Tessiner Vermächtnis - Sandra Hughes - E-Book

Tessiner Vermächtnis E-Book

Sandra Hughes

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Beschreibung

Acht Wochen lang immer freitags frei. Wäh- rend andere sich freuen, Überstunden abbauen zu können, weiß Emma Tschopp, Feldwebel mbA bei der Kriminalpolizei Basel-Landschaft, schon am ersten Nachmittag nichts mehr mit sich anzufangen. Sie klickt sich online durch die Nachrichten, bis eine Meldung sie aufmerken lässt: Im historischen Park Giardino Balber in Morcote, ausgezeichnet als schönstes Dorf der Schweiz, wurde bei einer Hochzeit ein Mann getötet. Ausgerechnet der Patenonkel der Braut. Ausgerechnet am Lieblingsort von Marco Bianchi vom Commissariato Lugano, mit dem Emma nur wenige Monate zuvor einen Mordfall aufgeklärt hat. Emma bietet ihre Hilfe bei den Ermittlungen an, und bald schon hockt sie in ihrem Campingbus, unterwegs ins Tessin, die Sonnenstube der Schweiz. Natür- lich in Begleitung von Labrador Rubio, der es sich auf der Rückbank bequem gemacht hat. Die beiden ungleichen Ermittler Tschopp und Bianchi tauchen tief ein in die Geschichte des "Zaubergartens", wie die Touristenattraktion oberhalb des Luganersees auch genannt wird.

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Sandra Hughes

Tessiner Vermächtnis

Der zweite Fall für Tschopp & Bianchi

Kampa

Teil 1

1

Für die Zeremonie war alles gerichtet. In der Palazzina indiana standen Tisch und Stühle für das Brautpaar und den Standesbeamten, dahinter drei Sitzreihen für die Gäste. Ein Blumenstrauß auf dem Tisch, Blumenbäumchen draußen vor dem Eingang, weiße Riesenschleifen um die Säulen der Palazzina gebunden. Das Wasserbecken davor von Algen befreit, hellblau spiegelte sich der Himmel. Auf der Aussichtsterrasse standen runde hohe Apéro-Tische, in weißen Stoff verpackt, sieben leuchtende Tupfer. Noch waren die Tische leer. Noch trug das Personal des Caterers die letzten Platten mit Torta di Pane und Zincarlin ins Grotto beim Eingang des Parks, um sie nach der Trauungszeremonie zur Terrasse hochzubringen, dazu Kokos-Zitronengras-Süppchen in Gläsern und Thunfischtatar auf Löffeln für diejenigen der Hochzeitsgesellschaft, die es weniger traditionell mochten. Prosecco- sowie Bierflaschen waren gekühlt und Gläser auf Tabletts angeordnet, darauf wartend, befüllt zu werden. Von der Straße unten drangen Stimmen den Hang hoch, Autotüren wurden zugeschlagen. Die ersten Gäste trafen ein.

2

»Leni von der Mohnwiese«, las Emma. »Rasse: Deutscher Schäferhund, Geschlecht: Hündin, Wurfdatum: 23.11.2016, Ausbildung: Schutzhund.« Sie blätterte weiter. »Rommels Macho, Holländischer Schäfer … Fuego im Tal der Löwen, Riesenschnauzer … Jack von der Ostfront, Deutscher Schäfer.«

Der Regen hatte das Programmheft ein wenig aufgeweicht, aber die Teilnehmer der Polizeihunde-Prüfung Basel-Stadt und Basel-Landschaft waren noch gut darauf zu erkennen. Allesamt stolze Gespanne, die Polizisten, Wachtmeister, Gefreite, Feldwebel mit ihren Schutz-, Sprengstoff- und Betäubungsmittelspürhunden. Fünfzehn Männer, erst beim Nachwuchs eine Hundeführerin mit dabei. Mit Nachwuchs waren die Hunde gemeint. Mensch und Tier hatten zwei Mal einen Parcours zu absolvieren, einmal zum Thema ›Unterordnung‹, einmal ›Schutzdienst‹. Emma steckte das Heft wieder ein und griff nach dem Becher mit heißem Tee. Vom Grill her trieben Rauchschwaden von verbranntem Fett herüber. Die Kalbsbratwurst frühmorgens war ihr gut bekommen. Vielleicht sollte sie noch die Merguez probieren? Zuschauerinnen und Zuschauer standen mit Schirmen und Kapuzen in Reihen. Viele von ihnen trugen Uniform. Die Zivilen waren etwas lauter, angeregt vom Kaffee Luz, den die Znünibeiz großzügig mit Träsch versetzt hatte.

Jetzt hallte die ruhige Stimme des Speakers über das Gelände. »Mit der Startnummer 13: der Rüde Nox vom hohen First zusammen mit Jauslin Christoph vom Polizeikorps Basel-Stadt.«

Und wieder schaute Emma fasziniert zu, wie ein Hund seinem Herrn folgte. Fokussiert aufs Ziel, kein Blick zur Seite, kein Zucken, wenn ein Schuss knallte, kein Zögern, wenn der Flüchtende gestellt werden musste. Sie sah auf Rubio hinunter, ihren schwarzen Labrador, der erst nach wiederholtem Befehl auf der nassen Wiese Platz gemacht hatte, sehr langsam.

»Feldwebel mbA Tschopp, was tun Sie denn hier?«

Emma war zusammengezuckt und hatte den Arm sofort erhoben, bereit zur Abwehr. Kollege Alex. Dass der sich auch immer anschleichen musste. »Weiterbildung«, sagte sie. »Und du? Lockerer Tag heute?« Sie deutete auf seinen Kaffeebecher. Kaffee und Alex’ Atem rochen nach Schnaps.

»Willst du einen Schluck?« Alex hielt ihr den Becher unter die Nase. »Entspannt schön. Täte dir vielleicht gut.«

Emma ergriff den Becher, nahm einen Mundvoll und spie in hohem Bogen aus. Der Kaffee traf halb ins Leere, halb Alex’ rechten Ärmel.

»Teufelszeug«, ächzte sie. »Tut mir leid.«

Alex starrte stumm auf den braunen Flecken, dann begann er, hektisch daran herumzureiben.

»Wir sehen uns am Dienstag.« Emma stellte den Becher auf die nächste Festbank. »Schönes Wochenende, Feldwebel mbA Breitenstein.«

Sie reihte sich in die Warteschlange vor dem Grill ein. Als Emma in die heiße Merguez biss, machte Alex noch immer an seiner Uniform herum.

 

Rubio wünschte sich bloß eines: zurück nach Hause zu fahren. Er wollte auf seiner Decke im Arisdorfer Bauernhaus liegen. Keine Würste riechen, die nicht für ihn bestimmt waren. Nicht auf einer nassen Wiese sitzen und warten, bis die Hunde hier ihre Runden fertig gedreht hatten. Diese Musterschüler, die nichts kannten außer lernen, lernen, lernen. Und spuren. Was wussten sie von den tausend Düften, die sich eröffneten, sobald man vom Weg abkam? Nichts. Diese Bei-Fuß-Geher. Untertanen, denen Gehorchen Sinn genug war. Die in Vorfreude aufs Spiel mit einem Gummitier, für einen lächerlichen Keks alles taten: Zähne blecken, Männchen machen, Menschen jagen. Damit sie an einer Tube Leberwurst lecken durften. Igitt. Und wie sie stanken. Nach Angstschweiß, weil sie immerzu fürchteten, keinen Keks zu erhalten. Vom Herrchen bestraft zu werden. Wie gut er es hingegen hatte. Mit Emma, deren Zuneigung er sich nicht verdienen musste. Die ihm die Tür öffnete, sobald er von seinem Rundgang durch die benachbarte Hofstatt zurückkehrte. Ihm erlaubte, den Kopf auf ihren weichen Bauch zu legen, wenn sie auf dem Sofa lag. Bei Emma, die nach Weide und Wald roch und manchmal nach gebratenem, innen noch schön blutigem Entrecôte, das sie so liebte. Nach Blauschimmelkäse oder kaltem Kaffee aus Tassen, die sie wegzuräumen vergessen hatte. Von Emma selbst hatte Rubio kein Bild. Er konnte ihre violette Trainerjacke nicht sehen, die sie seit Jahren begleitete, die braunen Locken mit Silberfäden, nie in Form gebracht, das runde Gesicht mit vielen Fältchen um die Augen. Emma roch fein, das reichte. In tausend Nuancen stieg sie ihm in die Nase, durch und durch gut.

3

Enzo Nava rollte den Wasserschlauch auf. Sein linker Arm schmerzte. Drei Stunden hatte er gebraucht, um die vierhundertvier Treppenstufen hoch zur Kirche Santa Maria del Sasso zu reinigen. Mit dem Besen das Gröbste zuerst, dann hatte er mit sattem Wasserstrahl den graublau schimmernden Stein von jedem Fleckchen Dreck befreit. Die Gemeinde wollte einen dieser Laubbläser anschaffen, für mehr Effizienz. Sie begannen zu rechnen dort unten im Municipio, seine Muskelkraft gegen Düsenturbinen. Er hatte sie reden lassen, Martina Lentini, seine Vorgesetzte, Leiterin der Gemeindeverwaltung von Morcote. Alle Vorteile eines Laubbläsers hatte sie aufgezählt. Danach war es im Büro still geworden. Er hatte auf den See geschaut, die blausilbernen Lichtschimmer. Bloß eine Straße und ein Gehsteig trennten den Palazzo Comunale vom Wasser.

»Aber der Friedhof«, wollte er sagen. »Was ist mit jenen, die dort oben bei der heiligen Maria begraben sind? Haben sie denn kein Recht auf Totenruhe? Und die Lebenden. Wie sie den Blick über den See genießen, nachdem sie hochgestiegen sind, sich und die Kirche mit ihren Handykameras festhaltend. Und alle Käfer, Vögel und Schmetterlinge. Warum sollte ich sie mit einem Laubbläser stören?«

Aber er hatte nichts dergleichen gesagt, sondern bloß stumm dagesessen, Martinas Stimme im Ohr, die wieder redete, von Kennzahlen und Zielen, die erreicht werden, Auflagen, die erfüllt werden mussten. Erst recht, wenn man vor drei Jahren zum ›Schönsten Dorf der Schweiz‹ gewählt, ins Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder aufgenommen war.

»Das sind die echten Herausforderungen für Morcote, Enzo«, hatte Martina gesagt. »Und du stemmst dich gegen einen Laubbläser?«

In der darauffolgenden Nacht hatte er kaum geschlafen. Wenn er doch einmal wegdämmerte, umfasste er eine schwere schwarze Maschine mit beiden Händen und aller Kraft, die er aufbringen konnte. So kräftig war der Luftstrahl, mit dem er ein blutiges Bündel vor sich hertrieb. Es schwebte tänzelnd über dem Boden, kreiste um sich selbst, sprang ab und zu auf und nieder. Als ob es mit ihm spielen wollte.

4

Emma sah aufs Handy. 11:46 Uhr erst, also noch Stun- den vor sich, die sie sinnvoll nutzen könnte. Wenn sie wüsste womit. Seufzend warf sie sich aufs Sofa. Sah Rubio zu, der auf seiner Decke lag und laut knackend einen Ochsen-Stick zerlegte. Zahnreinigung mit viel Vergnügen. Wenn das Zeug bloß nicht so stinken würde.

»Du stinkst«, sagte Emma.

Rubio sah zu ihr, seine braunen Augen musterten sie sanft, dann wandte er sich wieder seinem Knochen zu.

»Bestialisch«, sagte Emma, aber er ignorierte sie.

Emma rieb sich die Hände, die noch immer kalt waren vom frühmorgendlichen Ausflug zur Prüfung der Polizeihunde. Sie streckte sich auf dem Sofa aus, sah zur Decke hoch. Wie langweilig das war. Wann hatte sie zuletzt einen freien Freitagnachmittag gehabt? Sie erinnerte sich nicht. An der Decke hingen graue Fäden, in den Ecken Spinnweben. Sie konnte den Staubwedel holen. Überhaupt putzen. Die Regale im Badezimmer, den Küchenschrank. So richtig putzen mit Ausräumen, nicht bloß um alles herum wischen, ein bisschen Kosmetik. Aber Ausräumen. Ausräumen mochte sie nicht so. Und wieder einräumen. Dann doch lieber liegen bleiben.

»Hoho«, hatte Alex gestichelt, »du wirst jetzt also Teilzeitkraft. Eine mit Abwesenheitsmeldung.«

»Bloß freitags. Bloß für acht Wochen«, hatte sie geantwortet und sich sofort geärgert. Weshalb sollte sie sich rechtfertigen? Überstunden mussten nun mal abgebaut werden. Basta.

»Und du?« Emma kraulte Rubio, der zum Sofa getrottet war und seinen warmen, schweren Kopf auf ihren Bauch legte. »Wie hältst du das aus, so ein langweiliges Hundeleben?«

5

Die Gräser wuchsen schnell nach in dieser Saison. Be- reits im Frühling hatte Enzo Nava festgestellt, dass er mehr Zeit mit Unkrautjäten verbrachte als noch im Jahr zuvor. Denn sorgfältig gepflegt mussten die Beete bei der Kirche sein. Kein Kraut zwischen Kamelien, Lavendel und Hortensien, das hier nicht hingehörte. Den angrenzenden Rasen schnitt er regelmäßig kurz. Sattgrün leuchtete auch jetzt noch die Fläche, obwohl bereits Ende September war. Die Wege aus Flusskieseln wurden fortwährend entmoost, der steinerne Brunnentrog ebenso.

Enzo Nava legte die Hacke hin und setzte sich aufs Mäuerchen, welches das Beet begrenzte. Streckte den Rücken durch. Schloss die Augen, wendete sein Gesicht der Sonne zu. Eine Schulklasse hatte sich eben darangemacht, wieder ins Dorf hinunterzusteigen. Das Geschwätz und Gelächter der Kinder klang noch zu ihm hoch, entfernte sich langsam. Er horchte zur Parkanlage Giardino Balber, die 300 Meter weiter am Fuß des Hügels lag, wo die Hochzeitsgesellschaft sich noch immer aufhalten musste. Die Zeremonie in der Palazzina indiana, gefolgt vom Apéro auf der Aussichtsterrasse, so war der Ablauf immer. Der Park für Besucherinnen und Besucher nicht zugänglich. Sogar seine Schicht heute Morgen war weggefallen.

»Ist so mit dem Kunden abgemacht«, hatte Martina gesagt und ihn aus dem Büro gescheucht. »Die Floristin kommt mit ihrem Team bereits um sieben. Sie will ungestört arbeiten.«

Da. Jetzt glaubte er, sie zu hören, die Gäste. Der Wind trug helles Lachen bis zu ihm hin. Stimmengewirr, alle redeten gleichzeitig. Er öffnete die Augen, bevor die Bilder erschienen, die er seit sieben Tagen vergeblich zu vertreiben versuchte. Der Kadaver einer gehäuteten Katze, eine Schleife aus Tüll um den Hals gebunden, im Bambushain drüben im Giardino Balber. Enzo hatte zuerst ein blutiges weißes Bein gesehen, als er auf seiner frühmorgendlichen Reinigungstour vor dem siamesischen Teehaus ankam. Als er sich bückte, stob ein Schwarm von Fliegen auf. Er war mit einem Schrei zurückgewichen, mit den Händen um sich schlagend. Hatte sich dem Teehaus zugewandt, einen Würgereiz unterdrückend. Dort war alles wie immer. Hinter der Glasscheibe war ein Zimmerchen so eingerichtet, als würde hier gleich jemand zur Teezeremonie empfangen. Alles in bester Ordnung. Da war niemand. Bloß er und eine gehäutete Katze. Niemand durfte diesen Kadaver sehen. Er war losgerannt und hatte die große Schaufel geholt, einen Abfallsack.

»Signore?«

Er zuckte zusammen. Zwei ältere Damen standen vor ihm. Die eine hielt ihm eine Kamera entgegen.

»Können Sie ein Foto von uns machen, per favore?«

Er fotografierte die beiden mit dem Lago di Lugano im Hintergrund. Wies sie auf die Grenze hin, die mitten im See verlief, auf Porto Ceresio gegenüber – sì, Italia, sì –, nahm den Dank der Damen entgegen. Dann ging er zum Beet zurück, schob das Polster ein Stück weiter, das seine Knie ein wenig schützte, und ließ sich auf dem Rand des Mäuerchens nieder. Beugte sich übers Beet, lockerte die trockene Erde mit der Hacke. Riss Gräser aus, routiniert. Hacken, zupfen, hacken, zupfen. Im Kopfkino lief noch immer das, was er nicht mehr sehen wollte. Dasselbe Bild vor zwei Tagen. Diesmal weiter unten im Giardino, in der Grotte beim Renaissancebrunnen. Ein rot-weißes Fleischbündel lag da, um den Hals eine schmutzige Schleife. Wieder rannte er los, um Schaufel und Sack zu holen.

Mit zitternden Knien hatte er gestern seinen Dienst angetreten, war durch den Park gehastet, den Blick ins dichte Grün geheftet. Hatte Azaleen, Farne, Kamelien und Bambus kontrolliert, gefasst auf einen weiteren Fund. Nichts. Nichts da, was ihn erschreckte. Gestern schien es ihm, als hätte er alles geträumt. Aber dann stand im Geräteraum die Schaufel, blank geputzt wie noch nie zuvor. Nicht ein Erdkrümelchen klebte noch an ihr.

»Bitte«, murmelte er jetzt. »Bitte nicht.«

6

Ein paar Stücke Torta di Pane lagen noch da, das Cate- ringpersonal hatte die Reste auf einem Teller zusammengelegt. Sie trockneten in der warmen Sonne vor sich hin. Vom Zincarlin hatten die Gäste nichts mehr übrig gelassen, ebenso wie vom Kokos-Zitronengras-Süppchen und Thunfischtatar. Die schmutzigen Gläschen und Löffel hatte die Bedienung bereits wieder nach unten zum Lieferwagen gebracht. Die Gläser hingegen wurden noch gebraucht. Eine Angestellte machte wieder mit der Flasche Prosecco die Runde, eine zweite reichte kaltes Bier. Die Aussicht über den See und in die Hügel von Varese war längst ausgiebig bewundert und genossen, das frisch getraute Paar fotografiert worden, vor strahlendem Blau, mit Azaleen, Pinien, Palmen und Agaven, vor der Venusstatue und zusammen mit der steinernen Sphinx auf ihrem Kapitell. Nun rekelten sich Freundinnen und Cousinen auf den Parkbänken, deren Männer stützten sich an den Stehtischen auf. Eine Gruppe johlte von der Fontana romana herüber. Der Onkel der Braut fotografierte sich zusammen mit zwei steinernen Putten. Drei Männer telefonierten, gingen dazu etwas abseits auf dem akkurat geschnittenen Rasen hin und her. Die Gläser wurden nachgefüllt, eine kurze Diskussion entstand. Der Trauzeuge, der angeboten hatte, durch den Tag zu führen, drängte die angeschickerte Gästeschar zum Aufbruch, seine Freundin unterstützte ihn. Der nächste Programmpunkt wartete. Eine Dreiviertelstunde Fahrt lag noch vor ihnen, der Reisebus stand unten auf dem Parkplatz bereit. Freunde klopften dem Mann auf die Schulter, drängten ihm ein Bier auf, seiner Freundin noch ein Glas Prosecco. Geheiratet wurde schließlich nur einmal im Leben, na ja, vielleicht auch zweimal. So oder so musste gefeiert werden. Auf das Paar, auf ein langes Leben! Sektflöten und Bierflaschen klirrten. Der Trauzeuge tat es den anderen nach und zog das Jackett aus. Pfeif auf die Konventionen. Die Braut kicherte und schwankte ein wenig auf ihren hohen Absätzen, ihre Freundinnen zogen sie zu sich auf die Parkbank. Dann schrie jemand, weiter oben im Park. Es war ein langer, gellender Schrei.

7

Enzo Nava hielt beim Unkrautjäten inne. Was war das? Er richtete sich auf, horchte wieder zum Giardino Balber hinüber. Das Stimmengewirr war verstummt, das Lachen auch.

8

Die Freundinnen und Cousinen auf den Parkbänken starrten einander mit geweiteten Augen an. Ihre Männer verharrten mit der Bierflasche auf halbem Weg zum Mund. Die Gruppe bei der Fontana romana drüben lachte nicht mehr, bloß einer noch spazierte auf dem Rasen hin und her und redete, das Telefon am Ohr. Der Onkel der Braut rannte als Erster los, die Stufen zu den sechs steinernen Frauenfiguren hoch. An kugelförmigen Buchsbäumen und mit Putten verzierten Brunnen vorbei, die den Weg zu einem runden Tempelchen säumten. Auch hier nichts außer Vögeln, die aufflogen. Dem Onkel hetzten Trauzeuge und Freunde hinterher. Sie wischten sich den Schweiß von der Stirn, folgten stumm dem schmalen Weg, plötzlich in tiefstem Pflanzendickicht jetzt, schattig und schön kühl. Rechts ein Holzhaus mit Schaufenster. Sie liefen nun schneller. Ein Wimmern, es kam von etwas weiter unten. Der Trauzeuge sah es zuerst durch den Bambushain leuchten. Ein hellblaues Kleid. Er überholte den Onkel der Braut, nahm die paar Treppenstufen. Eine Frau kniete am Boden bei einem schmalen Häuschen, das wie ein ägyptischer Tempel aussah und von zwei Köpfen auf Stelen bewacht wurde, einem Löwe und einem Falke. Vor ihr ein Mann, das Gesicht verzerrt, die Augen weit aufgerissen, halb an den Tempel gelehnt, halb liegend, die Beine weit gespreizt, die Finger in den erdigen Boden gekrallt.

»È morto«, wimmerte sie. »È morto.«

9

Das Geheul der Sirenen wurde weit auf den See hin- ausgetragen, stieg die Hänge des Monte Arbostora hoch, an dessen Fuß Morcote lag. Es schallte unter den Arkaden wider, prallte am Palazzo Paleari und dem Torre del Capitano ab. Durchdrang den Dorfkern mit den engen Gässchen, füllte die Piazza Grande, kreiste um die Glocken im Turm der Pfarrkirche Santa Maria del Sasso. Erschütterte diejenigen der siebenhundertfünfzig Bewohnerinnen und Bewohner, die an diesem frühen Freitagnachmittag zu Hause waren. Ihre Pflanzen gossen, das Geschirr vom Mittagessen spülten, auf dem Fitnesstrainer saßen, eine Folge Game of Thrones guckten. Oder Souvenirs unter den Arkaden verkauften, Cappuccini servierten, ceramiche artigianali töpferten. Und die turisti. Irritiert schauten sie Polizei- und Rettungswagen nach, die sie vom Fußgängerstreifen verdrängten, die schmale Uferstraße entlangrasten. Ein Unfall? Ein Autofahrer, der die Kurve geschnitten, die Ausmaße des entgegenkommenden Lastwagens unterschätzt hatte? Eine Joggerin auf der falschen Straßenseite? Felsbrocken, die sich lösten, einfach so? Erste Fotos machten die Runde. Ein Filmchen, auf diversen Kanälen geteilt. Die Einsatzwagen waren auf dem parcheggio an der Riva di Pilastri stehen geblieben.

»Was ist dort?«, fragte ein Tourist.

Die Uferstraße befand sich dort. Der See. Ein Badeunfall vielleicht?

»Dio mio!«, rief ein Einheimischer. »Der Giardino! Der Giardino Balber!«

Ein paar Bewohnerinnen und Bewohner von Morcote eilten zum Eingang des Parks an der Riva di Pilastri. Die anderen starrten in ihre Handys, tippten Nachrichten. Sie teilten Bilder und Filmchen von festlich gekleideten Menschen, die zwischen Polizeifahrzeugen in den Parkbuchten standen. Die Frauen mit verstörten Gesichtern und barfuß, mit hochhackigen Riemchenschuhen, die an ihren Fingern baumelten. Einzelne umfassten sich schluchzend, während die Männer mit aufgekrempelten Hemdsärmeln hin und her gingen, das Handy am Ohr.

10

Etwas Nasses weckte Emma. Rubios Nase an ihrer Wange. Sie schützte sich mit beiden Händen, wehrte die feuchte Schnauze ab.

»No!«

Rubios freudig wedelnder Schwanz klopfte gegen den Couchtisch, während er insistierte.

»Rubio, no!«

Er nahm Befehle nur auf Italienisch entgegen, ihr Beinahe-Blindenhund, der den strengen Kriterien der Ausbildung nicht genügt hatte. Untauglich, befanden die Instruktoren, zu schnell abgelenkt, um einen Menschen zuverlässig zu führen. Emma setzte sich auf, rettete eine Tasse, bevor Rubio sie zu Boden fegen konnte. Ihr war vom Schlaf ein wenig schwindelig. Sie sah aufs Handy. 13:51 Uhr. Mehrere E-Mails waren eingetroffen. Eine Nachricht von ihrem Vater, der seine Erkältung überstanden und wie zum Beweis ein Foto seiner neuen Motorsäge angehängt hatte. Eine Linkliste von ihrer Freundin Natalie mit Vorschlägen für ein Wellnesswochenende. Wellness. Emma seufzte. Wollte sie in heißem Dampf garen, im Ruheraum schnarchenden Männern zuhören? Sie würde die Liste später durchgehen. Ansonsten Werbemails. Emma löschte sie, tippte Newsportale an, die sie nutzte. Bei tio.ch hielt sie inne: »Unheimlicher Fund: Toter im Giardino Balber in Morcote.«

Emmas Herz begann, schneller zu klopfen. Den Giardino Balber kannte sie vom Bootsausflug mit Marco Bianchi. Der Commissario hatte sie damit überrascht. Ein Mittagessen im Grotto am See mit Abstecher, nachdem sie den Mord an der jungen Frau aus dem Kanton Basel-Landschaft aufgeklärt hatten. Stefanie Schwendener. Die Fremdenführerin war in der Pastafabrik von Meride ermordet worden, und weil Emma im benachbarten Dorf Urlaub machte, wurde sie kurzerhand von ihrem Vorgesetzten beauftragt, die bikantonalen Ermittlungen mitzuleiten.

»Das war der erste Fall für Tschopp und Bianchi«, hatte der Commissario gescherzt und vorgeschlagen, einen Ausflug zu machen, bevor Emma mit Rubio und Campingbus endlich in den wohlverdienten Urlaub aufbrach.

»Schock während Hochzeitsfeier«, las Emma jetzt weiter. »Ein Gast wurde heute Mittag leblos im Giardino Balber gefunden. Unbestätigten Quellen zufolge soll es sich bei dem Toten um einen renommierten Schönheitschirurgen handeln. Augenzeugen sprachen von einem ›grausamen Anblick‹. Die zuständigen Behörden hüllen sich noch in Schweigen.«

Die zuständigen Behörden. Emmas Gedanken kreisten. Ein Toter im Giardino Balber, einem Lieblingsplatz des Commissario. Marco arbeitete für das Commissariato Lugano. Fiel Morcote in seinen Bereich? Sie sprang vom Sofa hoch, ging in die Küche, von der Küche wieder ins Wohnzimmer zurück. Rubio war ihr gefolgt und platzierte sich nun vor der Eingangstür. Emma tippte stehend. Dann nahm sie Rubios Leine vom Haken.

 

Die Antwort ging ein, als sie oben im Wald waren. Rubio verfolgte die Spur eines Eichhörnchens, die Nase am Boden. Das Tier war längst einen Baum hochgerast und sprang nun über ihnen von Ast zu Ast.

»Sì«, hatte Marco geschrieben. »Volentieri.«

»Rubio!«, rief Emma. »Piede! Los geht’s!«

 

Gepackt hatte sie schnell. Drei T-Shirts, frische Wäsche, eine zweite Jeans. Regenjacke. Rubios Fressnapf, die Reisedecke. Emma zögerte kurz, dann ging sie nochmals zum Kleiderschrank zurück. Zog den Blazer hervor, den sie kürzlich gekauft und zu Hause mit kindlicher Freude ausgepackt und gestreichelt hatte. Sie hatte ihn angezogen, sich vor dem Spiegel betrachtet. Irgendwie cool sah sie damit aus, nicht betont hübsch gemacht, sodass es angestrengt wirkte, das mochte sie nicht. Aber so gefiel sie sich ganz gut. Dann hatte sie das Teil in den Schrank gehängt. Wahrscheinlich würde sie es nie tragen. Wann auch. Nun legte sie den Blazer sorgsam und zuoberst in den kleinen Koffer. Für alle Fälle doch noch ein viertes T-Shirt, sie neigte dazu, sich vollzukleckern. Im Necessaire Zahnbürste und Zahnpasta, eine Tagescreme. Die Reinigungsmilch fürs Gesicht war schon lange aus, und Emma versäumte seit Wochen, eine neue zu kaufen. Wasser tat’s auch. Lippenstift und Wimperntusche befanden sich bereits in der Handtasche, sie gehörten zur Standardausrüstung. Hundesnacks und Ochsen-Sticks waren auf Vorrat im Campingbus. Einen Sack mit Trockenfutter stellte Emma zum Koffer. Was fehlte? Der Dienstlaptop natürlich, ohne den ging Emma nirgendwo hin. Ein Buch. Ladekabel, auch für das Handy. Powerbank, falls sie wild campierte und kein Strom da war. Die Lesebrille. Schuhe? Vielleicht auch die weißen Sneaker. Und den Schlafanzug.

 

Rubio verfolgte die Aktivitäten auf seiner Decke liegend, den Kopf auf den Pfoten, die Stirn in Falten. Er fürchtete Schlimmes. Diesen Campingbus, mit dem ihn Frauchen weit weg von seiner löchrigen Decke transportierte. Ihn an Orte brachte, wo bereits andere Hunde Herren waren. Wo er so tun musste, als würde er sich für Territorien interessieren. Wo er wilde Tiere schreien hörte, nachts in Wäldern und an Flüssen, bloß weil Emma Campieren liebte. Noch hoffte er, dass der Eindruck täuschte. Dass Emma sich wieder auf das Sofa legen würde. Aber nichts davon. Bloß diese Unruhe im Haus und etwas, das wie Pfeifen in seinen Ohren klang. Keines, das als Befehl gedacht war und ihm galt. Ein Pfeifen von Emma ganz für sich allein. Es tönte fröhlich.

11

Hacken, rupfen, hacken, rupfen. Noch drei Meter. Hacken, rupfen, hacken. Die Sirenen unten am See waren verstummt. Der Hammer in seinem Schädel klopfte unaufhörlich weiter. Hacken. Rupfen. Seine Augen brannten. Er streckte kurz den schmerzenden Rücken durch, wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Noch zwei Meter, bis er am Ende des Beetes angelangt war. Bis kein Kraut mehr da war, das da nicht hingehörte. Danach würde er den Rasen zwischen den Gräbern mähen, die Buchsbäume stutzen. Den Vorplatz der Kirche vom Moos befreien. Mochte sie ihn anrufen, von da unten, wieder und wieder. Er wollte sie nicht hören, Martina, die ihn mit schriller Stimme anwies:

»Enzo, komm her! Subito!«

Er würde einfach immer weiterarbeiten.

12

Die Lage auf der Autobahn war besser, als erwartet. Zwar herrschte dichter Verkehr, aber sie kam zügig vorwärts. Erst für den Gotthardtunnel meldeten die Nachrichten Stau mit Wartezeiten bis zu einer Stunde. Emma sang mit Gianna Nannini »Hey bionda« und behielt den Typen hinter sich im Auge. Warum bloß fuhr der so nah auf? Hier waren nicht mehr als einhundertzwanzig Kilometer pro Stunde erlaubt, und exakt diese Geschwindigkeit hielt sie ein. Er zeigte ihr den Stinkefinger, als er bei nächstmöglicher Gelegenheit überholte.

»Fuck you.« Sie hob ebenfalls den gereckten Mittelfinger und presste ihn gegen die Scheibe, damit er gut sichtbar war.

»Wie kindisch du bist, Emma«, hätte Remo jetzt gesagt, ihr Ex-Mann. »Wie leicht du dich provozieren lässt. Lass den Mann doch einfach in Ruhe.«

»In Ruhe lassen?«, hätte sie gerufen. »Wenn der Typ mir fast im Kofferraum hängt? Eine Kollision riskiert? Und mir dann noch den Stinkefinger zeigt, der Arsch? Muss ich mir das gefallen lassen?«

»Du bist zu emotional, Emma.«

Dann hätte Remo vor sich auf die Straße gestarrt, als wäre jedes weitere Wort, das er an sie richtete, eine Verschwendung. Und sie sah sich selbst, wie sie jedes Mal stumm geworden war, die Hände ums Steuerrad geklammert, im Magen ein Gefühl, als hätte sie einen Stein geschluckt.

»Fuck you«, sagte sie jetzt nochmals. »Idiot. Nicht wahr, Rubio?«

Emma schaute in den Rückspiegel. Rubio erhob sich, drehte sich einmal um sich selbst, soweit es mit dem Sicherheitsgeschirr möglich war. Ließ sich abrupt fallen, um augenblicklich weiterzuschlafen. Emma lachte. Sie drehte die Musik ab und setzte den Blinker. Raststätte Neuenkirch West, kurz vor Luzern. Hier würde sie bei einem Kaffee in Ruhe zusammentragen, was sie vom Ausflug mit Commissario Bianchi noch wusste.

»DER Giardino Balber?«, hatte sie ihm per WhatsApp geschrieben. »Der Tote liegt in DEINEM Giardino? Bist du zuständig?«

»Ja«, hatte Bianchi geantwortet, auf alle drei Fragen, und auf ihre letzte, ob er Unterstützung brauchen konnte: »Ja. Gerne. Wenn es dir möglich ist?«

»Aber sicher«, hatte Emma geschrieben. »Bin um 19 Uhr dort.«

 

Ein Toter musste noch keinen Mord bedeuten. Unabhängig davon, was tio.ch andeutete. Tot konnte jeder und jede jederzeit sein. Ein neues Virus, verkalkte Arterien, Herzinsuffizienz, Angina Pectoris. Ein Blutgerinnsel konnte einen niederstrecken. Vielleicht war der Hochzeitsgast seinem ungesunden Lebensstil erlegen? Vielleicht auch nicht. Wie hieß der Tote? Emma klickte nochmals die Meldung an. Ein Name war nicht angegeben, logisch eigentlich.

»Ein renommierter Schönheitschirurg«, stand da geschrieben. »Beim Tempio di Nefertiti gefunden.«

Sie erinnerte sich an das kleine Gebäude, das ägyptisch anmutete, bewacht von Tierfiguren. Waren im Innern nicht Urnen mit der Asche des Paares aufbewahrt, das den Park gegründet und aufgebaut hatte? Marco hatte ihr davon erzählt, als sie wissen wollte, wie jemand auf die Idee kam, in verkleinerter Ausgabe Paläste, Tempel und Pavillons aus aller Welt nachbauen zu lassen.

»Ist es nicht zauberhaft hier? Magico?«, hatte er auf dem Rundgang immer wieder gefragt, während er sie auf diese und jene Pflanze mit exotischen Namen hinwies und auf seltsame Tierskulpturen aus Stein, die sich dahinter verbargen. Emma hatte über seine kindliche Begeisterung lächeln müssen und genickt. Ja, magico war es tatsächlich. Sie hatte zugestimmt, auf der Piazza Grande im Dorf noch einen caffè zu trinken. Dann war sie unruhig geworden wegen der Touristenströme, die die Sicht auf den See versperrten, und den Paaren, die hinter ihr darauf lauerten, dass sie ihren Tisch freigaben.

»Andiamo?«, hatte Marco gefragt und sich erhoben, nachdem sie einen Blick gewechselt hatten.

Die Fahrt zurück über den See nach Lugano hatten sie schweigend verbracht, Marco am Steuerstand des Motorbootes, das er von einem Freund geliehen hatte, Rubio mit wehenden Ohren neben Emma hinten im Cockpit.

»Ciao, Commissario«, hatte Emma gesagt und ihm die Hand hingestreckt, als sie vor ihrem Campingbus standen.

»Alles Gute, Emma. Es war schön, mit dir zu arbeiten.«

Marco war auf dem Parkplatz stehen geblieben, Emma hatte ihn im Rückspiegel immer kleiner werden sehen. Sie merkte erst bei Lugano Nord, dass sie die falsche Autobahnauffahrt gewählt hatte. Ihr eigentliches Ziel war der Comersee, sie wollte ein wenig am Ufer entlanggondeln, campieren, wo es gerade passte. Stattdessen fuhr sie in den Norden, Richtung Gotthard. Als sie fluchend den Blinker setzen wollte, um die nächste Ausfahrt zu nehmen, zögerte sie. Sie sah wieder die Touristenströme vor ihrem inneren Auge, den Kampf um einen caffè an einem schattigen Plätzchen. Es schien ihr, als würde Rubio auf der Rückbank triumphierend grinsen, mit hochgezogenen Lefzen.

»Okay«, seufzte sie. »Du hast gewonnen.«

Als sie in Arisdorf ausgestiegen und Rubio mit Freudensprüngen auf die Haustür zugestürmt war, spürte sie den warmen Händedruck des Commissario noch immer.

13

Die Neugierigen hatten sich längst zerstreut, von re- soluten Beamten vertrieben. Noch standen auffällig viele Dienstwagen der Polizei auf dem parcheggio an der Riva di Pilastri. Das hektische Hin und Her der Beamten über die Uferstraße hinauf zum Giardino Balber und wieder zurück hatte sich jedoch gelegt. Die Straße war für den Verkehr wieder ohne Einschränkungen freigegeben. Der Tote war auf einer Bahre hinuntergetragen und im Leichenwagen abtransportiert worden, der Leichenfundort akribisch dokumentiert. Jeder Quadratzentimeter untersucht und gestochen scharf verewigt. Die Hochzeitsgesellschaft wurde in den Bus verfrachtet und hatte den Nachmittag im Palazzo Comunale verbracht, in hastig bereitgestellten Räumen. Die Gäste, die dazu fähig waren, wurden befragt, während die anderen vom Care Team betreut wurden. Die Frau, die den leblosen Mann gefunden hatte, bat wieder und wieder darum, zu ihm gebracht zu werden.

»Il mio amato«, jammerte sie. »Dov’è il mio amato?«

 

Unter den Arkaden in Morcote beugten sich Touristinnen und Touristen über die Auslagen vor den Geschäften. Warteten auf das Postauto, das sie nach Lugano bringen sollte. Vergessen waren Sirenen und vorbeirasende Polizeiwagen. Die Einheimischen hingegen besetzten weiter vorne an der Riva dal Garavell die kleinen Tische vor der Caffè-Bar Vecchio Teatro und den Lounge-Bereich auf der anderen Straßenseite. Sie standen in Grüppchen am Geländer zum See und steckten die Köpfe zusammen, um das Ereignis des Tages zu besprechen. Ein Mordfall, sagten die einen. Und das in unserem Dorf. Ma no, widersprachen die andern. Da war einer ganz natürlich gestorben, und man wusste auch, um wen es sich handelte. Balmelli musste es sein, der dort drüben im Park seinem Lebensstil erlegen war, kein Wunder bei so viel Maßlosigkeit. Impossibile, fanden die Dritten. Nicht Balmelli, niemals. Ein Schönheitschirurg sollte es gewesen sein, das stand in den Ticinonews geschrieben, bloß Silvio Perone kam da infrage. Der durchtrainierte Perone? Man schüttelte den Kopf. Niemals. Und wer glaubte schon, was Ticinonews publizierte? Nessuno!

Die Bewohnerinnen und Bewohner sahen wieder in ihre Handys, bis einer rief:

»Battista Armenio!«

Der Bauunternehmer aus Bissone? Aber war es nicht seine figlia gewesen, die heute geheiratet hatte? Der Brautvater tot, am schönsten Tag im Leben seiner Tochter? No. Armenio war gesehen worden, mit hochrotem Gesicht auf dem vordersten Sitz, als die Hochzeitsgesellschaft zum Rathaus gefahren wurde. Das Paar wollte, dass die Hochzeitsfeierlichkeiten weitergingen, hieß es, und nicht einfach die Gäste wieder nach Hause schicken. Was es da noch zu feiern gab? Pietätlos, fanden die einen. Macché!, riefen die andern. Das Leben ging weiter. Die Ersten bestellten ein zweites Bier, und alle zusammen tranken auf das Wohl des Toten, dem der schöne Giardino Balber zum Verhängnis geworden war. Gott gab und Gott nahm. Ganz, wie er wollte.

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Ein neues Farnkraut im Campolungo. Dryopteris vil- larii.