet das Bejahen von Volkssouveränität und Nation nichts anderes als shirk, die »Beigesellung« anderer Wesen neben Gott, und damit eine der Todsünden, die der Islam kennt.

Nach Ansicht der Dschihadisten muss die von Atatürk und den britischen und französischen Kolonialmächten zwischen 1918 und 1924 im Nahen Osten geschaffene Ordnung der Nationalstaaten durch Gründung eines Kalifats zerschlagen und rückgängig gemacht werden. Dies gilt umso mehr, weil jene Ordnung im »schändlichen Gewand« des säkularen arabischen Nationalismus daherkam. Die säkulare Trennung von Staat und Religion ist für Salafisten und Dschihadisten Gottesfrevel, da die Souveränität allein Allah, nicht dem Volk, gebührt. Den allermeisten sunnitischen Islamisten und Dschihadisten gelten der säkulare Nationalismus und die Schiiten gleichermaßen als die größten Übel der islamischen Welt.

Der »Islamische Staat«, ein Konkurrent der Al-Qaida

Mit der Proklamation des neuen Kalifats hatte al-Baghdadi den Anspruch erhoben, der Anführer der bewaffneten dschihadistischen Internationale zu sein. Das eröffnete eine weitere Front. Denn damit warf »Abu Bakr al-Baghdadi« der Al-Qaida in Pakistan den Fehdehandschuh hin. Terrorismusexperten bewerteten diesen Schritt als wichtigste Entwicklung im internationalen Dschihadismus seit dem 11. September 2001. Er richtete sich explizit gegen das alte dschihadistische Terrornetz von Al-Qaida, das nach der Tötung von Usama Bin Ladin durch US-Spezialkräfte im Mai 2011 von Ayman al-Zawahiri geleitet wird. Die Operationsgebiete von Zawahiris Kern-Al-Qaida liegen inzwischen allenfalls an der Peripherie des Nahostkonflikts, nicht jedoch inmitten der aktuellen Auseinandersetzungen im Irak, Syrien und Libanon. IS-Chef al-Baghdadi konnte ab 2013 bedeutende finanzielle und materielle Erfolge erzielen. Darüber hinaus vermochte er bis Herbst 2014 im Norden und Westens des Irak sowie im Osten Syriens ein Territorium in seine Gewalt bringen, das etwa so groß wie Bayern ist.

Damit hatte al-Baghdadi beeindruckende territoriale Fakten geschaffen, den Anspruch auf Führerschaft im globalen Dschihad nachhaltig unterstrichen und unter den Gefolgsleuten und Sympathisanten des IS Begeisterung ausgelöst. All das, worauf sie seit Jahrzehnten gewartet hatten, der Aufbau eines rein sunnitisch-islamistischen Staates und die Restauration des Kalifats, schien nun wahr zu werden. Auch die Kern-Al-Qaida hatte jahrelang das Fernziel beschworen, das Kalifat wieder zu errichten. Allerdings war es ihrem konspirativen Untergrundnetzwerk niemals auch nur ansatzweise gelungen, wichtige Regionen der islamischen Welt dauerhaft und fest in ihre Gewalt zu bringen. Stattdessen musste sich die alte Generation der Al-Qaida-Kämpfer in kaum zugänglichen, entlegenen Bergregionen oder Wüsten verstecken. Erschwerend kam hinzu, dass sie zumeist auf Gedeih und Verderb auf das Wohlwollen ihrer jeweiligen Gastgeber angewiesen waren, seien es die Taliban-Regierung in Afghanistan, die lokalen Paschtunen-Stämme in der unregierbaren Northwest-Frontier Area von Pakistan oder der von radikalen Islamisten beherrschte »Inter Service Intelligence« (ISI), der mächtige pakistanische Militärgeheimdienst. Die Protektion ihrer Gastgeber verschaffte ihnen Schutz, machte sie teilweise aber auch zum Spielball von deren durchaus wechselnden Interessen. Als Ergebnis dessen waren der Freiheit und dem Aktionsspielraum von Kern-Al-Qaida stets erhebliche Grenzen gesetzt.

Ganz anders war hingegen die Strategie von al-Baghdadi. Seine Kämpfer gaben das Versteckspiel mit den Sicherheitskräften in Syrien und dem Irak auf und modifizierten ihre alte Taktik grundlegend, die zumeist darauf abgehoben hatte, mit möglichst rücksichtslosen Bombenanschlägen Aufsehen zu erregen und Angst und Schrecken zu verbreiten. Statt sich wie früher auf kleinere Angriffe zu beschränken, unternahmen sie Blitzoffensiven und versuchten – wie Perlen auf einer Perlenschnur – nacheinander feindliche Stellungen zu überrennen. Im Norden und Westen des Irak konnten sie damit fulminante Erfolge erzielen, die irakische Armee in die Flucht schlagen und staatliche Strukturen aufbauen, die jenen in ihrer ostsyrischen Hochburg Raqqa glichen. Die Kontrolle über große Territorien und wirtschaftliche Ressourcen sowohl in Syrien als auch im Irak machten den IS-Führer mächtiger, als es Usama Bin Ladin jemals gewesen war.

Bis Ende August 2014 hatte der IS nach und nach alle wichtigen syrischen Ölfelder unter seine Kontrolle gebracht – sowohl das Tanak-Ölfeld in der Provinz Deir al-Zor als auch das bereits Monate zuvor eroberte Ölfeld al-Omar, das größte und ergiebigste in ganz Syrien. Nach dem nordsyrischen Raqqa war Deir al-Zor schon die zweite syrische Ölprovinz, in der die IS-Terrormiliz weite Territorien kontrolliert. Der militärische Sieg im ostsyrischen Deir al-Zor, das an den Irak grenzt, beruhte vor allem auf den Waffen, die der IS bei der Mossul-Blitzoffensive im Juni erbeutet hatte. Die Eroberung der syrischen Ölfelder erwies sich für den IS als überaus gewinnbringend, da er durch die Einnahmen aus den Ölverkäufen seine Kriegskasse dauerhaft füllen konnte. Das wiederum stärkte seine Position als militärisch und finanziell potenteste Dschihadisten-Organisation in Syrien und im Irak. Bereits seit 2013 hatten Kader der Terrormiliz Öl an Mittelsmänner des syrischen Machthabers Baschar al-Assad verkauft. Zugleich führten sie auch große Mengen auf dem Landweg in die Türkei aus, wo es von türkischen Mafia-Organisationen aufgekauft wird. Im Gegenzug für die Treibstofflieferungen versorgte das Regime in Damaskus Raqqa und die umliegenden Gemeinden mit Strom. Ein beträchtlicher Teil des IS-Finanzvolumens stammt bis heute aus Erlösen von Ölverkaufen.

Diese Finanzquellen waren notwendig, denn der IS brauchte sie, um funktionierende staatliche Strukturen aufzubauen, die ihm bei der Mehrheit der Bevölkerung in seinem Herrschaftsbereich ausreichend Legitimität und Wohlverhalten einbringen sollten. Seit der Einnahme von Raqqa 2013 und später auch nach der Eroberung von Mossul bemühte sich der IS darum, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Normalität zu bewahren, wofür die Aufrechterhaltung infrastruktureller und sozialer Basisdienstleistungen die Grundlage bildete. So übernahm der IS alltägliche Aufgaben der Verwaltung und sorgte durch regelmäßige Patrouillen seiner Ordnungswächter für die Wahrung von Recht und Ordnung auf den Straßen. Ferner kümmerte sich der IS um Strom- und Wasserversorgung sowie um die Müllabfuhr und beaufsichtigte die Märkte, das Handelswesen und die Banken. Blanker Terror war also nur die eine Säule, auf der die IS-Macht in den von ihnen beherrschten Gebieten ruhte, die Aufrechterhaltung von Sicherheit und sozialen Diensten die andere.

Die Ausrufung des Kalifats war jedoch nicht nur eine Kampfansage an Kern-Al-Qaida. Sie richtete sich auch gegen die westlichen Staaten. Die ehemaligen Kolonial- und Mandatsmächte Großbritannien und Frankreich hatten mit dem Sykes-Picot-Geheimabkommen 1916 und im Vertrag von Sèvres 1920 die Grenzen der heutigen Staaten gezogen und mit Gewalt durchgesetzt. Die territoriale Begrenzung des IS auf den Irak und das historische Großsyrien in der Levante war aber nun für al-Baghdadi passé. Jetzt war die Eroberung der Levante für ihn nur noch ein Etappenziel auf dem Weg zur langfristigen Perspektive einer Eroberung des gesamten Nahen Ostens. Das wiederum bedeutete eine weitere Kampfansage: dieses Mal gegen die konservativen sunnitisch-arabischen Monarchien am Persischen Golf, an ihrer Spitze Saudi-Arabien, dessen wahabitisches Königshaus mit den Vereinigten Staaten kooperiert. Den IS-Ideologen gelten die Golfmonarchen daher als Ungläubige und Feinde. Schon seit Beginn des Irak-Krieges 2003 rekrutierte sich ein großer Teil der dschihadistischen Gotteskrieger im Irak, die gegen die US-Besatzung und die Bagdader Regierung kämpften, aus saudischen Freiwilligen. Nach der Ausrufung des IS-Kalifats gerieten die Machthaber in Saudi-Arabien und den verbündeten Golfmonarchien jetzt in ernste Sorge, mussten sie doch fürchten, dass durch saudische IS-Rückkehrer nicht nur der innere Frieden, sondern auch ihre eigene Macht bedroht sein könnte.

Karte 1: Herrschaftsgebiete des »Islamischen Staates« in Syrien und im Irak (Januar 2015)

Leben und Sterben unter dem schwarzen Banner des Propheten

Nachdem die IS-Kämpfer Mossul erobert hatten, verloren sie nicht viel Zeit, alle Kennzeichen und Institutionen des zivilen, säkularen Staates zu tilgen und ein islamisches Terrorregime zu errichten. Sie hissten Tausende von schwarzen Fahnen in allen Größen auf den Dächern der Gebäude und schlossen die staatlichen Gerichte, weil diese von Menschen gemachten Gesetzen dienten und nicht der göttlichen Scharia. An ihre Stelle traten neue Scharia-Gerichte, in denen vom IS vorher ausgewählte Religionsgelehrte Rechtsstreitigkeiten aller Art schlichteten, Strafurteile bei Verbrechen verhängten und dabei alles aus ihren eigenen schlichten Gesetzen herleiteten. Zudem ernannten sie für jeden Stadtbezirk einen sogenannten Emir, bei dem die Bewohner Klagen einreichen können. Auf der Grundlage systematischer Pläne und zuvor zusammengestellter Namenslisten errichteten die IS-Kämpfer an Straßenkreuzungen und Zufahrtsstraßen Kontrollpunkte, an denen sie Fahrzeuge nach Soldaten und Polizisten überwachten, die Mossul verlassen wollten. Diejenigen, die sie ergriffen, hatten die Gelegenheit, Reue zu zeigen und sich vom Staat loszusagen. Wer es nicht tat, landete vor einem Standgericht oder wurde enthauptet oder gekreuzigt.

Kurz nach der Eroberung von Mossul führten sie zudem das Beutegesetz ein, nach dem im Kriegsfall der gesamte Besitz von Personen, die nach den extremen Maßstäben des IS als Ungläubige gelten, an die Eroberer fällt. Auf dieser Grundlage plünderten sie den Besitz von Regierungsbeamten und Offizieren, die aus der Stadt geflohen waren. Deren Häuser wurden in Besitz genommen, damit sich dort IS-Kämpfer mit ihren Familien niederlassen konnten. Binnen weniger Wochen veränderte sich der Lebensalltag grundlegend, einschließlich der Kleiderordnung für Frauen und Männer. Entweder weil sie die neue Ordnung begrüßten oder aus Opportunismus und Angst begannen viele Männer sich zunehmend nach afghanischer Mode der Taliban zu kleiden, wenn sie auf die Straße gingen. Vor allem junge Leute ahmten den Kleidungsstil nach, den sie bei IS-Kämpfern beobachten konnten: ein bis zu den Knien reichendes Hemd, dazu eine Pluderhose. Binnen kurzem stellten sich zahlreiche Schneiderwerkstätten und Textilfabriken in Mossul auf die neue Mode ein. Sunnitische Gläubige, die zu Recht oder zu Unrecht in den Verdacht gerieten, religiöse oder politische Abweichler der neuen Ordnung zu sein, wurden in speziellen »Reue-Büros« von IS-Beauftragten verhört. Wenn sie Reue zeigten, konnten sie ihre vermeintlichen »Sünden« durch die Zahlung hoher Geldsummen abbüßen. Diese im großen Maßstab eingezogenen und als »Sündenablass« deklarierten Schutzgeldzahlungen bilden seit 2013 eine wichtige Finanzquelle der Terrormiliz.

Der IS setzte in Mossul mit Gewalt auf ebenso harte und kompromisslose Weise ein religiöses »Tugendregime« durch, wie er es zuvor bereits in Syrien getan hatte. Dort hatten Einheiten von Abu Bakr al-Baghdadi im März 2013 die Provinzhauptstadt Raqqa erobert. Seitdem gilt in der von Flüchtlingen überquellenden Millionenmetropole am Euphrat die Scharia. Dies umfasst Körperstrafen wie öffentliche Auspeitschungen, Kreuzigungen und Enthauptungen ebenso wie willkürliche Hinrichtungen und die brutale Verfolgung sunnitischer Andersdenkender und vermeintlicher Ungläubiger und Apostaten, worunter IS vor allem Schiiten fasst. Der Verkauf und Genuss von Alkohol, Dominospielen, Fußballspielen, Tanzen, das Hören von Musik in der Öffentlichkeit sowie Musizieren sind seither verboten. Ebenfalls verboten sind Aufführungen von Zirkusakrobatik und Zauberkunststücke etwa mit Karten, weil sie die Gläubigen vom Gebet abhalten. Für die Frauen gilt eine rigide Kleiderordnung, die sie zum Tragen von Kopftuch und Körperschleier verpflichtet. Verstöße werden mit drakonischer Strenge geahndet.

Zu den am stärksten betroffenen Gruppen gehörten auch die nichtmuslimischen Minderheiten, insbesondere die Yeziden und Christen. Hatte es der IS anfänglich noch bei Einschüchterungen und Berufsverboten belassen, verschärfte er einige Wochen später die Gangart gegen die religiösen Minderheiten um ein Vielfaches. Am 18. Juli wurden die christlichen Einwohner Mossuls über an den Moscheen befestigte Lautsprecher aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Im Falle der Weigerung drohe ihnen »das Schwert«. Wenige Tage zuvor hatte der IS von ihnen verlangt, zum Islam zu konvertieren oder – wie in der klassischen Zeit des Islam üblich – eine Sondersteuer, die sogenannte jizya, zu zahlen, um der Ausweisung zu entgehen. Zudem begannen IS-Kämpfer damit, alle Häuser von Christen der syrisch-katholischen und chaldäischen Richtung in Mossul und den anderen Teilen von Ninawa mit einem N für Nasrani, dem Wort für Christ (arabisch: nasrani; nach Jesus dem Nazarener), zu markieren. Damit wurde festgelegt, dass sie dem IS zufallen sollten. Außerdem wurde Ende Juli 2014 der Bischofssitz der syrisch-katholischen Kirche in Mossul von IS-Milizionären in Schutt und Asche gelegt. Neben der Vertreibung syrisch-katholischer und chaldäischer Christen aus der Region kam es im Juli und im August 2014 zur Flucht von Anhängern der religiösen Minderheit der Yeziden, die in die kurdischen Autonomiegebiete, die umliegenden Berge des Sindschargebirges und zu ihrem Heiligtum Lalesch nordwestlich von Mossul zu entkommen versuchten.

Mit Beginn des neuen Universitätssemesters im Oktober 2014 machten die Kulturverantwortlichen des IS deutlich, welchen Werten und Zielen sie in Wissenschaft und Kultur huldigen. In einer Bekanntmachung im Umfang einer einzigen DIN-A4-Seite verkündete das sogenannte »Amt für Schulwesen« den Professoren, Dozenten, Mitarbeitern und Angestellten der Universität in Mossul neue Regularien, die deren schlimmste Befürchtungen noch übertrafen. Der IS ordnete an, dass zahlreiche Fakultäten und Abteilungen abgeschafft werden, weil sie »gegen die Scharia« verstießen. Dazu zählen die Fakultäten für Jura, Politologie, Kunst, Archäologie, Sportwissenschaft und Philosophie. Aufgezählt wurden außerdem die Tourismusschule und die Hotelfachschule. Ferner enthielt die Bekanntmachung eine Liste moderner Fächer und säkularer Themen, die von nun an verboten sind: Demokratie, Kultur, Freiheit, Rechte und Rechtswissenschaft. In den Abteilungen der Anglistik und Romanistik ist es jetzt nicht mehr erlaubt, über Romane und Theaterstücke zu sprechen. Ferner dürfen im Fachbereich Geografie Fragen der Nationalität, der Ethnien und der Geschichte sowie jene der »geografischen Aufteilung« nicht mehr thematisiert werden. Für Studentinnen ist die Vollverschleierung Pflicht.

Zugleich setzte der »Islamische Staat« neue Sprachregelungen durch, etwa indem er den in amtlichen Universitätsdokumenten üblichen Begriff »Irakische Republik« durch »Islamischer Staat« ersetzen ließ. In gleicher Weise wurde der säkulare Begriff »Ministerium für Hochschulwesen« durch den islamischen Begriff diwan al-Taalim (Amt für Erziehung) ausgetauscht. Die Bekanntmachung betonte, dass Zuwiderhandelnde streng bestraft würden. Wie bekannt wurde, sind in der Tat schon die ersten Exempel statuiert und mehrere Personen hingerichtet worden, die gegen die neuen Bestimmungen verstoßen haben sollen.3

Iraks Kurden – die Gewinner des Konflikts?

Der IS-Vormarsch veränderte auch nachhaltig das Kräftegleichgewicht zwischen der autonomen kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG) in Erbil und der Zentralregierung in Bagdad. Beide Seiten lagen seit 2005 in bitterem Streit miteinander. Der größte Zankapfel war der politische Status einer Vielzahl von Distrikten, Bezirken und Städten in den südlich und westlich an das Gebiet der KRG grenzenden arabischen Provinzen Ninawa, Salahudin, Tamim und Diyala. Die kurdischen Peschmerga-Einheiten hatten diese Regionen mit ihrer gemischt kurdischen, arabischen und turkmenischen Bevölkerung im April 2003 besetzt, als sich nach dem Sturz des Baath-Regimes von Saddam Hussein ein Machtvakuum auftat. Seither hielten die Kurden diese Regionen in ihrem Besitz, die nicht nur große Teile von Ninawa, sondern auch die Provinzhauptstadt von Tamim, Kirkuk, umfassten.

Kirkuk war für die Kurden sowohl historisch und kulturell als auch wirtschaftlich von höchster Bedeutung. Die Stadt war bis in die 1970er Jahre eine überwiegend von Kurden bewohnte Metropole und galt über Jahrhunderte hinweg als das wichtigste politische und kulturelle Zentrum der im Irak lebenden Kurden. Außerdem befinden sich in und um Kirkuk herum die ergiebigsten Öl- und Gasfelder des gesamten Nordirak. Um die notorisch rebellischen Kurden dauerhaft zu schwächen und zu demoralisieren, führte Saddam Hussein in den 1970er Jahren gewaltsame Umsiedlungskampagnen in und um Kirkuk durch. Er ließ Hunderttausende Kurden vertreiben und stellte die freiwerdenden Ländereien, Grundstücke und Häuser sunnitisch-arabischen Familien zur Verfügung, die er mit dem Versprechen von billigem Land und weiteren Privilegien aus anderen Provinzen angelockt hatte.

Der Fall von Mossul ließ die Militärs und Administratoren der Zentralregierung in den umstrittenen Gebieten in Panik geraten. Wenige Tage nach der Machtübernahme des IS in Mossul flüchteten Zehntausende von Soldaten der Bagdader Zentralregierung aus Kirkuk in die kurdischen Gebiete, um nicht von den Dschihadisten getötet zu werden. Die Flucht der Regierungstruppen bot der kurdischen Regionalregierung von Präsident Massoud Barzani eine überaus günstige Gelegenheit: Denn dadurch konnte sie den seit Jahren schwelenden Gebietskonflikt mit der Zentralregierung um die seit 2005 umstrittene Vielvölkerstadt ein für allemal lösen. Binnen einer Woche nach Beginn der IS-Offensive befahl Barzani seinen Peschmerga-Einheiten, das nun von Bagdads Truppen entblößte Kirkuk und die anderen, zwischen Bagdad und der KRG umstrittenen Territorien zu besetzen. Die Grenzposten zwischen dem KRG-Gebiet und der ölreichen Gegend rund um die Provinzhauptstadt wurden über Nacht aufgelöst. Doch schon bald lieferten sich Peschmerga-Einheiten Gefechte mit IS-Kämpfern südlich und westlich von Kirkuk, deren Vormarsch sie aber zum Stehen brachten. Nach Angaben der Kurdenregierung in Erbil waren innerhalb weniger Tage mehr als 140.000 Soldaten desertiert, die Bagdad in den Provinzen Ninawa, Salahudin und Kirkuk stationiert hatte. Mit einem Schlag hatten sich damit sechs der 16 irakischen Armee-Divisionen aufgelöst. Damit war klar: Eine Rückkehr der Regierungseinheiten aus Bagdad in die umstrittenen Territorien war undenkbar geworden. Fortan war die kurdische Regionalregierung in Erbil die neue Ordnungsmacht in diesen Gebieten.

In den Becher der Freude, den die Kurdenführer in Erbil nach dem IS-Vormarsch in vollen Zügen genossen, mischte sich aber bereits Mitte Juni ein Wermutstropfen. Berichte über Massenhinrichtungen durch die Dschihadisten hatten Hunderttausende aus den Gegenden um Takrit, Samara und Mossul zur Flucht in die kurdische Autonomieregion veranlasst. Diese Fluchtbewegung sollte in den kommenden Monaten anhalten. Zusätzlich verstärkt wurde sie noch durch Flüchtlinge aus Mossul und seinem Umland stammenden Christen und Yeziden, die vor religiösen Säuberungskampagnen Reißaus nahmen. Bis Anfang Oktober hatte die zuvor fünf Millionen kurdische Einwohner zählende KRG schätzungsweise 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Finanziell, sozial und wirtschaftlich bescherte dieses humanitäre Flüchtlingsdesaster der autonomen Region eine gewaltige Bürde, durch die sie an die Grenze ihrer Belastbarkeit gelangte.

Ungeachtet des riesigen Elends der Flüchtlinge hatte der IS-Vormarsch den Kurden zunächst einmal gewaltige politische Vorteile verschafft, da sich nun eine territoriale Neuordnung mit großer Reichweite vollzogen hatte. Fast alle Gebietsansprüche, die die Kurden jemals gegenüber der Zentralregierung erhoben hatten, waren nun erfüllt. Die ab Mitte Juni 2014 fortan von den Peschmerga kontrollierten Gebiete reichten seither weit über das eigentliche Territorium der Kurdenrepublik hinaus. Das Territorium der KRG hatte sich innerhalb einer Woche um 40 Prozent vergrößert. Im Falle einer zukünftigen Unabhängigkeit der von Barzani geführten KRG, die ursprünglich die drei Provinzen Erbil, Dohuk und Sulaymaniya umfasste, wären wohl auch Kirkuk und das ölreiche Umland der Vielvölkerstadt Kirkuk mit dabei. Sollte also einmal ein selbständiger Kurdistanstaat entstehen, wäre dessen ökonomische Potenz immens gestärkt.

Malikis unaufhaltsamer Machtverlust

Der Fall Mossuls schockierte die Politiker der irakischen Exekutive und Legislative in Bagdad, zumal sich der IS-Vormarsch bedrohlich schnell Bagdad näherte. Als der IS-Pressesprecher Mitte Juni 2014 verkündete, dass die Eroberung Bagdads – die Stadt war als Hauptstadt der Kalifen vom 8. bis zum 13. Jahrhundert eine der wichtigsten Städte der islamischen Welt gewesen – und die Einnahme der heiligen Stätten der Schiiten in Kerbela und Nadschaf Ziel des IS sei, fühlte sich auch die Masse der Schiiten ernsthaft bedroht. Diese Wahrnehmung wurde durch die Nachrichten über die Massenhinrichtungen in Takrit noch verstärkt, sodass die Einwohner Bagdads sich auf einen Angriff vorbereiteten. Am 13. Juni legte das religiöse Oberhaupt der irakischen Schiiten, Großayatollah Hussein Ali al-Sistani, seine Zurückhaltung in politischen Fragen ab und rief zum Kampf gegen die sunnitischen Extremisten auf. Er forderte jeden, der eine Waffe tragen könne, dazu auf, sich den irakischen Sicherheitskräften anzuschließen. Besondere Wirksamkeit erlangte Sistanis Aufruf auch deshalb, weil ihn sein wichtigster religiöser Vertreter im Irak, Sheikh Abdul Mehdi Karbalai, während der Freitagspredigt in der Imam-Hussein-Moschee in Kerbela verlesen hatte. Binnen weniger Tage meldeten sich Zehntausende von schiitischen Freiwilligen zu den Waffen. Auch Muqtada al-Sadr, der Anführer der ungemein mitgliederstarken Sadr-Bewegung, rief seine Anhänger zum Widerstand auf. Der IS-Vormarsch bot dem einflussreichen Schiiten-Führer auch eine willkommene Gelegenheit, seine alte Miliz, die »Mahdi-Armee«, die er 2008 demobilisiert hatte, zu reaktivieren. Die »Mahdi-Armee« hatte gegen die US-Besatzungstruppen gekämpft, wobei Teile von ihr im großen Machtspiel zwischen den USA und dem Iran zum verlängerten Arm der iranischen Revolutionswächter auf irakischem Boden geworden waren. Nun mischte Sadr mit seiner auf 60.000 Mann geschätzten Privatarmee, die er in »Friedensbrigaden« (saraya al-salam) umbenannt hatte, im irakischen Machtpoker wieder kräftig und an vorderster Stelle mit. Irreguläre schiitische Milizen und nicht die reguläre irakische Armee, die teilweise aufgelöst, desorganisiert und kampfunfähig geworden war, tragen seit Juni 2014 die Hauptlast der Kämpfe gegen den »Islamischen Staat«.

Angesichts des Vormarschs sunnitischer Extremisten im Irak hatte der iranische Präsident Hassan Rohani in einer live im Fernsehen übertragenen Ansprache versichert, Iran werde alles zum Schutz der heiligen Stätten Kerbela, Nadschaf, Kazimiya und Samara im Nachbarland tun. Es hätten sich bereits zahlreiche Freiwillige gemeldet, um »die Terroristen in ihre Schranken zu weisen«. Iran tritt seit jeher als regionale Schutzmacht der Schiiten auf, die im Irak die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Einschränkend fügte Rohani hinzu, die Teheraner Regierung habe keine Truppen in den Irak geschickt und werde das sehr wahrscheinlich auch nie tun. Zu diesem Zeitpunkt gingen Beobachter allerdings davon aus, dass Iran bereits Militärberater der Elite-Einheit der Revolutionären Garden ins Nachbarland entsandt hatte, um die schiitischen Milizen für den Kampf gegen den IS zu schulen.

Der Verlust von Mossul und das militärische Debakel der irakischen Regierungstruppen brachten Premierminister Maliki in ernste Bedrängnis. Viele Kräfte in Iraks Parlament und Regierung lasteten das Mossul-Debakel ihm an und drängten auf seinen Rücktritt. Im innenpolitischen Machtkampf um den Erhalt seines Premierministeramtes musste Maliki ab Mitte Juni einen schweren Schlag nach dem anderen einstecken. Nach und nach rückten die meisten seiner Unterstützer von ihm ab. Den Anfang machte am 20. Juni die US-Regierung unter Präsident Barack Obama, die bis dahin ebenso wie die Vorgängeradministration Maliki trotz aller Kritik und Vorbehalte gestützt hatte. Ihr Sprecher verkündete, dass »die Regierung, einschließlich des Ministerpräsidenten zu wenig für eine politische Beteiligung aller Volksgruppen getan habe« und so »zu der heutigen Krise im Irak beigetragen habe«. Damit wurde deutlich, dass sich in Washington die Auffassung durchgesetzt hatte, dass Maliki zu der geforderten Versöhnung nicht willens oder in der Lage sei und man auf jemand anderen setzen müsse, um die Lage zu stabilisieren.

Die Kritik der USA kam für Maliki zur Unzeit. Denn seine Wiederwahl war auch mehrere Monate nach den Parlamentswahlen alles andere als gesichert. Maliki hatte mit seinem Block aus zwei verbündeten Schiitenkoalitionen die Parlamentswahl im April mit klarem Vorsprung gewonnen. Im Wahlkampf hatte er erneut eine Mehrheit der schiitischen Wähler für sich gewinnen können, weil er die »schiitische Angst-Karte« gezogen und im Wahlkampf hemmungslos Ängste vor einer sunnitischen Konterrevolution geschürt hatte. Dennoch verfügte er im 328 Sitze zählenden Parlament über keine absolute Mehrheit. Seit April konnten sich die politischen Lager auf keinen neuen Ministerpräsidenten einigen.

Malikis schiitische »Rechtsstaat«-Koalition hatte 92 Sitze erhalten, die andere Schiitenkoalition der »Nationalen Allianz« 63, was zusammen 155 der 328 Mandate ausmachte. Für eine absolute Mehrheit fehlten dem Schiitenblock aus den zwei Koalitionen entscheidende Stimmen aus den kurdischen und sunnitischen Parteien, die aber nicht gewillt waren, Maliki zu unterstützen. Als dessen Gegner profilierten sich vor allem drei Politiker. Der erste von ihnen war der frühere Vorsitzende der schiitischen Daawa-Partei, Ibrahim al-Jaafari, den Maliki 2006 aus dem Amt gedrängt hatte. Bei dem zweiten handelte es sich um den sunnitischen Politiker Salih Mutlaq, der Maliki vorwarf, die Schiiten bevorzugt zu haben. Als dritter im Bunde ist der Kurde Fuad Masum zu nennen, den das Parlament am 24. Juli zum neuen Staatspräsidenten wählen sollte. Sie alle verband ein gemeinsames Ziel: eine dritte Amtszeit Malikis zu verhindern.

In dem monatelangen Tauziehen um die Macht konnte sich das Parlament immerhin Anfang Juli auf einen neuen Parlamentspräsidenten einigen. Eine Mehrheit wählte daraufhin den Sunniten Salim al-Dschuburi. Laut der inoffiziellen, seit 2006 gültigen Tradition der Machtverteilung gebührt das Amt des Parlamentspräsidenten einem Sunniten, das Präsidentenamt einem Kurden und das Premierministeramt einem Schiiten. Laut Verfassung war die Wahl des Parlamentspräsidenten Voraussetzung für die Abstimmung über das Amt des Präsidenten. Dessen Wahl erfolgte nach längerem Streit am 24. Juli. Das Parlament wählte Fuad Masum zum Staatsoberhaupt, dessen Wahl wiederum laut Verfassung erst den Weg für die Bildung einer neuen Regierung freimachte.

Mit der Wahl Masums schwanden die Chancen Malikis, sich in seinem Amt zu halten, zumal auch der Druck gewachsen war, seinen Rücktritt zu erklären. Bis Anfang August hatten sich 38 Abgeordnete seiner schiitischen »Rechtstaat«-Koalition von ihm losgesagt und waren auf die Seite der anderen Schiitenkoalition, der »Nationalen Allianz«, übergelaufen. Damit war Maliki nicht mehr der Führer des größten einzelnen Blocks. Das aber war wiederum laut Verfassung die Voraussetzung, dass ihn der Präsident gegenüber dem Parlament als Kandidat für das Amt des Premierministers nominieren konnte. Den Ausschlag dafür, dass viele seiner eigenen Abgeordneten von ihm abrückten, gab vermutlich ein Schreiben Sistanis, in dem der mächtige Großayatollah betonte, dass kein Politiker zu Lasten des Wohls der Nation an seinem Amt kleben dürfe. Sistanis nur schwach verhüllte Kritik an Maliki dürfte auch den Iran bewogen haben, Maliki, den er bis dahin voll unterstützt hatte, fallen zu lassen.

Am 10. August brach der innerirakische Machtkampf offen aus. Präsident Fuad Masum nominierte auf Vorschlag der schiitischen Parteien in der »Nationalen Allianz«, die nun den größten Einzelblock im Parlament bildete, den Politiker Haidar al-Abadi mit der Regierungsbildung. Damit war der Staatschef auf Konfrontation zu Ministerpräsident Maliki gegangen. Dieser konterte postwendend, indem er in Bagdad die Armee an strategisch wichtigen Stellen Position beziehen ließ, womit er seine Entschlossenheit untermauerte, auf das Amt des Regierungschefs nicht verzichten zu wollen. Militär und andere Sicherheitskräfte fuhren auf Befehl Malikis an wichtigen Straßen und Brücken auf. Panzerwagen sperrten die Zugänge zur Grünen Zone, dem stark gesicherten Regierungs- und Parlamentsviertel, und umstellten auch den Amtssitz des Staatspräsidenten.

Es entspann sich in den folgenden drei Tagen ein zäher Nervenkrieg, in dem Maliki auch ankündigte, eine Verfassungsklage gegen den Präsidenten beim Verfassungsgericht einzureichen. Doch letztendlich wurde Maliki immer stärker in die Defensive gedrängt. Selbst die schiitischen Milizen, von denen Maliki einige unter seine Kontrolle gebracht hatte und die nach dem Versagen der Armee die Hauptlast der Kämpfe gegen den IS trugen, wollten nicht mehr für ihn in einen risikoreichen Kampf ziehen und unterstützten offen die Einsetzung Abadis. Als sich am 12. August der amerikanische Außenminister John Kerry öffentlich voll und ganz hinter Präsident Masum als den »Garanten der irakischen Verfassung« gestellt hatte, dämmerte es auch Maliki, dass er dem Druck nicht mehr würde standhalten können. Einen Tag später, am 13. August, verkündete er, auf seinen Anspruch auf eine weitere Amtszeit zugunsten des designierten Nachfolgers Haidar al-Abadi verzichten zu wollen. Damit war der Machtkampf beendet.

Amerikas widerwilliges Engagement

Die Eroberungen des IS im Nordirak hatten die US-Regierung kalt erwischt und bei ihr erneut beträchtliche Sorge ausgelöst, dass der Irak zerfallen oder in die Hände des IS fallen könnte. Die rasche Auflösung eines Großteils der 350.000 Mann starken irakischen Streitkräfte war für Washington ein Desaster, hatten doch die USA für deren strukturellen Aufbau, deren militärische Ausbildung und waffentechnische Ausrüstung allein seit 2011 mehr als 41,6 Milliarden US-Dollar ausgegeben – von den anderen gigantischen Ausgaben für den Neuaufbau des Irak seit 2003 ganz zu schweigen. Das Desaster führte der US-Administration von Barack Obama eindrücklich vor Augen, dass ihre bisherige Irak-Politik in Scherben lag. Die Rückzugsstrategie Obamas, die der Präsident 2009 eingeleitet hatte, war gescheitert.

Der kampflose Zusammenbruch der Armee bewies aber auch, dass die überwiegend schiitischen Offiziere der neuen irakischen Armee beratungsresistent waren. Unter ihnen blühten Günstlingswirtschaft und Korruption, mit der sie die zwischen 2004 und 2013 mühsam gezimmerte multi-konfessionelle Kommandostruktur konsequent umgangen hatten. Die vom Pentagon entsandten Ausbilder hatten dies bereits lange zuvor ihren militärischen Vorgesetzten gemeldet, aber die politischen Leitungsgremien in Washington hatten die Warnsignale schlicht ignoriert.

Obamas Verhältnis zu Premierminister Maliki war schlecht, wenn nicht gar zerrüttet. Das rührte vor allem von Malikis Weigerung her, Obamas Bedingungen für eine fortdauernde amerikanische Truppenstationierung über 2011 hinaus zuzustimmen. Als er einsah, dass er damit bei Maliki auf taube Ohren stieß, bewies Obama sein Geschick als gerissener und pragmatischer Politiker. Kurzerhand deklarierte er den wegen Malikis Hartleibigkeit in die Wege geleiteten Totalabzug von 2011 in der Öffentlichkeit um und bezeichnete ihn als einen Erfolg seiner Politik, Kriege »verantwortlich« zu beenden. In den folgenden Jahren fiel Maliki in Washington vollends in Ungnade, als er die Konfrontation mit den Sunniten verschärfte. Malikis Forderungen nach rascher Lieferung militärischer Güter, die die USA im Rahmen eines 14-Milliarden-Dollar-Hilfspakets dem Irak vertraglich zugesichert hatten, kam die US-Administration nicht oder nur sehr zögerlich nach. Sie ließ sich deswegen so viel Zeit, weil Maliki auf das Verlangen Obamas nach sofortiger Versöhnung mit den Sunniten und Kurden nicht einging.

Angesichts der erneuten Irak-Krise erklärte Obama am 13. Juni 2014 in einer Grundsatzrede im Weißen Haus, keine Bodentruppen in den Irak senden zu wollen, verwies auf »andere Optionen« und erläuterte, dass das Problem nicht militärisch zu lösen sei. Was er damit meinte, machte er auch klar. So übte er scharfe Kritik an der irakischen Führung. Sie habe es trotz der Gestaltungsspielräume, die ihr das opferreiche Engagement der US-Truppen im Bürgerkrieg von 2007 eröffnet hatte, nicht geschafft, das Misstrauen und die konfessionellen Gräben zwischen den Volksgruppen zu überwinden. Obama sah die Ursache des Vormarsches von IS vor allem im Versagen der irakischen Staatsführung unter Maliki und wollte, solange dieser im Amt war, Bagdad auch nur bedingt helfen. Die Hilfeersuchen Malikis, der Luftschläge der USA gegen IS-Stellungen erbat, stießen deshalb auf taube Ohren.

Anfänglich genoss Obama mit dieser Haltung breite Unterstützung in der US-Bevölkerung, die zu diesem Zeitpunkt kriegsmüde von den langen militärischen Engagements im Irak und in Afghanistan war. Zudem scheute Obama angesichts der finanziellen Krise der USA eine erneute Verschleuderung von Steuergeldern in einem weiteren irakischen Militärabenteuer ohne absehbares Ende. Deshalb gingen die USA auch nur vorsichtig voran: Sie verlegten Kriegsschiffe und einen Flugzeugträger in den Persischen Golf und entsandten 300 Militärberater in den Irak, vornehmlich zur Sicherung ihrer Botschaft im Irak und ihres Generalkonsulats in der KRG-Hauptstadt Erbil. Dazu verstärkten sie die nachrichtendienstliche Aufklärung im Irak, belieferten die irakischen Sicherheitskräfte mit mehr Informationen und verlegten vorsichtshalber vermehrt militärische Ausrüstung in die Region.

Die USA befanden sich also in einer Zwickmühle. Zum einen wollten sie einen Machtzuwachs des IS im Irak mit allen Mitteln verhindern. Andererseits wollten sie es vermeiden, durch einen massiven militärischen Einsatz zugunsten der von Schiiten dominierten Zentralregierung den Eindruck zu erwecken, sie stünden im innerirakischen Konfessionskrieg auf der Seite der Schiiten. Hinzu kam die Aussicht, dass ein solches einseitiges Engagement zugunsten Bagdads den Einfluss des schiitischen Irans im Irak, der in den letzten Jahren ohnehin schon zu Lasten der USA gewaltig gewachsen war, noch weiter stärken würde. Auch das wollte Washington vermeiden. Dabei besaßen sowohl der Iran als auch die USA eine Reihe übereinstimmender Interessen im Irak. Beide Seiten wollten weder, dass der Irak als Staat zerfiel, noch die Machtübernahme dschihadistischer Extremisten in Bagdad, die beide für das größte denkbare Übel hielten. Deshalb intensivierten Präsident Obama und sein als moderater Pragmatiker bekannter iranischer Gegenspieler, Präsident Hassan Rohani, den informellen Meinungsaustausch über eine Kooperation in der Irak-Krise. Ungeachtet der partiellen Interessenkongruenz führte dies letztlich doch zu keiner konkreten Anti-Terror-Koalition – zumindest zu keinem Bündnis, über dessen Ziele, Aufgaben und Lastenverteilungen beide Seiten präzise Absprachen erreichten und zu dem sie sich ofiziell bekannten. Zu groß waren die Widerstände, die die Gegner einer Zusammenarbeit der beiden Erzfeinde in dem jeweils anderen Land ins Feld führten. Außerdem drohte eine solche Allianz überfrachtet zu werden, zumal damit sowohl Teheran als auch Washington implizit oder explizit Sonderinteressen verbanden – besonders im Hinblick darauf, dass sich so die Position der jeweils anderen Seite bei den Wiener Verhandlungen um das iranische Atom-Programm ändern ließe. Kurzum: Die Sondierungen über eine gemeinsame amerikanisch-iranische Anti-Terrorfront gegen den IS verliefen im Sande.

Im Hinblick auf ein militärisches Eingreifen im Irak modifizierten die USA ihre abwartende Haltung erst Anfang August 2014. Starke IS-Einheiten waren auf Erbil, die Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion, und die um Kirkuk gelegenen ölreichen kurdischen Provinzen zugerückt und drohten die kurdischen Peschmerga-Kämpfer, die ihren Angreifern nach Waffen und Feuerkraft deutlich unterlegen waren, zu überrennen. Erst als ihr verlässlichster Verbündeter im Irak, die KRG, in ernster Gefahr war, entschlossen sich die USA zum Handeln und unternahmen ab dem 8. August die ersten Luftschläge gegen IS-Stellungen im Nordirak. Viele weitere sollten folgen.

Kapitel ZweiVergangenheit, die nicht vergehen will: Glaubensspaltungen im Islam

Beobachter der Ereignisse im Irak und in Syrien stoßen immer wieder auf den Gegensatz von Sunniten und Schiiten1 – Namen zweier Gruppen, die als ewige Antagonisten in latenten oder offen ausgefochtenen Konfessionskriegen agieren. Dabei handelt es sich um eine Sorte von Kriegen, die man in Europa seit Mitte des 17. Jahrhunderts kaum noch kennt (mit Ausnahme des Nordirland-Konflikts). Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) war mit dem Westfälischen Frieden und den Verträgen von Münster und Osnabrück zu Ende gegangen. Sein Ausgangspunkt war der religiöse Wettstreit zwischen dem universalen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation mit dem katholischen Kaiser an der Spitze und seinen protestantischen Fürsten, die sich unversöhnlich gegenüberstanden. Mitteleuropa, insbesondere Deutschland, wurde zum Schlachtfeld dieses Wettstreits, der einen mörderischen Krieg auslöste und durch Kämpfe, Hunger und Krankheiten ein Viertel der Bevölkerung Europas auslöschte. Dort war es in erster Linie um konfessionelle Bekenntnisse und die Solidarität der Glaubensbrüder über die Reichsgrenzen hinaus gegangen. Nach und nach traten die konfessionellen Triebkräfte jedoch in den Hintergrund und wurden von nationalen, geopolitischen Großmachtinteressen und Ambitionen ihrer Herrscher überlagert.