Friesischer Verrat - Wolfgang Santjer - E-Book

Friesischer Verrat E-Book

Wolfgang Santjer

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Es spukt im Rheiderland, davon ist der Coldeborger Zimmermann Ontje überzeugt. Mehrmals, so behauptet er, habe eine »Weiße Frau« ihn heimgesucht. Seine Kollegen Tamme und Diedje nehmen den verwirrten Alkoholiker nicht ernst, bis Ontje tot aufgefunden wird, erschlagen mit einer Axt. Hauptkommissar Broning und sein Team von der Kripo Leer haben kaum mit den Ermittlungen begonnen, da wird auch Diedje ermordet. Es stellt sich heraus, dass er eine Affäre mit Ontjes Ex-Frau hatte. Ist sie der Schlüssel zu dem Fall oder werden die Handwerker von einem dunklen Geheimnis eingeholt?

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Seitenzahl: 419

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Wolfgang Santjer

Friesischer Verrat

Kriminalroman

Zum Buch

Blutiges Handwerk In Coldeborg im Rheiderland wird der Zimmermann Ontje Wieringa brutal mit einer Axt erschlagen. Zuvor hat er seinen Kollegen Diedje Ebens und Tamme Hofenga von mehreren unheimlichen Erscheinungen einer »Weißen Frau« berichtet, wurde allerdings nicht ernst genommen. Kommissar Jan Broning und sein Team von der Kripo Leer übernehmen den Fall. Tatsächlich finden sich am Tatort Spuren einer Frau, aber an Spukgestalten wollen die Ermittler nicht glauben. Die Ereignisse überschlagen sich, als Diedje Ebens auf dieselbe Weise ermordet wird wie Wieringa und sich herausstellt, dass Ebens eine Affäre mit der Ex-Frau seines Kollegen hatte. Steckt sie hinter den Morden oder werden die Handwerker von einem Verbrechen eingeholt, das sie vor fünf Jahren bei der Renovierung eines alten Gulfhofs in Jemgum begangen haben? Und welche Rolle spielen eine junge Frau, die seit damals anonyme Zahlungen erhält, und eine alte Kriegskasse aus dem 16. Jahrhundert?

Wolfgang Santjer wurde 1960 in Leer geboren und lebt in Bingum an der Ems. 38 Jahre lang versah er als Polizeibeamter Dienst bei verschiedenen Polizeibehörden – angefangen beim damaligen Bundesgrenzschutz, dann der Wechsel zur Landespolizei. Weitere Stationen waren die Wasserschutzpolizei in Emden und Leer und die Autobahnpolizei in Leer, wo er sich unter anderem auf die Gefahrgutüberwachung spezialisierte. Als Ausgleich zu seiner Schreibtischarbeit als Autor schnitzt Wolfgang Santjer aus alten Schiffsdalben große Holzskulpturen für den Garten.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Olha Rohulya / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7088-2

Zitat

Vertraut nicht auf euer Geld und Gut

noch auf Fleisch und Blut

denn wenn euer Geld und Gut vermindern

so verlassen euch alle Menschenkinder

halt dich rein, niedrig und klein

denkt an den Tag, an dem niemand vorbeikommt.

Inschrift auf dem Giebel des Albahauses in Jemgum.

Prolog Erinnerungen des Elso Buurmann

Städtisches Krankenhaus in Leer, im Jahr 2010

Der Taxifahrer sah seinen Fahrgast auf dem Rücksitz kurz an. Der alte Mann war gerade vor dem Haupteingang des Krankenhauses in sein Fahrzeug gestiegen. Diesen trostlosen Ausdruck im Gesicht kannte der Taxifahrer gut von anderen Passagieren. Der betagte Herr war ohne Begleitung aus der Klinik gekommen, das war eher ungewöhnlich bei Menschen in seinem Alter.

»Na, wo soll’s denn hingehen?«, fragte er den Alten.

»In die Hölle!«

»Wie bitte!?« Der Taxifahrer glaubte, sich verhört zu haben, und drehte sich um. Er sah die dunklen Augenränder und den Ausdruck der Hoffnungslosigkeit in dem faltigen Gesicht. Den Mann hätte er auf 75 Jahre geschätzt. In diesem Moment bemerkte er den typischen Geruch, den ältere Menschen verströmten, die sich nicht ordentlich pflegten. Auch seine Kleidung roch irgendwie muffig.

»So schlimm?«, wollte der Taxifahrer teilnahmsvoll wissen.

Der Mann winkte ab und schüttelte unwirsch seinen Kopf. »Fahren Sie mich bitte nach Midlum im Rheiderland!«

»Okay, kenne ich!«, erwiderte der Taxifahrer und dachte, dass dies wahrscheinlich eine der Fahrten werden würde, die besser ohne Unterhaltung vonstattengingen.

Er fuhr los auf die Umgehungsstraße, nahm die Fahrspur, die in Richtung Weener führte, und beschloss, den Weg durch den Emstunnel zu wählen, weil er nicht vor der Jann-Berghaus-Brücke stehen wollte. Bei Leer-West fuhr er auf die Autobahn Richtung Niederlande und durch den Tunnel. Nachdem er die Röhre verlassen hatte, an der Anschlussstelle Jemgum/Bingum, verließ er die Autobahn und bog an der Kreuzung zur Landstraße links ab. Nun waren sie im Rheiderland, wo die meisten Ortsnamen mit »um« endeten. Der Fahrgast saß abwesend auf der Rückbank, ab und zu verzog er schmerzhaft sein Gesicht. Die schöne weite Landschaft und die Gänsescharen auf den Feldern nahm er nicht wahr. Das Taxi fuhr an Soltborg und den Erdgaskavernen vor Jemgum vorbei. Fünf Kilometer weiter erreichten sie Jemgum. Das Fahrtziel, der Ort Midlum, lag fast direkt dahinter. Dazwischen gab es nur die kleine Siedlung Eppingawehr. Diese Strecke an der Ems entlang wurde am Wochenende viel benutzt. Sie führte durch typische kleine Orte wie Critzum, Hatzum und Ditzum und bot etliche schöne Aussichtspunkte auf den Fluss und die raue Landschaft.

Das Taxi befand sich jetzt auf Höhe Eppingawehr und der Fahrgast sah sehnsüchtig in Richtung der Siedlung. Was mochte in seinem Kopf vorgehen? Nahm er in Gedanken Abschied?

»Am Ortsschild Midlum gleich rechts abbiegen«, sagte er mit brüchiger Stimme. »An der Ecke Landstraße und Deichstraße wohne ich.«

Kurz darauf betätigte der Taxifahrer den rechten Blinker und bog hinter dem Ortsschild ab. Dort stand ein großer Gulfhof mit dem Giebel in Richtung Straße.

Diese imposanten großen Bauernhöfe waren typisch für das Rheiderland. Sie zeugten von dem früheren Reichtum der Bauern in der Region. Der Boden hier war größtenteils früher Meeresboden gewesen und daher sehr fruchtbar. Dieser Gulfhof war zwar nicht ganz so opulent wie die der Polder-Fürsten, aber dennoch beeindruckend. Der ausladende vordere Wohntrakt ließ große Zimmer, hohe Decken und viel Platz vermuten. Direkt am Wohnhaus befand sich hinten der Gulf, eine riesige Scheune, die reichlich Platz für Trecker, Tiere und Futter bot. Dem Taxifahrer fiel allerdings auf, dass der Hof ungepflegt aussah. Im Scheunendach befanden sich Löcher und der Garten war total verwildert.

»Hier.« Der Fahrgast reichte ihm von hinten einen Hunderteuroschein. »Stimmt so.«

»Wie bitte?« Der Taxifahrer schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist zu viel.«

»Glauben Sie mir, da, wo ich hingehen werde, brauche ich kein Geld mehr«, sagte der Alte und versuchte zu lächeln.

»Danke, das ist sehr großzügig!« Der Taxifahrer machte Anstalten, seinem Passagier beim Aussteigen zu helfen.

»Bleiben Sie ruhig sitzen, ich schaffe das alleine.« Mit diesen Worten verließ der Mann das Auto und schlug die Tür zu.

Ortschaft Midlum, Gemeinde Jemgum

Elso Buurmann schaute durch das Küchenfenster nach draußen. Von dem Taxi, das ihn soeben vom Arzt nach Hause gefahren hatte, sah er nur noch die Rücklichter. Die Diagnose des Mediziners hatte er erwartet, aber jetzt wusste er mit Sicherheit, dass die Krankheit ihm nur wenige Monate Zeit lassen würde.

Die Einsamkeit in dem alten Gulfhof erdrückte ihn. Niemand, mit dem er über sein Leiden sprechen konnte, keine tröstenden Worte. Ja, Elso war allein in dem großen Gulfhof, lediglich einmal die Woche kam seine Putzfrau. Die Dame ging ihm stets aus dem Weg, als ob er ein ansteckendes Virus in sich trüge. Familie oder Freunde gab es nicht und zu der Einsamkeit gesellte sich tiefes Bedauern.

Elso lachte freudlos auf, Bedauern … Eigentlich war es eher Selbstmitleid, darüber, dass er nichts aus seinem Leben gemacht hatte. Sein Leben … Wie hatte es nur so schiefgehen können, was hatte er falsch gemacht?

Mühsam erhob er sich und ging zu einer Anrichte. Er zog eine Schublade des Küchenschrankes auf und nahm einen Stapel altmodischer Schulhefte heraus. Seine Lebensgeschichte, aufgeschrieben von ihm selbst in diesen billigen schwarzen Heften. Unbewusst schüttelte Elso den Kopf über seine speziellen Memoiren. Warum hatte er sich nicht schönere Bücher gekauft?

Sein Vater hatte bei Elsos Geburt mit dieser Art der Tagebuchführung begonnen, und Elso hatte später, als er selber schreiben und lesen gelernt hatte, die Aufzeichnungen fortgesetzt.

Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht schlurfte er zum Tisch zurück und setzte sich. Den Stapel mit den schwarzen Heften legte er auf die Tischplatte. Die Aufschriebe waren chronologisch geordnet. Zuoberst lag das Heft seines Vaters, dann folgten Elsos Notizen.

Er schlug das oberste Heft auf. Die Sütterlinschrift seines Vaters war schwierig zu lesen. Außerdem war alles sehr klein geschrieben, sicher, um Papier zu sparen.

Eppingawehr, Gemeinde Jemgum, 1.4.1940

Was für ein schrecklicher Tag. Heute wurde mein Sohn Elso geboren und meine geliebte Frau starb im Kindbett. Meine Schwägerin ist zu uns gezogen, und ich konnte sie überreden, sich um den Kleinen zu kümmern. Ich weiß, das Kind kann nichts dafür, und es ist nicht gerecht, aber ich kann es im Moment noch nicht auf dem Arm halten, vielleicht später. Wie soll ich alleine ein Kind erziehen, wo ich jeden Tag auf dem Bauernhof als Knecht schuften muss?

Elso klappte das Heft zu, weil er nicht weiterlesen konnte und wollte. War das die Erklärung für sein verkorkstes Leben? Die frühesten Erinnerungen an seine Kindheit bestanden darin, dass man ihn ständig irgendwohin abgeschoben hatte. Meistens zu seiner Tante, die ihn nicht hatte leiden können. Später hatte er begriffen, dass seine Mutter und ihre Schwester ein sehr inniges Verhältnis gehabt hatten. Er war die Ursache für ihren Tod gewesen, und das hatte sie ihn sehr deutlich spüren lassen.

Die rechte Hand seines Vaters war durch einen Unfall verstümmelt gewesen, deshalb hatte man ihn nicht zum Wehrdienst eingezogen. Elso erinnerte sich, dass sein Vater krank geworden war. Damals hatte er nicht verstanden, um was für eine Krankheit es sich gehandelt hatte. Heute wusste er es besser. Diese Krankheit war damals weitverbreitet gewesen und hieß Alkoholismus. Die Eintragungen in den letzten Lebensjahren seines Vaters waren immer seltener geworden, das wusste Elso, ohne sie anzusehen. Außerdem war die Schrift fast unlesbar. Das Tagebuch seines Vaters war an den Rändern leicht angesengt.

Sehr früh war Elso gezwungen gewesen, Aufgaben im kleinen Haushalt zu übernehmen. Während sein Vater betrunken und in Selbstmitleid badend auf dem alten Sofa gelegen hatte, war er einkaufen gegangen oder hatte notdürftig im Haus aufgeräumt. Im Alkoholrausch hatte Elsos Vater alle Erinnerungen an sein schmerzvolles Dasein loswerden wollen. Dazu hatte wohl auch sein Tagebuch gehört und er hatte es zusammen mit anderen Erinnerungsstücken verbrennen wollen. Bei der Befüllung des Ofens hatte er es wohl übertrieben und das Feuer erstickt. Elso hatte die Aufzeichnungen am nächsten Tag beim Reinigen des Kamins gefunden.

Die Lebenssituation der kleinen Leute war bekümmernd gewesen. Bei den meisten hatte es sich um bessere Sklaven gehandelt, die in der Landwirtschaft als Knechte und Mägde gearbeitet hatten. Der Griff zur Flasche hatte natürlich alles noch schlimmer gemacht, trotzdem hatte Elso Verständnis für die armen Menschen. Was ihm allerdings die Zornesröte ins Gesicht trieb, waren die Ausbeuter, die dieses Elend auch noch gefördert hatten, um jederzeit über genügend billige Arbeitskräfte zu verfügen. In einem alten Film hatte er gesehen, wie ein Schnapsfabrikant mit einem Wasserkessel voll Fusel über ein Feld gegangen war und das Teufelszeug den Arbeitern verabreicht hatte. Man hätte ihm mit der Sichel gleich an Ort und Stelle …

Schlechtes Gewissen überkam Elso.

Was hatte er selbst eigentlich mit seinem vielen Geld gemacht? Wo waren seine guten Taten? Beschämt schloss er kurz die Augen. Gute Taten Fehlanzeige! Geld versaut jeden Charakter, dachte er grimmig. Ich habe es im Keller gehortet und verschlossen.

Nicht zum ersten Mal hörte er wie auf Kommando die unheimlichen Geräusche von unten. Es knarzte und knackte hinter der Stahltür, die den Zugang zum Keller versperrte. Hatte jemand daran geklopft? Elso lief ein Schauer über den Rücken.

Er griff nach dem nächsten Heft.

Eppingawehr, Gemeinde Jemgum, 2.4.1954

 

Papa war wieder bei Mama auf dem Friedhof. Er sieht so traurig aus. Außerdem riecht er nach Schnaps. Der Schnaps macht ihn noch trauriger und er schaut mich vorwurfsvoll an. Was kann ich dafür, daß Mama gestorben ist, als ich auf die Welt kam? Nächstes Jahr soll ich zum Schmied im Dorf, um eine Lehre anzufangen.

Elso lächelte, als er diese erste Eintragung in dem Heft las. Seine krakelige Schrift unterschied sich sehr von der seines Vaters. Es kam ihm so vor, als ob er die Zeilen erst gestern geschrieben hätte.

Seine Tante hatte ihm einmal erklärt, was in den Jahren zwischen Elsos Geburt und dem Todestag seines Vaters geschehen war. Sein alter Herr hatte sehr darunter gelitten, dass er kriegsuntauglich gewesen war. Es mussten starke Minderwertigkeitskomplexe gewesen sein, die ihn gequält hatten. Dazu die Schuldgefühle, weil er als einziger seiner Schulfreunde den Krieg überlebt hatte. Er hatte immer mehr getrunken und das kleine Arbeiterhaus in Eppingawehr war verfallen. Elso hatte nur noch bei seiner Tante in Jemgum gewohnt. Eines Tages hatte sein Elternhaus gebrannt und sie hatten die verkohlte Leiche seines Vaters in den Trümmern gefunden. War er im Suff mit der brennenden Zigarette eingeschlafen? Was Elso stutzig gemacht hatte, war das Datum des Brandes. Es war nämlich der Todestag seiner Mutter, sein Geburtstag, gewesen, und die Nachbarn hatten gemunkelt, das könne kein Zufall gewesen sein. In den nächsten Heften gab es Eintragungen über Ereignisse während der Ausbildung beim Schmied. Der Meister war streng gewesen und der junge Elso beklagte sich über die erlittenen Ungerechtigkeiten. Elso lachte kurz über seine damalige Naivität, klappte das Heft zu und legte es beiseite. Alles Gold im Keller würde er hergeben, wenn er noch einmal von vorn beginnen könnte. Alles auf Anfang … Seine ersten Schritte in die Arbeitswelt, und die ganze Zukunft vor sich.

Elso lachte erneut ohne Freude, weil das Wort Zukunft für einen Todkranken zynisch klang.

Wieder diese Geräusche aus dem Keller. Es hörte sich an wie Raunen und Murmeln. Das Gold war verflucht, da war sich Elso inzwischen sicher. Wie viele Menschen waren direkt oder indirekt wegen des Goldes gestorben? Angefangen bei den Raubzügen der Spanier in Südamerika bis zur angeblichen Dienstverweigerung der Söldner bei der Schlacht von Jemgum. Zog das Gold die unglücklichen Seelen und Opfer des Fluches an sich wie das Licht die Motten? Riefen diese Toten bereits nach ihm?

Nicht mehr lange, aber erst musste er noch seine Lebensinventur abschließen.

Inventur, ein Lieblingswort seines Schmiedemeisters.

War Inventur nicht eine Bestandsaufnahme von Soll und Haben?

Automatisch griff er nach dem nächsten Heft und schlug es auf. Die Seiten sahen aus, als seien sie nass geworden. Die Außenränder wiesen kleine Wellen auf.

Jemgum, 1.4.1960

Dies ist der schlimmste Tag meines Lebens.

So lautete die Überschrift des Eintrags.

Elso brauchte nicht weiterzulesen. Er fühlte die Erinnerung an diesen Tag wie eine schlecht verheilte Wunde in seiner Seele. In der Küche, in der er jetzt saß, hatte er damals mit der gleichaltrigen Bauerstochter Anna gespielt. Heute würde man sagen eine Sandkastenliebe, allerdings eine ziemlich einseitige, wie er erst später erfahren sollte. Als er damals seinen Gesellenbrief in der Hand gehalten hatte, war er direkt zu seiner Anna gelaufen, und naiv, wie er war, hatte er großspurig von seinen Zukunftsplänen erzählt. Anna hatte große Augen bekommen und ihn ausgelacht. Ihre Antwort auf seinen indirekten Heiratsantrag hallte in seinen Erinnerungen nach. Nie wieder in seinem Leben würden Worte ihn so treffen und verletzen.

»Elso, du bist der Sohn unseres Knechtes. Du hast nichts, bist nichts und du wirst nie etwas haben. Du kannst doch nicht allen Ernstes glauben, mich, die Tochter eines reichen Bauern, heiraten zu können!«

»Aber ich liebe dich doch, Anna!«, hatte er gestammelt.

»Liebe ist was fürs Märchen«, hatte sie eiskalt entgegnet. »Es zählen nur Geld, Gold und Hektar.«

Wie viele Male zuvor fiel auch jetzt eine Träne auf die Seite des Heftes und Elso schimpfte mit sich selbst. Sentimentaler Narr!

Sein Vater hatte wenigstens seine Mutter geliebt und sie waren für einige Jahre glücklich verheiratet gewesen. Auf Elsos Habenseite in Sachen Liebe stand eine große Null. Nachdem Anna seiner Seele eine kalte Dusche verpasst hatte, war er anderen Frauen aus dem Weg gegangen. War es die Angst gewesen, wieder enttäuscht zu werden? Nein, er war insgeheim immer noch in Anna verliebt.

Warum habe ich sie nicht einfach vergessen und bei einer anderen Frau nach meinem Liebesglück gesucht? Verdammt, so schlecht sah ich damals nicht aus, hatte Arbeit, und Frauen habe ich immer mit Respekt behandelt. Aber nein, Anna spukte ihm seit damals im Kopf herum und ließ ihn bis heute nicht los.

Elso suchte aus dem Stapel ein bestimmtes Heft heraus. Als er es aufschlug, sah er, dass es das richtige war.

Jemgum, 1.4.1986

Mein großer goldener Tag! Jetzt wird alles anders und ein neues, gutes Leben beginnt!

Wie hatte er damals nur so dumm sein können?

Angekündigt hatte sich der Glückstag nicht, im Gegenteil, für einen Schmied hatte es immer weniger Arbeit gegeben. Umschulungen waren nichts für ihn gewesen, und deshalb hatte er Arbeiten angenommen, die andere nicht hatten haben wollen. Mit Spaten und Schaufel hatte er gut umgehen können. Der Erdboden in Jemgum bestand aus Klei und Lehm. Nicht umsonst hatte es hier so viele Ziegeleien gegeben. Der Klei war zäh und ließ sich schlecht graben, dazu kamen der Lehm und eine besonders harte Schicht im Boden. Elso hatte sich damit ausgekannt und seine Spaten mit seinem handwerklichen Können als Schmied speziell bearbeitet. Sie waren schmal und sehr scharf. Bei den Grabarbeiten hatte immer ein Eimer mit Wasser neben ihm gestanden. Den Spaten hatte er regelmäßig hineingetaucht, sein Werkzeug immer feucht gehalten. So hatte sich der Klei besser vom Schaufelblatt gelöst und die Arbeit war ihm viel leichter gefallen.

Die Häuser in Jemgum standen im Kernbereich des Ortes an der Giebelseite eng zusammen und die Gärten im hinteren Bereich der Grundstücke konnte man mit einem Bagger deshalb nicht erreichen.

Für Ausschachtungen, bei denen man große Geräte nicht einsetzen konnte, war Elso der richtige Mann gewesen.

Bei einem alten Bau in der Nähe des Albahauses hatte im Gartenbereich eine Wasserleitung neu verlegt werden sollen. Die alte Regenwasserleitung aus Tonrohren war nicht mehr zu gebrauchen gewesen, und Elso war damit beauftragt worden, die Erdarbeiten mit der Hand vorzunehmen. Die Hauseigentümer hatten geplant, eine Woche lang zu verreisen, während Elso graben würde. Ihm war das sehr recht gewesen, hatte er doch ungestört arbeiten können, ohne dass ihm jemand ständig auf die Finger sah.

An diesem goldenen Tag öffnete Elso die kleine Pforte zwischen den alten Häusern, schob seine Karre mit dem Werkzeug durch den schmalen Gang und stand dann im Garten seines Auftraggebers. Zunächst zog er eine Schnur, um den Verlauf der neuen Leitung festzulegen.

Mit seinem besonders schmalen Spaten sondierte er den Boden entlang der Leine. In einer Spatentiefe stieß er auf einen harten Gegenstand. Elso kannte dies schon, weil in alten Gärten alles Mögliche verbuddelt worden war. Es gab Ziegel, Aschereste und einmal hatte er auch schon ein altes Fahrrad ausgegraben. In diesem Fall waren es Reste eines Regenwasserbrunnens, einer sogenannte Regenpütte.

In Ostfriesland war früher das Regenwasser in einer Art Brunnen gesammelt worden. Die Brunnenwände bestanden aus Ziegeln, die man ohne Mörtel rund aufeinandergelegt hatte. Die Schächte hatten teilweise einen Durchmesser von eineinhalb und eine Tiefe von bis zu zehn Metern gehabt. Eine Wasserleitung hatte oft vom Brunnen bis zur Küche des Hauses geführt. Dort hatte sie meist an einer alten Schwengelpumpe geendet. Auf diese Weise hatte man das Regenwasser in der Küche nutzen können, meistens natürlich, um Tee zu kochen. Das Wasser war zwar weich, hatte allerdings den Nachteil, dass es arm an Mineralien war. Dieser Nachteil wurde dadurch ausgeglichen, dass man viel Tee trank.

Elso grub vorsichtig weiter, weil er nicht in so einen tiefen Schacht stürzen wollte. Er suchte den Rand des Brunnens und grub von dort aus weiter. Zum Glück hatte man die Pütte stillgelegt und mit alten Ziegelresten aufgefüllt. Er konnte sich etwas entspannen, ahnte aber, dass ihm eine elende Plackerei bevorstand. Die neue Wasserleitung musste frostsicher verlegt werden, also mindestens 80 Zentimeter tief. Elso griff sich seine Spitzhacke und spuckte in die Hände. Spaten und Spitzhacke lösten sich ab und er begann zu schwitzen. Diese schwere Arbeit liebte er, weil er dabei nicht nachdenken musste. Langsam, aber stetig grub und hackte er sich weiter an der Schnur entlang. Am späten Nachmittag befand er sich noch im ersten Drittel der Gesamtverlegungslänge.

Er wollte gerade Feierabend machen, da traf sein Spaten auf einen sehr harten Gegenstand. Vorsichtig sondierte er den Boden um das Teil herum und fluchte laut. Offenbar hatte er es mit einer großen, massiven Steinplatte zu tun, die genau im Weg lag. Er buddelte einen Teil der Platte frei und entdeckte darauf eine eingearbeitete Jahreszahl: 1567. Der Heimatkundeunterricht in seiner Schulzeit kam ihm in den Sinn. Die Schlacht in Jemgum hatte 1568 stattgefunden, ein Jahr später. Elso ahnte, was der Fund bedeuten könnte: großes öffentliches Interesse und natürlich Ausgrabungen unter wissenschaftlicher Leitung. Seinen Auftrag könnte er dann vergessen und das Geld für seine Arbeit brauchte er im Moment dringend.

Die Lösung war einfach, er würde von beiden Seiten aus beginnen und eine Art kleinen Tunnel unterhalb der Platte für die Rohre graben. Die Wasserleitung bestand aus zusammensteckbaren Kunststoffteilen. Technisch war das zwar umständlich, aber machbar. Die Platte würde er so belassen, wie sie jetzt lag. Wenn alles fertig wäre, könnte er die Eigentümer immer noch darüber informieren. Von seinen Vermutungen, insbesondere zur Inschrift, würde er natürlich nichts erzählen. Die Leitung wäre fertig, und was die Eigentümer des Grundstückes unternehmen würden, war ihm egal.

Von beiden Seiten fing er an zu graben. Unter der Platte bildete sich eine Aushöhlung. Den ausgehobenen Erdboden warf Elso mit Schwung auf einen Haufen. Da blitzte es im Dreck, der auf seiner Schaufel lag. Ein goldener Schimmer im Abendlicht. Vorsichtig legte er den Spaten neben sich auf den Rasen. Mit den Fingern untersuchte er behutsam die Erde auf dem Spaten und ertastete einen harten runden Gegenstand. Unwillkürlich hielt er die Luft an, weil er glaubte, eine alte Münze in der Hand zu halten. Mit zittrigen Fingern wischte er die restliche Erde von dem kleinen Etwas und reinigte es im Wassereimer, der neben ihm stand. Im Wasser lösten sich die letzten anhänglichen Kleireste, und Elso stellte fest, dass es sich tatsächlich um eine Goldmünze handelte. Auf seinem Körper bildete sich eine Gänsehaut, ein eiskalter Schauer lief über seinen Rücken. Er sah sich um und dachte, wo eine war, könnten noch weitere sein.

Er steckte das historische Geldstück in seine Hosentasche und klopfte zufrieden von außen darauf, ehe er vorsichtig weitergrub.

Er hatte verschimmelte Holzreste und alte Beschläge gefunden, die ausgesehen hatten, als ob sie einmal zu einer Truhe gehört hätten. Tatsächlich war er auf die Reste eines antiken Vorhängeschlosses gestoßen. Aber was ihn viel mehr fasziniert hatte, waren die Goldmünzen gewesen, von denen immer mehr aufgetaucht waren. Inzwischen hatte er den großen Wassereimer geleert und die Münzen hineingelegt. Es hatte nicht lang gedauert und der Eimer war bis oben hin gefüllt gewesen.

Die Geräusche aus dem Keller rissen Elso zurück aus der Vergangenheit.

»Ruhe da unten!«, rief er. »Ich komme ja bald.«

Er fluchte. Wenn er damals nur anders gehandelt hätte … Er hätte seinen Fund ordnungsgemäß melden und das verdammte Gold im Erdboden liegen lassen sollen.

Damals hatte er die Überreste der Truhe und natürlich das Gold in seine Karre gepackt und mit nach Hause genommen.

Die Tage nach dem Goldfund hatte er in einer Art Rauschzustand verbracht. Nur mit Mühe war es ihm gelungen, die Wasserleitung fertig zu verlegen. Niemand hatte geahnt, was er im Garten gefunden hatte, und er hatte beschlossen, dass es so bleiben sollte.

Inzwischen überlegte er, woher die riesige Menge Goldmünzen stammte, und die Sage über die holländische Kriegskasse, die während der Schlacht von Jemgum verschwunden war, fiel ihm ein. Angeblich soll es damals zu einem Streit innerhalb des holländischen Heeres wegen ausstehender Soldzahlungen gekommen sein, obwohl sich die Kriegskasse bereits im Lager befunden hatte.

Der spanisch-niederländische Freiheitskampf hatte mit einem Überraschungssieg der Niederländer bei der ersten Schlacht in Heiligerlee begonnen. Die Niederländer hatten sich danach abgesetzt, weil sie zu Recht die Rache des spanischen Herzogs Alba befürchtet hatten. Sie hatten ihr Lager damals ausgerechnet in Jemgum aufgeschlagen. Dort kam es im Jahr 1568 zur zweiten Schlacht, die für die niederländische Streitmacht in einem Desaster geendet hatte.

Ein Grund für die Niederlage soll der Streit wegen des noch ausstehenden Solds gewesen sein. Elso war sich nicht sicher, was den Wahrheitsgehalt der Sagen betraf, aber könnte es nicht so gewesen sein, dass irgendjemand diese Kriegskasse vor der Schlacht vergraben hatte, um sie danach wieder auszugraben? Die Beteiligten an dieser Aktion könnten darauf in der Schlacht bei Jemgum gefallen sein, und niemand hätte den Ort gekannt, an dem die Kriegskasse vergraben worden war.

Elso hatte sein Elternhaus in Eppingawehr in den letzten Jahren wiederaufgebaut und wohnte dort in einfachsten Verhältnissen. Seine Jugendliebe Anna hatte inzwischen eine schlechte Wahl bei ihrem Bräutigam getroffen. Menno, ihr Ehemann, hatte nicht zu den Menschen gehört, die begriffen hatten, dass Alkoholkonsum problematisch werden konnte. Anna hatte hilflos zugesehen und zusammen mit diesem Nichtsnutz in ihrem elterlichen Bauernhof in Midlum gewohnt, direkt am Deich. Er hatte getrunken und den Hof vernachlässigt. Irgendwann in den letzten Jahren hatte Menno es wohl mit den Alkoholexzessen übertrieben und war an den Folgen gestorben. Gerüchte hatten die Runde gemacht, Anna sei in finanzieller Not und der verschuldete Hof solle verkauft werden.

Elso sah eine Möglichkeit, sich zu rächen, aber dafür benötigte er viel Geld. Wie sollte er einen Teil der Goldmünzen verkaufen? Er konnte den Bauernhof ja schlecht mit altem Gold bezahlen. Ein Münzhändler in Bremen war die Lösung für das Problem, er stellte nicht viele Fragen und der Verkauf wurde ohne Quittung abgewickelt. Sein altes Moped tauschte Elso gegen einen Mercedes.

Das zweite Problem war, dass Elso eine Erklärung für seinen plötzlichen Reichtum benötigte. Bei seinen neugierigen Nachbarn in Eppingawehr und beim Bäcker in Jemgum erzählte er nebenbei, dass man nur Lotto spielen müsse, um sich ein neues Auto kaufen zu können. Das Gerücht verbreitete sich schnell als Tratsch von Haus zu Haus, und weil es genauere Informationen über die Höhe des Gewinnes nicht gab, wurde wild spekuliert. Er lachte, als er später am anderen Ende des Ortes, in Jemgumkloster, erfuhr, wie viel er angeblich gewonnen hatte.

Annas elterlichen Bauernhof konnte er günstig kaufen. Seine Jugendliebe glaubte wohl an eine glückliche Fügung, an ein Happy End, als sie erfuhr, wer den Hof gekauft hatte. Sie wurde bitter enttäuscht, als sie Elso bat, weiter im Hof wohnen zu dürfen. Sie hätte für ihn gekocht, das Haus sauber gehalten und Miete gezahlt, alles getan, nur um bleiben zu dürfen. Elso sah die echten Tränen in ihrem Gesicht, wollte sie trösten und in den Arm nehmen. Er spürte, dass sie ihren Hochmut nach den Jahren mit Menno gegen Bescheidenheit eingetauscht hatte. Da flüsterte ihm eine innere Stimme ins Ohr: Elso, du hast nichts und du bist nichts!

Die restlichen Gefühle für Anna und sein Mitleid wurden durch die Erinnerung fortgewischt. Seine Seele versteinerte und mit eiskalter Stimme sprach er: »Anna, es zählen nur Geld, Gold und Hektar. Beides hast du nicht mehr. Und jetzt verschwinde!«

Nicht nur Anna war enttäuscht, sondern auch Elso. Das erwartete Hochgefühl, als er den Hof kaufte, auf dem sein Vater als Knecht geschuftet hatte, und die Befriedigung über seine späte Rache an Anna blieben aus. Er war unglücklich und saß allein in diesem riesigen Bauernhof.

Seine Goldmünzen hatte Elso im Keller des Gulfhofes eingemauert und den Eingang mit einer sehr stabilen Eisentür gesichert.

Sein gnadenloses Verhalten gegenüber Anna war immer wieder Thema bei den Nachbarn gewesen. Elso hatte gewusst, dass sie ihn nicht mochten und ihm aus dem Weg gingen. Falsche Freunde hatten ihn um finanzielle Unterstützung gebeten und seine wenigen echten hatten nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen.

Ja, und nun saß er hier und machte seine Lebensinventur. Das Ergebnis war auf der Habenseite eigentlich sehr gut. Er war reich und Eigentümer eines Gulfhofes.

Aber was konnte er sich davon kaufen? Frauen im Rotlichtviertel in Bremen waren kein Ersatz für echte Liebe, und seine Krankheit würde ihn – trotz des Goldes – umbringen.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht stand Elso auf und warf seine Tagebücher in den alten Ofen. Er lachte freudlos auf, damals hatte sein Vater genauso gehandelt. Danach ging er am Keller vorbei in die Scheune und nahm einen Kälberstrick vom Haken. Als er zurück in der Küche war, hörte er wieder Geräusche aus dem Keller. War das gerade ein Lachen gewesen oder spielten ihm die starken Schmerzmedikamente einen Streich? Er sah in den Ofen, von seinen Heften waren nur noch Aschereste übrig. Gut so: Asche zu Asche und Staub zu Staub!

Er dachte an das Gedicht seines Lieblingsschriftstellers aus Husum.

Ein alter Mann weiß, dass er sterben wird, und lässt sein Leben noch einmal Revue passieren. Dabei denkt er in Liebe nur an seine verstorbene Frau und nicht an Geld. Außerdem fragt sich dieser Mann, was nach dem Tod passieren würde. Er hadert mit seinem Gott und dessen angeblichen weltlichen Vertretern. Elso konnte den Mann jetzt, kurz vor seinem eigenen Tod, gut verstehen. Dieser Mann aus dem Gedicht schreibt einen letzten Brief, und dies wollte Elso auch tun, bevor …

Sein Abschiedsbrief fiel kurz und sachlich aus, aber er wollte zumindest sein Lebensende ordentlich abschließen. Jedem sollte klar sein, dass er sein Ende selbst gewählt hatte. Er stieg auf einen wackeligen Küchenstuhl und band ein Ende des Kälberstricks an einen stabilen Eisenhaken an der Decke. Die Schlinge am anderen Ende legte er sich um den Hals.

Na, die Putzfrau wird morgen einen ordentlichen Schrecken bekommen, dachte er und ließ sich vom Stuhl fallen.

Teil 1 2012

Midlum, Gulfhof

Ido Smid saß in der Küche des alten Gulfhofes und sah auf den stabilen Eisenhaken an der Decke. An diesem hatte sich vor zwei Jahren sein entfernter Verwandter Elso Buurmann erhängt. Der Grund für den Suizid war vermutlich dessen schwere Krankheit gewesen. Außerdem gab es Gerüchte über die schlechte seelische Verfassung des alten Mannes. Die polizeiliche Untersuchung war durch Elsos Abschiedsbrief verkürzt worden. Wie hatte sich der Kriminalbeamte ausgedrückt? »Ein Klassiker: vereinsamter Mann, unheilbar krank und seelisch labil.«

Ja, die Isolierung und Einsamkeit in Elsos letzten Lebensjahren waren nicht gut für ihn gewesen.

Merkwürdig … Vor seinem plötzlichen Reichtum hatte sich Elso eigentlich großer Beliebtheit erfreut. Er hatte hart gearbeitet und sein kleines Elternhaus in Eppingawehr gepflegt, das er selber wiederaufgebaut hatte.

Elsos Suizid und jetzt das hier! Ido schüttelte den Kopf. Der Bauernhof war in einem miserablen Zustand.

War Elso das Geld ausgegangen? Von seinem Lottogewinn aus dem Jahr 1986 war jedenfalls auf dem Konto nichts mehr übrig.

Ido war Elsos einziger Erbe, und inzwischen wusste er, dass wenigstens der Bauernhof unverschuldet war. Elsos Beerdigung hatte Ido selbst bezahlt. Aber er wollte nicht ungerecht sein, der Hof mit dem Grundstück war doch einiges wert. Seit zwei Jahren versuchte Ido vergeblich, ihn zu verkaufen. Der schlechte Zustand schreckte mögliche Interessenten ab. Außerdem behaupteten die Anwohner, dass es im Haus spuke, und diese Gerüchte machten es nicht leichter, den Hof loszuwerden. Jetzt, nach zwei Jahren, war es Ido endlich gelungen, Käufer aus Düsseldorf zu finden. Hoffentlich erfuhren die neuen Eigentümer nichts von den Gerüchten. Insbesondere nicht, dass sich Elso hier in der Küche erhängt hatte.

Die Spukgeräusche in dem Haus hatten mehrere Ursachen:

Das Haus lag in der Nähe zur Ems. Der Fluss war in den letzten Jahren immer tiefer ausgebaggert worden. Dazu kamen die Flussbegradigungen und Grundwasserabsenkungen für große Bauprojekte. Alles zusammen führte zu Verwerfungen im Erdreich. Die Fundamente des Gulfhofes waren dadurch beschädigt worden und es war zu Rissen in den Mauern und Spannungsschäden in der Balkenkonstruktion gekommen. Die fehlenden Investitionen in die Bausubstanz, keine regelmäßige Heizung und die Löcher überall im Dach taten ihr Übriges. Eine logische und natürliche Erklärung.

Der Verfall wurde ganz besonders im Bereich des Kellers deutlich:

Der Eingang war stellenweise eingestürzt. Die Decke des Kellers bestand aus Holzbalken. Diese waren zum größten Teil vergammelt, und es war nur eine Frage der Zeit, bis alles zusammenbrechen würde.

Ein großer Teil des Wohntraktes war unterkellert. Eine Sanierung würde einen Riesenaufwand bedeuten. Ido war deshalb davon ausgegangen, dass die neuen Eigentümer das Gebäude abreißen wollten, um auf dem schönen Grundstück an der Ems ein neues Haus zu bauen. Umso erstaunter war er, als er erfuhr, dass das Gebäude aufwendig renoviert werden sollte. Der Monumentendienst hatte sich inzwischen erfolgreich eingeschaltet und das Gebäude dadurch vor dem Abriss bewahrt.

Die Aufgabe des Monumentendienstes war es, historische Gebäude zu schützen und für die Nachwelt zu erhalten.

In den letzten Wochen hatte es bereits mehrere Untersuchungen des Gulfhofes gegeben. Die zwei netten Fachleute hatten ein Gutachten über die Bausubstanz erstellt und dabei waren sie sich einig gewesen: Der Gulfhof sei historisch wertvoll und erhaltenswert. Danach war ein wichtiges Gespräch mit den Kaufinteressenten gefolgt, ob und wie das Gebäude erhalten werden könne.

Ido war sehr erleichtert, dass die Interessenten nach diesem Gespräch den Hof immer noch hatten kaufen wollen. Sie planten eine komplette Renovierung und wollten das Gebäude anschließend als Ferienwohnung nutzen. Außerdem sei die riesige Scheune ideal als Ausstellungsort für befreundete Künstler geeignet.

Geld war wohl ausreichend vorhanden und die erheblichen Renovierungskosten schreckten sie zum Glück nicht ab. Die auf Sanierungen alter Gebäude spezialisierte Baufirma Hofenga sollte nun mit den wichtigsten Arbeiten beginnen.

Ido atmete tief durch, heute Morgen war der Kaufvertrag beim Notar unterschrieben worden. Endlich war er diesen Klotz am Bein los. Er mochte dieses Haus nicht und war froh, dass er in Zukunft nicht mehr hierher müsste.

Gleich nach dem Termin beim Notar waren die neuen Eigentümer wegen wichtiger Termine nach Düsseldorf abgereist.

Ido war gebeten worden, den Chef der Baufirma, Tamme Hofenga, vor Ort einzuweisen. Damit war Ido einverstanden gewesen und nun wartete er auf den Handwerker.

Den Zimmermeister Tamme Hofenga kannte Ido gut. Beide wohnten im Ort Jemgum und viele Geheimnisse gab es dort nicht. Jeder kannte jeden, und wenn mal wieder nichts los war, gab es immer wieder Gerüchte. Jeder war mal dran. Ido grinste. Nach dem Verkauf des Hauses wäre er bestimmt als Nächster an der Reihe: Ido hat Elsos Geisterhaus an reiche Düsseldorfer verkauft und so weiter.

Tamme war immer wieder ein Thema im Ort. Sein Betrieb hatte drei Mitarbeiter und es handelte sich um eine eingeschworene Gemeinschaft von Handwerkern. Alle hervorragend ausgebildete Zimmermänner.

Zu seinen Leuten gehörte Hubertus Dascher, der in einem Wohnwagen im Deichvorland hauste. Das Gelände, auf dem der Wohnwagen stand, befand sich zwischen dem Hafen Jemgum und einer alten Ziegeleiruine. Auf diesem Grundstück lagerte Tamme Hofenga auch das Holz für seine Firma. Dascher konnte dort wohnen und gleichzeitig auf das wertvolle Material aufpassen. Ido mochte ihn nicht, weil der Zimmerer stets eine große Schnauze hatte und sich immer wieder in den Vordergrund spielen musste.

Dann war da Ontje Wieringa, ebenfalls ein Zimmergeselle, der ein wenig übergeschnappt war. Ein Spökenkieker, wie man hier im Rheiderland sagte. Im Jahr 2010 hatte die Firma Hofenga am Steinhaus in Bunderhee gearbeitet. Angeblich hatte Ontje an einem Fenster des alten Turms die Spukgestalt einer Weißen Frau gesehen, und seitdem wurde es mit ihm immer schlimmer. Insbesondere wenn Ontje einen im Tee hatte, erzählte er von Begegnungen mit Geistern in seinem Haus, das in Coldeborg einsam am Deich lag. Er war als Einziger der Männer verheiratet gewesen. Seine Ex-Frau, Frauke Hinrichs, hatte es nicht lange bei ihm ausgehalten und wohnte inzwischen wieder in Critzum.

Glaubte man den Gerüchten, gab es inzwischen einen neuen Freund in ihrem Leben. Auf Ontjes Spinnerei wirkten sich die Gerüchte nicht gerade lindernd aus.

Der vierte im Bunde der Zimmerleute war Diedrich Ebens, ein begeisterter Motorradfahrer mit fragwürdigen Verbindungen zu einer Rockerbande in Bremen.

Ja, sie waren eine merkwürdige Zusammenstellung, diese vier Handwerker, aber eins hatten sie gemeinsam: Sie konnten alle sehr gut mit Holz umgehen. Da machte ihnen keiner etwas vor, besonders, wenn es um alte Häuser ging, die es zu renovieren galt.

Eigentlich hätte die Firma gut laufen müssen, aber Tamme Hofenga konnte nicht mit Geld umgehen. Er war Handwerker, kein Kaufmann. Deshalb war er ständig klamm und sein kleiner Betrieb hatte einige Male vor dem Konkurs gestanden. Dieser Auftrag des neuen Eigentümers aus Düsseldorf war wieder einmal seine Rettung im letzten Augenblick.

Es war ein Wunder, dass seine Handwerker Dascher, Wieringa und Ebens ihm die Treue hielten, denn Hofenga bezahlte seine Leute schlecht und unregelmäßig.

Idos Frau kannte den Grund für Hofengas Probleme natürlich genau: »Da fehlt eine Frau im Haus, die auf die Finanzen achtet.«

Ido vermutete, dass das starke Zusammengehörigkeitsgefühl der vier Zimmerleute da herrührte, dass sie allesamt Idealisten waren und die Leidenschaft für diese historischen Restaurationen teilten.

Er sah aus dem Küchenfenster nach draußen, weil er hörte, wie ein Auto auf die Auffahrt fuhr. Ja, es war der alte Pritschenwagen des Zimmermanns Hofenga. Hofenga, ein Hüne von einem Mann, stieg aus dem Gefährt und blieb vor dem Giebel des Hauses stehen. Früher war Tamme der Schwarm der Mädchen im Dorf gewesen. Er sah aus wie ein typischer Friese. Groß, breite Schultern, ein kantiges Gesicht und blondes Haar. Tamme musste etwa in Idos Alter sein, so um die 40. Neidisch musste Ido anerkennen, dass sich Tamme äußerlich besser gehalten hatte. Die Kraft des Zimmermeisters war legendär in Jemgum: Warum sollen wir einen Kran holen, wenn Tamme da ist? Schwere Holzbalken wuchtete er mit seinen riesigen Händen an Ort und Stelle. Seine Kraftentfaltung war dabei langsam und stetig, weil er darauf achtete, seine Muskeln richtig einzusetzen.

Ido erinnerte sich an eine Szene, die er selbst bei einer Baustelle im Ort beobachtet hatte. Ein langer schwerer Balken hatte in eine Dachkonstruktion eingesetzt werden sollen. An einem Ende hatte Tamme das Stück gehalten und am anderen Ende waren zwei Männer nötig gewesen. Als Ido gesehen hatte, wie Tamme den Balken alleine über seine Schultern anhob, hatte er nur gedacht, dass er mit dem Mann keinen Streit haben wollte.

Tammes aufrechte Haltung drückte Stolz aus, aber auch eine Spur von kalter Abweisung gegenüber anderen Menschen. Vielleicht hatte er deswegen nie geheiratet.

Wann hört Stolz auf und wo beginnen Überheblichkeit und Arroganz?, fragte sich Ido. Der sonst etwas abschätzige Ausdruck in Tammes Gesicht war jedenfalls im Moment verschwunden. Konzentriert sah er sich den Giebel des Hauses an.

Ido ging in Richtung Scheune und erwartete, dass Tamme ihm den katastrophalen Zustand des Gulfhofs vorhalten würde.

Tamme Hofenga sah sich den Backsteingiebel des Hauses an. Er sah nicht die kaputten Fugen und Risse in der Mauer, sondern bewunderte die Handwerkskunst der Erbauer. So was konnten heutzutage nicht mehr viele.

Diese aufwendigen Backsteinmaurerarbeiten, die Bögen über den Fenstern und die gelungenen Proportionen. Dann dieser Bereich über der Eingangstür, ein echtes Meisterstück! Dem Handwerker war es gelungen, das Relief von Burgzinnen anzudeuten.

In Gedanken hatte Tamme den fertig renovierten Giebel vor sich. Diesen Auftrag würde er übernehmen, er musste ihn einfach haben, egal was sie ihm bezahlen würden.

»Hallo, Tamme, vorne kommst du nicht rein, die Tür hat sich verzogen.«

Ido Smid kam auf ihn zu und die beiden Männer begrüßten sich mit festem Händedruck.

»Hallo, Ido, wie geht’s dir?«

»Muss ja. Und selber?«

»Wir werden wohl älter, aber wir wollen nicht jammern!«

»Komm mit, Tamme, wir müssen durch den seitlichen Eingang der Scheune, dann können wir uns drinnen umsehen.« Ido ging voraus.

Gemeinsam betraten sie die riesige Scheune. Licht war dank der großen Löcher im Dach reichlich vorhanden.

Tamme kannte ähnliche Scheunen von anderen Baustellen. Trotzdem beeindruckten ihn die Ausmaße immer wieder aufs Neue. Die Luft war schwer, es roch nach schimmeligem Holz. Die Feuchtigkeit war ein großes Problem für die Balkenkonstruktion. Die Grundlage bildeten die riesigen Holzbalkenständer, die am Boden auf Steinfundamenten befestigt waren. Eine typische Vierständerkonstruktion aus Eichenbalken. Andere Balken waren verbaut worden, wie sie gewachsen waren. Wie man aus diesen krummen und schiefen Balken eine gerade Dachfläche baute? Das war seit jeher eine besondere Fähigkeit der Handwerker.

»Ja, Tamme, hier sieht es böse aus«, erklärte Ido neben ihm.

»Allerdings, schade, dass man nicht zumindest das Dach ausgeflickt hat«, bestätigte Tamme. »Dieses Holz mag keine Feuchtigkeit.«

»Die neuen Eigentümer möchten, dass ihr mit dem Wohntrakt beginnt, mit dem maroden Fußboden.«

»Okay, dann wollen wir uns den einmal ansehen.«

Die beiden Männer gingen durch eine Tür, die von der Scheune in den vorderen Wohnbereich führte. Eine dicke Brandwand trennte die hintere Scheune und den vorderen Teil des Gulfhofes, wo sie nun im hinteren Flur standen.

Von diesem Flur führten einige Stufen hinauf in die Fußbodenebene des vorderen Gebäudeteils. Außerdem ging es über eine kleine Treppe hinab in den Keller.

Der vordere Wohntrakt war zum größten Teil unterkellert. Die Keller in dieser Landschaft durften wegen des hohen Grundwasserspiegels nicht zu tief angelegt werden, deshalb lag der Fußboden im Wohnbereich etwas höher, damit man zumindest eine begehbare Kellerhöhe erhielt.

»Lass uns gleich mit dem Hauptproblem beginnen«, schlug Ido vor und ging voraus Richtung Kellertreppe.

Der Eingang zum Keller war durch eine massive Eisentür versperrt. Tamme erkannte sofort, dass der Rahmen der Tür vermutlich durch Bodenversackungen verzogen war.

»Die Tür klemmt sicher!«, vermutete er.

»Ja, total verzogen und massiv aus Eisen«, pflichtete Ido bei. »Da kommen wir nicht rein.«

»Merkwürdig, so eine massive Tür vor einem Keller«, stellte Tamme fest.

»Ja, Elso war gelernter Schmied, die Tür wird er selber eingebaut haben.«

»Schade, dass wir nicht reinkommen«, erwiderte Tamme. »Vom Keller aus kann man am besten sehen, wie es um den Boden steht. Die Balken ruhen ja auf Fundamenten und sind auch seitlich befestigt.«

»Vielleicht kommt ihr ja von oben rein?«, hoffte Ido. »Ich weiß sowieso nicht, was das alles soll.«

»Was weißt du nicht, Ido?«, hakte Tamme nach.

»Na, dieser Aufwand, du siehst doch selber, wie es hier aussieht. Ich weiß … du wirst es nicht gern hören, Tamme, weil dein Auftrag davon abhängt, dass der Hof restauriert wird, aber sollten sie nicht einfach alles abreißen und neu bauen?«

»Das ist ja wohl nicht dein Ernst! Dieses Gebäude ist historisch und ein ungeschliffener Diamant.« Tamme sog Luft in die Lungen, um sich etwas zu beruhigen. Missmutig schüttelte er den Kopf, weil ihm bewusst wurde, dass ein Mann wie Ido ihn niemals verstehen würde. »Aber zu meinem Glück ist die Sache ja bereits entschieden!«

»Da sei dir man nicht so sicher«, sagte Ido.

»Wie bitte, was soll das nun wieder heißen?« Tamme hatte Schwierigkeiten, die Wut in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Ganz einfach, bei den Eigentümern, diesem Ehepaar aus Düsseldorf, gibt es zwei Meinungen, was die Zukunft des Hofes angeht. Er möchte am liebsten alles abreißen und neu bauen. Sie ist der romantische Typ und will alles erhalten und restaurieren«, erklärte Ido, »und im Moment hat sie sich durchgesetzt, aber bleibt sie auch bei ihrer Meinung?«

Tamme rang um Beherrschung. »Hör mal zu, Ido, dieser Auftrag ist für meine Firma verdammt wichtig, also wenn du etwas weißt, dann raus mit der Sprache, verdammt noch mal!«

»Vielleicht hätte ich besser die Schnauze gehalten«, murmelte Ido, als er in Tammes wütendes Gesicht sah. Es war zu spät, um zurückzurudern. »Tamme, diese romantische Frau weiß nicht, dass Elso sich hier in der Küche aufgehängt hat, und es sollte ihr auch besser nicht zu Ohren kommen …«

»… weil sonst mit Sicherheit alles plattgemacht wird«, vervollständigte Tamme seinen Satz.

Ido nickte und Tamme begriff die Tragweite seiner Worte. Für einen Neubau brauchte man die spezialisierte Firma Hofenga nicht. Diesen Auftrag konnte jede andere Baufirma übernehmen, und für die notwendigen Abrissarbeiten fehlte Tammes Betrieb das schwere Gerät.

»Ja, Tamme, die Restaurierung hängt an einem verdammt dünnen Faden, und es ist gut, dass die Eigentümer jetzt weit genug weg sind.«

»Damit sie nichts von Elsos Selbstmord erfahren und ihnen die anderen Gerüchte nicht zu Ohren kommen«, schloss Tamme.

Idos Handy klingelte.

»Entschuldige, ich geh kurz ran.«

Während Ido telefonierte, machte sich Tamme Gedanken über die neuen Eigentümer. Er sollte besser darauf aufpassen, dass die Arbeiten ohne Probleme verliefen. Irgendwann würde der Aufwand für die Renovierungsarbeiten so groß sein, dass die Eigentümer nicht mehr zurückkönnten. Hoffentlich blieben sie noch lange in Düsseldorf. Die Gerüchte über Elsos Suizid und die Spukgeräusche im Haus würden sicher irgendwann von allein aufhören und nicht bis an den Niederrhein dringen. Er dachte an die Eisentür vor dem Kellereingang. Idos Vermutung, dass Elso die schwere Tür selbst eingebaut hatte, war sehr interessant. Die Geschichte von Elso Buurmann war ihm natürlich bekannt. Sein ruhiges Leben als Arbeiter und dann der Lottogewinn. Die Gerüchteküche hatte damals gebrodelt. Elso hatte sich nach dem Kauf des Hofes immer mehr zurückgezogen. Angeblich soll er am Ende total verarmt gewesen sein. Eine Putzfrau, die einmal in der Woche im Hof gearbeitet hatte, berichtete vom erbärmlichen Zustand des Gebäudes und davon, dass Elso nur von billigen Fertiggerichten gelebt habe. Der Alte war wohl langsam durchgedreht und hatte angeblich Angst vor einem Spuk in seinem Keller gehabt. Die Eisentür hatte wahrscheinlich die Geister im Keller gefangen halten sollen. Das habe er der Putzfrau erzählt und neue Gerüchte waren entstanden.

»Tamme, tut mir leid, ich muss los.« Idos Stimme unterbrach seine Grübeleien.

Er sah Ido verärgert an und sagte: »Ich komme extra hierher und jetzt willst du weg?«

»Meine Frau will, dass ich sofort nach Hause komme. Angeblich habe ich einen Termin vergessen, aber ich lass dir einfach die Schlüssel da, dann kannst du dich schon mal umsehen. Morgen kommen ja auch die anderen Handwerker und ich bin auch wieder hier.«

»Okay, Ido. Ihr mit euren Frauen.« Tamme winkte missbilligend ab. »Dann bis morgen früh. Ich schau mal, was wir für Werkzeug brauchen.«

»Es tut mir leid, aber es ist wichtig! Wir sehen uns hier morgen um 9 Uhr?« Ido sah Tamme abwartend an.

Tamme nickte und blickte Ido nach, der zurück in die Scheune Richtung Auffahrt ging. Kurz darauf hörte er ein Auto davonfahren.

Morgen würde es auf der Baustelle durch die vielen Handwerker sehr unruhig werden. Deshalb beschloss Tamme, sich in aller Ruhe umzusehen. Er schritt zurück zur kleinen Treppe, die in den Wohnbereich führte. Vorsichtig trat er über den Holzfußboden, der bei jedem Schritt knarrte. Schließlich erreichte er einen besonderen Raum, die Upkamer.

Bei der Upkamer handelte es sich um die beste Stube. Ein Prunkzimmer, das sich direkt über dem Keller befand.

Dieser Raum lag etwas über dem sonstigen Bodenniveau der Wohnebene.

Tamme erklomm die wenigen Stufen und bemerkte sofort, dass der Boden sich etwas neigte. Für den Handwerker gab es keinen Zweifel, die Balken waren total vergammelt. Vorsichtig schlich er zurück, weil er jeden Moment damit rechnete, durch die morschen Dielen in den Keller zu stürzen.

Da gab ein erstes Brett unter seiner Last nach, es krachte und Tammes Fuß brach durch den hölzernen Boden. Tamme stürzte und ein schrecklicher Schmerz, ausgehend von seinem Fußgelenk, ließ ihn kurz aufschreien. Vorsichtig drehte er sein Bein so, dass das Gelenk entlastet wurde, und zog langsam seinen Fuß aus dem Loch im morschen Holz. Diese Schmerzen in seinem linken Sprunggelenk kannte er gut. Seine Bänder waren seit einem Sportunfall überdehnt, und er knickte leicht um, wenn er nicht aufpasste. Aber in diesem Moment war es sehr viel heftiger als sonst. Hauptsache, nichts gebrochen!

Als er sein verletztes Fußgelenk rieb, stieg ein muffiger Geruch von unten durch die aufgesplitterte Öffnung. Der Schmerz pulsierte in seinem Gelenk, und Tamme glaubte, ein Stöhnen zu hören. War er das selbst gewesen … oder wurde er schon so bekloppt wie der alte Elso? Mit dem Fuß konnte er unmöglich Auto fahren, deshalb griff er zum Telefon in seiner Hosentasche. Nachdem er die Nummer seines besten Mannes Hubertus Dascher gewählt hatte, schaltete sich nur dessen Anrufbeantworter an.

»Bertus, hier ist Tamme, ruf mich bitte sofort an!«, sprach er aufs Band. Tamme wollte einige Minuten warten, bevor er einen anderen seiner Angestellten anrief. In der Zwischenzeit konnte er einen Blick in den Keller werfen, jetzt, wo dieses verfluchte Loch schon mal da war. Zögerlich drehte er sich auf den Bauch, verlagerte sein Körpergewicht dabei auf eine möglichst große Fläche und atmete stoßweise. Der Fußboden hielt, aber es rumorte unheimlich unter ihm. Vorsichtig schaltete er die eingebaute kleine Taschenlampe in seinem Handy ein und sah in den Kellerraum.

Der Mief wurde stärker und der Schein der Taschenlampe huschte über den Boden des Kellers. Den Abstand vom Loch schätzte Tamme auf knapp über zwei Meter. Der Kellerboden war übersät mit vergammelten Holzresten, Glasscherben von kaputten Einmachgläsern und Ziegeltrümmern. An den Ziegelfragmenten befanden sich Zement- und Kalkanhaftungen.

Tamme leuchtete die Wände an und erkannte sofort die Ursache für das Schuttchaos. Die Mauern wiesen überall Risse auf und Steinbrocken waren herausgebrochen. Diese Schäden waren vermutlich Folgen der Bodenversackungen im Erdreich unterhalb der Fundamente.

Als Tamme den Keller weiter ausleuchtete, blitzte es für einen Moment im Lichtkegel der Taschenlampe auf. Er stutzte und suchte den Boden im Bereich des Glitzerns noch einmal ab. Da erkannte er im Schein der Lampe ein rundes Goldstück auf dem Boden. Ein kalter Schauer überlief ihn und auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Das Goldstück sah aus wie eine Münze. Fieberhaft ließ er den Lichtkegel über den Schutt gleiten und wurde auf einen Riss in der Mauer aufmerksam. Soweit er es von hier oben sehen konnte, sah diese Stelle ungewöhnlich aus. Jemand hatte wohl ein Loch in die Wand gestemmt und anschließend mit Mörtel verschlossen. Der neuere Mörtel unterschied sich sehr vom restlichen Verputz der Kellermauern.

Da sah er ein weiteres goldenes Aufblitzen im Mauerriss. Es gab also zwei Münzen im Raum. Tamme wurde klar, dass das erste Goldstück aus dem Spalt herausgerollt und auf dem Kellerboden liegen geblieben sein musste. Gab es noch mehr in diesem Versteck?

Schade, dass er von hier oben nicht mehr sehen konnte. Seine Gedanken überschlugen sich, weil ihm in diesem Augenblick klar wurde, was er gefunden hatte. Von wegen Lottogewinn, Elso hatte irgendwo einen Goldschatz gefunden und im Keller eingemauert. Deshalb die schwere Eisentür am Eingang.

Während er weiter auf das glitzernde Gold im Keller starrte, glaubte er, eine innere Stimme zu hören: Tamme, du hast das Gold gefunden und deshalb gehört es dir!

Sein Gewissen hielt dagegen. Es gehört Elsos Erben.

Der kleine Teufel auf Tammes Schulter gab die Antwort: Wieso? Der hat doch genug und für dich kann dieser Fund die Lösung all deiner finanziellen Probleme bedeuten!

Tamme verdrängte die Stimmen in seinem Kopf und versuchte, die Sachlage nüchtern zu betrachten: Bei den Goldmünzen handelte es sich mit Sicherheit um einen illegalen Fund. Irgendwo und irgendwann war Elso darauf gestoßen. Wie viel Gold war es gewesen und wie viel davon hatte Elso bereits ausgegeben?

Tamme dachte wieder an die Gerüchte aus Elsos Vergangenheit. Sein Verhalten war bis auf den Kauf des Hofes immer unauffällig gewesen. In einem Ort wie Jemgum wäre die Meldung über einen Goldfund eingeschlagen wie eine Bombe. Tamme erinnerte sich nur an Elsos angeblichen Lottogewinn, mit dem er den Hof gekauft hatte. Also wusste niemand von dem Gold.

Dieser Elso hatte das verdammt clever gemacht. Es war ihm gelungen, den Fund zu verheimlichen. Irgendwie hatte er die Münzen gegen Bargeld getauscht. Bargeld war genau das, was Tamme fehlte, und ihm fielen all seine unbezahlten Rechnungen ein. Mit dem Gold könnte er die Sorgen um die weitere Existenz seiner Firma vergessen.

Was sollte bei einem Firmenkonkurs aus seinen Mitarbeitern werden? Und wer sollte sich um die alten Häuser kümmern, wenn nicht er?

Tamme sah weiter auf das Gold im Keller, und ihm kamen immer weitere Gründe in den Sinn, warum es ihm zustand.

Es gab lediglich ein Problem: Er musste schnell handeln, um es aus dem Keller zu bergen. Morgen kamen die anderen Handwerker, und was dann? Würde sich eine Gelegenheit ergeben?