Tessiner Vergeltung - Sandra Hughes - E-Book

Tessiner Vergeltung E-Book

Sandra Hughes

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Beschreibung

Anlegestelle Lugano­-Centrale kurz vor Feierabend: Ein Mitarbeiter findet auf dem Motorschiff Italia eine lebensgroße Figur, gekleidet in Hemd und Anzug. Der Puppenmann ist das erste einer Serie von furchteinflößenden Objekten, die ein Unbekannter rund um den Luganersee installiert hat. Was die Polizei zuerst als schlechten Scherz abtut, erweist sich als Ankündigung eines Mordes: Daniele Erhart, Anwalt einer renommierten Kanzlei in Lugano, wird beim Joggen erschossen. Jetzt kann Emma Tschopp und Marco Bianchi nichts mehr davon abhalten, der Sache nachzugehen. Die Arbeit in ihrer frisch gegründeten Detektei und Labrador Rubio müssen warten. Dass alle Puppenmänner ein Bügelpatch auf ihrem Kragen tragen, treibt die beiden Ermittler um: Es zeigt eine schwarze Katze mit langem, blutbeflecktem Messer in der Pfote. Dann liegt eine Frauenfigur aus Brot am Pool des Luxusresorts Collina d'Oro. Kombinieren Emma und Marco richtig, retten sie ein Leben. Wenn nicht, gewinnt der Mensch, der ihnen stets einen Schritt voraus zu sein scheint.

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Seitenzahl: 217

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sandra Hughes

Tessiner Vergeltung

Der vierte Fall für Tschopp & Bianchi

Roman

Kampa

Teil 1

1

»Endstation«, wiederholte die nette Stimme aus demLautsprecher. »Lugano-Centrale, bitte alle aussteigen.«

Das Schiff zerrte am Tau, während der Mitarbeiter der Società Navigazione den schmalen Steg zur Anlegestelle hinüberschob. Es dauerte eine Weile, bis zweihundert Fahrgäste den Steg passiert hatten. Der Mitarbeiter nickte lächelnd jedem einzelnen zu. Er freute sich auf den Feierabend, ein kühles Bier. Er spürte bereits die angenehme Bitterkeit auf der Zunge, die Kälte in der Kehle beim Schlucken. Nachdem der letzte Fahrgast von Bord gegangen war, zog der Mitarbeiter den Steg ein, gab dem Steuermann ein Zeichen, löste das Tau.

Während die Italia Richtung Werft fuhr, um für die Nacht festzumachen, schritt der Mitarbeiter das Oberdeck ab, sammelte liegen gebliebene Plastikbecher, PET-Flaschen, Caps und Sonnenbrillen ein. Die Angestellte im Restaurant fuhr fort, die Kaffeemaschine zu reinigen, ohne ihn zu beachten. Er stieg die Treppe wieder hinunter, ging durch den leeren Passagierraum im Schiffsbauch. Es roch nach abgestandenen Schinkenbroten, Schweiß und Weißwein. Als er aufs offene Heck hinaustrat, atmete er tief die warme Seeluft ein. Er erschrak, als er rechts neben der Tür einen Schatten wahrnahm. Ein Mann in grauem Anzug saß auf der Bank, einen Filzhut tief ins Gesicht gezogen. Bei dieser Hitze! Wahrscheinlich war er eingeschlafen.

»Signore.« Der Mitarbeiter streckte seine Hand aus. »Lugano-Centrale, hier ist Endstation.«

Mit den Fingerspitzen berührte er leicht die Anzugjacke.

»Signore, Sie müssen …«

Der Mann kippte langsam zur Seite, die Schiffswand entlang, das Gesicht noch immer vom Hut verdeckt. Der Mitarbeiter wollte ihn stützen und fasste nach den Schultern. Zuckte zurück, als er in eine weiche Masse griff. Der Hut rutschte, fiel zu Boden. Ein Gesicht ohne Augen, Mund und Nase verbarg sich darunter. Eine Kugel aus synthetisch glänzendem Stoff bildete den Kopf. Der Mitarbeiter bekreuzigte sich hastig. Es war eine lebensgroße Deko-Figur, eine Stoffhülle zum Befüllen mit Altpapier oder Schaumstoffteilen, die ihm kurz vor dem Feierabendbier auf der MS Italia begegnete. Ein Gag für jede Party, cremefarben, für 14,99 Franken online bestellbar. Eingekleidet in Hemd und Anzug, Massenware, aber ordentlich, dazu Business-Schuhe aus Lederimitat über ausgestopfte Füße gestülpt.

»Dio mio!«, rief die Angestellte des Restaurants. »Was ist denn hier los?« Sie richtete ihr Handy auf den Puppenmann. »Siehst du das?«

Auf dem Anzugskragen prangte ein Bügelpatch. Der Mitarbeiter kannte diese Stücke aus Stickfilz aus Kindertagen. Mama hatte damit Löcher geflickt und ihn dem Spott der Kinder ausgesetzt – weil seine Flicken als Motiv Biene Maja, Blumen und Herzen trugen. Das Bügelpatch hier zeigte ein anderes Motiv. Dem Mitarbeiter fuhr ein Schauer über den Rücken. Es war eine schwarze Katze mit weit aufgerissenen weißen Augen. In ihrer linken Pfote hielt sie ein langes, blutbeflecktes Messer.

2

Emma befand sich dreißig Autominuten von derSchiffsanlegestelle Lugano-Centrale entfernt im Herzen des Malcantone zwischen Rebstöcken. Sie saß auf dem Boden, über ihr hingen dunkle Trauben, streichelten sanft ihren Scheitel. Von unten bohrten sich ausgetrocknete Erdbrocken ins Gesäß. Emma verlagerte das Gewicht. Sie hielt dabei den Blick weiterhin auf das Häuschen gerichtet, das ein Stück weiter im Weinberg stand. Es war so breit wie ein Zimmer und gehörte zum Bed & Breakfast Tenuta Vallombrosa in Castelrotto.

»Himmlische Erholung inmitten von Eichen- und Kastanienwäldern«, versprach die Webseite, »feinste Degustationen vom Weingut.«

Jedes Zimmer im Vallombrosa war nach einem Tessiner Künstler benannt. Als »ideal für Naturliebhaber« pries die Webseite insbesondere das Häuschen hier. Es lag 200 Meter vom Hauptgebäude entfernt, verfügte über ein Doppelbett und eine Kochecke mit kleinem Essbereich, genau passend für zwei Personen, die ein paar romantische Tage verbringen wollten. Emma versuchte, ihren linken Fuß ein wenig zu kreisen. Bloß kein Kribbeln in den Beinen jetzt, unterbrochene Blutzufuhr war unbedingt zu vermeiden. Niesen war verboten, zu viel Wassertrinken untersagt, Telefonieren sowieso. Jedes noch so leise Geräusch, jede Bewegung war in ihrem neuen Job ein Risiko. Stillsitzen war die Vorgabe, regloses Stehen. Streng Fokussieren beim Observieren. Sich an die Zielperson dranhängen, ohne dass diese auch nur etwas vom Schatten ahnte, der ihr folgte. Als Individuum verschwinden, sozusagen. Emma seufzte. Wenn ihr jemand prophezeit hätte, dass sie in reifem Alter hinter Büschen verborgen ehebrechenden Männern und Frauen auflauern würde, hätte sie bloß gelacht. Aber doch nicht Emma Tschopp, vierundfünfzig, Single und kinderlos, Ex-Kriminalpolizistin bei der Polizei Basel-Landschaft. Emma unterdrückte ein Ächzen. Sie würde sich bei nächster Gelegenheit ein Kniekissen beschaffen, um ihre Knochen ein bisschen weicher zu betten. Falls sie in der Lage war, sich je wieder von diesem harten Stück Erde aufzurichten und einen Fuß vor den anderen zu setzen.

3

Auch Commissario Marco Bianchi trieb sich an diesemSamstagabend im Freien herum. Wobei »Commissario« nicht mehr korrekt war, es musste Detektiv Marco Bianchi heißen. Bianchi hatte im Frühjahr 2022 beim Commissariato von Lugano gekündigt und war Teil der Detektei Tschopp & Bianchi. Für alle Fälle geworden. Aber einmal Commissario, immer Commissario. An diesem Samstagabend führte Bianchis Weg über den kurz getrimmten Rasen im Parco Ciani von Lugano, der sich unweit vom Stadtzentrum am Ufer des Ceresio befand: 63000 Quadratkilometer zivilisierte Natur mit Wegen aus Asphalt und Kies unter hundertjährigen Bäumen, Blumenbeete, Blütenpracht. Gartenkunst mit Statuen und Brunnen, von Italien und England inspiriert, geschätzt von Einheimischen und Gästen. Vielfach fotografiert und publiziert wurden das schmiedeeiserne Tor zum See hin, das Mosaik aus Flusskieseln, die symmetrisch angeordneten Sitzbänke davor, die akkurat geformten Buchsbüsche. Gegenüber und etwas entfernt vom Ufer hob sich die Villa Ciani in Lachsrot vom Grün ab, ein klassizistischer Kubus in städtischem Besitz, Location für Konferenzen, Empfänge und Hochzeiten. An diesem Abend verbarg die Villa ihren goldleuchtenden Spiegelsaal hinter verschlossenen Fensterläden. Es standen keine Männer in Maßanzügen vor weiß gedeckten Apéro-Tischen. Keine festlich gekleidete Gruppe grölte, keine Geräusche von klingenden Gläsern drangen zu den Gehwegen hinüber. Dort drängte sich das Volk aneinander vorbei. Wer genug vom Flanieren hatte, lungerte auf Sitzbänken und am kleinen Sandstrand herum. Commissario Marco Bianchi wunderte sich über die Menge an Menschen. Welche Lust, sich zu zeigen, zu reden, zu trinken. Und wie viel hier gekifft wurde! Wieder streifte ihn eine Marihuana-Wolke, und er spürte so etwas wie Neid beim Anblick der jungen Menschen. Da war Plaudern und Lachen überall, Musik, die aus kleinen Boxen tönte, ineinander verschlungene Arme und Beine. Er bemühte sich, niemandem auf die Füße zu treten, während ihn der Hund weiter hinter sich herzog. Der schwarze Labrador hielt die Nase am Boden und folgte zielstrebig einer Spur, die immer denselben Verlockungen folgte: Krümeln, Keksen, Wurstresten, Chipstüten, Sandwichresten, Bananenschalen, bereits verwendeten Papierservietten. Marco Bianchi rief vergeblich Befehle hinterher. Rubio ging seinen Weg, und der Commissario folgte ihm.

4

Im Weinberg der Tenuta Vallombrosa war Emma kurzvor 20 Uhr schon fast versucht aufzugeben. Ihre Erwartung, die Turteltauben würden ihr Nest verlassen, sich vom Hunger getrieben nach vorne ins ristorante im Hauptgebäude begeben, hatte sich bisher nicht erfüllt. Mussten die beiden denn nichts essen? Oder einmal tief durchatmen an der frischen Luft? Sie müssten bloß kurz vor das Häuschen hier treten, zu zweit in Emmas Blickfeld geraten, bevor es vollständig eindunkelte. Die Kamera war bereit, den Augenblick festzuhalten. Selbst ein geöffnetes Fenster würde reichen, das Pärchen im Rahmen vom Megazoom erfasst. Bloß ein Bild als Beweis musste Emma ihrer Auftraggeberin abliefern, der Ehefrau des Typen dort drin, der sich keine Pause gönnte. Emma verbot sich bei jeder Observierung Gedanken dazu, was hinter den Fenstern und Türen geschah, auf die sie ihren Fokus gerichtet hielt. Sie wollte nicht wissen, was auf Bootsausflügen getrieben wurde, während sie in sumpfigen Uferzonen kauerte und Mücken erschlug. Ihre Aufgabe war es, im richtigen Moment den Auslöser zu drücken, wenn der Kerl seiner Begleiterin vom Boot half und einen Arm um sie legte. Eine lückenlose Dokumentation hatte sie jenen zu liefern, die nicht länger mit einem Verdacht leben wollten. Zum Beispiel der Frau vom Typen dort im Haus, der noch immer mit seiner Liebelei zugange war. Wobei. Emmas Herz hüpfte kurz und schlug dann schneller. Die Tür im Häuschen hatte sich geöffnet, ihr Observierungsziel trat heraus. Emma kniff die Augen zusammen. Tatsächlich. Der Typ stand da, mit nichts außer einer Unterhose bekleidet, über die sich sein fetter Bauch wölbte. Er ging ein paar Schritte, reckte sein Doppelkinn dem tiefroten Abendhimmel entgegen, streckte und rekelte sich. Dann huschte ihm eine Gestalt hinterher, schmiegte sich von hinten an, umfasste zärtlich den Wanst.

»Oha«, murmelte Emma und stellte den Zoom ein bisschen besser ein. »Auftrag erfüllt.«

Einmal mehr verdrängte sie jede Sorge über die Reaktion der betrogenen Ehefrau, während sie in einer Bildserie festhielt, wie der große, dicke und der kleine, dünne Mann sich eng umschlungen in einem sachten Tanz wiegten und dann im Dämmerlicht zwischen den Rebstöcken verschwanden.

5

»Aus!«

Commissario Marco Bianchi tippte mit dem Zeigefinger vor sich auf den Boden.

»Gib ihn her!«

Bianchi hatte sich hingekniet. Er schwitzte, obwohl nach Sonnenuntergang ein kühler Wind im Parco Ciani aufgekommen war. Auf den Gehwegen flanierten weniger Menschen, aber auf dem Rasen tummelten sich immer noch viele.

»Rubio!«

Mehrmals hatte der Commissario versucht, den Ball zwischen Rubios Zähnen zu fassen. Keine Chance. Der Ball war rundum eingespeichelt, Bianchis Finger fanden keinen Halt.

»Aus, Rubio!«

Rubio hielt am Spiel fest, während das Kleinkind neben Bianchi brüllte, dessen Mutter vergeblich mit Kuscheltier und süßen Sachen lockte. Nicht einmal ein bunt blinkendes Handy mit Baby-Apps vermochte das Kind abzulenken. Es wollte seinen Ball zurück, und zwar jetzt. Der Vater des Kindes lästerte über Hundehalter, die ihre Tiere nicht im Griff hatten.

»Posto!«

Der Commissario hatte sich wieder aufgerichtet. Aber auch ein Befehl von oben wurde ignoriert. Rubio warf vergnügt seinen Kopf hin und her, mit weit nach hinten gezogenen Lefzen, den Ball festgeklemmt zwischen weiß leuchtenden Zähnen. Die Plakette am Hundehalsband klingelte unentwegt, während der Commissario zu Verrenkungen gezwungen war, damit Rubios Beine sich nicht in der Leine verhedderten.

Er war bloß Hüter für ein paar Stunden abends oder tagsüber, manchmal für eine Nacht. Die Hundehalterin hingegen hatte ihr Tier im Griff. Ihren Befehl hätte Rubio ausgeführt. Ihrer Stimme folgte er, egal, ob sie lieblich klang oder streng. Wenn die Hundehalterin hier wäre, wäre der Ball längst da, wo er hingehörte, voller Geifer zwar, aber in den Händen des Kindes. Eine souveräne Halterin war sie, Emma Tschopp. Die beste Frau der Welt. Emma hatte immer gelacht und ihn als Schmeichler verspottet, wenn er solche Aussagen wagte. Seit dem großen Streit jedoch gab es kein Geplänkel mehr. Seit dem großen Streit waren Emma und er geschäftsmäßig sachlich geworden. Ihr Austausch konzentrierte sich auf die gemeinsame Detektei, die neugegründete Firma wollten sie weiterhin betreiben. Darin waren Emma und er sich einig. Auch sollte Marco gelegentlicher Hüter dieses ungezogenen Hundes bleiben, der Kinderbälle klaute. Aber das ging den lästernden Vater hier nichts an und interessierte ihn wohl auch kaum. Bianchi bat das Kind mit einem Lächeln um Verzeihung und setzte sich in Bewegung. Es war Zeit, zu seinem Auftrag zurückzukehren. Die Gruppe junger Menschen drüben am Strand hatte sich erhoben, raffte Tücher zusammen, sammelte Flaschen ein, setzte sich langsam in Bewegung. Der Commissario und Rubio folgten ihnen mit ausreichend Abstand, ganz Herrchen und Hund auf abendlicher Runde. Sie ignorierten das Gezeter der Kleinfamilie in ihrem Rücken, die ihren Ball in einem geifernden Hundemaul entschwinden sah.

6

Bananenschalen, Papierservietten, Chipstüten, Pizzastücke. Rubio schnupperte weiterhin den Hinterlassenschaften der Besucherinnen und Besucher im Stadtpark von Lugano hinterher. Krümel von Reiswaffeln, Sojakeksen, Hafercookies. Halbe Vollkornwraps, Fladenbrote. Noch hatte Rubio die Hoffnung auf Fleischfitzelchen aller Art nicht aufgegeben, die hier oft zwischen Grashalmen zu finden waren: Reste von der Tessiner Platte, Trockenfleisch von der Rinderkeule oder Hüfte, Bresaola vom Feinsten, von unachtsamen Menschen fallen gelassen. Auch Schweinefleisch durfte es gerne sein. Ein Zipfelchen Luganiga kalt oder warm, Coppa vom Hals, gesalzen, gewürzt und eingesackt. Salami aus Schulter und Speck oder Lardo vom Rückenfleisch. Mortadella natürlich. Von der Mortadella konnte Rubio nie genug kriegen. Vom Rohschinken sowieso. Rubio kam es sehr gelegen, dass viele Menschen nicht in die Kalorienfalle treten wollten. Sie bescherten ihm abgetrennte Schwartenränder und feine Stückchen Fett, schön einmassiert im kurz getrimmten Rasen. Ja, Rubio ließ es sich gut gehen, wenn er im Parco Ciani unterwegs war. Selbst Käse-Alternativen probierte er. Und dass ihn der Commissario Kinderbälle klauen ließ, war ein guter Grund mehr, den Mann zu begleiten. Sogar die Spur, der sie andauernd folgten, roch ganz okay.

7

»Nichts«, wiederholte der Mitarbeiter der Società Navigazione zum hundertsten Mal an diesem Abend. »Mir ist nichts aufgefallen.«

Er hatte wie immer seinen Dienst versehen, an jeder Anlegestelle der Magic Tour den Steg zum Ufer geschoben:

in Lugano, Lugano Paradiso, Cantine di Gandria, Gandria, Melide, Morcote, Brusino Funivia, Lugano Paradiso, Lugano.

Er hatte jedes Mal das Tau ausgeworfen und die Klampe belegt, die Fahrgäste aus- und einsteigen lassen, das Tau gelöst und wieder aufgerollt. Er hatte im stickigen Kassenhäuschen gestanden und jenen Fahrkarten verkauft, die noch keine hatten. Danach hatte er Runden gedreht, gewissenhaft bei allen Passagieren Tickets und Abonnemente geprüft. Weshalb wollte dieser Polizist nicht begreifen, dass ihm dabei nichts Besonderes aufgefallen war? An diesem Samstag waren Horden von Menschen auf der Italia mitgefahren. Ständig wechselnde Gesichter hatte er vor sich, Fahrkarten und Handys, die ihm entgegengestreckt wurden. Sein Auftrag war, jedes Datum zu prüfen, Halbtaxabonnemente zu verlangen, niemanden seiner Kontrolle entgehen zu lassen. Er half, Fahrräder und Kinderwagen zu platzieren, hielt Fluchtwege frei und Väter davon ab, ihre Kleinkinder auf die Reling zu setzen. Wie hätte er dabei etwas Außergewöhnliches beobachten sollen?

»Neun Anlegestellen insgesamt.«

Der Polizist schlug mit der flachen Hand auf die Reling. »Neunmal war Gelegenheit, das Objekt auf dieses Schiff hier zu schmuggeln. Und Sie alle hier haben nichts gesehen?«

Nein, sie hatten nichts gesehen. Die Restaurantangestellte verneinte, ohne von ihrem Handy aufzusehen. Der Steuermann schüttelte wieder stumm den Kopf. Der Mitarbeiter vermied dessen Blick, er wusste, was der Steuermann dachte: Bloß wegen dir haben wir die Polizei gerufen. Wie einfach es gewesen wäre, den Puppenmann über Bord zu werfen, mit einem Gewicht beschwert. Sie hätten ihm zuvor die Business-Schuhe aus Lederimitat von den Füßen gezogen, sie mit dem Hut in eine Tüte gesteckt, alles zusammen in der Tiefe des Lago di Lugano versenkt. Dann würden sie jetzt im verdienten Feierabend beim zweiten Bier sitzen. Stattdessen standen sie hier noch immer im Heck und ließen sich von diesem unangenehmen Polizeibeamten Fragen gefallen, auf die es keine Antworten gab. Sie mussten dabei zusehen, wie dessen Assistent endlos lange den Puppenmann fotografierte, der noch immer hier auf der Bank saß.

»Niemand von uns hat etwas gesehen«, sagte der Mitarbeiter der Società Navigazione zum tausendsten Mal und im Wissen darum, was diese beiden Polizisten vor sich sahen: Drei Angestellte auf der MS Italia, unter der Sonnenbräune grau vor Müdigkeit, feindselig stumm und zusammen mit 250 Fahrgästen verdächtig, die Szene hier installiert zu haben. In der folgenden Nacht wehrte sich der Mitarbeiter im Schlaf gegen einen Polizisten und dessen Fragen, die wie Messerstiche in sein Hirn drangen, während auf seiner Brust eine schwarze Katze saß, die so groß wie ein Bär war.

8

»Emmaaaa!«, schallte es vom Kiesplatz bis zu Emma inden kleinen Garten. »Bist du zu Hause?«

Emma lächelte. Ja, natürlich war sie zu Hause. War ja unschwer am gelben VW-Bus zu erkennen, den sie gestern Nacht wie immer auf halbem Weg hoch zum Haus geparkt hatte. Als Nächstes würde energisches Klopfen draußen an der Tür folgen, begleitet von Frenas Murren, weil Emma nicht öffnete. Emma bettete ihren Kopf aufs Kissen am Wannenrand und atmete den Duft des Holzfeuers ein, das ihr Badewasser erhitzte. Sie sah den Schwaden aus Dampf nach, die sich in der kühlen Morgenluft bildeten, grüßte die Meisen. Bewunderte die Schönheit des Limettenbaumes, der unerwartet Früchte trug, und freute sich auf die Ernte. Zusammen mit Cachaça, Zucker und Eis würden sie den besten Caipirinha des südlichen Tessins hergeben. Ja, Emma fühlte sich wohl in diesem ehemaligen Grotto am Rande von Morbio Inferiore, von wo es nur noch zu Fuß in die Breggia-Schluchten des Valle di Muggio hoch weiterging. Der Putz bröckelte zwar hier und dort von den Fassaden, und die rote Farbe an den Läden blätterte auch schon ab. Aber das kümmerte Emma nicht. Sie bewohnte im Erdgeschoss ein Zimmer mit Cheminée, hatte direkten Zugang zum verborgenen kleinen Garten samt Badewanne hinter dem Haus und einer winzigen Toilette, die im angrenzenden Geräteraum eingebaut war. Vor dem Haus breitete sich ein großzügiger Platz aus. Unter den Füßen knirschten Kieselsteinchen, über den Köpfen bildeten Linden ein saftig grünes Dach. Zu zwei Seiten begrenzten Holzbänke auf Granitsockeln das Grundstück, dahinter wucherte der Südtessiner Laubmischwald. Der Haupteingang war ein paar Stufen tiefer gelegt und mit einem Bogen aus eingemauerten Ziegelsteinen verziert. »Grotto del Mulino« hatte der Pfeil links davon früher verkündet. »Casa Rubio« stand seit eineinhalb Jahren in Gelb, Blau, Rot und Grün geschrieben. Die Kinder hatten das Schild mit Herzen und Hundepfoten verziert.

»Ich komme wieder!«, rief Frena draußen.

Emma nickte. Aber ja, ganz bestimmt würde Frena wiederkommen. Zuerst aber würde sie mit übertrieben lauten Schritten im oberen Geschoss umhergehen, um Emma aus dem vermeintlichen Schlaf zu wecken. Sie würde ihre alte Stereoanlage aufdrehen und ihr Lieblingslied mitsingen. Frena, die richtig Verena Lehner hieß und einem Kaff in Österreich entkommen war, wie sie selbst es formulierte.

»Dem Peter sei Dank«, sagte sie dann stets mit glücklichem Lächeln, und die vielen Falten im Gesicht verzogen sich kreuz und quer. »Wegen dem Peter durfte ich hierbleiben.«

Dem Lächeln folgten jeweils Anekdoten zu Peter Alexander, der österreichischen Schlagerlegende selig. Wie lieb und bescheiden er war, was er gerne aß. Seit Emma anlässlich eines toten Schönheitschirurgen die Bekanntschaft von Frena gemacht hatte, wusste sie alles über den Sänger, Showmaster und Schauspieler, der 2011 in Wien verstorben war, Todesursache unbekannt. An dieser Stelle wischte Frena jeweils ein paar Tränen weg. Frena war von 1980 bis 1990 Peter Alexanders Hausverwalterin gewesen, die gute Seele seiner Villa in Morcote, die auch nach dem Rechten schaute, wenn die Familie nicht anwesend war. Nachdem der alternde Star sein Anwesen gegen eine Wohnung getauscht hatte, kam Frena beim ehemaligen Pfarrer von Vico Morcote unter, dem Nachbardorf über dem Lago di Lugano. Sechsundzwanzig Jahre teilte sie mit ihm das Haus. Als der alte Cavadini im Mai 2020 starb, rief sie Emma an, erzählte von seinem überraschenden Tod und dem endlosen Leiden ihres Dackels, der schlussendlich eingeschläfert werden musste.

Frena schluchzte eine Weile ins Telefon, dann sagte sie: »Ich habe einen Plan. Du kommst nie darauf.«

»Du wirst wieder Boss«, sagte Emma. »In einem neuen Haushalt.«

»Beinahe. Ich eröffne ein Tagesheim für Kinder.«

»Spinnst du?«

»In Morbio Inferiore«, sagte Frena. »Kleines Paradies. Wiesen und ein Fluss nebenan, sechs Autominuten von Chiasso entfernt. Die Gemeinde wirft uns die Bewilligung nach. Sämtliche Mütter und Väter der Region werden es uns danken.«

»Uns?«, hatte Emma gefragt.

»Ich dachte an dich. Co-Leitung, ich und du. Oder hast du etwas Besseres zu tun?«

Frenas Frage hatte ihr schlaflose Nächte beschert. Seit Emma im März 2020 ihre Anstellung bei der Polizei Kanton Basel-Landschaft aufgegeben hatte und die Pandemie ausgebrochen war, war sie dank einer spontanen Geschäftsidee über die Runden gekommen. Not macht erfinderisch, hatte sie sich gedacht und ihr Hobby zum Beruf gemacht: Sie legte ein Mosaik nach Wunsch im Tausch gegen Kost und Taschengeld. Emma fuhr mit ihrem Campingbus und Rubio durch die ganze Schweiz und arbeitete bei jenen, die einen Garten besaßen und ihn in Zeiten verändern wollten, in denen nebst Eigenheimoptimierung nicht viel möglich war. Das Angebot sprach sich schnell herum. Zufriedene Kundinnen und Kunden gaben ihre Kontaktdaten weiter. Emma war bereit, beinahe jedes Motiv zu legen, wenn es bloß die Menschen glücklich machte, die es wählten. Sie lebte vom Essen der Auftraggeber und einem Taschengeld, das meist großzügig bemessen ausfiel. Für Versicherungskosten musste das Ersparte herhalten, zum Schlafen war der Bus mit Aufstelldach da, das Kochen entfiel. Emma und Rubio aßen sich kreuz und quer durch die Schweizer Esskultur, ohne zu murren, aber weil pandemiebedingt getrennt gegessen wurde, hätte sie sowieso niemand gehört. Und jetzt sollte sie mit Frena im südlichsten Zipfel des Tessins ein Tagesheim für Kinder eröffnen? Emma liebte Kinder. Mit Kindern konnte sie Türme bauen, Räuber und Gendarm spielen oder einem Fußball bis zum Umfallen hinterherrennen. Sogar Kartenspiele spielte Emma, wenn es sein musste. Sie malte den Kindern Phantasiefratzen ins Gesicht, schnitzte Pfeil und Bogen, half bei den Hausaufgaben, buchstabierte schwierige Wörter, übte Lieder ein. Erfand mit ihnen eklige Wörter, bis sie nicht mehr konnten vor Lachen. Kinder waren wunderbar, fand Emma – wenn, ja wenn sie sie nach ein paar Stunden wieder loswerden konnte: bei der besten Freundin, der Kollegin, die in ihrer Not niemanden gefunden hatte, der die Betreuung übernehmen konnte, beim überforderten Kollegen, den sie beim Kindergeburtstag unterstützt hatte. Aber Kinder acht Stunden am Stück betreuen, fünf Tage die Woche?

Emma hatte drei Nächte über Frenas Angebot geschlafen, dann war sie zu dem Schluss gekommen: Sie hatte nichts Besseres zu tun, als mit Frena zusammen ein Tagesheim aufzubauen. Bis vor sieben Monaten. Emma hatte Frena zu einem Glas Vacallo eingeladen und von ihren neuen Plänen erzählt.

»Du verlässt uns?«, hatte Frena gerufen, die Falten als Furchen im Gesicht, nicht mehr als feine Lachfältchen. »Du lässt mich und die Kinder im Stich? Und was soll aus all dem hier werden?«

Der feuerrote Haarturm auf ihrem Kopf hatte gewippt, während sie mit heftigen Gebärden rundum wies: zum Atelier für Kunst unter dem Vordach des Nebengebäudes, das angenehm kühl bei Hitze und geschützt an Regentagen war, auf das Dach aus Plachen über ihnen. Auf die bunt bemalten Esstische und Stühle auf dem Kiesplatz, den Pflanzgarten, die Werkstatt. Sie wies auf die ehemalige Gaststube des Grottos, die zur Küche geworden war, das Reich von Frena, wo sie mit ihren Kochgruppen abenteuerliche Kreationen schuf und die Handhabung von Spiralschneidern vermittelte, bis die Kinder des Asilo Nido del Mulino di Morbio Inferiore aus Zucchini Spaghetti zaubern konnten.

»Na, dann geh nur!«, hatte Frena gerufen, während ihr Tränen übers Gesicht rannen. »Wenn du lieber Räuber und Gendarm spielst, als mit uns zu arbeiten!«

Emma hatte sie mit beiden Armen umfasst und den zerbrechlichen Körper an sich gedrückt. Sie hatte ihn sanft hin und her gewiegt und in den Haarturm hinein gemurmelt, dass Frenas Werk auch ohne Emma bestehen blieb. Dass Frena bestimmt wieder eine gute Co-Leitung für das Tagesheim finden würde.

»Ich bin doch ersetzbar, Frena.«

Frena hatte noch ein wenig weitergeschluchzt und sich dann aus den Armen von Emma befreit.

»Stimmt«, hatte sie gesagt und sich resolut die Tränen aus dem Gesicht gewischt. »Ich weiß auch schon, durch wen.«

Jetzt grinste Emma vor sich hin, während sie dem Gesang nachhorchte, der durch die Tessiner Mauern bis zu ihr in den Garten hinunter drang.

»Die kleine Kneipe in unserer Straße

Da wo das Leben noch lebenswert ist.

Dort in der Kneipe in unserer Straße

Da fragt dich keiner, was du hast oder bist …«

Emma schloss die Augen, bettete ihren Kopf bequemer auf den Badewannenrand und setzte ihre Kopfhörer auf. Bloß die Meisen erstarrten ehrfürchtig und ließen die samtene Stimme des Meisters stumm über sich ergehen.

9

Frena sang. Sie sang mit aller Kraft, die ihre Stimmeim Alter von bald achtzig Jahren hergab, die Atemwege von dreißig Zigaretten täglich geteert. Der Peter war ihr jederzeit Trost und Freude. Dem Peter seine Lieder halfen in jeder Lebenslage, auch wenn ihr das niemand glaubte. Der »Badewannen-Tango« brachte sie zum Lachen, »Schwarzes Gold« zum Weinen. »Der Papa wird’s schon richten« tröstete sie bittersüß mit einem Vater, den sie nie hatte. »Und manchmal weinst du sicher ein paar Tränen« ließ Frena immer dann auf ihrem alten Plattenspieler kreisen, wenn sie sich ganz allein auf der Welt fühlte. »Anneliese« brachte ihren Mitarbeiter Davide dazu, mit Frena rund um den Kiesplatz draußen zu tanzen, begleitet von hüpfenden und kichernden Kindern. Davide mit den schönen Locken, der Kindererzieher mit Diplom, der zur Gründung des Tagesheims entscheidend beigetragen hatte. Der Goldjunge mit dem abgebrochenen Kunststudium, von den Kindern geliebt und von den Müttern umworben. Davide war das einzige männliche Wesen im Betreuungssystem für kleine Kinder weit und breit, beste Identifikationsmöglichkeit für alle Buben der Region. Davide mit den lockeren Sprüchen, der gerne mit den Müttern flirtete, keinen Knoblauch mochte und seine Zigarettenpause gleich neben den Kindern statt im Abseits machte. Wie oft hatte Frena schon gemahnt, ihren von Gicht verkrümmten Zeigefinger erhoben?

»Ach, Frenchen«, sagte er dann und warf ihr eine Kusshand zu. »Siehst du denn nicht, wie ich den Rauch extra hoch in den Himmel puste?«

So war er, der Davide, ihre tägliche Stütze in der Casa Rubio und Co-Leiter seit sechs Monaten. Der Goldjunge, der in der Vergangenheit nicht immer ganz – wie sollte man das nennen? Egal. Diese Vorfälle hatte Frena längst vergessen.

»Vergessen hält gesund«, sagte Frena immer.

Damit war sie gut gefahren im Leben.