Emsgrab - Wolfgang Santjer - E-Book

Emsgrab E-Book

Wolfgang Santjer

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Beschreibung

Ungewöhnlich viele Seeunfälle, Anschläge auf Baggerschiffe und Fischkutter - Onno Elzinga und seine Kollegen von der Wasserschutzpolizei Leer haben auf den trüben Fluten der Ems sehr viel zu tun. Stecken hinter den Taten Umweltaktivisten, die auf diese Weise gegen die ständige Vertiefung des Flusses und den Bau riesiger Kreuzfahrtschiffe im Binnenland protestieren wollen? Dann macht die Besatzung eines Saugbaggers einen grausigen Fund. Hauptkommissar Jan Broning übernimmt die Leitung der 'SoKo Ems'. Als bei der Überführung des neuen Kreuzfahrtschiffes der Cruise Liner-Werft ein Anschlag verübt wird und der Mitarbeiter einer Bagerfirma spurlos verschwindet, wird den Ermittlern klar, dass sie es mit skrupellosen Gegnern zu tun haben. Wolfgang Santjer hat lange Jahre selbst bei der Wasserschutzpolizei gearbeitet und kennt das Leben und das Verbrechen auf und an der Ems aus eigener Erfahrung.

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Wolfgang Santjer

Emsgrab

Kriminalroman

Zum Autor

Wolfgang Santjer wurde 1960 in Leer geboren und lebt in Bingum an der Ems. 38 Jahre lang versah er als Polizeibeamter Dienst bei verschiedenen Polizeibehörden – angefangen beim damaligen Bundesgrenzschutz, dann der Wechsel zur Landespolizei. Weitere Stationen waren die Wasserschutzpolizei in Emden und Leer und die Autobahnpolizei in Leer, wo er sich unter anderem auf die Gefahrgutüberwachung spezialisierte. Als Ausgleich zu seiner Schreibtischarbeit als Autor schnitzt Wolfgang Santjer aus alten Schiffsdalben große Holzskulpturen für den Garten.

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Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

(Originalausgabe erschienen 2013 im Leda-Verlag)

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Susanne Lutz

unter Verwendung eines Fotos von: © cresk-stockadobe.com

ISBN 978-3-8392-6428-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog Zeitsprung

Jean Claude steuerte sein Binnenschiff durch den Nebel. Der Franzose hatte kein gutes Gefühl auf diesem letzten Teil der Reise. Durch die leicht geöffnete Tür des Ruderhauses drang das gleichmäßige Geräusch des Dieselmotors.

Seine Kollegen hatten ihm schon viel von diesem Fluss erzählt. Durch den Nebel warf er einen kurzen Blick auf die Beschriftung der riesigen Halle der Cruise Liner Werft. Über diesen schmalen Fluss manövrierten sie die Kreuzfahrtschiffe zur Nordsee?

Bei der Abfahrt in Delfzijl war die Ems noch sehr breit gewesen, aber mit jedem Kilometer in Richtung Leer und Papenburg wurde das Fahrwasser des Flusses enger.

Jean Claudes Frau stellte zwei dampfende Kaffeetassen auf den kleinen Tisch am Ruder.

»Marie, schau mal, hier bauen sie die schönen Kreuzfahrtschiffe.«

»Warum bauen sie die nicht gleich an der Küste?« Typisch Marie. Immer vernünftig und überlegt.

»Ich weiß auch nicht – soll man die Deutschen hierfür bewundern …«

»… oder für verrückt erklären?«, vollendete Marie seinen Satz. »Nichts gibt es umsonst. Oder sind dir noch nicht die starke Strömung und das schmutzige Wasser aufgefallen? Die baggern sicher auf Teufel komm raus.«

Natürlich hatte er es bemerkt. Hoffentlich setzte ihm der Schlick nicht die Kühlleitungen zu. Bei dieser Strömung ein Motorausfall – nicht auszudenken. Ohne Maschinenantrieb würde das Schiff sofort aus dem Ruder laufen.

Mit einem flauen Gefühl im Magen steuerte Jean Claude sein Schiff weiter durch den Nebel und verdrängte die düsteren Gedanken.

Normalerweise fuhr er nicht bei Dunkelheit und Nebel in einem fremden Gewässer. Für diesen Fluss hatte er nicht mal das erforderliche Patent und sich entschlossen, die Kosten für den vorgeschriebenen Lotsen dann auch gleich noch zu sparen.

Seine Frau hatte ihn angefleht, den Lotsen an Bord zu nehmen, und es war wieder mal zum Streit gekommen, weil einfach nicht genug Geld da war. Jean Claude hatte die Hoffnung gehabt, mit einer frühen Abfahrt in Delfzijl einer Kontrolle zu entgehen. Man hatte ihn schon einmal ohne Lotsen erwischt und er konnte sich noch gut an das hohe Bußgeld erinnern. Außerdem hatte er damals bis zum Eintreffen des Lotsen eine Zwangspause einlegen müssen. Marie hatte sich gewaltig aufgeregt.

Das Schiff befand sich in Bergfahrt, direkt vor ihnen lag die Halter Brücke. Nach der Brücke waren es nur noch einige Flusskilometer, dann wäre die erste Schleuse der Kanalstrecke erreicht. Für das anschließende Kanalgebiet reichte sein Patent aus.

Marie war noch immer sauer auf ihn, weil er ohne Lotsen losgefahren war. Jean Claude hatte auf die dringende Überholung der Hauptmaschine und die gestiegenen Internatskosten für die Kinder hingewiesen. Die Frachtpreise waren durch die billige Konkurrenz aus dem Osten im Keller, deshalb musste er inzwischen Transporte auch in diese für ihn zu entfernten Gebiete annehmen. Die Kanalgebühren, der Sprit und die Lotsgelder verringerten den Gewinn. Eine kaufmännische Katastrophe.

»Vielleicht hätten wir uns doch nicht selbstständig machen sollen«, sagte Marie. Zum wievielten Mal?

»Du tust gerade so, als hätten wir eine Wahl gehabt, Marie. Du weißt doch noch, was der Disponent der Reederei mir vor zwei Jahren gesagt hat: ›Entweder Sie übernehmen das Schiff oder wir sind gezwungen, Sie zu entlassen.‹«

»Jean Claude, wir haben die Unterhaltskosten einfach unterschätzt, als wir das Schiff gekauft haben.«

»Sie werden uns so viel geben, dass wir gerade überleben können«, sagte Jean Claude bitter, »aber nicht mehr. Zum Sterben zu viel und fürs Leben zu wenig! Wir sind genauso abhängig wie vorher, nur dass wir jetzt die Kosten für das Schiff tragen müssen. Es hilft doch nichts, Marie. Versuch, positiv zu denken.«

»Wie weit ist es denn noch bis zur Schleuse Herbrum? Ich bin froh, wenn wir aus dieser fiesen Strömung rauskommen.«

Jean Claude sah auf das Radarbild und verglich es mit der Seekarte. »Wir sind direkt vor der Halter Straßenbrücke. Ich leuchte mal den Brückenpegel an. – Sieben Meter Luft. Kein Problem, Marie. Nur noch ein paar Kilometer und wir haben es geschafft.«

Immer ein mulmiges Gefühl unter einer Brücke, dachte Jean Claude.

Er erstarrte, als ein dumpfer Schlag das Ruderhaus traf.

»Jean Claude! Ich denke, wir hatten genug Platz unter der Brücke!«, rief Marie erschrocken.

»Halt bitte das Ruder. Ich seh nach!«

Jean Claude riss die linke Ruderhaustür auf und starrte nach oben. Für einen Moment konnte er durch den Nebel die Brücke erkennen und glaubte, den Schatten einer Person am Geländer zu sehen.

Er warf einen Blick auf den vorderen Mast und die Radarantenne. »Alles heil geblieben, Ich sagte doch: genug Platz.« Erst jetzt bemerkte er, wie blass das Gesicht seiner Frau war. »Marie, es ist alles in Ordnung. Beruhige dich.«

Im selben Augenblick sah Jean Claude, worauf seine Frau starrte: Die Scheibenwischer zogen einen blutroten Schmierfilm über das Fenster des Ruderhauses.

»Marie, achte auf den Kurs. Ich sehe auf dem Dach nach. Es ist sicher ein Dummejungenstreich. Bestimmt ein Farbbeutel!« Sein Magen verkrampfte sich, als er nach draußen ging und über die Leiter auf das Dach des Ruderhauses kletterte.

Ein länglicher Gegenstand lag auf dem Dach. »Oh Gott, nein. Bitte nicht.«

Mit zittrigen Knien ging er darauf zu. Was sein Unterbewusstsein bereits registriert hatte, wurde nun zur Gewissheit. Ein menschlicher Körper lag in verkrümmter Haltung auf dem Dach, mit dem Bauch in einer Blutlache, die langsam über die Kante lief.

Er zwang sich, den Körper umzudrehen. Vielleicht war es ein Selbstmörder und man konnte ihm noch helfen. Jean Claude starrte sekundenlang in das Gesicht des Fremden. Wie sollte er sich verhalten? Der Anblick verursachte Grauen und Übelkeit. Trotzdem zwang er sich, nach dem Puls am Hals des Mannes zu fühlen.

Es gab keinen Zweifel: Diesem armen Kerl war nicht mehr zu helfen. Jetzt erst fiel Jean Claude eine klaffende Wunde am Hals des Toten auf. Vorsichtig schob er die offene Strickjacke des Mannes beiseite und fand weitere Wunden. Jean Claude war kein Fachmann, aber ein Selbstmord war das nicht. Dieser Mann war erstochen worden.

Der Franzose dachte an die dunkle Gestalt, die er kurz am Brückengelände gesehen hatte.

Ein Toter auf seinem Schiff. Das bedeutete eine Menge Ärger. Was sollte er nur tun? Seine Gedanken überschlugen sich. Er wusste nur eins: Die Leiche musste sofort verschwinden, mit dieser Sache durfte und wollte er nichts zu tun haben.

Er rannte zurück ins Ruderhaus. »Marie, kommst du klar? Ich sagte doch: Dummejungenstreich. Ich bring das in Ordnung.«

Jean Claude schaltete die Sicherung für den kleinen Bordkran an und stieg zurück aufs Dach. Mit der Fernbedienung steuerte er den Kranausleger in die Nähe der Dachmitte. Er zog dem Toten die ohnehin schon halb ausgezogene Strickjacke mit dem Greenpeace-Symbol herunter und wischte damit die Blutlache auf. Dann legte er die Jacke auf das Gesicht des Toten. Er schwenkte den Ausleger mit dem darauf liegenden Körper nach außenbords und ließ ihn hin und her schwingen, bis der Körper endlich vom Ausleger hinunter in den Fluss rutschte.

»Mein Gott, Jean Claude, was treibst du da draußen?« Maries ungeduldige Stimme drang aus dem Außenlautsprecher an Deck.

»Die haben uns Schlachtabfälle aufs Dach geworfen, echt eklig. Ich mach nur noch etwas sauber.« Etwas Besseres war ihm so schnell nicht eingefallen. Marie durfte niemals die Wahrheit erfahren. Sie hätte darauf bestanden, die Polizei zu alarmieren. So eine Geschichte konnte das Ende ihrer Ehe bedeuten.

Er wollte Marie und sein Schiff nicht verlieren und es reichte, wenn einer Albträume hatte.

Jean Claude zwang sich, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, als er das Ruderhaus betrat. Marie blickte ihn nicht an, wie hypnotisiert starrte sie auf den Scheibenwischer. Kein gutes Zeichen. Jean Claude ging hinunter in die Kombüse und wusch sich die Hände. Im Ruderhaus zurück, streichelte er beruhigend ihre Schulter und schaltete den Autopiloten ein.

Sie drehte sich zu ihm um und er nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Du, wir hatten einfach nur Pech, dass wir gerade unter der Brücke waren und uns die Sachen aufs Dach gefallen sind.«

Teil 1

1.

An Bord des niederländischen Saugbaggers Arne Monsing

Die Freischicht war vorbei und Henk de Olde wieder als Schiffsführer an Bord des Saugbaggers Arne Monsing. Die freien Tage waren viel zu schnell vorübergegangen. Jetzt lagen wieder sieben Tage Baggerarbeit auf der Ems vor der Besatzung.

Der Maschinist Pieter ten Broek war der Meinung, dass zunächst ein starker Kaffee nötig sei. Gemeinsam mit dem Matrosen Martin Kerstmann gingen sie in die Kombüse, um nachzusehen, ob die vorherige Schicht dort für Ordnung gesorgt hatte. Noch konnte man der alten Besatzung gehörig in den Hintern treten, falls die einen Saustall hinterlassen hatten.

Pieter ten Broek stellte die Kaffeemaschine an und sah sich um. »Die Jungs waren wohl schon in Gedanken bei ihren Frauen.«

»Reg dich nicht künstlich auf«, sagte Martin. »Die gerechte Strafe erwartet sie bestimmt schon zu Hause.«

Pieter lachte. »Zumindest Boonstra. Seine Alte hat Haare auf den Zähnen.«

Sie wischten die angetrockneten Kaffeetassenringe von der Arbeitsfläche. Pieter fluchte. »Das sollten wohl die olympischen Ringe werden … Verdammichte Smeerlappen!«

Die Kaffeemaschine gab gleichmäßige glucksende Geräusche von sich und Pieter und Martin gingen die Treppe hinauf zur Brücke. Die letzte Gelegenheit für einen kleinen Plausch mit der abrückenden Besatzung wollten sie nicht versäumen. Die nächsten Tage würden sie unter sich sein. Henk würde seine alten Witze erzählen und sein Lieblingsopfer, den jungen Martin, gehörig auf den Arm nehmen.

Die Maschinisten führten ihre Fachgespräche, angefangen vom aktuellen Bunkerbestand bis zur dieser verdammten seit Jahren leckenden Hydraulikpumpe. Die Schiffsführer besprachen zusammen mit Baggerleiter Gerd Peters die von den Besatzungen der Peilboote vorgelegten Ergebnisse der Tiefenmessungen.

Henk de Olde war nicht überrascht, dass Peters wieder mal unter Dampf stand. Die erforderlichen Tiefen waren noch nicht erreicht worden und der Zeitdruck war wegen der geplanten Überführung des neuen Kreuzfahrtschiffes groß. »Gerd, lass dich nicht verrückt machen, bis jetzt haben wir alle Arbeiten immer noch pünktlich erledigt. Auch dieses Mal wird es keine Probleme geben, wir haben Zeit genug.«

Nachdem der neueste Tratsch aus Holland und die neuesten Familienbilder ausgetauscht worden waren, verließ die alte Crew mit einem lauten: »Tot ziens« das Schiff.

Der Bagger war nun wieder sieben lange Tage Henks Zuhause. Wie viel Zeit hatte er wohl schon auf diesem Ding verbracht? Ich bin länger mit meiner Besatzung als mit meiner Frau Mareike zusammen, grübelte er. Zum Glück hatte seine Ehe dieser Belastung standgehalten.

Erst war er jahrelang als Steuermann auf Kümos gefahren. Die Kindererziehung hatte Mareike übernommen. Dabei war sie mit der Zeit immer selbstständiger geworden und jetzt erledigte sie alles, von der Gartenarbeit bis zu den Behördengängen. Bei den Landurlauben hatte Henk immer wieder festgestellt, dass Mareike alles bestens organisiert hatte. An Bord der Schiffe war er der Kapitän und Chef, aber zu Hause hatte Mareike das Kommando. Die ersten Tage an Land, oha – da zog schon mal eine Gewitterfront auf. Mareike konnte im Streit sehr unnachgiebig sein. Das Schlimme war, dass sie meistens recht hatte. Aber das würde er nie zugeben.

Beide brauchten jeweils lange, um sich wieder aufeinander einzustellen. Die lange Abwesenheit von zu Hause war Henk ihm immer schwerer gefallen, und die Entwicklung der beiden Kinder hatte er die meiste Zeit versäumt. Deshalb war er froh, dass er nun diesen Job an Bord des Baggers hatte. Jetzt war er wenigstens alle sieben Tage zu Hause.

Henk de Olde machte den Saugbagger zum Ablegen bereit. Die Besatzung hatte die Festmacher gelöst und Henk steuerte zunächst ins Fahrwasser und nahm Kurs auf die Weekeborger Bucht. Eine Strecke von neun Kilometern auf der Ems. Die Bucht lag etwa drei Kilometer hinter der Jann-Berghaus-Brücke.

Nach etwa einer Viertelstunde rief Henk über UKW-Funk die Brückenbesatzung. »Leer Bridge für Bagger Arne Monsing in Bergfahrt – kommen!« Die Durchfahrtshöhe der Brücke reichte für den Bagger nicht aus, deswegen musste die Klappe geöffnet werden.

Brückenwärter Andreas Schröder meldete sich: »Leer Bridge hört.«

»Ich bin in zehn Minuten bei euch und benötige eine Öffnung.«

»Okay, kommt man ran.«

Henk de Olde hielt seinen Bagger auf Abstand zur Brücke. Sollte ein technisches Problem beim Öffnen entstehen, hatte er genug Platz, um ein Wendemanöver einzuleiten.

Vor einigen Jahren hatten sie beobachtet, wie der Kapitän eines Seeschiffes zu dicht an die Brücke gefahren war. Aufgrund eines technischen Defektes hatte sich die Brücke nicht sofort öffnen lassen. Durch den starken Flutstrom war das Seeschiff aus dem Ruder gelaufen. Irgendwie war es dem Kapitän gelungen, sein Schiff zwischen den Leitdalben der Brücke zu drehen. In diesem Moment hatte sie sich endlich gehoben, und das Schiff war rückwärts durch die Brücke gefahren.

Der Bagger hatte sich damals hinter dem Seeschiff befunden und hatte als zweites Fahrzeug die Brücke passieren sollen. Der Baggerbesatzung hatten die Haare zu Berge gestanden, als sie die verzweifelten Manöver der Seeschiffsführung beobachtet hatten. Damals war es fast zu einer folgeschweren Kollision mit dem Klappteil gekommen.

Die Brücke wurde deswegen immer sehr frühzeitig geöffnet. Die etwas längere Öffnungszeit war für die Autofahrer sicher besser zu ertragen als ein monatelanger Totalausfall der Brücke.

Henk de Olde saß auf seinem Steuerstuhl und beobachtete, wie die Autos vor den Schranken hielten. Die Klappe hob sich und die grünen Signallampen gaben schließlich die Durchfahrt frei. Langsam manövrierte er den Bagger durch die Brücke.

»Danke für die Öffnung. Bis zum nächsten Mal.«

Nach den Jahren kannte man sich und hörte schon an der Stimme, wer auf der anderen Seite des Funkgerätes war. »Kein Problem, Henk«, kam es von der Brücke zurück. »Gute Fahrt.«

Henk hatte in der kostenlosen Sonntagszeitung gelesen, dass sich Autofahrer über die ständigen Öffnungen der Brücke aufregten. Verständnis hatte er für diese Leute nicht. Die Schranken der alten Jann-Berghaus-Brücke hatten damals aufgrund der niedrigeren Durchfahrtshöhe öfter geschlossen werden müssen. Henk konnte sich noch gut an den umständlichen Öffnungs-Mechanismus der alten Brücke erinnern. Auch die reine Öffnungszeit war durch die neue Brücke verkürzt worden.

Als sich vor etwa zehn Jahren ein Pfeiler der alten Brücke gefährlich zur Seite geneigt hatte, hatte man die Gelegenheit ergriffen und gleich eine ganz neue Brücke gebaut. Dass man damit auch eine größere Brückenöffnung erreicht hatte, störte die Verantwortlichen der Cruise Liner Werft ganz bestimmt nicht – jetzt konnten noch mächtigere Kreuzfahrtschiffe gebaut werden …

Diesen letzten Gedanken behielt er besser für sich. Nicht zuletzt sein Job hing von der Werft ab.

Das Ruderhaus des Baggers wurde hydraulisch hochgefahren. Nun hatte Henk von hier oben einen wunderbaren Ausblick über die Flusslandschaft und beobachtete den Nebel, der langsam über den Feldern aufstieg.

An der neuen Einsatzstelle senkte Schiffsführer Henk de Olde das Saugrohr an der Backbordseite des Baggers auf den Flussgrund.

Im Gegensatz zu den Baggern der älteren Generation, den sogenannten Eimerkettenbaggern, wurde bei den neuen der Flussgrund mit starken Düsen zunächst gelöst und gleichzeitig aufgesaugt. Abgesehen davon, dass damit auch Organismen vom Grund gelöst wurden, die den Sauerstoff im Wasser bis auf einen Rest verbrauchten, der für einen Fisch zum Überleben nicht ausreichte, gab es bei dieser Methode ein weiteres Problem: Ein erheblicher Anteil der gelösten Bestandteile konnte nicht aufgenommen werden, und dieser Schlick trieb dann für mehrere Wochen als Schwebstoff im Fluss. Diese Schwebstoffe setzen sich später im ruhigen Wasser ab.

Diese Verschlickung führte in den Flusshäfen zu erheblichen Problemen: Die Wassertiefe nahm ständig ab und Schiffe liefen auf Grund. Die Hafenbetreiber versuchten nun, die dort abgesetzten Schlickbestandteile mit verschiedenen Methoden aufzuspülen und nach dem Sankt-Florians-Prinzip zurück in den Fluss zu pumpen. Das verstärkte die Probleme am Fluss erheblich, aber kurzsichtig dachte nur jede Verwaltung an die eigenen Interessen und trug dazu bei, dass sich ein graubraunes Leichentuch über den Fluss legte.

Henk de Olde hatte keine Zeit für solche Gedanken, sein Bagger war für die andere Schifffahrt ein Hindernis im Fahrwasser. Der Baggerführer sprach die Begegnungen mit den anderen Fahrzeugen ab, um gefährliche Annäherungen zu vermeiden.

Der aufgesaugte Flussboden füllte langsam den Laderaum, und nach einigen Stunden war es an der Zeit, den Einsatz zu beenden. Die Signale, die den Bagger als manövrierbehindert kennzeichneten, wurden eingeholt. Damit war er wieder ein ganz normales Fahrzeug und andere Verkehrsteilnehmer nicht mehr gezwungen, ihm auszuweichen.

Das Saugrohr wurde hochgezogen und de Olde steuerte sein Fahrzeug in Richtung Löschstelle. Inzwischen war es dunkel und neblig geworden. Das grüne Licht des Radars und die Leuchten der Kontrollgeräte erzeugten eine gespenstische Stimmung im Ruderhaus. Jedes unnötige Licht wurde ausgeschaltet, um die Sicht nach außen nicht zu beeinträchtigen.

Der Matrose Martin stand gelangweilt in der Ecke.

Henk seufzte unwillkürlich auf. Erst neulich hatte er sich Martin zur Brust genommen. Hatte doch der Kerl während der Fahrt bei Dunkelheit die Innenbeleuchtung des Ruderhauses angemacht! Henk hatte draußen prompt nichts mehr gesehen, Blindflug sozusagen. Den Anschnauzer hatte Martin sich verdient.

»Martin, spül das Deck und zwischendurch machst du den Ausguck. Sprechanlage ist eingeschaltet. Der Nebel wird immer dichter. Hörst du oder siehst du was: Meldung. Kapiert?«

Martin öffnete die Ruderhaustür.

»Halt, verdammt noch mal!«

»Henk, ich hab den Lichtschalter nicht mal angerührt.«

»Nee, das nicht – aber deine Rettungsweste hast du vergessen.« Henk verdrehte die Augen. Er sah, wie sich Martin die Rettungsweste umlegte und damit begann, das Deck zu säubern. Der Schlick musste regelmäßig abgespült werden.

Für die erneute Passage der Brücke stellte Henk das Radargerät auf Nahbereich um. Der Nebel wurde immer dichter und die Wettervorhersage kündigte an, dass es noch schlimmer werden würde.

Die erforderliche Brückenöffnung hatte Henk über den Schiffsfunk beim Brückenwärter Schröder schon angekündigt. Die grünen Signallichter für die freigegebene Brückenpassage waren im Nebel nur schwach zu sehen.

2.

Nördliches Rheiderland

Er sah in den Spiegel und betrachtete sein müdes, blasses Gesicht. Die fettigen Haare und die Bartstoppeln machten es auch nicht besser. Rote Augen und schwarze Augenringe vervollständigten den elenden Eindruck.

Er ließ die Sonnenrollos vor den Fenstern herunter und beschloss, den Spiegel zu meiden. Sein Blick streifte die dreckige Spüle, in der sich schmutziges Geschirr stapelte.

Das war also übrig vom Neuanfang in diesem Kaff. Egal, wohin man zog, man nahm sich und seine Probleme immer mit.

Der Anfang hier war irgendwie verkrampft verlaufen. Seine Ehefrau hatte alles richtig machen wollen. Hatte sich um ihn gekümmert und versucht, besonders nett zu ihm zu sein. Sie war ständig beschäftigt gewesen, so als vermiede sie es, ihm gegenüberzusitzen. Er hatte meistens in der Küche herumgesessen und sich nicht aufraffen können, etwas Sinnvolles zu tun. Seine Frau hatte immer wieder versucht, ihm irgendwelche Aufträge zu geben. Angeblich sei nach dem Umzug noch vieles zu erledigen. Wenigstens zum Arzt sollte er gehen.

Er hatte sich einen Arzt gesucht, einen Termin vereinbart und gehofft, dass seine Frau nun Ruhe gab.

Der Arzt hatte sich angehört, wo seine Probleme lagen, und vermutete, dass eine Depression vorlag.

Eine Überweisung zum Facharzt war ausgestellt worden und er hatte Tabletten verschrieben bekommen. Die sollten ihm dabei helfen, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen. Aggressionen! Nur weil er sich beim Arztbesuch im Wartezimmer etwas aufgeregt hatte …

Die Tabletten lagen noch vollständig in der Schublade und einen neuen Termin hatte er sich auch noch nicht besorgt. Seine Frau machte ihm deswegen Vorwürfe, die er beständig ignorierte.

Seine Frau war zu ihm auf Abstand gegangen, nicht nur im Bett.

An einem Morgen nach einem taubstummen Frühstück hatte sie zu ihm gesagt: »Geh doch mal unter Leute! Heute Abend ist im Sielhus in Jemgum eine Veranstaltung. Thema ist die Emsvertiefung und der Deichschutz. Das interessiert dich doch immer.« Sie hatte ihm die Tageszeitung hingeschoben und mit dem Finger auf die Ankündigung getippt.

Er hatte sich dann tatsächlich am Abend aufgerafft und war nach Jemgum gefahren, um an der Versammlung teilzunehmen. Irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, seine Frau wollte ihn loswerden.

Zunächst hatte er das unscheinbare kleine Haus gar nicht finden können. So begann der Abend schon recht merkwürdig, als er einen Spaziergänger nach dem Sielhus fragte. Der reagierte mit Kopfschütteln. »Wo wird es wohl sein, das Sielhus – natürlich am Siel! Das Siel ist dieser Kanal und das kleine Haus mit dem schön restaurierten Giebel dort am Kanal, das ist unser Sielhus.«

Der Flur des Sielhauses lief mit starkem Gefälle nach hinten ab. Eine Erklärung konnte er den Erläuterungen zu den Fotos entnehmen, die an der Wand hingen: Danach sollte das vorn eingedrungene Hochwasser hinten wieder ablaufen.

Der Hafen hatte früher bis an das Gebäude herangereicht. Der spätere Ausbau des Hochwasserschutzes mit dem vorverlegten Deichdurchlass und dem Schöpfwerk hatte das Dorf vor Hochwasser bewahren sollen, das kleine Gebäude war dadurch vom Hafen abgeschnitten worden.

Stimmen drangen aus einem Raum, und er öffnete die Tür.

Der Schankraum war sehr klein. Neben der Theke befand sich eine Art Kaufmannsladen. Die Wirtin zapfte gerade ein Bier und bemerkte seinen fragenden Gesichtsausdruck. »Da staunen Sie, was? Hier haben früher die Schiffer ihre Kluntjes gekauft und anschließend noch ein Bier getrunken.«

»Ist hier dieser Vortrag wegen der Emsvertiefung?«

Die Wirtin sah ihn über den Brillenrand an. »Im Nebenraum, geht gleich los. Aber passen Sie auf die Stufe auf. Möchten Sie etwas trinken?«

Mit einem Bier in der Hand betrat er den kleinen Versammlungsraum und wäre fast der Länge nach hineingestolpert. Den Sturz konnte er verhindern, aber die Hälfte seines Bieres spritzte auf zwei Männer, die ihn daraufhin finsteransahen. Er entschuldigte sich und setzte sich auf einen freien Stuhl.

Ein Mann im Fischerhemd ging an das Rednerpult und stellte sich als Mitglied des Naturschutzbundes vor. »Ich darf heute Abend auch einige Vertreter der Deichbehörde und des Wasseramtes begrüßen. Die Herren sind bereit, einige Fragen zu beantworten.«

Er nippte an seinem halb vollen Bierglas und versuchte, sich auf die Ausführungen der Behördenvertreter zu konzentrieren.

»Meine Damen und Herren, die Wirtschaft verlangt nach immer größeren Schiffen. Der Markt bestimmt die Bedingungen, wir müssen baggern, wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten wollen.«

Die Veranstaltung nahm ihren Lauf, und er bestellte sich schließlich das fünfte Glas Bier. Nervös bemerkte er, dass die Männer, die er mit Bier bespritzt hatte, ihn immer wieder beobachteten. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, für beide auf seine Rechnung ein Bier zu bestellen. Aber in diesem Moment hörte er das Wort »Arbeitsplätze« vom Vortragenden und es hielt ihn nicht mehr auf dem Stuhl.

»Jetzt kommen Sie wieder mit diesem Totschlagargument Arbeitsplätze – und was ist, wenn die Deichebrechen?! Haben Sie schon mal die Flutmarken in Pogum und Wynhamster Kolk gesehen? Der Deich ist in der Vergangenheit dort schon gebrochen.«

»Dafür haben wir ja auch das Sperrwerk gebaut.«

»Sie meinen wohl den Staudamm.« Er redete sich immer weiter in Rage.

Zunächst stimmte man ihm noch zu. Einige andere Zuhörer baten ihn jedoch, sie auch einmal zu Wort kommen zu lassen. Wutschäumend ignorierte er sie, und schließlich beschimpfte er die anderen Zuhörer. »Ihr seid doch zu blöd, um zu erkennen, was die wollen! Die Deiche werden wieder brechen und ihr Ignoranten sauft alle ab!«

Dem Nabu-Mann reichte es: »Wir haben hier das Hausrecht und wir möchten Sie bitten, diese Versammlung zu verlassen. Diese Art bringt uns hier nicht weiter. Also bitte!« Er wies auf die Ausgangstür.

»Ihr Idioten … Von mir aus könnt ihr alle ersaufen.« Er bezahlte seine Rechnung an der Theke und verließ das Sielhus.

Draußen hatte er sich zunächst einen Joint drehen wollen und nicht auf die beiden Männer geachtet, die ebenfalls die Kneipe verlassen hatten. Plötzlich wurde ihm von hinten die Jacke über den Kopf gerissen und ein Faustschlag traf ihn in den Magen.

Er wurde in den Schwitzkasten genommen und nach vorn gerissen. Der Arm um seinen Hals löste sich und gleichzeitig wurde er nach vorn gestoßen. Er stolperte vorwärts, verlor den Halt und rollte eine Böschung hinab. Kurz darauf schlug das Wasser des Siels über ihm zusammen. Er strampelte mit den Beinen und versuchte, sich von der Jacke zu befreien. Seine Füße versanken im weichen Boden des Siels, aber das Wasser war nur hüfthoch.

Als er die rutschige Böschung hinaufkletterte, hörte er das Lachen der beiden Männer, die ihn ins Siel geworfen hatten. »Lass dich hier nie mehr blicken, du Großmaul.«

Mit Schlamm beschmiert, keuchend und mit schmerzverzerrtem Gesicht kroch er hoch. Auf dem Weg zu seinem Auto achtete er darauf, dass ihn niemand sah.

Als er endlich zitternd im Wagen saß, sah er zum Sielhus, wo einige Männer zusammenstanden und sich köstlich amüsierten. »Ich werde mich rächen«, murmelte er hasserfüllt. »Eines Tages werde ich es euch heimzahlen.«

Zu Hause sah seine Frau dann entsetzt zu, wie er verdreckt aus dem Auto stieg. Er schämte sich so sehr, und als seine Frau wissen wollte, warum sie ihn in den Kanal geworfen hatten, schrie er sie an. »Du bist schuld! Hast mich dahin geschickt! Wolltest mich loswerden!«

Die Schnapsflasche aus dem Kühlschrank machte die Sache auch nicht besser und seine Frau wurde nun ebenfalls wütend. Sie hatten sich schon oft gestritten, aber diesmal überschritt er eine Grenze, als er ihr ins Gesicht schlug.

Diese eine Ohrfeige, deshalb musste man doch nicht gleich ausziehen …!

Seine Frau hatte weinend ihren Koffer gepackt und sich ohne ein Wort des Abschied in den Mercedes gesetzt. Alle hatten sich gegen ihn verschworen und sich von ihm abgewandt. Nun war er allein und hatte zur Gesellschaft nur noch den Alkohol, die Joints aus dem holländischen Coffeeshop und seine Wut.

Bevor sie hier eingezogen waren, hatte er alle Zeitungsausschnitte über die Ems gesammelt. Die Briefe, die er wütend an die Verantwortlichen gesandt hatte, waren unbeantwortet geblieben. Die darauf folgende Antriebslosigkeit und dann diese persönliche Katastrophe … Die folgenden Tage hatte er mit Selbstmitleid verbracht.

Er hatte Rachepläne geschmiedet und sie wieder verworfen.

Ja, er hatte auch mit dem Gedanken gespielt, sich zu vergiften oder aufzuhängen.

Dann eines Abends kam die Wende, als er auf den Bildschirm des Fernsehers den Bericht über den schweren Unfall auf der Autobahn sah. Jugendliche hatten Steine von einer Brücke auf den fließenden Verkehr geworfen. Eine Frau war am Kopf getroffen worden und später an ihren schweren Verletzungen gestorben.

Er sah sich in seiner dunklen Küche um. Selbstmord, nein – so einfach würde er es ihnen nicht machen. Neue Energie durchströmte ihn und er begann damit, die für ihn so wichtigen Zeitungsausschnitte und Briefe zu sortieren

Dabei musste er immer wieder an den Steinewerfer denken und die Puzzelteile eines Plans setzten sich mühsam zusammen.

Ja, so gefiel er sich schon besser! Brücken führten nicht nur über Straßen, sondern auch über Flüsse. Nebel wäre günstig, sonst würde man ihn erkennen. Und worauf sollte er die Steine werfen?

Er hatte in seinen Unterlagen geblättert und einen Artikel über die zu häufigen Brückenöffnungen wegen der Baggerschiffe gefunden, den er aus der kostenlosen Sonntagszeitung ausgeschnitten hatte.

3.

Auf der Ems unter den Brücken

Henk de Olde manövrierte seinen Bagger gerade durch die Öffnung der Straßenbrücke, als ein explosionsartiger Knall auf dem Dach des Ruderhauses ihn erstarren ließ.

Ein zweiter Schlag zerstörte die vordere Scheibe. Ein Glasregen ging auf Henk nieder und er spürte einen Schlag an der Stirn. Obwohl sich in seinem Kopf die Gedanken und Befürchtungen nur so überschlugen, steuerte Henk instinktiv den Bagger sicher durch die Öffnung der Brücke.

»Gott verdammich!« Maschinist Pieter ten Broek kam auf die Brücke gerannt, wo der Schiffsführer blutüberströmt auf dem Steuerstuhl saß und nach draußen in die Dunkelheit stierte. »Henk, was zum Teufel ist passiert? Haben wir die Brücke gerammt? Wo ist Martin?«

Die Tür wurde aufgerissen, Martin schaltete die Ruderhausbeleuchtung ein und rief entsetzt: »Steine! Steine! Die haben Steine von der Brücke auf uns geworfen!«

Henk fuhr auf. »Verdammt, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst die Beleuchtung nachts nicht einschalten!«

»Gott sei Dank, du lebst! Für einen Moment habe ich gedacht, du seist tot«, sagte Pieter ten Broek. Er starrte auf das blutverschmierte Gesicht seines Kollegen. »Martin, hol den Verbandskasten. – Henk, kannst du weiterfahren?«

»Es geht schon.« De Olde befühlte seine blutige Stirn. »Die herausgebrochene Klarsichtscheibe hat mich zum Glück nur gestreift.«

4.

Wasserschutzpolizeistation Leer

Spätdienst.

Die Wache der kleinen Wasserschutzpolizeistation war wieder nur mit einem Beamten besetzt.

Kommissar Onno Elzinga hörte mit einem Ohr auf die Gespräche im Polizei- und Seefunk, während er sich mit der lästigen Verwaltungsarbeit herumquälte. Er ärgerte sich über den schlechten Empfang der verschiedenen Funkgeräte. Wo blieben nur die längst versprochenen neuen, digitalen?

Er bearbeitete nun schon den dritten Seeunfall am Fluss in kürzester Zeit. Die durch die Baggermaßnahmen verursachte starke Strömung forderte ihren Preis.

Die Aufnahme eines Seeunfalles an Bord machte Onno Spaß. Die anschließende Verwaltungsarbeit, die ständig weiter ausuferte, eher weniger. Was soll’s! Onno war froh über diesen krisensicheren Arbeitsplatz, noch dazu in Heimatnähe.

Zeit für eine Tasse Tee. Auf dem Weg zum Sozialraum blieb er kurz vor dem großen Spiegel stehen. Die fünfundzwanzig Dienstjahre im Wechselschichtdienst hatten ihre Spuren hinterlassen. Aber bei den ganzen Falten waren sicher auch einige Lachfalten dabei.

Er sollte allerdings wirklich etwas abnehmen, dachte er, als er seine Teetasse an den Schreibtisch trug. Onno bemühte sich mit Erfolg, die Personenwaage zu ignorieren, aber über hundert Kilo hatte er bestimmt. Seine mittelblonden Haare wurden langsam antik. Sein Vollbart wies inzwischen alle möglichen Graustufen auf und sein Gesicht wurde auch immer länger, weil die Haare sich verabschiedeten. Das war Pech, aber seinen Bauch, den hatte er selbst verursacht. Nächste Woche fange ich mit Diät an, hatte er seiner Frau erklärt. Die hatte nur gelacht.

Aufgewachsen war Onno in einem kleinen Dorf im Grenzgebiet. Als Kinder hatten sie oft am Fluss gespielt. In der alten, längst abgerissenen Badeanstalt direkt am Fluss hatte er Schwimmen gelernt und mit dem Vater oft am Ufer geangelt. Die Entscheidung, zur Wasserschutzpolizei zu gehen, war deshalb für ihn leicht gewesen.

Es war schon kurz vor Dienstende, als Onno plötzlich aufgeregte Stimmen im Funk hörte. Der automatische Abhörmodus des Seefunkgerätes hatte sich auf den Kanal 15 geschaltet. Das Gerät überwachte automatisch die Seefunkkanäle 10, 13 und 15. Der Kanal 15 war für die Brücken und die Verkehrszentrale am Fluss vorgesehen.

Die männliche Stimme im Lautsprecher überschlug sich: »Steine! Sie haben Steine auf uns geworfen!« Onno erkannte die markante Stimme vom Baggerführer Henk.

Der diensthabende Nautiker der Verkehrszentrale schaltete sich ein: »Hier ist Ems Traffic. Wahren Sie Funkdisziplin! Wer spricht hier auf Kanal 15?«

»Verkehrszentrale, hier spricht Schiffsführer Henk de Olde vom Saugbagger Arne Monsing. Wir sind gerade durch die Straßenbrücke gefahren, als man uns mit Steinen beworfen hat.«

Das war ein Fall für Onno. Er schaltete den Scanmodus am Funkgerät aus, damit er Funkkontakt mit der Besatzung des Baggers aufnehmen konnte. »Saugbagger für Wasserschutzpolizei kommen!«

»Wir hören.«

»Wurden Personen verletzt?«

»Ich wurde am Kopf getroffen. Sonst sind alle okay!«

»Können Sie den Bagger weiterfahren?«

»Sieht schlimmer aus, als es ist. Ja, ich kann den Bagger weiterfahren.«

»Fahren Sie zum ersten Anleger am roten Tonnenstrich gegenüber vom Jemgumer Hafen. Ich alarmiere einen Rettungswagen für Sie.«

Onno informierte die Rettungsleitstelle. Sie vereinbarten, dass er den Rettungswagen vor Ort einweisen sollte, denn die kleine Straße, die über den Deich zum Anleger führte, war bei Dunkelheit und Nebel trotz Navi schlecht zu finden.

Er packte die Einsatztasche, das Fernglas und das mobile Seefunkgerät in den Streifenwagen und fuhr in Richtung Anleger. Unterwegs informierte er die benachbarten Polizeidienststellen und bat um Unterstützung. Insbesondere die Fahndung nach dem Steinewerfer musste sofort beginnen.

Das war knapp! Im letzten Moment riss er das Lenkrad nach links. Sein Streifenwagen war nach rechts von der Fahrbahn abgekommen. Funken und Fahren geht eben nicht gleichzeitig, dachte Onno, als er das Tempo wieder erhöhte.

Er traf fast gleichzeitig mit den Rettungskräften am vereinbarten Treffpunkt ein. Onno übernahm mit dem Streifenwagen die Führung und lotste den Krankenwagen zum Anleger.

Das Anlegemanöver des Baggers verlief ohne Probleme. Onno nahm die Festmacher des Baggers an und belegte sie. Der Matrose begleitete den Notarzt und einen Sanitäter zur Brücke, wo sie Baggerführer Henk zunächst untersuchten.

»Eine üble Platzwunde. Verdacht auf Gehirnerschütterung. Wir nehmen ihn mit zum Krankenhaus und werden ihn dort untersuchen.« Der Arzt legte dem Verletzten einen Kopfverband an und dann begleitete der Sanitäter Henk zum Rettungswagen.

»Finden Sie den Weg alleine zurück?«, fragte Onno den jungen Notarzt.

Der nickte. »Jetzt kennen wir uns ja aus.« Und schon war der Rettungswagen auf dem Weg zum Krankenhaus.

Aus dem Außenlautsprecher des Polizeifunkgerätes hörte Onno aufgeregte Stimmen. Er sollte sich gefälligst melden, wenn die Kollegen ihn schon unterstützten.

»Ich bin allein unterwegs und war kurz außerhalb«, erklärte er.

Die alarmierten Einsatzkräfte hatten die Brücke erreicht und die Umgebung abgesucht, aber keine verdächtigen Personen gefunden. Onno gab eine kurze Lagemeldung durch und ging wieder an Bord des Baggers. Zunächst war es für die Fahndung wichtig, festzustellen, ob die Besatzung Hinweise auf den Steinewerfer geben konnte.

Die Befragungen des Matrosen und des Maschinisten verliefen enttäuschend. Es gab keinerlei Hinweise auf den oder die Täter. Onno notierte Personalien und die Erreichbarkeit der Besatzung und bat den Maschinisten Pieter, Henks Ehefrau schonend zu informieren. Dann telefonierte er mit dem Bereitschaftsdienst. Die Spurensicherungsleute waren an einem anderen Tatort beschäftigt, für ihn bestand keine Hoffnung, sie schnell herzubekommen.

Beim Lehrgang für Tatortarbeit hatte Onno gelernt, wie er sich verhalten sollte. Dieser Tatort hier war allerdings inzwischen sowieso durch die vielen verschiedenen Personen, die hier zu tun gehabt hatten, total versaut worden, und Onno kam zum Ergebnis, dass er den auch selber aufnehmen konnte.

Er fotografierte die Brücke, insbesondere das Ruderhaus, innen und außen, maß alles aus und hielt die Lage der Steine im Ruderhaus auch schriftlich fest. Dann allerdings beichtete ihm die Besatzung, dass sie die Steine zur Seite gelegt hatten, um in der Dunkelheit nicht darüber zu stolpern.

»Liegen noch weitere Steine an Deck?«, fragte Onno.

»Nein, das waren nur diese beiden«, antwortete der Matrose.

Die beiden Steine waren jeweils etwa fünf Kilo schwer. »Vermutlich stammen die aus der Uferbefestigung am Fluss. Spuren kann ich nicht erkennen«, dachte Onno laut. »Haben Sie vielleicht einen Karton oder etwas Ähnliches für mich?«

»Tut es auch eine Gemüsekiste aus der Kombüse?«

Der Matrose säuberte die Kiste für ihn, Onno streifte Einmalhandschuhe über und legte die Steine vorsichtig hinein.

Dabei hörte er die Gespräche der Kollegen über das tragbare Funkgerät mit. Er hoffte immer noch, dass sie den Täter an der Brücke oder in der Nähe festnehmen konnten. Die Minuten verliefen jedoch ohne eine Erfolgsmeldung und Onnos Hoffnung sank. Je mehr Zeit verstrich, desto geringer war die Chance.

Er schaltete vom Scanmodus auf Sendebetrieb zurück. »Hier ist Passat 20, könnt ihr bitte noch zum Brückenwärter fahren und ihn befragen, ob er etwas gesehen hat? Ich komme hier noch nicht weg.«

Die Stimme des Wachhabenden Klaus Hensmann krachte im Lautsprecher. »Moin, Onno. Bis jetzt ist hier alles negativ. Wir haben zwei Autos draußen, aber wonach sollen die suchen? Auf der Brücke war niemand und sonst haben wir keine Anhaltspunkte. Ich schick eine Besatzung zur Brücke, die sollen mit den Brückenleuten sprechen. Übrigens: Die Verbindung ist, vorsichtig formuliert, bescheiden.«

»Dafür kann ich dich gut hören, Klaus.« Elzinga hatte das Funkgerät auf Abstand zu seinem Ohr gehalten. Er dachte an die Sprüche der Kollegen: ›Klaus hört man auch ohne Funkgerät.‹ ›An dem ist ein Marktschreier verloren gegangen‹.

Elzinga brachte seine Ausrüstung zum Streifenwagen. Er verstaute den Spurensicherungskoffer, die Kamera und die sichergestellten Steine im Kofferraum.

»Passat 20 für die Wache.« Die laute Stimme von Klaus Hensmann dröhnte aus dem Außenlautsprecher des Streifenwagens. Elzinga warf die Heckklappe zu und setzte sich in den Streifenwagen. Er schaltet den Außenlautsprecher ab und griff zum Hörer des Funkgerätes.

»Klaus, hier ist Onno, ich höre.«

Als Hensmann antwortete, konnte Elzinga an der hektischen Stimme erkennen, dass dort wieder einmal die Luft brannte. »Der Brückenwärter hat nichts gesehen und wir haben jetzt zwei Schwertransporte. Ich mache eine Eintragung im Vorgangssystem. Tut mir leid, mehr können wir nicht tun.«

»Klaus danke für eure Unterstützung.« Elzinga ließ die Sprechtaste des Hörers los und startete den Motor.

Auf der Rückfahrt zur Dienststelle überlegte Onno Elzinga, was er jetzt noch tun könnte. Die Fahndung war im Sand verlaufen. Kein Wunder, über den Steinwerfer war so gut wie nichts bekannt. Vielleicht wäre eine Pressemitteilung sinnvoll.

Er brachte die Ausrüstung zusammen mit den Steinen ins Büro, griff zum Telefon und wählte die Nummer seines Chefs Rudolf Hansen. Er erzählte ihm, was sich an Bord des Baggers ereignet hatte.

»Onno, die Idee mit der Pressemitteilung ist gut«, meinte Hansen. »Außerdem setzt noch bitte ein Fernschreiben ab. – Ach ja, und: Bitte zeitnah, das Ganze.«

»Also sofort.« Das hatte Elzinga befürchtet.

Zunächst einmal rief er aber noch im Krankenhaus an. Erst wollte man ihm keine Auskunft geben. Schließlich sagte man ihm aber doch, dass es dem Baggerkapitän den Umständen entsprechend gut ginge.

Wenigstens eine gute Nachricht.

Elzinga brütete über seinem Bericht. Nach einigen Versuchen war er fertig. Klares Amtsdeutsch und schön kurz. Ein Bericht als Fernschreiben und gleichzeitig als Pressenotiz.

Das Faxgerät und der PC meldeten den erfolgreichen Versand. Eigentlich konnte er nun nach Hause. Jetzt noch die Abmeldung bei der vorgesetzten Dienststelle in Emden und dann Feierabend. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Emder Wache.

Der Wachhabende der Wasserschutzpolizei in Emden Kalle Lubinus erkannte die Nummer der Leeraner Kollegen im Display, als er sich meldete. »Mensch, Onno, bei euch war ja richtig was los – und …«

»Allerdings«, unterbrach Elzinga seinen Kollegen. Er hatte keine Lust auf ein langes Gespräch, erst recht nicht mit diesem Plappermaul. »Und deshalb wollte ich jetzt Feierabend machen, Kalle. Vermutlich werden sich bei euch noch einige Presseleute melden. Ihr könnt auf die Pressemitteilung verweisen.«

»Jo, Onno, hab ich gerade aus dem Faxgerät gezogen«, bestätigte Kalle. »Da steht ja nicht viel drin, aber wir machen das schon mit den Presseleuten«, fügte er selbstsicher hinzu. »Und noch einen schönen Feierabend.«

Elzinga legte den Hörer auf. So ein Mist … Ausgerechnet Kalle Lubinus hatte als Wachhabender alle Gespräche über die gemeinsame Funkfrequenz mitgehört. Hoffentlich konnte der ausnahmsweise mal die Klappe halten, wenn die Vertreter der Presse wegen weiteren Einzelheiten zum Steinwurf anriefen.

Onno verriegelte die Türen, setzte sich in seinen Privatwagen und fuhr nach Hause.

Am nächsten Morgen traute Onno seinen Augen nicht, als er die kostenlose Sonntagszeitung aufschlug. Auf der ersten Seite wurde bereits über den Vorfall berichtet. Es wurde vermutet, dass Jugendliche aus Langeweile die Steine von der Brücke geworfen hatten.

Onno lief rot an und raufte sich die Haare. Da hatte doch ganz offensichtlich ein Kollege noch in der Nacht ohne Rücksprache Informationen gemischt mit Vermutungen an diese Wochenzeitung weitergegeben. Plappermaul Kalle wahrscheinlich, er hatte es ja geahnt …!

5.

Nördliches Rheiderland

Jugendliche … – Langeweile … !!

Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Diese Ignoranten! Konnten sie nicht erkennen, dass dies ein Teil seines berechtigten Protestes war? Die Planung und das Warten auf den günstigen Moment … Der Nebel, der ihn unsichtbar machte … Die Steine aus der Uferbefestigung …

Bei den nächsten Aktionen muss ich ein Zeichen hinterlassen, dachte er.

Ich werde mir etwas Passendes ausdenken.

6.

Polizeigebäude und WSP-Station Leer

»Fingerabdrücke auf Steinen?« Der Beamte vom Erkennungsdienst schüttelte den Kopf. »Das kannst du vergessen. Was hast du außerdem am Tatort unternommen?«

Onno erklärte seine Tatortarbeit.

»Na gut … Das Einzige, was jetzt noch Sinn hat, ist eine Suche nach Spuren am Flussufer in Nähe der Brücke.«

Onno ärgerte sich ein wenig, darauf hätte er auch selbst kommen können.

Aber außer schmutzigen Stiefeln brachte die Suche am Flussufer nichts.

Zurück auf der Station griff Onno zum Telefon. Der Tatort konnte freigegeben werden und Elzinga informierte den Beauftragten der Baggerfirma, Gerd Peters, dass mit den Reparaturarbeiten an Bord des Baggers begonnen werden konnte.

Elzinga sah auf, als sein neuer Kollege Hans Schulz hereinkam. Der Berliner versah erst seit einigen Wochen auf der Station Dienst. Schulz ist unglaublich dünn und groß, dachte Onno. Der wird sich noch oft die Birne stoßen.

Hans Schulz plapperte munter drauflos. »Hallo, Onno. Schön, dass du zurück bist. Was meinten die Kollegen von der Kripo?«

»Ich hatte den Eindruck, die waren leicht genervt«, sagte Elzinga. »Kein Wunder – Frühdienst nach einem Wochenende! Du weißt doch, was da los war.«

»Das ist mein Stichwort, Onno – wir beide müssen zum Sielhafen. Dort ist in der Nacht ein Kutter halb abgesoffen. Die Feuerwehr ist schon unterwegs.«

Im Sielhafen angekommen, stellten die beiden WSP-Beamten erstaunt fest, dass nicht einer der alten Holzkutter teilweise untergegangen war, sondern einer der neuen, modernen Fischkutter.

»Wie haren düchtig Glück und hem dat Water rutkregen, bevör he komplet ofsopen is«, sagte der Einsatzleiter der Feuerwehr.

Hans Schulz sah Onno Elzinga an. »Was hat er gesagt?«

Elzinga grinste, im Sielhafen wurde nur Platt gesprochen und Hans Schulz hatte seine Probleme damit. »Er meinte, dass sie Glück hatten und das Wasser abpumpen konnten, ehe der Kahn komplett abgesoffen ist.«

Im Gespräch mit Jan Brons, dem Eigentümer des Kutters, und den Feuerwehrkräften fand Elzinga schnell heraus, was passiert war. In der Nacht hatten Spaziergänger ein Alarmsignal auf einem Kutter gehört. Eingedrungenes Wasser hatte den automatischen Bilgenalarm ausgelöst.

Im Dorf kannte jeder jeden, und so waren der Eigner und die Feuerwehr sofort informiert worden. Jan Brons hatte erstaunt festgestellt, dass die Eingangstür des Kutters nicht abgeschlossen war. Noch größer war sein Erstaunen gewesen, als er die Ursache für den Wassereinbruch gesehen hatte: ein geöffnetes Seeventil. Er hatte bereits bis zum Bauch im Wasser gestanden, als es ihm endlich gelungen war, dass Ventil zu schließen.

Die freiwillige Feuerwehr Ditzum hatte das eingedrungene Wasser zwar schnell abpumpen können, trotzdem war der Schaden bereits erheblich gewesen.

»Dor het en bi west, man ick was dat net!«

»Was hat er gesagt?«, fragte Schulz.

»Es war kein Unfall. Jemand hat sich am Seeventil zu schaffen gemacht.«

»Ich kann mir vorstellen, was passiert ist«, sagte Hans Schulz. »Auch wenn ich kein Platt spreche, ist mir bekannt, dass die teilweise Finanzierung der neuen Kutter durch die große Werft das Dorf praktisch in zwei Lager gespalten hat.«

Onno Elzinga schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen, dass hier einer so weit gehen sollte. Ich ruf erst mal wieder bei unseren Kollegen von der Kripo an. Die werden sich freuen.«

Elzinga merkte, dass Schulz ihn beobachtete, als er über Handy mit den Kollegen der Kripo sprach, um die Spurensicherung anzufordern. Und er ahnte schon nach kurzer Zeit, warum. Zunächst entstanden Falten auf seiner Stirn, dann wurde ihm heiß, und das bedeutete wahrscheinlich, dass ihm Röte vom Hals aufwärts in Richtung Gesicht stieg. Gott sei Dank ist mein Hemdkragen offen, sonst würde der gleich platzen, dachte Elzinga und sah Schulz mühsam ein Grinsen unterdrücken.

Das Gespräch verlief ganz und gar nicht so, wie Elzinga es erwartet hatte. Und das hatte Schulz, obwohl er der Jüngere war, natürlich mal wieder gewusst. Hatte Elzinga denn wirklich erwartet, dass die Kollegen bei dem Wust an Arbeit begeistert auf die Bitte der Wasserschutz-Kollegen um Unterstützung reagieren würden?

»Sie können nicht kommen«, sagte Elzinga. »Wir sollen uns selber helfen.«

Hans Schulz schüttelte den Kopf über ihn. »Was erwartest du eigentlich? Dass sie Hurra rufen? Die Reformen setzen die Kollegen doch nur unter Druck. Immer weniger Leute arbeiten immer mehr, das ist neuerdings die Devise. Die müssen entscheiden, was wirklich wichtig ist und dabei fallen wir leider oft hinten runter. Ich kann das gut verstehen.«

Inzwischen hatte die Feuerwehr ihre Ausrüstung eingepackt. Eine um den Kutter gelegte Ölsperre blieb zurück. Das mit nach außenbords gepumpte Öl aus der Bilge hatte sich darin gesammelt und sollte später entsorgt werden.

»Hans, wir befragen den Eigner noch mal und machen Fotos an Bord. Kannst du die Taschenlampe und die Fototasche mitnehmen? Ich nehme den Spurensicherungskoffer.«

Der Fischer saß niedergeschlagen auf dem Steuerstuhl und sah den beiden Beamten entgegen. Als Elzinga sein Gesicht sah, wusste er, dass Jan Brons auf keinen Fall seinen Kutter selbst hatte versenken wollen.

Der Türgriff zum Ruderhaus und die Hebel für die Tür zum Maschinenraum waren inzwischen von etlichen Personen berührt worden. Trotzdem versuchte Elzinga, brauchbare Fingerabdrücke zu finden. Vergeblich. Gemeinsam besichtigten sie anschließend den Maschinenraum und vor allem das Seeventil.

Wer immer das geöffnet hatte: Er hatte genau gewusst, was er tat. Ein versehentliches Öffnen war ausgeschlossen.

»Die Eingangstür weist keine Einbruchsspuren auf«, sagte Hans Schulz. »Entweder stand sie offen oder es wurde mit einem Dietrich gearbeitet. Das Schloss ist ziemlich primitiv.«

Der Fischer sah Hans Schulz mit säuerlicher Miene an. »Ick heb doch al secht, de Dör was ofschloten, man se stunn in ’t Nacht open.«

Elzinga beruhigte den Fischer. Er hatte schon die Aussage notiert, dass Jan Brons die Tür unverschlossen vorgefunden hatte. Jetzt versuchte Elzinga, den Tatzeitraum möglichst eng zu begrenzen. Der Fischer hatte abends seinen Kutter verlassen und die Eingangstür verschlossen.

Die Spaziergänger, die den Bilgenalarm gehört hatten, waren angetrunkene Gäste gewesen, die die kleine Hafenkneipe verlassen und sich im Nebel kurz verlaufen hatten. Plötzlich hatten sie vor den festgemachten Fischkuttern gestanden. Die Tat musste sich demnach in der Nacht bis etwa zwei Uhr morgens ereignet haben.

»Diese Zeugen müssen wir noch unbedingt befragen«, dachte Elzinga laut. Die nächste Frage ging ihm nur schwer über die Lippen. »Haben Sie irgendwelche Feinde, Herr Brons?«