Gänseblut - Wolfgang Santjer - E-Book

Gänseblut E-Book

Wolfgang Santjer

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Beschreibung

Die Gänsejagd erhitzt die Gemüter im beschaulichen Rheiderland. Im Deichvorland bei Pogum wird eine unbekannte Leiche gefunden, wenig später wird ein Jäger ermordet und verstümmelt auf dem Emsdeich entdeckt - genau dort, wo kurz zuvor tote Gänse lagen. Die Verletzungen im Brustbereich des toten Jägers und der Gänse ähneln sich auffällig. Jetzt flammt der seit langem schwelende Konflikt bedrohlich auf. Die Soko Nimrod um Jan Broning und Maike de Buhr stößt auf fanatische Umweltschützer, auf reiche und arme Jäger.

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Wolfgang Santjer

Gänseblut

Küsten-Krimi

Zum Autor

Wolfgang Santjer wurde 1960 in Leer geboren und lebt in Bingum an der Ems. 38 Jahre lang versah er als Polizeibeamter Dienst bei verschiedenen Polizeibehörden – angefangen beim damaligen Bundesgrenzschutz, dann der Wechsel zur Landespolizei. Weitere Stationen waren die Wasserschutzpolizei in Emden und Leer und die Autobahnpolizei in Leer, wo er sich unter anderem auf die Gefahrgutüberwachung spezialisierte. Als Ausgleich zu seiner Schreibtischarbeit als Autor schnitzt Wolfgang Santjer aus alten Schiffsdalben große Holzskulpturen für den Garten.

Impressum

Dieses Buch ist ein Roman.

Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2017 im Leda-Verlag)

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Ini1110/photocase.de

ISBN 978-3-8392-6440-9

Zitat

Autorität wie Vertrauen werden durch nichts

mehr erschüttert als durch das Gefühl,

ungerecht behandelt zu werden.

Theodor Storm

Karte

 

Legende zur Karte Rheiderland

1  Bohrinsel Dyksterhusen im Dollart

2  Fundstelle in den Salzwiesen

3  Ortschaft Pogum, Emsblick

4  Coldeborger Siel am Emsdeich

5  Vogelbeobachtungshütte »Kiekkaaste« im Dollart

6  Polizeiinspektion im Stadtgebiet Leer

7  Polizeikommissariat Weener

8  Haus der Familie Alting

9  Bauernhof der Familie Hortema

10  Lohnunternehmen Böltjer

11  Haus der Familie Driever

12  Jann-Berghaus-Brücke über die Ems

13  Geisedamm

Personen der Handlung

Polizisten:

Kriminalbeamte:

Chef Renko Dirksen, Vorgesetzter von Jan Broning

Maike de Buhr, Freundin von Jan Broning

Spurensicherung: Egon Kromminga und Albert Brede

Polizeidienstgebäude in der Stadt (Mutterhaus):

Chef Thomas Sprengel/Klaus Hensmann (Schichtleiter)

Soko Nimrod: Jan Broning, Maike de Buhr, Stefan Gastmann, Onno Elzinga und Klaas Leitmann

Polizeistation Weener: Chef Taleus (Talle) Borchers

Staatsanwalt Grohlich

Gerichtsmedizin Oldenburg

1. Gerichtsmediziner: Dr. Knoche

2. Gerichtsmediziner: Dr. Andresen

Jäger/Hegering Nord-Rheiderland:

Chef des Hegerings Hero Hortema, Polderfürst, Ehefrau Feekeline (Lini)

Kuno Hortema, Sohn von Lini und Hero Hortema, ehemaliger Zeitsoldat, Bundeswehrpionier

Sven Richter, Freund von Kuno Hortema, beide waren zusammen im Afghanistaneinsatz

Jakobus Böltjer, Stellvertreter von Hortema, Ehefrau Jannette (Jani), Chef des Lohnunternehmens Böltjer

Siefko Specker, Dollartjäger und Angestellter von Böltjer, Spitzname Max, Ehefrau Erna

Wirtje Hummers, Dollartjäger und Angestellter von Böltjer, Spitzname Moritz, Ehefrau Trienette (Trientje)

Freerk Wienna, Ehefrau Ulrike (Ulli)

Sonstige Personen:

Menno Alting, Naturschützer

Gretje Alting, Freundin von Kuno Hortema, Naturschützerin

Prolog 1986 Nördliches Rheiderland

Das alte Arbeiterhaus lag direkt am Deich zum Dollart. Es war eingeteilt wie ein Gulfhaus: Vorne der schmale Wohnteil, der hintere Teil des Hauses war breiter und diente als Stall.

Dies war aber die einzige Gemeinsamkeit mit den beeindruckenden großen Gulfhöfen, diesen steinernen Symbolen für Wohlstand, mit denen sich die Polderfürsten selbst Denkmäler gesetzt hatten.

Der alte Mann ging um das Haus herum und betrat den Stall durch die Außentür. Sie drohte aus den Angeln zu fallen. Als ich noch gesund war, dachte der Mann, hätte ich das sofort repariert.

Er stöhnte unwillkürlich auf, als er den leeren Stall sah. Früher hatten sie zwei Kühe gehabt, Hühner und Kaninchen. Alles weg, versoffen von seinem faulen Sohn.

Der Alte zog den Wehrmachtsmantel aus und wickelte den Karabiner darin ein. Seine Andenken an diesen elenden Zweiten Weltkrieg. Später würde er das Gewehr auseinandernehmen, putzen und einölen, so wie er es bei der Wehrmacht gelernt hatte. Das Paket versteckte er sorgfältig im alten Kaninchenkäfig an der Stallseite. Die geschossenen Gänse legte er daneben. Die Türchen verriegelte er mit einem Vorhängeschloss. Morgen würde es wieder Gänsebraten geben. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er ging zu der einfachen Holztür, die den Stall mit der kleinen Wohnküche verband, und zog dort seine Stiefel aus. Die Tür war niedrig und er musste sich bücken, um hindurchzugehen.

Als er den Wohnraum betrat, richtete sich nur sein Körper auf, seine Stimmung blieb unten. Die Enge in den Arbeiterhäusern war bedrückend. Die Decke war nur zwei Meter hoch. Jeder kleine Winkel wurde benötigt. Die Kartoffeln lagerten deshalb unter den Schlafbutzen an der Seite des Raums. Rote Backsteine dienten als Fußboden.

Im Raum standen ein alter Stangenherd, ein Tisch und ein Ostfriesensofa. Der alte Mann schüttelte verzweifelt den Kopf. Andere Arbeiterhäuser waren längst abgerissen oder renoviert worden. Kein Wunder, dass seine Schwiegertochter es hier nicht mehr ausgehalten hatte.

Dieser Taugenichts hatte wieder alles hinter sich liegen lassen. Seit seine Schwiegertochter nach Süddeutschland geflohen war, ging hier alles zum Teufel. Sein Sohn lag auf dem durchgelegenen Ostfriesensofa. Die ungepflegten Haare, das schmutzige Unterhemd, und er trug auch noch die schmutzigen Gummistiefel aus dem Stall … Auf der Wachstuchtischdecke standen eine leere Flasche Korn und etliche Bierflaschen.

Von seinem sechsjährigen Enkel keine Spur. Sicher hatte er sich wieder auf dem Heuboden im Stall versteckt. Das Beste, was er tun konnte, um seinem besoffenen Vater aus dem Weg zu gehen.

Der alte Mann ging zurück in den Stall. »Hallo, mein Junge, hier ist Opa«, sagte er, als er die Leiter hinaufstieg. Er achtete darauf, wohin er trat, der Boden war an vielen Stellen morsch. Im Bodenraum stand Gerümpel, unter anderem ein alter wackeliger Hörnstuhl. Darin saß sein Enkel und lächelte ihn an. Durch ein Loch im Dach fiel ein wenig Licht auf ein aufgeschlagenes Buch, das der kleine Junge in der Hand hielt. Ein Buch von seiner Mutter.

»Opa, wann kommt Mama zurück?«

Der alte Mann nahm seine Taschenuhr und einen kleinen Schlüssel in die Hand. Er sah seinen Enkel bittend an. »Ziehst du deinem Opa noch einmal die Uhr auf?« Das war ein Ritual zwischen den beiden. Meistens benutzte er es, um von einer Sache abzulenken.

Während sein Enkel den Deckel der Taschenuhr öffnete und den kleinen Schlüssel in die Aufzugsöffnung steckte, strich sein Großvater ihm übers Haar. »Die Taschenuhr ist von meinem Vater und später«, er räusperte sich, damit seine Stimme den traurigen Klang verlor, »später wird sie einmal dir gehören. Hast du mitgezählt? Nur siebenmal den Schlüssel rum, sonst wird die Feder krumm.« Sie lachten immer an dieser Stelle. Sein Enkel lächelte ihn an und gab ihm die Uhr und den kleinen Schlüssel zurück.

»Opa, die anderen Kinder sagen, dass du ein Wilderer bist.«

»Wir armen Leute müssen doch auch leben. Der Dollart und die Tiere gehören niemandem und deshalb nehme ich für uns einen kleinen Teil.« Dieses Thema behagte dem älteren Herrn nicht, wieder Zeit für eine Ablenkung. »Stell dir vor, was ich heute im Dollart gefunden habe, mien Jung?«

»Opa, was hast du denn gefunden?«

»Ja, mien Jung, ich glaube, ich habe den Kirchturm von Torum gefunden! Dieses sagenhafte Dorf, das damals versunken ist, ich hab dir doch davon erzählt.«

Der Junge klappte das Buch zu und sah ihn erwartungsvoll an.

»Also, ich lauf durch das Watt und plötzlich spüre ich unter meinem Fuß einen Stein. Ich bück mich und tatsächlich ist es nicht nur ein Stein, sondern der Rest einer Mauer aus Backsteinen! Nicht so mickrige, wie wir sie jetzt haben – ganz große Steine wie die, aus denen man früher die alten Kirchen und Klöster baute. Leider hatte ich nichts zum Graben dabei. Aber morgen soll es wieder Nebel geben und dann geht dein Opa noch mal los. Ich finde bestimmt einen Schatz und dann bauen wir hier alles wieder auf.«

»Kommt Mama dann zurück?«

Der nächste Tag, im Dollart

Der Dollart: circa 121 Quadratkilometer in der Fläche (elf Kilometer Nord/Süd, elf Kilometer Ost/West). Bei Niedrigwasser fallen 70-80 % des Dollarts trocken. Die Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland verläuft durch den Dollart. Die deutsche Seite beginnt bei Pogum und endet an der Grenze bei Nieuw Staatenzijl (Richtung Nord-Süd). Ungefähr drei Kilometer von der Landecke Pogum entfernt liegt die kleine Bohrinsel Dyksterhusen (siehe Karte Nr. 1). Auf dieser künstlichen Insel wurde früher nach Gas gebohrt. Genau genommen handelt es sich um eine Halbinsel, weil eine kurze Straße die Insel mit dem Festland verbindet. Im Norden, von der Bohrinsel aus gesehen, liegen der Geisedamm und die Ortschaft Pogum, im Süden die Wattflächen des Kanalpolders bis zur niederländischen Grenze.

Die beiden Jäger waren auf der Pirsch. Aber diesmal nicht nach Gänsen oder Enten, nein: nach diesem verfluchten Wilderer. Auf der Bohrinsel stellten sie den Wagen ab. Sie zogen ihre Gummistiefel an, überprüften ihre Waffen und überlegten, wie sie vorgehen wollten.

Gestern hatten sie wieder Schüsse gehört. Der Nebel war ideal für den Wilderer. In dieser weitsichtigen Landschaft hatte er sonst keine Chance, unentdeckt zu bleiben. Der Dollart war groß und jetzt mussten sie auf ihr Glück setzen, um den Mann zu erwischen. Sie waren sich einig, dass sie getrennte Wege gehen wollten. Ein Jäger lief in nördliche, der andere in südliche Richtung. Schon nach kurzer Zeit verloren sie sich im Nebel aus den Augen.

Im ehemaligen Kuhstall des alten Arbeiterhauses hatte der alte Mann seinen langen Mantel angezogen und darunter sein Gewehr versteckt. Auf dem Weg zum Deich war ihm sein Sohn nachgelaufen und es war zu einem heftigen Streit gekommen.

»Dann geh doch«, hatte sein Sohn ihm hinterhergeschrien, »eines Tages kommt du nicht zurück. Entweder der Jagdaufseher erwischt dich, oder du fällst in einen Priel und ersäufst!«

Sein Sohn hatte es nötig, ihn zu beschuldigen. Dieser Althippie. Es blieb ihm doch nichts anderes übrig, als zu wildern.

Nun stand er auf dem Deich und sah sich um. Links lag die Bohrinsel Dyksterhusen verborgen durch die Nebelfelder. Rechts der Geisedamm. Dieser lange Steindamm trennte die Ems vom Dollart. Von Pogum aus verlief der Damm in westliche Richtung. Am westlichen Ende liefen Dollart und Ems wieder zusammen.

Den Geisedamm konnte er ebenfalls im Nebel nicht sehen. Der Nebel war für ihn ideal. Er lief den Deich hinab­, kletterte über einen Weidezaun und überquerte die Salzwiesen. Als sie in das Watt des Dollarts übergingen, vermischten sich die Geräusche seiner Schritte mit den Nebelsignalen von Schiffen auf der Ems. Die Schreie der Vögel klangen seltsam gedämpft und die kalten weißen Schwaden berührten sein Gesicht so sanft und eisig wie Geisterhände. Auch bei diesem Wetter war der Dollart wunderschön. Es war, als sei er alleine auf der Welt, eingehüllt von Wolken in seinem eigenen Kosmos.

Aber die düsteren Gedanken holten ihn ein. Der Streit mit seinem Sohn ging ihm nicht aus dem Sinn. Das beklemmende Gefühl konnte er nicht abschütteln. Er konzentrierte sich auf sein Ziel, die Stelle im Watt, wo er die Mauerreste mit den besonderen Steinen gefunden hatte. Sie lag in Richtung der Bohrinsel, im Süden, von seinem Standort aus gesehen. Mit etwas Glück konnte er ein paar Enten schießen, bevor er die Mauerreste erreichte. Den Spaten und den Karabiner hatte er über seine Schulter gelegt. Der Nebel dämpfte seine Schritte und alle Geräusche. Ideale Bedingungen.

Plötzlich hörte er das Schnattern von Enten. Lautlos steckte er den Spaten ins Watt, legte das Gewehr auf den Spatengriff und entsicherte die Waffe. Der Zeigefinger suchte den Druckpunkt des Abzugs. Der Nebelvorhang riss für einen Moment auf und gab die Sicht auf mehrere Enten frei. Der Schuss traf die Ente am Boden. Kurz darauf­ hatte er wieder Glück, diesmal war es eine schöne fette Gans. Er hängte sich sein Gewehr um, denn für heute reichte es. Seine Jagdbeute in der linken, den Spaten in der rechten Hand marschierte er weiter durch das einsame Watt.

Endlich hatte er die Stelle mit den Steinen gefunden. Das Gewehr konnte er nirgends ablegen, also blieb es, wo es war. Die Jagdbeute legte er neben sich.

Der Spaten drang leicht in den Schlick ein.

Einer der Jäger hatte die Schüsse gehört und beschleunigte seine Schritte. Der Nebel hüllte ihn ein und er war froh, dass er den Kompass mitgenommen hatte. Ab und zu hörte er ein rhythmisch klatschendes Geräusch, waren das Schritte oder grub da jemand?

Dann war wieder alles still. Zwecklos, der Nebel war zu dicht und die Geräusche hatten aufgehört. So konnte er den Wilderer nicht finden.

Der alte Mann konnte kaum glauben, was er gerade ausgegraben hatte – eine kleine Glocke. Teufel auch, wenn die nicht aus Gold war! Ob sie noch funktionierte? Vorsichtig entfernte er den Schlick aus dem Gehäuse und bewegte die Glocke hin und her. Kling-Klong … Das schönste Geräusch, das er je gehört hatte.

Der Jäger hatte sich schon umgedreht und wollte die Suche aufgeben, als er plötzlich das Klingeln einer Glocke hörte. Da, schon wieder. Kling-Klong … Dieses Geräusch passte nun gar nicht in diese verlassene Gegend. Spukte es hier im Dollart, oder wollte ihn jemand verarschen? Er folgte dem Geräusch.

Die Welt um ihn herum hatte der Wilderer vergessen, deshalb sah er den Jäger zu spät. Der hatte das Gewehr auf ihn angelegt. Im nächsten Moment verschwand er wie eine Spukerscheinung in einer Nebelschwade. »Wirf dein Gewehr weg!«, klang es dumpf aus dem Nebel. Der Alte legte die Glocke ins Watt und griff nach seinem Gewehr, um es abzulegen.

In diesem Moment entstand wieder ein Loch in der dichten Nebelwand und die Kontrahenten hatten Blickkontakt. Der Jäger sah, dass der Wilderer sein Gewehr in der Hand hielt. Er fühlte sich bedroht und feuerte sofort. Der Schuss hallte dumpf nach und der Alte wurde nach hinten ins Watt geworfen. Der Jäger lief zu ihm und bückte sich. »Verflucht, warum hast du das Scheißgewehr nicht weggeworfen?«

Der Mann am Boden konnte keine Antwort mehr geben. Seine toten Augen waren weit aufgerissen.

Der Jäger konnte den Anblick kaum ertragen. Was sollte er tun? Würde man ihm glauben? Der Tote war ein armes Schwein, ein Hungerleider, und er selbst ein geachteter Mann. Das bedeutete jede Menge Ärger und Gerüchte, weil viele an der Notwehrsituation zweifeln würden. All seine Hoffnungen auf die angestrebten Ämter könnte er vergessen. Sein Blick fiel auf die Glocke im Watt. Als er sie aufhob, schlug der Klöppel an das Gehäuse. Kling-Klong.

Diese Glocke würde er niemals hergeben.

Nun wusste er, was er zu tun hatte. Der arme Sack hatte ja die Schaufel für sein eigenes Begräbnis gleich mitgebracht. Er durchsuchte den Toten. Das Einzige, was der bei sich trug, war eine alte Taschenuhr. Er nahm sie an sich und legte die Uhr zur Glocke. Dann zog er den Toten zurück in Richtung der Salzwiesen. Dort bedeckte er ihn und die Ausrüstung mit Treibsel aus abgestorbenen Schilfhalmen, das sich an der Flutkante angesammelt hatte. Danach ging er zurück zur Bohrinsel.

Sein Jagdkumpan wartete dort schon auf ihn. »Mann, wo bleibst du denn, ich steh hier schon eine Ewigkeit!«

Er zwang sich, ruhig zu bleiben. »Ich hab mich wohl ein bisschen verlaufen, aber von dem Wilderer keine Spur … Hast du was gesehen?«

»Nein, aber mehrere Schüsse habe ich gehört.« Sein Freund sah ihn misstrauisch an.

»Ja, ich auch. Ich dachte, du hättest sie abgegeben. Ist ja auch egal, die Suche im Nebel war sowieso sinnlos – lass uns nach Hause fahren.«

Als sie sich ins Auto setzten, sah er noch einmal Richtung Norden zurück. Später würde er alleine wieder­kommen und den Toten in den Salzwiesen begraben.

Seine Hand streichelte unbewusst die Glocke in seiner Manteltasche.

Frühjahr 2009, Weener im Rheiderland, Haus der Familie Alting (Karte Nr. 8)

Er saß in seinem Auto und beobachtete das Haus von diesem Alting. Das kleine Überraschungspaket lag im Fußraum vor dem Beifahrersitz. Vier Uhr morgens, die schwache Zeit der Menschen, Tiefschlafzeit und genau der richtige Zeitpunkt für sein Vorhaben. Vorsichtig öffnete er die Tür, nahm das Paket und schlich sich zum Haus.

Alting hing sicher sehr an dem Modell der Marker Mühle in seinem Vorgarten. Der Mann lächelte grimmig, als er sich vorstellte, wie viel Handarbeit darin steckte. Das Paket passte genau durch das kleine Tor der Modellmühle. Er befestigte es im Innenraum des Modells und wickelte die Angelschnur ab, die aus dem Paket hing. Mit dem anderen Ende der Schnur ging er zur Eingangstür und befestigte es an der Klinke. Vorsichtig prüfte er die Spannung. Optimal, nicht zu fest und nicht zu lose.

Er schlich zurück zu seinem Auto. Das gemeine Grinsen auf seinem Gesicht wollte einfach nicht verschwinden.

Menno Alting hatte schlecht geschlafen. Seine Tochter Gretje hatte ihn noch gewarnt. »Reg dich doch nicht so auf, Papa, das ist nicht gut für deine Nerven.«

Natürlich hatte sie wieder recht gehabt, aber dieses letzte Zusammentreffen mit den Jägern … Seine Wut kochte noch einmal hoch, als er daran dachte.

Vorgestern hatte er zusammen mit Naturschützern aus den Niederlanden eine große Anzahl verschiedener Gänse auf einer Wiese beobachtet. Alting wies seine Kollegen gerade auf zwei seltene Gänse hin, als ein Geländewagen auf ihren Standort zufuhr war und circa 200 Meter entfernt auf dem Seitenstreifen anhielt. Alting beobachtete mit dem Fernglas, wie das Seitenfenster des Autos heruntergelassen wurde. Der Fahrer streckte einen Arm aus dem Seitenfenster und warf einen Gegenstand in Richtung der Gänse. Der laute Knall eines Silvesterböllers ließ die Naturschützer zusammenzucken und die Gänse flogen in Panik davon. Gleichzeitig heulte der Motor des Geländewagens auf, der Fahrer fuhr rückwärts auf eine Grundstücksauffahrt und wendete dort. Alting rannte und stieß dabei das Stativ mit dem Fernglas eines niederländischen Kollegen um. Als er sich dem Wagen näherte, gab der Fahrer langsam Gas und beschleunigte immer etwas, sobald Alting wieder näher an ihn herankam. Dieses Spiel wiederholte sich einige Male. Schließlich war Alting völlig außer Atem stehengeblieben und hatte nur noch den ausgestreckten Stinkefinger aus dem Seitenfenster des davonfahrenden Geländewagens gesehen.

Besonders ärgerte ihn, dass dies ausgerechnet vor den Augen der niederländischen Kollegen geschehen war. Das teure Fernglas musste er dem niederländischen Naturschützer auch noch ersetzen. Außerdem war das Autokennzeichen des Geländewagens so verschmutzt gewesen, dass er es nicht hatte lesen können. Es war ihm auch nicht gelungen, den Fahrer zu identifizieren, aber natürlich war das einer der Jäger gewesen.

Direkt nach dem Vorfall hatte Alting voller Wut einen Leserbrief per Internet an den Redakteur des Rheiderlandkuriers geschickt. Der war gestern in der Zeitung erschienen. Jetzt war er gespannt auf die Gegenreaktion. Alting war sich sicher, einen Leserbrief der Jäger in der heutigen Ausgabe der Zeitung zu finden. Dieser Kleinkrieg zwischen Jägern und Naturschützern wurde mit Leserbriefen und wechselseitigen Anzeigen und Gegenanzeigen bei den Behörden geführt.

Menno Alting ging zur Eingangstür, um die Zeitung aus dem Postkasten zu holen. »Mist! Scheißtür, seit wann klemmt das Ding?!«

Er zog kräftiger. Die Tür öffnete sich, die außen angebrachte Schnur spannte sich und der Mechanismus im Kasten wurde in Gang gesetzt.

Die Schnur zog einen feinen Stahldraht in die beiden Kontakte der eingebauten Batterie. Die Stahlwolle entzündete sich in dem Moment, in dem Alting einen zärtlichen Blick auf seine Mühle warf. Die brennende Stahlwolle zündete das Schwarzpulver und das Sprengstoffpaket explodierte. Menno Alting hielt sich reflexartig die Hände vors Gesicht. In seinen Ohren summte es und als er die Augen wieder öffnete, war von seiner Mühle nur noch ein qualmender Rest übrig. Der Vorgarten war mit Holzsplittern übersät.

Dienststelle des Polizeikommissariats in Weener (Karte Nr. 7)

»Polizei in Weener, Benninga am Apparat, was kann ich für Sie tun?« Polizeikommissarin Swantje Benninga saß mit dem Hörer in der Hand hinter dem Wachtresen.

»Die Jäger haben die Mühle gesprengt! Sie müssen diese Terroristen verhaften!«

Die aufgebrachte Stimme war viel zu laut. Swantje stellte das Telefon auf Außenlautsprecher, damit ihre Kollegen mithören konnten. Sie war hochkonzentriert und brauchte zunächst Informationen »Nun beruhigen Sie sich erst mal. Wer sind Sie und was ist passiert?«

»Alting – diese Jäger haben die Mühle in die Luft gejagt! Sie müssen sie verhaften.«

Swantje atmete tief durch. »Hören Sie, so kommen wir nicht weiter. Also noch einmal: Wie heißen Sie und was ist passiert?«

»Menno Alting heiße ich, aus Weener, und sie haben die Marker Mühle in meinem Garten gesprengt, diese verfluchten Jäger!«

»Die Marker Mühle wurde gesprengt von Jägern.« Swantje hielt den Hörer in der linken Hand und schrieb mit der rechten in die Wachkladde. »Hab ich das so richtig verstanden, Herr Alting?« Die Verhaltensregeln im Hinblick auf Straftaten mit terroristischem Hintergrund schwirrten in ihrem Kopf. Terroristen, Explosion, Sprengung und Jäger … Die Marker Mühle befand sich in Mitling Mark, also auf der anderen Seite der Ems.

»Genau …« Altings Stimme klang nicht mehr wütend, sondern traurig. »Diese Mühle habe ich selber zusammengebaut. Zwei Winter habe ich daran ganz allein gesägt und geschraubt und jetzt ist alles …«

Swantje beruhigte sich etwas. Kein Terroranschlag, nur der normale Wahnsinn. Sie fragte nach Verletzten und notierte sich die Adresse. Sie versprach Alting, gleich mit einem Kollegen vorbeizukommen, und beendete das Gespräch. Zur Sicherheit schickte sie über die Leitstelle erst einmal einen Rettungswagen und die Feuerwehr hin.

»Der arme Mann«, sagte sie.

Ihr Kollege Stinus Wurps fügte hinzu: »Die schöne Mühle …!«

Neben ihm stand Taleus Borchers, der Leiter der Polizeidienststelle, von seinen Kollegen Talle genannt. Talle hatte die Haare extrem kurz geschnitten. Er achtete sehr auf sein Äußeres. Perfektes Auftreten von der Uniform bis zum dezent aufgetragenen Rasierwasser.

Stinus war sozusagen der Kontrast zu seinem Chef. Die Haare trug er im Stil der Siebziger, also ziemlich lang. Sein Erscheinungsbild war eher lässig, die Uniform eine eher gewagte Zusammenstellung und was die Leute von ihm hielten, war ihm wohl schon immer egal gewesen.

»So so«, sagte Talle, »Menno Altings Modellmühle. Stinus, Swantje, fahrt ihr bitte zur Adresse von Alting und seht euch die Sache erst mal an. Ich halte hier die Stellung.«

»Machen wir«, sagte Stinus. »Wir melden uns, sobald wir vor Ort sind.«

Swantje und er packten ihrer Einsatztaschen und gingen zum Streifenwagen. »Hier!« Stinus warf seiner Kollegin die Autoschlüssel zu. »Du fährst, dann lernst du die Gegend am schnellsten kennen.«

Swantje war erst seit einigen Tagen auf der Dienststelle in Weener. Vorher war sie bei der Autobahnpolizei in Leer gewesen. In Weener wurden zwei Sprachen gesprochen – erstens Plattdeutsch und zweitens Hochdeutsch. Mit dem Plattdeutschen haperte es bei ihr noch ein wenig. Verstehen konnte sie es gut, nur aussprechen … na ja. Stinus unterhielt sich mit ihr deshalb lieber auf Hochdeutsch.

Sie folgte seiner Fahrwegbeschreibung. »Stinus, der Name Alting … irgendwie kommt der mir bekannt vor.«

»Hier links abbiegen!« Stinus warf seiner Kollegin einen Blick zu. Ein schöner Anblick. Der blonde Zopf stand ihr gut. In den Siebzigern hatten viele Mädchen die Haare so getragen. Aber nicht nur die Haare gefielen Stinus an seiner neuen Kollegin. Swantje versuchte nicht, wie ein Kerl aufzutreten, und auch nicht wie eine Dame. Die Kollegen von der Autobahnpolizei waren mit ihr sehr zufrieden gewesen. Ihm waren Gerüchte zu Ohren gekommen, dass Swantje bei einem Einsatz sehr handfest zugepackt hatte. Sie hatte ihrem Kollegen bei einer Schlägerei den Rücken freigehalten. Das hatte ihr zwar ein blaues Auge, aber auch Respekt eingebracht.

»Stinus, Menno Alting!«

»Also: Menno Alting ist führendes Mitglied im Naturschutzbund. Er stand schon einige Male im Zusammenhang mit der Gänsejagd in den Zeitungen und seine Tochter Gretje, die kann sich sehen lassen. Die sieht richtig toll aus und die hat …«

»Mich interessiert nicht die Tochter, sondern Menno Alting!«

Stinus atmete tief durch. »Menno Alting ist begeisterter Naturschützer, insbesondere Gänseschützer, du kannst dir vorstellen, dass er sich nicht besonders gut mit unseren Jägern versteht. Dazu kommt noch seine besondere Art.« Stinus suchte nach den richtigen Worten. »Er greift die Leute immer direkt an, zu laut und zu unsachlich. Alle lassen sich das nicht gefallen und wir hatten schon eine Menge Ärger mit ihm und seinen erklärten Gegnern, den Jägern.«

Inzwischen hatte er seine Kollegin in eine Wohnsiedlung etwas außerhalb gelotst. Vor einem Einfamilienhaus standen ein Rettungswagen und ein Fahrzeug der Feuerwehr. Ein Feuerwehrmann stand mit einem Wasser­schlauch in der Hand im Vorgarten, der mit bunten Holzsplittern übersät war.

Swantje parkte hinter dem Rettungswagen. Die beiden Polizisten stiegen aus. Die Schiebetür des RTW stand offen und auf der Liege saß ein großer Mann, dem zwei Sanitäter sehr laut Fragen stellten.

Einer der Sanitäter bemerkte die Polizisten und sagte: »Knalltrauma … sonst ist er okay.«

Nun hatte auch der Mann auf der Liege die Polizisten gesehen und sprang auf. Die Sanitäter versuchten vergeblich, ihn im Wagen festzuhalten. »Da sind Sie ja endlich!« Er zeigte anklagend in Richtung Vorgarten. »Da … sehen Sie selber!«

Stinus legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter, und Swantje sah sich Alting genau an. Groß, kräftig, mit einer Glatze. Der graue Vollbart machte ihn älter. Vermutlich war er um die fünfzig und für Swantje damit ohnehin ein alter Mann.

Stinus beging einen verhängnisvollen Fehler, als er sagte: »Herr Alting, regen Sie sich doch nicht so auf, es ist ja nur die Mühle draufgegangen.« Zum Glück erschien in diesem Moment Gretje Alting, um ihren Vater zu beruhigen. Mit sanfter Gewalt dirigierte sie ihn zurück in den Rettungswagen.

Swantje warf ihrem Kollegen einen Blick zu und verdrehte die Augen himmelwärts.

Gretje Alting stieg wieder aus dem RTW. Ihr Gesicht war sehr blass, wodurch die Sommersprossen deutlich hervortraten. Swantje fand, dass sie ein bisschen aussah wie eine ältere Version von Pippi Langstrumpf. Die langen roten Zöpfe machten jedenfalls Eindruck bei ihrem Kollegen. Stinus sah Gretje mit schmachtendem Blick an, wie unter Hypnose. Swantje zog eine Schnute und blickte hilfesuchend in den blauen ostfriesischen Himmel. Typisch Männer.

Menno Altings Tochter erzählte, dass sie gerade von der Nachtschicht im Krankenhaus kam. Sie hatte sich fast zu Tode erschrocken, als sie die Einsatzfahrzeuge vor ihrem Haus gesehen hatte. »Irgendwann musste das hier mal passieren.« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Diese Wut … und Hass … Ich verstehe das nicht!«

»Ich kann Ihnen jetzt nicht folgen.« Swantje schaute sie fragend an.

»Am Anfang haben sie ja noch miteinander gesprochen«, sagte Gretje.

»Wer ist ›sie‹, wer hat noch miteinander gesprochen?«, hakte Swantje nach.

»Oh, bitte entschuldigen Sie mich, ich bin noch so aufgeregt …« Gretje lächelte sie kurz an. »Die Umweltschützer, insbesondere mein Vater, und die Jäger meine ich. Anfangs haben sie noch zusammen an einem Tisch gesessen und diskutiert. Aber jetzt …« Wieder schüttelte Gretje Alting den Kopf. »Sie sehen ja: Nur noch Wut und Hass.«

Deichvorland bei Pogum

Piep … Piep. Der Schatzsucher Peter Kowalski aus Bochum sah auf das Display des Metallsuchgerätes. Der Zeiger schlug wild aus. Seit einer Stunde war Peter unterwegs im Deichvorland am Dollart. Seinen Wagen hatte er am Aussichtspunkt Emsblick in Pogum geparkt. Von dort aus hatte er mit der Schatzsuche begonnen. Inzwischen lag der Dollart rechts und der Deich links von ihm. Voraus konnte er die Bohrinsel Dyksterhusen sehen. Er befand sich auf den sogenannten Salzwiesen, einem Grünstreifen mit spärlichem Bewuchs zwischen dem Deich und den grau-bräunlichen Wattflächen des Dollarts.

Vorsichtig legte er das empfindliche lange Metallsuchgerät auf der Salzwiese ab und nahm ein handliches kleineres aus seinem Rucksack. Er hatte sich den Bereich auf dem Boden gemerkt, wo das große Gerät ausgeschlagen hatte. Das Schatzfieber hatte ihn jetzt voll im Griff. Die nächsten Gegenstände, die Peter aus dem Rucksack nahm, waren eine kleine Schaufel, ein Klappspaten und ein Kniepolster.

Er kniete sich auf den Boden und schob sich das weiche Polster unter. Dann schaltete er das kleine Suchgerät an, das wie eine Taschenlampe aussah, und kreiste damit den im Boden verborgenen Gegenstand ein. Mit der linken Hand hielt er die Schaufel und grub vorsichtig kleine Grassoden und Erde zur Seite. Immer wieder schlug das Suchgerät aus. Inzwischen hatte er die kleine Schaufel gegen den Klappspaten getauscht.

In Gedanken sah er sich schon als Entdecker des versunkenen Ortes Torum. Schliemann war auch ein Hobbyarchäologe gewesen und hatte trotzdem angeblich Troja entdeckt. Die Geschichte der versunkenen Dörfer im Dollart hatte Peter schon immer fasziniert und jetzt stand er selbst kurz vor einer sensationellen Entdeckung.

Klong … Der Spaten war auf einen harten Gegenstand gestoßen. Das kleine Suchgerät zeigte einen länglichen Gegenstand aus Metall an. Peter Kowalski legte den Klappspaten zur Seite und nahm wieder die kleine Schaufel.

Den langen Gegenstand konnte er deutlich fühlen. Während er ihn vorsichtig freilegte, konnte er ihn immer besser erkennen. Hatte es in Torum damals schon Gewehre gegeben? Falls ja, dann sicher keine Karabiner …

Die Enttäuschung schwemmte seine Hoffnungen davon, als berühmter Entdecker in die Geschichte einzugehen. Unter dem Lauf des Gewehrs fühlte er eine Art Stoff. Mit den Fingerspitzen fasste er vorsichtig eine Ecke davon an. Als er den Stoff zur Seite zog, grinsten ihn die Zähne eines Totenschädels an.

Peter Kowalski schrie entsetzt auf und sprang hoch. Es dauerte eine Weile, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er sein Handy heraussuchte und den Notruf wählte.

Altstadt von Leer, Wohnung des PHK Jan Broning

Das Klingeln des Telefons drang nur langsam in den Schlaf von Hauptkommissar Jan Broning. Er brauchte einen Moment, um sich zurechtzufinden. Sein erster Blick fiel auf den Wecker: neun Uhr. Beim Blick nach links auf die leere Seite seines Bettes verzog er missmutig sein Gesicht. Maike war erst seit einigen Tagen in Spanien und ihm kam es jetzt schon vor wie eine Ewigkeit. Ihr Vater Johann de Buhr hatte sie kurzerhand mitgenommen, als er zusammen mit seiner Freundin Karin für einige Wochen Urlaub machen wollte. Maikes Lunge war noch sehr angegriffen von den Folgen ihrer Entführung auf der Autobahn. Das sanfte Klima in Spanien sollte den Heilungsprozess beschleunigen.

Jan Bronings Hand griff zum Telefon und bevor er die grüne Taste drückte, sah er auf dem Display, dass der Anruf von seiner Dienststelle kam. Eigentlich sollte er heute Überstunden abbauen. In sein Schicksal ergeben nahm er den Anruf an.

Die laute Stimme seines Kollegen Klaus Hensmann von der Wache in Leer dröhnte aus dem kleinen Lautsprecher. »Guten Morgen, Jan, sorry, dass ich dich so früh stören muss. Die Kollegen von der Tatortgruppe haben mir gerade eine Lage durchgegeben. Sie sind im Deichvorland bei Pogum. Ein Schatzsucher aus dem Ruhrgebiet hat dort ein bewaffnetes Skelett gefunden.« Lachen hallte aus dem Hörer. »Das ist doch ein Superwitz, oder? Ach ja, Spaß beiseite, dein Chef Renko Dirksen war gerade auf der Wache und lässt dir ausrichten, dass du deine Überstunden ein anderes Mal abfeiern sollst, damit du den Fall übernehmen kannst.«

»Okay, Klaus, ich komme zur Dienststelle.« Jan Broning beendete das Gespräch.

Ohne Maike war es zu Hause ohnehin öde. Was ihn störte, war eher der Einsatzort. Der Dollart … das weckte böse Erinnerungen. Sein erster Fall mit Maike an seiner Seite. Seine Rettung aus dem Watt. Schöne und schreckliche Erinnerungen.

Jan Broning war als Leiter des 1. Fachkommissariates zuständig für Todesermittlungen. Er ahnte, dass dieser Fund im Deichvorland erhebliches Aufsehen erregen würde. Renko, der alte Fuchs, ging entsprechend auf Nummer sicher und überließ ihm großzügig den Fall.

Jetzt ging alles sehr schnell – Kaffeemaschine an, Dusche, in die Klamotten. Mit einem Thermobecher Kaffee in der Hand verließ Jan Broning seine Wohnung und lief die Treppen hinunter zum Fahrradkeller.

Dabei verbrannte er sich den Mund an dem zu heißen Gebräu. »Verflixte Axt!« Er wunderte sich wieder mal darüber, dass nichts mehr Zeit hatte. Alles sollte immer schneller gehen, Kaffee trinken im Gehen … und ich mach auch noch mit.

Er schwang sich auf sein Elektrorad und fuhr zur Georgstraße. Den Thermobecher hatte er verschlossen in der Fahrradtasche verstaut.

Das Tor zum Innenhof öffnete sich wie von Geisterhand. Er stellte sein Rad vor dem Nebeneingang der Dienststelle ab und ging den Schichtleiter Klaus Hensmann auf der Wache begrüßen. »Hallo, Klaus, warum schmeißt du mich eigentlich immer aus dem Bett?«

»Sorry, Jan, aber das ist wirklich eine sonderbare Geschichte. Als die Meldung reinkam, haben wir oben Bescheid gesagt und …«

»Schon gut. Was haben wir denn bis jetzt?«

»Abgelaufen ist es wie folgt …« Klaus sah auf seine Notizen. »Der Notruf eines Herrn Peter Kowalski aus Bochum ging bei der Leitstelle ein. Herr Kowalski hat bei der Schatzsuche am Dollart ein Gewehr und ein Skelett gefunden. Der Notruf wurde an das PK Weener weitergeleitet. Die Kollegen haben das zunächst für einen schlechten Scherz gehalten, sind aber erst mal hingefahren. Dann hat mir Swantje dieses Foto geschickt.« Klaus Hensmann nahm sein Smartphone und wischte mit dem Finger über das Display. »Scheißtechnik! … Ah ja, jetzt hab ich es.« Er hielt es Jan hin.

Jan sah den Lauf des Gewehrs, den alten Stoff und einen Teil des Totenschädels.

»Was sagen die jungen Leute immer?« Klaus überlegte. »Ganz schön krass! – Jedenfalls, Swantje und Stinus haben alles abgesperrt. Swantje sichert den Tatort. Stinus wartet im Streifenwagen auf dich am Deich bei Pogum. Treffpunkt ist der Parkplatz am Aussichtspunkt Emsblick.«

»Kenn ich.« Jan gab ihm das Smartphone zurück. »Hast du einen Wagen für mich?«

»Hier.« Klaus nahm einen Schlüssel vom Haken. »Den Zivilwagen, steht in der zweiten Garage. Egon Kromminga und Albert Brede von der Spurensicherung wissen Bescheid, die sind gerade an der Wache vorbei, in Richtung Garage.«

Egon arbeitete erst seit kurzem mit Albert zusammen. In der Garage sah Jan die beiden ihre Ausrüstung im Bulli verstauen und begrüßte sie.

»Tatort, Skelett, Dollart«, sagte Albert mit mürrischem Gesicht. Egon sah kurz zur Garagendecke.

Albert Brede war für seine Ausdrucksweise berüchtigt. Je schlechter er gelaunt war, desto kürzer seine Sätze. Er war ihr bester Spurensicherer, ein alter Fuchs und er gab sein Wissen weiter. Jan hatte trotzdem Mitleid mit Egon. Alberts Launen ertragen zu müssen, war der Preis für die an der Praxis orientierte Ausbildung als Spurensicherer.

»Das Beste wird sein, wir fahren gemeinsam zum Tatort«, schlug Jan vor. »Ich fahr im Zivilwagen voraus.« Keine Antwort von Albert. Egon nickte nur schicksalsergeben. Offensichtlich passten sich die Kollegen bereits einander an. »Okay, dann bis gleich am Dollart.« Jan verkniff sich das Lachen.

Er fuhr Richtung Emstunnel, hinter sich den weißen Bulli der Spurensicherer. Es gab von Leer aus zwei Wege ins Rheiderland, das durch die Ems vom Stadtgebiet Leer getrennt war. Der erste führte über die Emsbrücke, benannt nach Jann Berghaus, im Verlauf der Bundesstraße 436. Beim zweiten Weg handelte es sich um die Autobahn, die A31, den »Ostfriesenspieß«. Der Autobahn-Emstunnel verband die Leeraner Seite mit dem Rheiderland.

Die Jann-Berghaus-Brücke wurde umgebaut und war immer noch eine Großbaustelle. Die Brücke war wasserseitig eine von mehreren Engstellen entlang der Ems. Die Überführungen der immer größeren neuen Kreuzfahrtschiffe waren kompliziert und nur durch etliche teure Baumaßnahmen am Fluss möglich. Eine davon war die Verbreiterung der Schifffahrtsöffnung dieser Brücke. Die Fertigstellung verzögerte sich erheblich, und die betroffene Bevölkerung war verärgert.

Der Autoverkehr wurde durch den Emstunnel umgeleitet, aber es konnten nicht alle dieses Nadelöhr im Verlauf der Autobahn benutzen. Fahrradfahrer oder die Trecker der Landwirte blieben außen vor. Deshalb hatte man die alte Fähre Julius zwischen den Emsufern Leerort und Bingum eingesetzt.

Die Polizeiwagen fuhren an der Anschlussstelle Leer-West auf die Autobahn und nach nur einem Kilometer durch den Emstunnel. An der Anschlussstelle Jemgum/Bingum verließen sie direkt an der Tunnelausfahrt die Autobahn. Nun waren sie im Rheiderland und bogen an der Kreuzung der Deichstraße links in Richtung Ditzum ab. Die Fahrt ging weiter durch die Emsdörfer, die alle mit der Silbe »um« endeten. Der Deich lag rechts und die Landschaft zeigte sich Jan Broning jetzt von ihrer schönsten Seite. Die Farben der Natur waren im Mai am intensivsten. Die großen Kastanien vor den Bauernhöfen blühten weiß, das Rot der Buchen leuchtete und in den Poldern verwandelte der blühende Raps die Landschaft in ein gelbes Meer.

Er hasste es dennoch, allein im Wagen zu sitzen, wenn er zu einem Einsatz fuhr. Jan Bronings Gedanken wanderten zu Maike. Ob die Landschaft in Spanien jetzt wohl ebenso schön war? Ging es ihr gut? Dachte sie auch immer an ihn?

Vor ihm bremste ein Fahrzeug stark und ohne jeden erkennbaren Grund. Der Wagen blieb mitten auf der Straße stehen. Broning war wegen des Gegenverkehrs gezwungen, dahinter zu warten. Plötzlich wurden die Türen aufgestoßen und zwei Männer sprangen heraus. Bronings Hand wanderte zu seiner Waffe. Sollte das ein Anschlag werden?

Dann erkannte er die Ferngläser und Kameras. Die beiden richteten ihren Blick auf die Wiese links von der Fahrbahn. Graugänse! Broning schätzte die Schar auf fünfzig Vögel. Das Auto mit den Gänsebeobachtern war im Ruhrgebiet zugelassen.

Im Rückspiegel sah er, wie die Tür des Bullis aufgestoßen wurde. Albert Brede sprang mit rotem Kopf aus dem Fahrzeug und ging mit finsterer Miene auf die zwei Fremden zu. Oha, dachte Broning, jetzt knallt es. Er wollte gar nicht hören, was da gesprochen wurde. Jedenfalls fand Albert wohl die richtigen Worte. In Windeseile sprangen die Gänsebeobachter in ihr Auto und rasten davon. Ohne Regung ging Albert an Bronings Auto vorbei und setzte sich wieder in den Bulli.

Sie fuhren am schönen Fischerdorf Ditzum vorbei und vor ihnen lag Pogum. Das Ende der Welt wurde das Dorf auch genannt. Es war die äußerste Ecke des Rheiderlandes. Nördlich verlief die Ems und im Westen lag der Dollart.

Der Treffpunkt mit den Kollegen aus Weener befand sich am Schöpfwerk des Sieltiefs. Dieser Ort wurde Emsblick genannt, weil man von der Deichkrone aus einen schönen Ausblick auf die Ems hatte. Auf dem Parkplatz standen ein Streifenwagen und ein Kastenwagen mit Bochumer Kennzeichen. Darin saß ein junger Mann und machte ein bedrücktes Gesicht.

Broning parkte den Zivilwagen daneben und stieg aus. Der Bulli der Spurensucher hielt ebenfalls. Albert Brede kurbelte das Seitenfenster herunter und blieb stur sitzen. Jan Broning ging hin, blieb neben dem offenen Fenster des Bullis stehen und erwartete den Kollegen in Uniform.

Stinus Wurps begrüßte sie kurz, man kannte sich von verschiedenen Einsätzen. Jan Broning ließ sich von ihm die Situation erklären. Stinus zeigte auf den Mann im Kastenwagen. »Dies ist unser Schatzsucher Herr Kowalski, er hat die Leiche gefunden. Den Schlüssel für die Deichpforten habe ich inzwischen organisiert, wir können jetzt den Fundort mit dem Auto erreichen. Sonst müssten wir von hier aus laufen und es ist mindestens noch ein Kilometer.« Stinus zeigte in westliche Richtung.

»Danke dir!« Broning war erleichtert. Das fehlte noch, ein schlechtgelaunter Albert, der seine Ausrüstung zu Fuß zum Fundort schleppte … »Stinus, fahr doch bitte voraus, ich nehme den Schatzsucher mit und Albert und Egon folgen uns im Bulli.«

Broning bat den Schatzsucher in seinen Zivilwagen, und die drei Einsatzfahrzeuge starteten. »Und, geht’s wieder?« Broning sah besorgt zu Kowalski hinüber.

Der sah ihn mit blassem Gesicht an. »Dieser Anblick war schrecklich, als wenn mich der Schädel angrinsen würde. Ich hab mich so erschrocken!«

»Sie brauchen sich die Leiche nicht noch einmal anzusehen«, beruhigte ihn Broning. »Sie müssen uns vor Ort nur noch mal genau erklären, was passiert ist.«

»Kriege ich Ärger?«, fragte Kowalski ängstlich. »Ich meine, weil ich im Naturschutzgebiet rumgegraben habe? Ihr Kollege in Uniform hat so was angedeutet.«

»Da machen Sie sich mal keinen Kopf drüber.« Broning sah Kowalski eindringlich an. »Wichtig ist, dass Sie zunächst Stillschweigen über den Fund bewahren.«

»Ich schweige wie ein Grab …« Beim letzten Wort räusperte sich Kowalski laut. Er war noch angesäuert, weil ihm der Uniformierte einen Anschiss verpasst hatte. Was ihm einfiele, im Naturschutzgebiet rumzubuddeln. Denen würde er es noch zeigen. Er hatte Torum nicht gefunden, aber dafür hatte er einige gute Aufnahmen von der Leiche mit seinem Smartphone gemacht. Die Bilder würde er an die Medien weitergeben. Vielleicht konnte er das kleine Video sogar bei YouTube einstellen. Er grübelte über eine passende Überschrift nach. Dieser Ötzi in den Bergen damals … Die uralten Überreste des Jägers hatten tagelang die Schlagzeilen der Medien beherrscht, nachdem das geschmolzene Gletschereis die Mumie freigegeben hatte.

Nun, so lange lag diese Leiche noch nicht in den Salz­wiesen, aber Ötzi war mit Pfeil und Bogen unterwegs gewesen. Sein Toter hatte ein Gewehr dabei. Und jetzt habe ich die Überschrift, dachte Kowalski. Sensationsfund: Junger Archäologe entdeckt den »Rheiderländer Ötzi«.

Die Einsatzwagen fuhren an der Innenseite des Deiches entlang, die Straße verlief weiter über den Deich und endete schließlich an einer Pforte im Außendeichsgelände.

Beim Anblick des Dollarts fröstelte es Jan Broning. Verdrängte Erinnerungen an seinen Kampf im Watt. Die Stimmung im Zivilwagen hatte sich gedreht. Kowalski hatte sich überraschend schnell erholt und lächelte sogar für einen Moment. Broning versuchte die negativen Gefühle abzuschütteln. Im Süden konnte er die Bohrinsel Dyksterhusen sehen. Von dort aus war damals die Rettungsaktion durchgeführt worden.

Die Straße entlang des Deiches wurde mehrfach durch Zäune mit Pforten gesperrt. Stinus stieg jedes Mal aus und schloss die Pforten auf. Die Fahrt ging weiter und Broning sah am Rande der Salzwiesen ein Absperrband im Wind flattern. Sie hatten nur noch eine geschlossene Pforte vor sich. Am Rand des abgesperrten Bereiches stand die Kollegin Swantje Benninga. Sichtlich erleichtert darüber, dass sie nicht mehr alleine bei der Leiche war, kam sie auf die Einsatzwagen zugelaufen. An der Pforte gab sie Jan Broning die Hand. »Moin, Herr Broning, Swantje Benninga, hier ist nichts weiter passiert.«

Er lächelte sie kurz an. »Hallo, Swantje. Grundsätzlich duze ich mich mit den Kollegen, also für dich auch Jan.«

Egon Kromminga und Albert Brede hatten sich die weißen Kombis der Spurensicherer angezogen. Nun ließen sie sich von dem Schatzsucher Kowalski erklären, wo genau er gelaufen war, womit er gegraben hatte und wie er die Leiche berührt hatte. Inzwischen hatte Stinus die Pforte aufgeschlossen. Albert Brede fluchte, während er die Aluminiumkoffer zum Fundort schleppte. Routiniert begannen die beiden Spurensicher mit der Tatortarbeit. Egon Kromminga fotografierte sich von außen an die Leiche heran. Zunächst Übersichtsaufnahmen der Umgebung, dann immer näher an den Absperrungsbereich, und schließlich die Detailaufnahmen der Leiche.

Während Jan Broning darauf wartete, dass Brede den Tatort freigab, befragte er die uniformierten Kollegen und den Schatzsucher Kowalski. Die Kernpunkte ihrer Aussagen notierte er sich auf einem Schreibblock. Er hatte dafür eine spezielle Schreibunterlage, eine sehr flache Aluminiumkiste im Din-A4-Format. Oben konnte man einen Schreibblock festklemmen, und in der flachen Kiste waren Spurensicherungstüten, eine kleine Digitalkamera, Einmalhandschuhe und verschiedene Pinzetten. Das hatte sich schon oft bewährt. Bei der ersten Inaugenscheinnahme wurden die Leichen nach Personaldokumenten, Brieftaschen und Handys durchsucht. Mit der Minimalausrüstung konnte man kleine Gegenstände ohne Übertragung von Fremdspuren anfassen, in spezielle Tüten verpacken und sicher verstauen.

Broning stieg auf die Deichkrone und skizzierte von dort aus die Umgebung. Als er in Richtung Schöpfwerk blickte, bemerkte er einen Wagen, der sich ihnen näherte, und ging zurück zu seinen uniformierten Kollegen. »Stinus, Swantje, ich glaube, wir bekommen Besuch von der Presse. Könnt ihr die fernhalten? Wenn sie maulen, verweist auf die Presseinfo, die wir nachher verteilen.«

Stinus nickte und ging dem Wagen entgegen. Jan Broning hörte, wie sein Name gerufen wurde, und sah, dass Albert Brede ihm zuwinkte. Er hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte. »Swantje«, Broning drehte sich zu seiner Kollegin um, »bleibst du bitte hier bei Herrn Kowalski und rufst diese Nummer hier an?« Er nahm aus seiner Schreibunterlage eine Visitenkarte und gab sie ihr. »Bestatter Erdmann aus Leer, er soll bitte herkommen und die Leiche abholen.«

»Okay, mach ich sofort.« Swantje griff zum neuen digitalen Funkgerät, mit dem man auch telefonieren konnte.

Egon und Albert standen bei einer länglichen Vertiefung im Boden, neben der mehrere Erdhaufen lagen. Die Überreste eines menschlichen Körpers, der auf dem Rücken lag, waren vom Kopf bis ungefähr zur letzten Rippe freigelegt. Halb über dem Skelett lagen die Reste von grauem Tuch und seitlich am Körper sah man den verrosteten Lauf eines Gewehres. Der Totenschädel blickte in den ostfriesischen Himmel. Es wollte nicht zur Umgebung passen. Die frischen Farben und Gerüche der aus dem Winterschlaf erwachten Natur waren ein starker Kontrast zu diesem Symbol des Todes.

»Unser Schatzgräber hat ganze Arbeit geleistet. Alles zerwühlt und zertrampelt.« Egon klang wütend. »Trotzdem haben wir schon einiges gefunden. Hier!« Er hielt Jan eine durchsichtige Spurensicherungstüte hin. »Die lagen in der ausgehobenen Erde. Sieht aus wie Knöpfe von einer Wehrmachtsuniform und das hier könnte ein Koppelschloss sein.«

»Das Gewehr …?« Broning sah Brede fragend an. Albert war Ballistiker und kannte sich sehr gut mit Waffen aus.

»Karabiner, Zweiter Weltkrieg.«

Broning wartete vergeblich auf weitere Ausführungen. »Wenn ich euch richtig verstehe, seid ihr der Meinung, es handelt sich bei der Leiche um einen Kriegsteilnehmer, einen Soldaten?«

»Genau«, bestätigte Egon, Albert nickte nur.

Jan massierte seine Schläfen. »Vielleicht haben wir Glück und finden die Erkennungsmarke, die trug doch jeder Soldat. Was meint ihr, wie machen wir weiter?«

»Leiche freilegen, abtransportieren und die gesamte Erde im Grab durchsieben«, schlug Egon vor. Albert Brede nickte.

»Erdmann ist unterwegs«, sagte Broning. »Braucht ihr hier noch Hilfe oder mehr Ausrüstung?«

»Zwei große Siebe für die Erde und ein Wasserschlauch wären super«, sagte Egon. »Bei einem ähnlichen Einsatz hat uns die Feuerwehr gut unterstützt.«

»Ich kümmere mich darum.« Jan Broning griff zum Handy.

Zeitgleich mit dem Bestatter traf die Feuerwehr ein. Unter Anleitung der Spurensicherer wurde die Leiche vollständig freigelegt und im Leichensack des Bestatters abtransportiert. Die Feuerwehr stellte zwei Siebe auf und die gesamte Erde aus dem Grab und der Aushub wurden gesiebt.

Bei dem grauen Stoff, der über der Leiche gelegen hatte, handelte es sich tatsächlich um die Überreste eines Wehrmachtsmantels. Verrostete Patronen, Teile des Gewehrs und Uniformknöpfe wurden gefunden, zur Enttäuschung der Spurensicherer aber nicht die Erkennungsmarke.

Jan Broning brauchte für den späteren Bericht die genaue Position des Grabes. Bisher hatten sie als Ortsangabe nur den Deichkilometer gehabt. Jetzt wurde der Fundort mit einem speziellen Navigationsgerät in Koordinaten eingemessen.

Den Schatzsucher Peter Kowalski hatte Broning bereits entlassen. Er sah auf die Uhr. Jetzt suchten sie bereits Stunden vergeblich nach weiteren Spuren. Bei den Kameraden der Feuerwehr handelte es sich um Freiwillige, er wollte sie nicht zu sehr beanspruchen. Broning bedankte sich bei ihrem Leiter für den Einsatz, entließ die Frauen und Männer und versprach, einen kurzen Bericht über die Anforderung zu mailen. Zurück blieben zwei Kübel mit Wasser zum Reinigen der Ausrüstung und ein Gestell mit einem Sieb. Albert und Egon wollten noch alleine weiterarbeiten.

»Egon, Albert, erst mal danke für euren Einsatz. Ich fahr zurück und fang mit dem Bericht an. Die Presseleute rennen uns sicher schon die Bude ein.« Broning formulierte schon in Gedanken den Bericht. »Was haltet ihr davon: Es handelt sich vermutlich um ein aufgefundenes Opfer aus dem zweiten Weltkrieg. Bei der Leiche wurden Ausrüstungsgegenstände aus dieser Zeit gefunden.«

»Genaueres können wir noch nicht sagen«, antwortete Egon.

Alberts Laune hatte sich inzwischen gebessert, weil man ihn ungestört hatte arbeiten lassen. Er lächelte sogar kurz, als er sagte: »Irgendetwas musst du ja reinschreiben, ist okay so.«

Jan Broning verabschiedete sich von Swantje und Stinus. »Danke für eure Unterstützung, die Presseleute haben euch sicher auf Trab gehalten.« Er sah sich um. »Komisch – wo sind die denn alle?«

Stinus wirkte nachdenklich, als er sagte: »Als wir diesen Schatzsucher entlassen haben, ist der zu Fuß zurück zum Parkplatz. Dabei hat er mit den Presseleuten gesprochen.«

»Er hat die angesprochen, und dann sind alle gleichzeitig verschwunden«, fügte Swantje hinzu.

»So viel zu seinem Versprechen.« Jan presste die Lippen aufeinander und atmete tief durch. In Gedanken konnte er schon die Schlagzeilen sehen.

Tag 1 nach der Entdeckung des unbekannten Toten in den Salzwiesen des Dollarts, Stadt Weener, Redaktionsbüro des Rheiderlandkuriers

Der Rheiderlandkurier war am schnellsten. Im Redaktionsbüro las der Reporter Hilko Cordes noch einmal den Artikel, der morgen erscheinen würde. Überschrift: Sensation – Rheiderländer Ötzi gefunden! Der Artikel füllte eine ganze Seite. Es folgten Bilder der Leiche, Detailaufnahmen der Ausrüstung und vom Fundort. Sogar ein Video wurde in der digitalen Ausgabe der Zeitung angekündigt.

Die sachliche Pressenotiz der Polizei wurde nur kurz erwähnt.