Texelhexe - Wolfgang Santjer - E-Book

Texelhexe E-Book

Wolfgang Santjer

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Beschreibung

Ein verschwundener deutscher Tourist auf der niederländischen Insel Texel, eine Hellseherin mit düsteren Prophezeiungen und schließlich Ritualmorde in Leer, zu denen sich eine Hexe namens Melana bekennt. Jan Broning und seine Kollegen müssen grenzübergreifend mit den Niederländern kooperieren, denn offenbar hängen die mysteriösen Fälle zusammen. Und welche Rolle spielt Stefan Gastmanns neue Freundin, die Anhängerin des modernen Hexenkults, die auch auf Texel gesehen wurde? Bekennerbriefe der Ritualmörderin Melana tauchen in der Altstadt von Leer auf und die Stimmung in der Bevölkerung wird durch eine Bürgerwehr gefährlich angeheizt. Können die internationalen Polizeiteams die rätselhaften Vorgänge auf der Insel Texel und in der Altstadt von Leer aufklären?

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Wolfgang Santjer

Texelhexe

INSELKRIMI

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

(Originalausgabe erschienen 2019 im Leda-Verlag)

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Johannes Krey und © Jakobchuk Olena / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6220-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Personen der Handlung

Die Ermittler in Deutschland:

Jan Broning und seine Ehefrau Maike. Bei Jan Broning handelt es sich um eine sogenannte hochsensible Persönlichkeit. Er spürt, dass er älter wird.

Seine Ehefrau Maike Broning, geborene de Buhr, ist eher ›robust‹ eingestellt. Sie ist jünger und hat noch ›alles fest im Griff‹.

Onno Elzinga, Klaas Leitmann, Stefan Gastmann

Olaf Bojen ist Kriminalpolizist aus Hamburg.

*

Die Ermittler in den Niederlanden:

Simon Cornelis Drebber, Kriminalbeamter aus Alkmaar, hat einen berühmten Vorfahren, den Magier Cornelis Drebber. Der Kriminalbeamte beherrscht die deutsche Sprache perfekt und wird oft als Verbindungsmann bei Kriminalfällen mit deutscher Beteiligung eingesetzt. Ihn umgibt eine geheimnisvolle Aura.

Zwei niederländische Inselpolizisten: Thomas van Merkerem (ein Friese aus Koudum) und sein Kollege Willem Braakhuis von der Insel Texel (Nordholländer, deshalb ist der Anfangszwist mit dem Friesen vorprogrammiert).

*

Im Laufe der Ermittlungen werden gemischte Teams gebildet:

Team Deutschland:

Leiter Jan Broning, Maike Broning, Stefan Gastmann und Thomas van Merkerem.

Team Niederlande:

Ermittlungsführer Simon C. Drebber, Klaas Leitmann als sein deutscher Assistent und Willem Braakhuis.

*

Eine Sonderrolle als Ermittlerin:

Aukje van Dijken, die mysteriöse Hellseherin

*

Bürger der Stadt Leer:

Privatier Keno von Hasselt

Eilt Hasebroek, der Wirt des Restaurants Friesenhus, und seine Angestellte

Kellnerin Sina Sinning

Bestatter Siegmund Erdmann

Bekky, eine geheimnisvolle schöne Frau in Schwarz

Pensionär Habbo Denkela und

seine Ehefrau Nantje Denkela

Weert Bleeker

Banker Michael Derboven

Kapitän Ippo Eenboom

Bürger der Insel Texel:

Hafenkapitän Oudeschild: Henk de Graf und

sein Assistent Fritz Bremer

Kutterkapitän Jelle Vissering

Bürger der Stadt Hamburg:

Peter Hansen

Reederei-Angestellte Wiebke Oldenhove

Prolog

Nordholland, Insel Texel im Jahr 2015, Kerak

Der Mann, der einmal Peter Hansen geheißen hatte, saß in seiner kleinen Wohnküche. Er sah auf seine Armbanduhr. Noch gut zwei Stunden Zeit bis zum Schichtbeginn im Hafenbüro. Gelangweilt schaute er aus dem gardinenlosen Fenster zum Seedeich. So früh in der Saison war noch alles ruhig in dem kleinen Ort Oudeschild, dem Waddenhaven der Insel Texel. Sein Gesicht spiegelte sich im Fensterglas. Er sah aus wie ein Seemann mit dem blonden Haar und dem Vollbart, der ihn älter wirken ließ, als er eigentlich war. Sein Gesichtsausdruck war ernst. Dies verriet den Holländern fast immer seine deutsche Herkunft.

In ein paar Wochen waren Ferien und dann würde es hier hektisch. Seine Wohnung in dem sehr kleinen Reihen­haus lag am Ortsrand von Oudeschild. Die Straße davor verlief parallel zum Seedeich in Richtung Fährhafen de Horntje. Die altehrwürdige Texeler Reede lag direkt hinter dem Deich. Seinen Arbeitsplatz beim Hafen­meister konnte er schnell mit dem Fahrrad erreichen.

Er schaltete das Fernsehgerät ein. Sein deutscher Lieblingssender zeigte wieder einmal eine Dokumentation. Umzuschalten lohnte sich nicht – nur Soaps und gestellte Familienprobleme. Dann schon lieber eine Dokumentation über berühmte Kriminalfälle. Er hörte nur mit einem Ohr zu und sah immer wieder aus dem Fenster.

Peter stutzte, als die Stimme aus dem Fernseher über die Gerichtsmedizin in der Stadt Hamburg berichtete. Er drehte die Lautstärke auf und konzentrierte sich auf die Reportage aus seiner alten Heimat. Ein forensischer Pathologe berichtete über seine Arbeit.

Die düsteren Bilder aus den Räumen der Gerichtsmedizin verursachten Peter eine Gänsehaut und eine böse Vorahnung. Der Assistent des Mediziners erschien auf dem Bildschirm und hielt den Teil eines Schädels in der Hand. Offensichtlich ein Exponat aus einer sehr speziellen Sammlung.

Die Stimme des Gerichtsmediziners war leise und ein wenig emotional. »Hier haben wir den Teil eines Schädels von einem unbekannten Toten.« Er betrachtete kurz den Schädel, den er in die Hand genommen hatte, und fragte dann in die Kamera: »Wie ist es möglich, dass ein Mensch stirbt, und niemand kennt ihn, niemand vermisst ihn? Hatte er denn keine Familie, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen? Es gab noch niemals so viele Möglichkeiten, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Wir haben die sozialen Netzwerke und trotzdem vereinsamen die Menschen immer mehr …«

Der Mann beeindruckte Peter Hansen mit seinen schon fast philosophischen Gedanken mitten in dieser sehr speziellen Arbeitsumgebung der Gerichtsmedizin.

»Der Tote wurde bei Taucharbeiten im Hamburger Hafen­ entdeckt. Die Überreste befanden sich in einem mit Steinen beschwerten Netz. Besondere Probleme gab es auch bei der Ermittlung der Todesursache …« Er zeigte auf ein Loch an der Schläfe des Schädels. »Vermutlich eine Schussverletzung. Rätselhaft sind allerdings die Reste einer Patronenhülse, die im Schädel des Toten gefunden wurde.«

Die Erkenntnis traf Peter Hansen wie ein Faustschlag in den Magen. Der Assistent des Gerichtsmediziners sprach von Fritz Bremer. Seinem dritten Opfer.

Hansens Gedanken wanderten zurück in seine Vergangenheit.

Kapitel 1

Hamburg im Jahr 2010

Peter Hansen war in Hamburg geboren und aufgewachsen. Als er volljährig wurde, beschloss er, die Langweile zu beenden und die Weichen für sein weiteres Leben neu zu stellen. Zunächst standen ihm da seine nervigen Eltern im Wege. Sie waren dann bei einem Autounfall gestorben. Er grinste bei der Erinnerung. Blöd, wenn ausgerechnet auf der Köhlbrandbrücke die Bremsen versagten. Das Gefälle der Brücke war enorm und der Wagen seiner Eltern war mit hoher Geschwindigkeit auf einen haltenden Container-Lkw geprallt. Keine Überlebens-Chance. Ihr Auto war nur noch ein total zerstörtes und ausgebranntes Wrack gewesen. Die von ihm manipulierten Bremsen waren nicht aufgefallen.

Nachdem der Nachlass geregelt war, begann Peter mit den Vorbereitungen für eine neue Identität. Feindliche Übernahme, so nannte er seine akribische Aktion mit dem Ziel, die Identität einer anderen Person vollständig zu übernehmen. Endlich konnte er der tödlichen Lange­weile entfliehen.

Fritz Bremer war eines Tages an seinem Beobachtungsort an den Landungsbrücken in Hamburg vorbeigelaufen. Peter war sofort die Ähnlichkeit zwischen ihm und diesem Mann aufgefallen. Wie heißt es so schön? Wie aus dem Gesicht geschnitten. Er folgte seinem zukünftigen Opfer unauffällig.

Es folgten Tage der Observierung. Er studierte die Gewohnheiten seines Opfers und dessen Art, sich zu bewegen. Fritz Bremer arbeitete im Hafen, meistens in der Nachtschicht. Das war sehr günstig für Peters Vorhaben. Nachts schlich er sich in Bremers Wohnung und setzte dort seine Studien fort. Er fotografierte alle Dokumente, sah sich Fotoalben an und verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen, immer rechtzeitig, bevor sein Opfer nach Hause kam.

Bremer war ein Einzelgänger, allein und isoliert. Dessen dummes Gesicht, als ihn beim Betreten seiner Wohnung ein Baseballschläger an der Stirn traf, würde Peter nie vergessen. Der Schlag war dosiert, um ihn nicht zu töten. Er fesselte den Bewusstlosen und transportierte ihn in die kleine Küche, die er vorsorglich mit Plastikplanen ausgekleidet hatte. Schließlich benötigte Peter noch die Passwörter und Geheimzahlen.

Wie erwartet, wollte Fritz Bremer nicht kooperieren. Die Gasflamme unter den Füßen überzeugte ihn dann aber doch. Ein Test mit den erpressten Kennwörtern am nächsten Geldautomaten verlief erfolgreich. Dann war Peter zurück in der Küche, sah auf sein Opfer hinab und beide wussten, was geschehen würde.

Peter Hansen war stolz auf die Konstruktion seiner Waffe. Sie bestand aus zwei Metallrohren. Das erste war an beiden Enden offen und hatte einen Innendurchmesser von neun Millimetern. Das Innere war glatt, wies keine Züge und Felder auf. Eine entsprechende Revolver­patrone passte exakt hinein. Der Außendurchmesser des dünneren Rohres entsprach dem Innendurchmesser des dickeren, so konnten sie ineinander geschoben werden. Ein Ende des dickeren Rohres war verschweißt, und innen befand sich ein fest eingebauter Schlagbolzen.

Seine Hände zitterten, als er die Patrone in das dünnere Rohr steckte. Dann nahm er das dickere Rohr und schob es vorsichtig über das mit der Patrone. Er zögerte noch kurz und vermied den Augenkontakt mit seinem verzweifelten Opfer. Fritz Bremer lag gefesselt auf der Plastikplane. Seine Schreie wurden durch den dicken Knebel im Mund gedämpft.

Peter Hansen drückte mit einem Fuß sein Opfer auf den Küchenboden, bückte sich und setzte ihm die Mündung der selbstgebauten Waffe auf die Brust. Mit der anderen Hand schob er das zweite Rohr ruckartig nach vorn. Das Ende des äußeren Rohrs mit dem Schlagbolzen traf auf die Patrone. Der heftige Rückschlag durch den Schuss überraschte ihn.

Dann sah er mit Entsetzen, dass der Körper seines Opfers sich trotz des aufgesetzten Schusses noch immer bewegte. Nervös zog er die Rohre auseinander. Seine Hände zitterten, als er versuchte, die Patronenhülse aus dem Ende des Rohres zu ziehen, um seine Waffe nachzuladen. Die leere Hülse klemmte und ließ sich nicht aus dem Rohr lösen. Hansen fluchte. Dann fiel ihm ein, dass das Rohr ja zwei Öffnungen hatte. Er drehte es um, nahm eine zweite Patrone und schob sie in das freie Ende. Vorsichtig schob er die zwei Rohre wieder zusammen. Diesmal würde er auf Nummer sicher gehen und seinem Opfer in den Kopf schießen.

Er setzte das Ende mit der klemmenden Hülse auf der Schläfe auf und schob die Rohre ruckartig zusammen. Der Knall dröhnte in seinen Ohren und der Rückschlag war enorm. Sein Opfer rührte sich nicht mehr. Erleichtert atmete Hansen durch. Er zog die Rohre auseinander und stellte befriedigt fest, dass das Projektil der zweiten Patrone die leere Hülse herausgeschossen hatte. Das Projektil des zweiten Schusses war zusammen mit der leeren Hülse in den Schädel seines Opfers eingedrungen.

Im Grunde, so fand Peter, hatte er Bremer einen Gefallen getan, als er ihn am Ende seiner Befragung mit seinem Schussapparat tötete. Ein Langweiler weniger auf der Welt. So ein Leben, wie der es geführt hatte, war doch entsetzlich und überflüssig. Im Grunde war sein Opfer doch schon vorher gestorben.

Die Leiche von Fritz Bremer wickelte er zusammen mit Steinen in ein Netz und warf sie in den Hafen.

Der neue Fritz Bremer, früher Peter Hansen, hatte dann hinter sich in Hamburg aufgeräumt. Bremers Arbeitsplatz kündigte er schriftlich mit der Begründung ›Neuorientierung‹ und hinterließ mehrere Briefe, in denen er eine Weltreise ankündigte.

Bremers Mörder Peter Hansen übernahm dessen Namen, dessen Identität, und dessen nicht großes, aber doch überraschend ansehnlich angespartes Vermögen.

Kapitel 2

Texel im Jahr 2015

Der Mann, dem seine Eltern den Namen Peter Hansen gegeben hatten, existierte nicht mehr. Seit dem Mord in Hamburg gab es nur noch Fritz Bremer. Und Peter Hansen würde niemand vermissen.

Kurz nach der Ermordung von Fritz Bremer und der Übernahme der neuen Identität hatten die Probleme begonnen. Seit seiner Kindheit hatte er auf den Namen Peter gehört. In seinem Kopf entstand eine Art von Persönlichkeitsspaltung, als er mit dem neuen Namen Fritz angesprochen wurde. Für seine eigene Gedankenwelt benötigte er also einen Namen, den er sich selbst aussuchen und zum Beispiel bei einem Selbstgespräch benutzen konnte. Selbstgespräche führte er oft – und sollte er sich dann immer wieder an neue Namen gewöhnen?

Nein, er brauchte einen, der nur für ihn selbst bestimmt war. Und dieser Name sollte eine besondere Bedeutung für ihn haben.

Seit seiner Kindheit hatten ihn die Kreuzfahrer und ihre Burgen fasziniert. Er spürte eine Art Seelenverwandtschaft zu den Rittern. Welches Motiv hatten die wohl gehabt, ihre heimischen Burgen zu verlassen, um sich dem Kreuzzug im Heiligen Land anzuschließen? Natürlich hatte es das Versprechen gegeben, dass damit alle Sünden vergeben waren. Und außerdem noch den Willen, das Heilige Land zurückzuerobern. Aber hatte nicht eigentlich die Suche nach Abenteuern und die Flucht vor der Langeweile die Kreuzritter angetrieben?

Er suchte ebenfalls das Abenteuer und fürchtete die Langeweile.

In der Schule hatte sich jeder Schüler ein Lieblings­tier aussuchen sollen. Löwe, Tiger und Panther waren dann oft vertreten gewesen. Als die Mitschüler hörten, welches Tier er gewählt hatte, war er zum Gespött geworden. Ein Krake … Wieso ausgerechnet ein so hässliches Tier?

Das fragte ihn auch der Lehrer und der kleine Peter erklärte, dass dieses Tier ein Meister der Tarnung war. Es konnte sogar die Gestalt anderer Meeresbewohner annehmen, um seine Beute zu jagen. Ein Einzelgänger, wie Peter, in den Tiefen der Meere verborgen, jederzeit bereit zuzuschlagen.

In der Mythologie der Norweger spielte der Krake eine große, rätselhafte Rolle. Viele Märchengestalten waren reine Phantasie-Gebilde. Nicht so der Riesenkrake, der Schrecken der Meere, ihn gab es tatsächlich. Ab und zu tauchten Reste von Kraken in Fischernetzen auf. An Walen erkannte man große Narben von Kämpfen mit den großen Kraken der Tiefsee.

Die Gestalt des Kraken verschmolz mit seiner Umgebung, dadurch konnte er seine Opfer völlig überraschen.

Peter hatte versucht, ein Anagramm zu bilden. Aus den Buchstaben des alten Wortes sollte ein neuer Name entstehen, und für ein perfektes Anagramm war es erforderlich, dass der neue Name einen Sinn ergab. Nach einigen Versuchen war er schließlich erfolgreich gewesen: Kerak war der neue Name – und dies war auch der Name einer berühmten Kreuzfahrerburg. Kerak wollte er in Zukunft heißen, und diesen Namen sollte niemand kennen außer ihm.

Die feindliche Übernahme in Hamburg war damals geglückt. Trotzdem hatten sie die Leiche im Hamburger Hafen gefunden. Eine Verbindung zwischen dem unbekannten Toten und Fritz Bremer hatte aber offensichtlich bis jetzt nicht hergestellt werden können. Er drückte die Info-Taste der Fernbedienung. Die Dokumentation war bereits von 2012 … Dann war mit Sicherheit der Kriminalfall mit dem Vermerk ›unbekannter Toter‹ bereits zu den Akten abgelegt worden.

Nun lagerte der Schädel seines ersten Opfers Fritz Bremer also in der Gerichtsmedizin Hamburg. Kerak stellte sich die ratlosen Gesichter der Ermittler vor. Sie hatten sich damals vermutlich vergeblich gefragt, wie eine verschossene Patronenhülse zusammen mit dem Projektil in den Schädel des Toten eingedrungen sein konnte.

Leider war sowohl das Vermögen seiner Eltern als auch das von Fritz Bremer inzwischen verbraucht, und Kerak hatte diesen Job hier annehmen müssen. Er vermisste den Luxus, die Annehmlichkeiten und die teuren Reisen. So konnte es nicht weitergehen.

Zeit für einen neuen Job, eine neue Identität und neuen Reichtum.

Er schaltete den Fernseher aus. »So, Pause beendet, auf zur Arbeit!«

Kerak setzte sich auf sein Fahrrad und fuhr auf der Straße hinter dem Deich an der Mühle vorbei. Links ging es in die Heemskerckstraat mit dem Museum und einigen Geschäften, er fuhr geradeaus weiter und dann rechts über den Deich. Jetzt hatte er einen guten Blick auf den Hafen. Wie immer hielt er kurz an und sah sich um. Rechts befand sich der Historische Hafen, der in den Gemeindehafen überging. Dort lagen Traditionsschiffe wie alte Schlepper und typische Plattbodenschiffe. An der äußersten rechten Hafenseite lagen verschiedene Ausflugsfahrzeuge, kleine Boote und umgebaute Fischereifahrzeuge, mit denen Fahrten zu den Seehundsbänken unternommen wurden. Noch war es ruhig, aber in der Saison war hier richtig was los. Viele Touristen, die mit den Ausflugsschiffen zu den Seehunden wollten. Die breite Treppe über den Deich war dann voller Menschen, die zwischen Hafen und den Geschäften in der Heemskerckstraat pendelten.

Kerak fuhr weiter und bog links ab, vorbei am Trockendock, einigen Fischkuttern und dem Kinderspielplatz. Vor ihm befand sich jetzt sein Arbeitsplatz, das moderne Hafengebäude mit runden Fenstern im Eingangsbereich und einem Dach, das aussah wie eine Welle. Über eine Treppe gelangte man in das Büro der Hafenverwaltung.

Er schloss sein Fahrrad ab, betrat das Gebäude und ging die Treppe zum Büro des Hafenmeisters hoch.

Henk de Graf begrüßte seinen Gehilfen mit Handschlag. »Hallo, Fritz.«

»Hallo, Henk. Na, hast du alles im Griff?«

»Ihr Deutschen seid doch anders als wir«, stellte de Graf gutgelaunt fest.

»Wieso, was haben meine Landsleute denn wieder angestellt?«, wollte Kerak wissen.

»Gerade hatte ich einen Anruf, ein Herr von Hasselt aus Leer möchte wie jedes Jahr seinen Liegeplatz für seine Jacht reservieren.« Henk de Graf zeigte in Richtung des großen Jachthafens, in dem es jede Menge freie Plätze gab. Er schüttelte den Kopf. »Ich sag zu dem Mann, Herr von Hasselt, hier brauchen Sie nicht zu reservieren, weil: Es liegen nur wenige Boote im Jachthafen. Nein, das wäre ihm klar, aber er möchte einen speziellen Liegeplatz haben, weil er den doch jedes Jahr hat und er unbedingt seine Ruhe möchte, der feine Herr. – Ja, Fritz, und da fällt es mir wieder ein, wer da am Telefon ist: Dieser reiche Privatier aus Leer, der jedes Jahr von Texel aus alleine einen Segeltörn in Richtung England unternimmt.«

»Leg ihm doch ein Handtuch auf den Steg vor seinen Liegeplatz«, entgegnete Kerak. »Das machen wir Deutschen doch auch immer am Hotelswimmingpool.«

»Gut, dass du es gesagt hast …« Henk de Graf grinste. »Aber weißt du, was wirklich komisch ist?«

»Na, mach es nicht so spannend.«

»Dieser von Hasselt sieht dir ähnlich. Vielleicht bist du mir deshalb ja irgendwie ein bisschen bekannt vorgekommen, als du hier ankamst. Hab ich damals nicht weiter drüber nachgedacht, aber du siehst fast aus wie er. Nur dass der weniger Haare auf dem Kopf hat und seine Nase ist irgendwie anders.«

»Ach wirklich, das ist ja witzig«, antwortete Kerak sehr nachdenklich. »Wann wollte er denn hier einlaufen?«

Henk de Graf gähnte und streckte sich. »Ich hab es in die Kladde eingetragen. Jetzt geh ich nach Hause, ein Nickerchen machen.«

»Okay, Henk. Bis später. Schlaf eine Runde für mich mit«, erwiderte Kerak gutgelaunt.

Er beobachtete durch ein Fenster, wie sein Chef mit dem Fahrrad davonfuhr. Dann schlug Kerak die Kladde auf und fand die Eintragung über die Reservierung. Keno von Hasselt wollte nächste Woche einlaufen. Wenn er Stammgast im Sportboothafen war, müssten seine persönlichen Daten im Computer sein.

Kerak grinste, als er die Daten unter den Rechnungen fand. Von Hasselt wohnte in Leer, und zwar in der Groninger Straße. Er gab die Adresse in den Computer ein und stellte fest, dass es sich um ein schönes Ein­familienhaus handelte. Es war von einer Mauer umgeben und grenzte mit der Rückseite direkt an den Hafen. Dort lag an einem eigenen Anleger eine große Segeljacht. Was hatte sein Chef vorhin gesagt? Ein reicher Privatier … und der war allein mit seiner Jacht unterwegs …

Das mit den Haaren war kein Problem, aber die unterschiedliche Nase … Dafür würde Kerak sich noch etwas einfallen lassen müssen. Das eigentliche Problem war die Zeitknappheit. Ihm blieb für die Vorbereitungen nur eine Woche. Kerak ballte seine Hände zu Fäusten. Endlich war diese tödliche Langeweile vorbei. Der Nervenkitzel konnte beginnen.

Er stellte sich vor den Wandspiegel und sagte laut und mit einer Verbeugung: »Angenehm. Keno von Hasselt mein Name!«

Das klang doch viel besser als Peter Hansen oder Fritz Bremer. Nämlich nach Geld. Einer Menge Geld!

Nach Schichtende packte er in seiner Wohnung einen Koffer und verstaute ihn in seinem weißen Kombi. Dann schrieb er einen Entschuldigungsbrief für seinen Arbeitgeber und gab als Grund für seine Abwesenheit in den nächsten Tagen einen Todesfall in der Familie an. Er unterbrach seine Fahrt Richtung Fährhafen kurz, um das Schreiben in den Postkasten des Hafenmeisters zu werfen.

Kerak sah es als gutes Zeichen an, dass er die letzte Fähre von der Insel zum Festland noch erreichte. Als er sie wieder verließ, fuhr er nicht direkt nach Leer, sondern machte einen Umweg über Amsterdam. Im Rotlichtviertel wollte er sich noch spezielle Ausrüstung besorgen: neue Patronen für seine Spezialwaffe und eine Observierungskamera mit Monitor. Sein Kontaktmann nahm die Bestellung ohne Fragen entgegen. Ein Treffpunkt wurde vereinbart und zwei Stunden später verließ Kerak Amsterdam in Richtung Deutschland.

Drei Stunden später fuhr er in Bunde über die Grenze. Seine Schirmmütze zog er dabei tief ins Gesicht. Der Straßenverkehr am Grenzübergang wurde mit Kameras überwacht. Er wollte nicht auffallen und verhielt sich vorsichtig, obwohl er eine Kontrolle nicht zu fürchten brauchte. Sein Transporter war ordnungsgemäß zugelassen und die Patronen sehr gut versteckt.

Hinter dem Emstunnel verließ er an der Anschlussstelle Leer-West die Autobahn und fuhr Richtung Stadtgebiet. Inzwischen war es stockdunkel, für seine Vorbereitungen also optimal.

Als die Stimme aus dem Navi erklärte, dass er sein Ziel erreicht hatte, fuhr er rechts an den Straßenrand und parkte zwischen zwei Bäumen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand zwischen zwei Geschäftsgebäuden das Haus seines Opfers, die Vorderseite zeigte zur Groninger Straße. Es wirkte eigentlich unscheinbar. Nichts wies darauf hin, dass es sich bei von Hasselt um einen reichen Mann handelte. Die Rückseite konnte Kerak nicht einsehen, die Mauer versperrte den Blick.

Er stieg aus und sah sich die Umgebung genau an, um einen geeigneten Ort für eine Kamera zu finden. Die Krone eines Kastanienbaumes direkt vor ihm sah vielversprechend aus. Kerak holte die ferngesteuerte Kamera aus dem Rucksack im Kofferraum und überprüfte sie noch einmal. Die Langzeit-Akkus waren vollgeladen und die Funkverbindung zum kleinen Monitor funktionierte einwandfrei. Er setzte sich in seinen Transporter und fuhr sehr dicht an die Kastanie heran. Leise stieg Kerak aus, hängte sich den Rucksack mit der Spezialausrüstung über die Schulter und stieg aufs Wagendach. Von dort aus kletterte er in den Baum und suchte in der Krone eine geeignete Stelle für seine Kamera. Mit Kabelbindern befestigte er sie an einem starken Ast und sah auf den separaten kleinen Monitor. Ein Zweig war noch im Weg, ansonsten lieferte die Kamera über Funk ein perfektes Bild vom gesamten Grundstück. Kerak entfernte den Zweig und sprühte die Kamera und die provisorische Halterung mit Tarnfarbe ein, insbesondere die rote Kontrollleuchte.

Zufrieden mit seinem Werk kletterte er aus dem Baum und setzte sich wieder in den Transporter. Noch einmal kontrollierte er den Monitor und grinste, weil er sich über das gute Bild freute. Die Restlichtverstärkung der Kamera und die einstellbare Fokussierung waren einfach genial. Sein Kontaktmann aus dem Rotlichtviertel hatte nicht zu viel versprochen und ihm gutes Material geliefert. Auf dem Monitor konnte er jetzt sogar den großen Garten an der Rückseite des Hauses sehen, der direkt an das Hafengewässer grenzte. Dort befand sich der Privatanleger mit der großen Jacht.

Die Vorbereitungen für die Observierung des Hauses in den nächsten Tagen waren abgeschlossen. Kerak rollte die Matratze im Laderaum aus und schlief zufrieden ein.

Die folgenden Tage und Nächte verbrachte er größtenteils im Transporter und starrte auf den Monitor. Keno von Hasselt lebte wirklich sehr zurückgezogen. Wie leichtsinnig die Menschen doch waren … Mit Hilfe der ferngesteuerten Kamera konnte Kerak direkt ins Büro sehen. Von Hasselt hielt es wohl nicht für nötig, die Vorhänge zu schließen. Sein Tagesablauf lief immer nach dem gleichen Muster ab. Morgens saß er als Erstes im Seidenmantel vor dem Computermonitor und studierte seine Aktienkurse. Dann radelte er alleine durch die Altstadt, wo er auch allein zu Mittag aß. Mit sicherem Abstand folgte Kerak ihm mit einem alten Klapprad. Anschließend lag von Hasselt oft draußen auf dem Teak-Liegestuhl. Offensichtlich genoss er den Blick auf seinen englischen Rasen, seine Jacht und den Hafen. Natürlich ebenfalls allein. Ja, das Leben konnte angenehm sein, wenn man genug Kohle besaß. Kerak stellte sich vor, wie er an Stelle von Hasselt dort saß.

Der Lieferwagen eines Feinkosthändlers hielt vor dem Haus. Kurz darauf wurden Kartons mit Krimsekt und anderen Delikatessen zur Jacht gebracht und verstaut. Vorbereitungen für den geplanten Segeltörn nach Texel, vermutete Kerak. Während der Lieferant die Kartons schleppte, saß von Hasselt im Liegestuhl, öffnete eine Flasche des gelieferten Sekts und überwachte die Verlade-Aktion. Statt eines Trinkgeldes bekam der Lieferant einen Anschiss, weil er vergessen hatte, beim Betreten der Jacht die Schuhe auszuziehen. Kerak beobachtete, wie der Mann mit angesäuertem Gesicht in seinen Wagen stieg.

Keno von Hasselt verschloss hinter ihm das Tor, ging ins Haus und kam mit einer kleinen Dose in der Hand zurück in den Garten. Kerak richtete den Fokus der Kamera darauf. Kaviar! In seinem Mund sammelte sich Speichel.

Seine erste feindliche Übernahme in Hamburg war perfekt vorbereitet gewesen. Für die zweite Übernahme hier in Leer war eigentlich nicht ausreichend Zeit. Aber während von Hasselt seine Fischeier löffelte, nagten Neid und Missgunst an Keraks Bedenken. Er wischte sie beiseite und der Entschluss war gefallen. Die Tage von Keno von Hasselt waren gezählt.

Am letzten Tag der Observierung steuerte von Hasselt seine Jacht in Richtung Schleuse und Kerak murmelte: »Auf Wiedersehen in Texel!«

Kapitel 3

Freitag, unterwegs von Ditzum zur niederländischen Insel Texel

»Papa, ist es noch weit?«

Jan Broning sah schmunzelnd in den Innenspiegel seines alten Mercedes. Hinter ihm saß seine fünfjährige Tochter. »Antje, wir sind doch gerade erst in Ditzum losgefahren!« Maike, neben ihm auf dem Beifahrersitz, grinste ebenfalls.

Die Familie wollte mit den Kollegen Onno Elzinga, Klaas Leitmann und Stefan Gastmann ein verlängertes Wochenende auf der niederländischen Insel Texel verbringen. Drei Stunden Autofahrt und die Überfahrt mit der Fähre von Den Helder lagen vor ihnen.

Jan dachte an die Zeit, bevor er Maike kennengelernt hatte. Nach dem Tod seiner ersten Frau hatte er am Abgrund gestanden. Damals hätte nur noch ein kleiner Schritt gefehlt … Maike hatte ihn am Kragen gepackt und ihn gerade noch rechtzeitig zurückgezogen, weg von diesem Abgrund, in den man nicht zu lange hineinschauen durfte.

Ganz behutsam war die gemeinsame Liebe entstanden. Jan empfand tiefe Dankbarkeit, als er seine Tochter Antje im Rückspiegel betrachtete. Maike war viel jünger als er und manchmal machte ihm das Sorgen. Genau wie seine späte Vaterrolle, schließlich war er über fünfzig. Aber diese Sorge war wohl umsonst gewesen. Im Gegenteil, seine Tochter hielt ihn jung.

Antje würde im Herbst zur Schule gehen. Sie hatte große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Zum Beispiel die dunklen Haare. Maike haderte oft mit ihrem Gewicht, aber sie war nun einmal von der Veranlagung her keine zierliche Gestalt. Sie war eher robust und konnte richtig zupacken. Jan mochte die paar Kilo zu viel, zumal sie sich an den richtigen Stellen befanden. Robustheit, absolute Verlässlichkeit und mit beiden Beinen fest auf dem Boden, das passte zu seiner Frau.

Eigentlich eher gegensätzlich zu seiner Persönlichkeit. Jan kannte seine eigenen Dämonen. Insbesondere seine stark ausgeprägte Sensibilität. Inzwischen war ihm klar geworden, dass diese Schwäche manchmal auch seine Stärke ausmachte. Zum Beispiel bemerkte er sofort die Stimmung, wenn er einen Raum mit mehreren Personen betrat. Aber Hochsensibilität war für einen Polizisten oft ein Fluch. Jans empathische Fähigkeiten waren ebenfalls sehr ausgeprägt – auch dieser Dämon ein Fluch und ein Segen gleichzeitig. Bei Vernehmungen von Opfern litt er mit und bei der Vernehmung von Tatverdächtigen ahnte er schnell, wann gelogen wurde, und erkannte die wahren Motive hinter der Lüge.

Unter dem Strich war es so, dass Jan zu viele Eindrücke und Emotionen aufnahm. Maike half ihm mit ihrer Robustheit, die dicke Haut zu ersetzen, die ihm so völlig fehlte. Nicht nur im Familienleben, sondern auch dienstlich bei der Kriminalpolizei. Sie ergänzten sich bei den gemeinsamen Ermittlungen. Ein Erfolgsrezept, das sich schon oft bewährt hatte. Die extremen Situationen, der gemeinsame Blick in dunkle Abgründe menschlichen Handelns und zuletzt auch gemeinsam überstandene Lebensgefahr schweißten sie immer fester zusammen.

»Sind Opa Johann und Oma Karin auch noch hinter uns?«, holte ihn Maikes Stimme in die Gegenwart zurück.

»Ja, sie folgen uns unauffällig«, antwortete Jan. »Schön, dass sie mit uns nach Texel fahren.« Er fügte leise hinzu: »Dann haben wir mal ein paar Stunden ungestört für uns.« Antje war total vernarrt in Maikes Vater Johann de Buhr und dessen Freundin Karin. Opa Johann und Karin verwöhnten die Kleine manchmal zu sehr, fand Jan, aber dies war das Vorrecht der Groß­eltern, vermutlich ein Naturgesetz.

»Sind Onno und Klaas auch schon auf der Insel?«, fragte Maike gut gelaunt.

Klaas hatte im Ferienpark ein großes Haus organisiert. »Wahrscheinlich sitzen die beiden schon mit einem Bier in der Hand im Wohnzimmer und warten auf uns«, antwortete Jan. »Mein Gott, wie die Zeit vergeht …« Er dachte an spektakuläre Kriminalfälle in der Vergangenheit. Zusammen mit den zwei ehemaligen Autobahnpolizisten galten sie als bewährtes Ermittlungsteam. Dazu gehörte auch Stefan Gastmann, der ewige Junggeselle, wie ihn Maike nannte. »Stefan wohnt übrigens nicht mit uns im großen Haus im Norden, der hat sich eine Ferienwohnung in de Koog genommen.«

»Er wird sich bestimmt noch ins Nachtleben stürzen wollen«, vermutete Maike. »Er ist ja auch noch jünger und möchte sicher ein bisschen mehr Action, als er von den Alten im ruhigen Norden erwarten kann.«

Während sich Stimmen von kleinen Hexen und niedlichen Elefanten im Autoradio mit dem Gesang seiner Tochter auf dem Rücksitz abwechselten, flog draußen die niederländische Landschaft vorbei. Die Fahrt war dank des Tempolimits bedeutend entspannter als in Deutschland.

Vor dem Verkehrskreisel in Joure klingelte Maikes Handy. Sie nahm den Anruf entgegen. »Ja, Karin, ist gut, wir machen Pause beim Schnellimbiss.«

Jan nickte, ordnete sich rechts ein und nahm die erste Ausfahrt.

Kapitel 4

unterwegs zur Insel Texel, Abschlussdeich

Nach der Pause setzte Maike sich hinter das Steuer des alten Mercedes. Ihr war aufgefallen, dass Jans rechtes Knie wieder schmerzte, weil er seine Lippen fest aufeinanderpresste.

»Maike, nicht so schnell, das hier ist ein Oldtimer«, murmelte er auf dem Beifahrersitz.

»Meinst du dich oder deine alte Karre?«, fragte sie mit einem Grinsen.

»Von wegen alte Karre, das ist ein Klassiker …«, protestierte Jan.

»In den nichts reinpasst! Echt unpraktisch, dein Klassiker, und kein Familienauto. Außerdem wäre eine höhere Sitzposition für dein Bein auch besser.« Oha, dachte Maike, als er schwieg, und sah ihn kurz von der Seite an. Jetzt grübelt er gleich wieder. Sie liebte ihren Mann über alles. Eine stattliche Erscheinung nannten die Älteren so einen Typ. Jan war fast einen Meter neunzig groß, mit breiten Schultern und einem leichten Bauchansatz. Seine mittelblonden Haare wiesen bereits Grautöne auf. Seine beginnenden Geheimratsecken störten aber nur ihn. Sie legte nicht so viel Wert auf das Äußere, bei ihrem Mann waren die inneren Werte entscheidend. Jemanden mit so ausgeprägter Sensibilität und Empathie hatte sie nie zuvor getroffen.

Allerdings war es manchmal auch ein Fluch. Jan neigte zum Grübeln und war oft in seiner eigenen Welt. Dort versuchte er die große Informationsmenge zu sortieren, die ihm seine sensiblen Antennen ständig übermittelten. Je nach Tagesform gelang es ihm sehr gut oder nur langsam. Als sie sich kennengelernt hatten, war er auf dem Tiefpunkt gewesen. Seine Frau war verstorben und er hatte sich gehen lassen und das Gefühlchaos in seiner Seele mit Alkohol zu dämpfen versucht.

Inzwischen konnte er mit seinen Dämonen umgehen und seine angebliche Schwäche in eine Gabe umwandeln. Nur manchmal brauchte er Hilfe, um von Wolke sieben herunterzukommen. Wenn er sich mal wieder Sorgen machte, ob er zu alt für sie war oder ob es vernünftig gewesen war, mit über fünfzig Vater zu werden, wurde es Zeit für sie, seine Sorgen liebevoll zu vertreiben. Wenn nötig, mit einem Tritt vors Schienbein.

Inzwischen befanden sie sich auf dem Abschlussdeich. Links lag das Ijsselmeer und rechts die Nordsee.

»Jetzt wollen wir alle zusammen singen«, beschloss Antje und stimmte laut ihr Lieblingslied aus dem Kinder­garten an.

Jan sah seine Maike liebevoll und mit etwas gequältem Gesichtsausdruck von der Seite an. »Ist es noch weit?«, fragte er mit Unschuldsmiene.

»He! Ihr sollt mitsingen«, forderte Antje auf dem Rücksitz.

Kapitel 5

Insel Texel, Ferienpark Den Bos im Norden der Insel

Onno Elzinga und Klaas Leitmann saßen sich, jeder mit einer Flasche Bier in der Hand, im geräumigen Wohnzimmer des großen Ferienhauses gegenüber. Onno sah sich um. »Eine feine Herberge hast du für uns ausgesucht.«

»Für meine Kollegen nur das Beste«, erwiderte Klaas. »Normalerweise ist es hier um diese Zeit noch ruhig, aber gerade findet ein großer Kongress statt. Irgendwelche Ornithologen treffen sich in der Anlage.«

»Die sollen ja so gut zu Vögeln sein.« Onno kniff ein Auge zu. »Man beachte … ›Vögeln‹ groß geschrieben. – Hast du noch viel Kontakt mit unseren Kollegen von der Autobahnpolizei?«

»Du weißt doch, wie es läuft, sobald man die Dienststelle auf Dauer verlässt«, antwortete Klaas. »Aus den Augen, aus dem Sinn!«

Onno nickte. »Stimmt. Und wir sind ja jetzt schon ein paar Jahre im Kriminaldienst. Ewig keine Uniform mehr angehabt …«

Sie schwiegen für einen Moment und dachten beide an die Zeit bei der Autobahnpolizei zurück, als sie oft zusammen rausgefahren waren. Ihre Einstellung zum Beruf war sehr verschieden, sie hatten aber trotzdem immer gern zusammengearbeitet. Onno übertrieb es regelmäßig, weil er einfach nicht wusste, wann es genug war. Die Quittung dafür hatte er schon vor einigen Jahren erhalten. Seine Gesundheit war stark angegriffen und nun versah er nur noch halbtags Dienst. Beide waren fünfundfünfzig und die Pensionierung rückte näher. Im Gegensatz zu Onno kannte Klaas seine Grenzen. Trotzdem war er den Anforderungen des Nachtdienstes bei der Auto­bahnpolizei schließlich auch nicht mehr gewachsen gewesen und Onno schweren Herzens zur Kripo gefolgt. Nun arbeiteten die beiden wieder zusammen, halbtags im selben Büro.

Die Sitzposition im Sofa zeigte sehr unvorteilhaft Klaas’ dicken Bauch. Fehlen nur noch eine Mönchskutte und für das Bier ein Krug in der Hand, dachte Onno.

Klaas konnte wohl Gedanken lesen. Oder er hatte den Blick bemerkt. »Entschuldigung, Onno! Ja, das Essen und das Bier schmecken mir immer noch. Außerdem hast du auch schon mal besser ausgesehen. Kapitän Störtebeker mit schwarzen Augenringen und Falten im Gesicht wie ein Waschbrett.«

»Danke, Bruder Tuck!«, erwiderte Onno.

Beide lachten und prosteten sich zu.

Kapitel 6

Insel Texel, Ferienhausanlage De Koog

Stefan Gastmann war sehr aufgeregt. Was der Kriminalpolizist niemals für möglich gehalten hatte, war tatsächlich eingetroffen. Er konnte nur noch an sie denken. Ihre dunkle, rauchige Stimme, die langen pechschwarzen Haare und dann ihr Lächeln …

Der prüfende Blick in den Spiegel zeigte ihm einen vierzigjährigen Mann mit Geheimratsecken. Seine schönen rot-braunen Haare – fast alle weg. Zu viele Bekanntschaften, falsche Ernährung und ein ausschweifendes Nachtleben hatten Tribut gefordert.

Sie dagegen war eine echte Schönheit. Erst hatte er es gar nicht glauben wollen, dass sie sich für ihn interessierte. Normalerweise war er es, der den ersten Kontakt aufnahm. Diesmal war es umgekehrt, die Initiative war von ihr ausgegangen. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, war ihm die Luft weggeblieben. Wie ein Teenager hatte er vor ihr gestanden, unfähig, einen vernünftigen Satz von sich zu geben.

Sie trug nur schwarze, altmodische Kleidung wie aus dem Mittelalter und war auch entsprechend düster geschminkt. Als Stefan Anfang 1990 zum ersten Mal die Anhänger der schwarzen Szene aufgefallen waren, hatte er die ›schwarzen Vögel‹ noch belächelt. Bei dieser Frau war es anders, ihre Ausstrahlung und Körperhaltung passte zu ihrem Outfit. Sie faszinierte ihn und wenn ihre tiefblauen Augen ihn musterten, schien sie direkt in seine Seele zu schauen. Als sie ihn mit ihrer tiefen Stimme angesprochen hatte, war ihm ein Schauer über den Rücken gelaufen.

Ja, Stefan Gastmann war schwer verliebt. Vor einigen Tagen hatte er ihr erzählt, dass er mit Kollegen ein Wochenende auf Texel verbringen wollte. »Vielleicht komme ich auch, aber nur, wenn du nicht zusammen mit ihnen untergebracht bist«, hatte sie mit rauer Stimme gesagt und dabei an seinem Ohr geknabbert. »Manchmal bin ich etwas zu laut.«

Morgen wollten sie sich in seiner Wohnung treffen. Stefan freute sich auf die geheimnisvolle Dame in Schwarz. Als Polizist störte ihn nur, dass er nichts, aber auch rein gar nichts über sie wusste. Noch nicht einmal ihren Namen.

Kapitel 7

Freitag, Fährhafen Den Helder

Kerak fuhr in seinem weißen Kombi durch Den Helder und folgte den Hinweisschildern zum Fährhafen. Er ordnete sich vor den Kassenhäuschen ein und bezahlte die Überfahrt. Die Fähre sollte in zehn Minuten fahren. Reservierungen waren nicht nötig und der Preis für die Hin- und Rückfahrt war moderat. Außerdem brauchte man sich keine Sorgen wegen eines möglichen Ausfalls aufgrund Niedrigwassers zu machen. Diese Fähren hier fuhren immer, das war im Vergleich zu anderen Inseln an der Nordseeküste nicht selbstverständlich. Jetzt in der Vorsaison kamen sie im Stundentakt und in der Hauptsaison sogar noch öfter. Er wartete vor den Schranken und stellte den Motor aus. Noch etwas Zeit, um über seine Recherche in Leer nachzudenken.

Ja, die Zeit war eigentlich zu knapp, aber die Umstände extrem günstig und diese Gelegenheit wollte er sich nicht entgehen lassen. Gestern, am Donnerstagmorgen, hatte Kerak beobachtet, wie Keno von Hasselt mit seiner Jacht vom Privatanleger ablegte und in Richtung Seeschleuse Leer fuhr, sein Reiseziel war Texel. Zwei Tage, so schätzte Kerak, würde von Hasselt für die Fahrt zur Insel benötigen. Damit war seine Überwachungsaktion in Leer beendet gewesen, er hatte seine Ausrüstung verstaut und war zurück in die Niederlande gefahren. Den Rest des gestrigen Tages hatte er in Amsterdam verbracht. Heute, am Freitag, würde Keno von Hasselt mit seiner Jacht in Texels Sportboothafen einlaufen.

Langsam drang das Hupen von Autos in sein Bewusstsein. Erschrocken stellte er fest, dass die Schranken geöffnet und die Autos vor ihm längst losgefahren waren. Kerak startete seinen weißen Kombi und fuhr schnell über die Rampe in die Fähre. Er hielt hinter einem Bulli aus Emden, zog die Handbremse an und stieg aus. Vor dem Bulli stand ein alter Mercedes mit Leeraner Kennzeichen. Eine kleine Gruppe von Passagieren ging in Richtung des Treppenaufgangs. Ein kleines Mädchen schien es dabei besonders eilig zu haben. Es wollte unbedingt die Treppe zu den Aussichtsdecks hinaufrennen.

Kapitel 8

Überfahrt von Den Helder zur Insel Texel

»Sehr geehrte Fahrgäste! Wir legen in Kürze an, bitte gehen Sie zurück zu Ihren Fahrzeugen«, sagte die freundliche Stimme aus dem Bordlautsprecher. »Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt auf der Insel Texel.«

Die Bronings standen auf dem Vordeck und genossen den Ausblick auf das Meer. »Na, dann los, meine Damen!«, sagte Jan gut gelaunt. Gemeinsam gingen sie die Treppen hinunter zum Autodeck. Im Wagen drehte er sich zu dem Bulli hinter ihnen um. »Na, dein Vater hat die Ruhe weg. Die sind noch nicht im Auto.«

»Karin wollte unbedingt noch einen Kaffee trinken«, sagte Maike. »Die werden sich doch wohl nicht verlaufen haben?«

Ein leichter Ruck ging durch die Fähre. »Ich glaube, wir haben angelegt«, vermutete Jan.

»Wo bleiben die denn?« Maike drehte sich immer wieder zum Bulli um. Inzwischen öffnete sich die Bugklappe und die ersten Autos vor ihnen fuhren los.

In diesem Moment sah Jan seinen Schwiegervater und Karin mit hochrotem Kopf und atemlos von der anderen Treppenseite her, quer über das Parkdeck, zu ihrem Bulli laufen. Er stieg kurz aus und fragte, ob alles in Ordnung sei.

»So was Blödes – wir haben uns doch tatsächlich verlaufen!«, antwortete sein Schwiegervater, und Jan lachte. »Außerdem habe ich gedacht, wir sind länger nach Texel unterwegs als zwanzig Minuten.«

Der Fahrer des weißen Transporters hinter dem Bulli drückte ungeduldig auf die Hupe. Jan Broning und Johann de Buhr stiegen rasch in ihre Fahrzeuge und kurz darauf fuhren der Bulli und der Mercedes ebenfalls von der Fähre.

»Damit werde ich meinen Vater noch eine Weile veräppeln«, feixte Maike. »›Der kleine Johann hat sich verlaufen, bitte an der Info melden!‹«

Auf dem Anleger wurde es für einen Moment hektisch, weil mehrere Fahrstreifen jetzt zusammenliefen. Nach einer Ampel wurde der Verkehr auf einer normalen zweispurigen Straße weitergeleitet.

»In der Hauptsaison ist hier sicher öfter ein Stau«, sagte Jan, als er die Autoschlange vor ihm sah.

Maike hielt eine Karte von Texel in der Hand. »Die Insel ist sehr groß.« Sie zeigte auf die Autos vor ihnen. »Platz genug für alle. Du brauchst eigentlich immer nur geradeaus zu fahren, erst einmal Richtung de Koog.« Sie sah auf ein Schild mit der Nummer zwei und fand die Kreuzung auf der Karte. »Das ist ja praktisch, die haben die Kreuzungen von Süden nach Norden aufsteigend nummeriert.«

Jan bemerkte an der Kreuzung Nummer vier, dass der Transporter, den sie auf der Fähre aufgehalten hatten, hinter dem Bulli nach rechts in Richtung Oudeschild abbog. Als Jan den Mercedes kurz darauf durch einen Verkehrskreisel lenkte, lag rechts von ihnen der Hauptort der Insel. »Na, Maike, schön shoppen gehen in Den Burg?«

»Aber sicher, nur später. Erst mal möchte ich etwas von der Insel sehen. Sieben Orte und dreißig Kilometer Strand, da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll.« Maike schloss die Augen. »Ich spür schon das Insel-Feeling.« Die Hinweisschilder an den Kreuzungen waren vielversprechend. Besonders die zu den Stränden.

Dann fuhren sie durch De Koog. »Hier wollte doch Stefan übernachten«, stellte Jan fest.

»Klaas erzählt auch immer ganz begeistert von diesem Ort«, sagte Maike.

Nach der Ortschaft fielen Jan die Radfahrer auf, die nach links in Richtung der Dünen von der Hauptstraße abbogen. »Ich glaube, hier gibt’s es auch richtig schöne Fahrradwege.«

»Rad fahren! Rad fahren!«, rief Antje vom Rücksitz aus.

»Ja, Antje, das machen wir bestimmt«, beruhigte er seine Tochter. Im nächsten Kreisel nahmen sie die Ausfahrt in Richtung der Ortschaft De Cocksdorp. Die Fahrt ging vorbei an einem Flugplatz und dem Naturschutzgebiet De Slufter.

Maike sah auf ihre Karte. »Es ist nicht mehr weit, an der nächsten Kreuzung bitte links abbiegen.«

Kapitel 9

»Aber natürlich können Johann und Karin mit hier wohnen. Ist ja genug Platz«, sagte Onno Elzinga. Er saß mit Maike, Jan, Antje und Klaas im Wohnzimmer ihres großen Hauses in der Ferienanlage Den Bos.

Johann und Karin waren spontan mit zur Insel gefahren und hatten deshalb keine Unterkunft gebucht. So früh in der Saison wäre dies normalerweise kein Problem gewesen, aber nun waren aufgrund der Großveranstaltung der Vogelbeobachter alle Unterkünfte belegt.

»Ist ja auch nur für den Notfall«, erklärte Maike. »Johann ist noch in der Rezeption und versucht, eine Unterkunft zu finden.«

Es klingelte an der Haustür, und Klaas ging öffnen. Mit Johann und Karin im Schlepptau erschien er wieder im Wohnzimmer. Jan Broning konnte am säuerlichen Gesichtsausdruck seines Schwiegervaters erkennen, dass die Suche erfolglos verlaufen war.

»Hier in der Anlage ist auch nichts mehr frei«, sagte Johann, »die Ornithologen haben alles besetzt.«

»Okay.« Onno sah Klaas an. »Dann werde ich mein Zimmer räumen und bei dir einziehen, oder was meinst du, Klaas?«

Der grinste. »Nur, wenn du nicht schnarchst, ich bin da etwas sensibel!«

Kapitel 10

Die riesige Ferienanlage Den Bos war in verschiedene Bereiche eingeteilt. Es gab mehrere große Rasenflächen für die Campingplätze. Die größeren Häuser standen weiter hinten zusammen. Dazwischen verliefen schmale Straßen mit kleinen Ferien-Chalets. In einem davon saßen sich die Eheleute Nantje und Habbo Denkela an einem Tisch gegenüber.

Habbo war seit einem Jahr in Pension. Das Einfamilienhaus der Denkelas lag am Stadtrand von Leer. Der ehemalige Fernmeldetechniker hatte es versäumt, sich rechtzeitig Gedanken um die Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Dienst zu machen. Nantje beschwerte sich nun regelmäßig, weil ihr Mann sich neuerdings in die Hausarbeit einmischte. Ständig saß er gelangweilt in ihrer Küche herum und gab bissige Kommentare ab. Als er dann auch noch angefangen hatte, ungebeten beim Kochen die Schalter am Herd herunterzudrehen, hatte sie ihm ein Ultimatum gestellt: Entweder er suchte sich ein Hobby, oder er dürfe die Hausarbeit übernehmen und zwar allein.

Habbo hatte sich ein Hobby ausgesucht, die Ornithologie. Vogelkunde konnte überall und zu jeder Zeit betrieben werden. Endlich hatte er eine Aufgabe und der Frieden zog wieder ein bei den Eheleuten Denkela. An diesem Wochenende wollte Habbo an einem Kongress über seltene Vogelarten auf Texel teilnehmen. Zur Versöhnung hatte er ein kleines Chalet in der Ferienanlage Den Bos und eine Wellness-Behandlung für seine Frau gebucht.

»Nantje, ich werde in der Nacht auf Vogelschau gehen«, sagte er. »Ich will endlich meine neue Ausrüstung ausprobieren. Dabei bin ich lieber allein. Möchte mich ja nicht vor den Kollegen blamieren, wenn ich mit der Ausrüstung Probleme kriege.«

Nantje war das eigentlich nicht recht, aber andererseits war sie froh, dass ihr Mann endlich beschäftigt war. Nichts fand sie schlimmer als einen gelangweilten Habbo. »Aber sei vorsichtig – und nimm dein neues Handy mit!«

Also trennten sich ihre Wege. Während Nantje zur Wellness ging, fuhr Habbo in seinem Caddy Richtung Süden. Hinter ihm stand, in Alukisten verstaut, seine neue Ausrüstung: ein starkes Fernglas mit Stativ, eigentlich eine Art Teleskop, ein Spektiv, das besonders geeignet für die Vogelbeobachtung war, und außerdem eine neue Kamera, die man an das Fernglas anschließen konnte.

Sein Fahrtziel war das Naturschutzgebiet de Geul. Dort befand sich eine alte Bunkeranlage aus dem zweiten Weltkrieg. Eine einsame Landschaft, in der er seine Ausrüstung ungestört ausprobieren konnte und einen Unterschlupf hatte, falls es regnen sollte. Die Sonne würde erst gegen 21.20 Uhr untergehen. Bis dahin wollte er den Bunker noch bei Tageslicht finden und seine Ausrüstung vom Auto zum Beobachtungspunkt transportieren.

Er fuhr an De Koog vorbei in Richtung Den Burg. Dort bog er nach rechts ab in Richtung des Ortes Den Hoorn. Schon von weitem konnte er den markanten weißen Kirchturm sehen. Vor dem Turm bog er rechts ab nach Loodmansduin und folgte der Straße in Richtung des Strandzuganges Nummer 10. Irgendwo in der Nähe musste er abbiegen.

Habbo hielt in Höhe des Ortsschildes an und sah auf die Karte. Die Bunkeranlage musste von seinem Standort aus gesehen links voraus in den Dünen liegen. Laut Karte verlief die Straße, De Hoornderslag, durch die Dünen, durchtrennte ein schmales Gewässer namens De Vlak und endete auf einem Parkplatz am Strand. Habbo sah, dass er wohl schon weit vorher an einer Kreuzung in den Weg zur Bunkeranlage abbiegen musste. Er legte den Gang ein, gab Gas und fuhr an der nächsten Kreuzung links ab. Im Weiterfahren hielt er Ausschau nach dem in der Karte eingezeichneten Aussichtspunkt, bei dem es sich wahrscheinlich um die alte Bunkeranlage handelte.

Bei einem Hinweisschild, das auf einen schmalen Fußweg in die Dünen zeigte, fuhr er auf den kleinen Parkplatz. Er griff nach seinem handlichen Fernglas, stieg aus und verschloss sorgfältig sein Auto. Habbo ging durch eine Pforte und folgte dem geklinkerten Fußweg, der durch die Dünen verlief. Den Bunker konnte er noch nicht sehen. War er auf dem richtigen Weg? Er ging eine Dünenkuppe hinauf und suchte mit dem Fernglas nach dem Gebäude. Dann sah er eine graue rechteckige Erhebung auf einer hohen Düne. Er fokussierte sein Fernglas darauf und konnte nun klar den von Holzzäunen umgebenen Bunker erkennen. Zufrieden folgte er weiter dem langsam ansteigenden Weg und stand schließlich vor dem Bunkereingang.

Vorsichtig trat er ein. Innen gab es keine Türen, alle Räume waren frei zugänglich. Zunächst befand Habbo sich in einer Art Flur. Von dort ging es geradeaus in den großen Raum, in den über die gesamte Länge vielleicht dreißig oder vierzig Zentimeter hohe Schießscharten in etwa 1,60 m Höhe eingelassen worden waren. Sie ließen viel Licht herein. Links und rechts vom Flur befanden sich kleinere Räume ohne Fenster. Vermutlich hatte hier früher Material und Munition gelagert.

Abgelenkt von dem Muster des durch die Schießscharten fallenden Lichts, achtete Habbo nicht auf einen Absatz im Fußboden der Eingangsöffnung zum großen Raum, der vermutlich verhindern sollte, dass Wasser in die Lagerräume lief. Er blieb mit dem Fuß an der Kante hängen, stolperte in den Raum und konnte nur mit Mühe den Sturz auf den Betonboden gerade noch verhindern. Glück gehabt, dachte er. Er ging zu den Schießscharten und schaute hinaus.

Links konnte er auf die Dünen des Naturschutzgebietes De Geul sehen, rechts lag das Naturschutzgebiet Bollenkammer. Er konnte teilweise die Straße zum Strandzugang Nummer 10, den Hoornderslaag, und auch das kleine Gewässer De Groote Vlak erkennen. Mit dem Fernglas sah er zum Strand. Rechts standen Fahnenmasten am befestigten Zugang. Er erkannte das Dach eines Gebäudes, vermutlich ein Strandcafé, und einen Parkplatz, auf dem viele Strandhütten standen. Habbo vermutete, dass es sich um ein Winterlager für sie handelte. Links davon konnte er einen zertrampelten Sandweg zwischen zwei Dünen sehen, der vermutlich direkt ans Meer führte. Die hohen Dünen in diesem Bereich verdeckten den direkten Blick auf den Strand.

Habbo trat vorsichtig nach draußen, bloß nicht wieder über so einen verfluchten Absatz stolpern … Er konnte um den ganzen Bunker herumlaufen und nun auch Den Hoorn im Osten sehen und den Fußweg zum Parkplatz, wo sein Auto stand. Neben dem großen Bunker befand sich noch ein kleinerer. Er lag etwas tiefer und war für Habbo nicht so interessant.

Habbo Denkela war schlicht begeistert von diesem Aussichtspunkt. Einsam gelegen mit einer phantastischen Aussicht von oben auf die Naturschutzgebiete. Er beschloss, hier die ganze Nacht zu verbringen. Sollte es regnen, konnte er seine Ausrüstung in den Bunker bringen. Habbo ging zu seinem Auto zurück, um sie zu holen.

Das Schicksal drehte die Sanduhr von Habbo Denkela um und der Sand begann langsam nach unten zu rieseln. Die Menge im oberen Teil des Glases entsprach den noch verbleibenden Lebensstunden.

Kapitel 11

Freitagabend, Waddenhaven Oudeschild

Kerak saß auf einer Bank auf dem Seedeich und beobachte, wie Keno von Hasselts Segeljacht die Hafeneinfahrt von Oudeschild in Richtung Sportboothafen passierte. Seinen Vollbart hatte er inzwischen abrasiert, er trug eine dunkle Sonnenbrille und eine Schirmmütze. Er setzte sich auf sein Fahrrad und fuhr ebenfalls zu den Sportbootanlegern. Vom Deich aus schaute er zu, wie von Hasselt seine Jacht zum reservierten Liegeplatz steuerte. Erleichtert stellte Kerak fest, dass er sie ohne Hilfe am Anleger festmachte. Es lief gut: Der Mann war tatsächlich alleine angekommen und in unmittelbarer Nähe des Liegeplatzes lagen auch keine anderen Boote.

Von Hasselt ging zum Büro des Hafenmeisters um sich anzumelden. Kurz darauf verließ er das Hafenbüro wieder und ging in Richtung Ortsmitte. Kerak folgte ihm und sah ihn ein Fischrestaurant betreten. Er wartete einige Minuten und ging dann ebenfalls hinein, kaufte ein Fischbrötchen und setzte sich auf eine Holzbank, von der aus er von Hasselt beobachten konnte. Sein Opfer saß an einem runden Tisch und wartete, immer wieder gähnend, auf das bestellte Essen. Ja, Seeluft machte hungrig und müde, und die Überfahrt nach Texel war lang gewesen. Von Hasselt würde sicher früh schlafen gehen.

Kerak radelte nach Hause. Bis zum Einbruch der Dunkelheit musste er noch seine Ausrüstung in dem weißen Transporter verstauen und danach sein altes Surfbrett zum Strand bringen. Außerdem einige Steine von einem Lagerplatz organisieren und ebenfalls, zusammen mit einem Netz, zum Strand schaffen.

Kapitel 12

Ferienanlage Den Bos, im Norden der Insel

Die kleine Gesellschaft, bestehend aus Jan, Maike, Onno, Klaas, Johann und Karin, saß noch bei einem Gute-Nacht-Drink im Wohnzimmer des Ferienhauses zusammen und plante den Ablauf des morgigen Tages. »Ich freu mich schon auf das Kart-Rennen in der Halle«, sagte Klaas Leitmann. »Ist ja wohl klar, wer am schnellsten ist.«

Onno Elzinga lachte. »Erstens, lieber Klaas: Passt du überhaupt in dieses kleine Renngefährt? Zweitens muss ja die enorme Masse auch erst einmal beschleunigt werden.«

Jan Broning mischte sich ein. »Ihr als ehemalige Autobahnpolizisten seid doch an schnelles Fahren gewöhnt und klar im Vorteil.«

»Sind die beiden nicht immer im Bulli unterwegs gewesen?«, frotzelte Johann de Buhr.

»Jedenfalls habe ich fünf Flitzer gebucht«, sagte Klaas. »Hoffentlich lässt uns Stefan nicht hängen.«

»Männer!« Maike sah Karin verschwörerisch an. »Wenn ihr euer Rennen austragt, gehen wir Frauen shoppen in De Koog, bis die EC-Karte glüht.«

»Oha«, sagte Maikes Vater. »Das wird teuer. Und denkt bitte daran: Irgendwann ist auch ein Bulli voll.«

Maike stand auf und ging die Treppe zu den Schlafzimmern hoch. »Ich sehe mal nach Antje, die ist verdächtig ruhig.«

Jan Broning gähnte ausgiebig, und Onno tat es ihm nach. »Ich bin auch müde«, stellte er fest.

»Wahrscheinlich die Seeluft und der Alkohol«, ergänzte sein Kumpel Klaas. »Lass uns in die Heia gehen.«

»Nochmals besten Dank dafür, dass ihr ein Zimmer für uns geräumt habt«, sagte Johann de Buhr.

»Kein Problem«, erwiderte Onno und warf einen zweifelnden Blick auf Klaas. »Jedenfalls hoffe ich das …«

»Bis morgen früh dann in alter Frische«, verabschiedete Jan Broning die beiden.

Onno und Klaas gingen die Treppe zu den Schlafzimmern hinauf, und Onno holte seine Sachen aus seinem Zimmer. In dem von Klaas stand nur ein Doppelbett. Onno hoffte, dass man das Gestell auseinanderziehen konnte. Lieber etwas Abstand zu seinem Kumpel …

Klaas beobachtete vergnügt, wie er vergeblich an dem Bettgestell hantierte. »Das wird nix, Onno. Wirst wohl an meiner Seite schlafen dürfen.«

Eine Stunde später lag Onno immer noch hellwach neben Klaas, von dem bei jedem Ausatmen eine Brise Alkohol und Knoblauch herüberwehte. Vor allem aber schnarchte Klaas. Unregelmäßig und sehr laut. Es weckte Erinnerungen an die Nächte auf dem Küstenboot der Wasserschutzpolizei. Wohl dem, der vorbereitet ist! Onno nahm seine Ohrenstöpsel und seinen Flachmann aus der Reisetasche. Erst ein ordentlicher Schluck Rum, und dann die Stöpsel in die Ohren.

Er war gerade eingeschlafen, als er das Gefühl hatte, jemand hätte ihn am Fuß gekitzelt. Da – schon wieder! Er zuckte zusammen und versuchte zu sehen, was sich am Bettende befand. In diesem Moment erhob sich undeutliche eine weiße Gestalt und wurde immer größer. Als Onno die Ohrstöpsel herausgenommen hatte, konnte er zwei Stimmen hören: vom Bettende ein unterdrücktes Kichern und vom Flur her Maike Broning. »Antje, wo steckst du? Du machst doch wieder irgendeinen Unsinn!«

Die Spukgestalt am Bettende riss sich das weiße Laken vom Kopf, sprang vom Hocker und flüchtete aus dem Zimmer.

In diesem Moment setzte auch Klaas’ Schnarchen wieder ein und Onno sah resigniert an die Zimmerdecke.

Kapitel 13

Nacht von Freitag auf Samstag, Kerak