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Schiefe Bahnen kreuzen nie den rechten Weg. Frederik Aschenbrenner, der Bestsellerautor, den keiner kennt. Nach seiner Desertation während des Ersten Weltkriegs und der anschließenden Flucht in die USA, erfüllte sich der Deutsche den großen Traum, Schriftsteller zu werden. Obwohl Aschenbrenner zu seiner Zeit Bestsellerautor war, ist sein einziges Werk heute – mit voller Absicht – weggeschlossen und von der Welt vergessen, sodass sich niemand mehr auch nur seines Titels erinnert. Doch sein posthum entdecktes Tagebuch, das er seiner Mutter widmete, gibt erstmals Einblicke in den rohen Schreibprozess einer geschundenen Seele – und offenbart ein namenloses Grauen. The Diary of Frederik Aschenbrenner – Herausgegeben in Ermahnung, dass sich sein Schicksal niemals wiederholen möge.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
von
Milian Ventus
Impressum
Maximilian Schwind, Wredestraße 4, 90431 Nürnberg
Lektorat: Monica Becker Korrektorat: Eva Schwind
© Cover- und Umschlaggestaltung: Juliana Fabula | Grafikdesign – www.julianafabula.de/grafikdesign
Buchsatz: Fanny Remus
Illustration: Julia M. Moser
www.milianventus.de
IG: @milian_ventus_autor
Threads: @milian_ventus_autor
TikTok: @milian.ventus.autor
Für die Erstellung dieses Buches wurde keinerlei generative KI genutzt. Der Urheber erteilt ausdrücklich keine Erlaubnis, das Werk oder Teile des Werkes für das Training von KI-Modellen (LLMs und andere) zu nutzen.
Dieses Buch nutzt Inhalte, die bei einigen Leserinnen und Lesern Unwohlsein hervorrufen oder eventuelle persönliche Trigger darstellen könnten. Eine genaue Auflistung der inbegriffenen Themen bzw. Szenen ist im Vorwort zu finden.
Liebe Lesenden,
die Wege von Büchern sind unergründlich. Niemand weiß das besser als Geschichtenliebhaberinnen und -liebhaber wie wir. Erzählungen führen uns aus dem Alltag in fremde Welten und erschaffen Bilder in unseren Köpfen, von denen wir nicht glaubten, dass sie überhaupt in den Tiefen unseres Verstandes schlummern. Gewissermaßen sind sie Telepathie. Stimmlos vermitteln Autorinnen oder Autoren Botschaften und zeichnen Panoramen unbekannter Orte. Einer dieser Telepathen war Schriftsteller Frederik Aschenbrenner.
Frederik Aschenbrenner, geboren 1888 in Zirndorf bei Nürnberg, war der Sohn eines Fabrikbesitzers. Über sein Leben ist nicht viel bekannt. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges wurde er 1914 zum Kriegsdienst eingezogen. Zwei Jahre später, im März 1916, desertierte er und setzte sich illegal in die USA ab, wo er schließlich noch im selben Jahr sein Debüt ›In meinem Atem ein Fremder‹ veröffentlichte, welches zum weltweiten Bestseller avancierte. Wenn sein Buch so bedeutend war, wieso erinnert sich heute niemand mehr an ihn? Das liegt an den Umständen der Veröffentlichung sowie an den mysteriösen Todesfällen, die mit dem Titel in Verbindung gebracht werden. ›In meinem Atem ein Fremder‹ ist Aschenbrenners erstes und einziges Werk, denn der Schriftsteller verschwand mit der Herausgabe spurlos. Es ranken sich allerdings noch weitere Mysterien um sein Buch. In den Jahren nach der Publizierung nannten viele nationale und internationale Kreativschaffende – unter ihnen Autorinnen und Autoren, Komponist*innen, Plakatdesigner*innen und sogar ein Stummfilmregisseur – Aschenbrenners Werk als maßgeblichen Einfluss, bevor sie sich alle selbst das Leben nahmen. Diese Welle an Suiziden in Verbindung mit ›In meinem Atem ein Fremder‹ führte 1924 schließlich dazu, dass der Verkauf des Titels weltweit verboten wurde. Obwohl Schwarzhändler das Buch noch Jahre danach für teures Geld handelten, sind heute sowohl Schriftsteller als auch Werk in Vergessenheit geraten.
Bis jetzt.
Jüngst wurde das Tagebuch Aschenbrenners in den Ruinen eines alten Hauses am Hafen von Portland gefunden. Darin verarbeitet der Schriftsteller nicht nur seine Angst vor dem Deutschen Reich. Es zeigt auch die Schrecken des Krieges, mit denen die Opfer noch lange Zeit danach zu kämpfen hatten. Eines wird mit dem Lesen seines Tagebuches schnell klar: Frederik Aschenbrenner hat durch Klugheit und Belesenheit die Monstrosität »Krieg« entlarvt und macht deutlich, dass wir ebendiese Monstrosität niemals wieder heraufbeschwören dürfen. Der Verfall des Autors muss uns ein Mahnmal sein.
Aschenbrenners Tagebuch ist ein sensationeller Fund. Es zeigt uns die persönlichsten Gedanken eines Mannes, der durch den Ersten Weltkrieg völlig zerschrunden zurückgelassen wurde. Überraschenderweise steht das Tagebuch in Verbindung mit einem weiteren Kunstwerk aus der Zeit: ›Epitaph of a Shattered Soul‹ des italoamerikanischen Bildhauers Giorgio Riccobene. Über Jahre hinweg war die Skulptur im Bostoner Museum of Fine Arts ausgestellt, bis sie 1934 aus nicht näher genannten Gründen von der damaligen Museumsleitung unter Verschluss genommen wurde. Aschenbrenners Tagebuch erklärt die Verbindung zwischen ihm und Riccobene und gibt sogar eine mögliche Erklärung der Skulptur, die bis dato Kritikern und Liebhabern gleichermaßen Rätsel aufgegeben hat.
Wenn wir Lehren aus Aschenbrenners Nachlass ziehen können, dann, dass Krieg Menschen zerstört. Er bricht den Schädel auf, um an den Verstand zu gelangen. Der Folterknecht namens »Krieg« verdreht seine Opfer. Er macht sie gefügig für hässliche Lügen, die sogar von denen mit gefestigter Moral geglaubt werden. Der Autor war kein Fähnchen im Wind. Er ist vor dem Krieg geflohen. Doch seine Schlachten zogen mit ihm, denn sie nisteten in seinem Geist. Aschenbrenners tatsächlicher Untergang war jedoch nicht der Krieg selbst, sondern sein eigenes Werk. Was in ›In meinem Atem ein Fremder‹ geschrieben steht, lässt sich heute, über hundert Jahre später, nur noch erahnen. Dieses Tagebuch beweist, dass selbst sein Erschaffer mit dem Inhalt seines einstigen Bestsellers kämpfte – und verlor. Aschenbrenners Ruin wird in diesem Journal nicht nur dokumentiert, er wird mit jeder Seite schlimmer. Der Krieg, jeder Krieg, kennt nur Opfer, sogar dann, wenn sie nicht auf dem Schlachtfeld fallen, ja, nicht einmal daran teilgenommen haben. Daher ist das Tagebuch Frederik Aschenbrenners mit Vorsicht zu genießen, denn es enthält:
- Darstellungen einer psychischen Krankheit
- Darstellungen von Kriegsverbrechen
- Körperliche Veränderungen bis hin zum Body Horror
- Isolation
- Selbstverletzung
- Suizidgedanken
- Blut
- Verstümmelung
- Tod
Wir, das Schreibkollektiv TBR, sind stolz darauf, euch Frederik Aschenbrenners Tagebuch auf Deutsch und in ungekürzter Fassung präsentieren zu dürfen. Es zeigt einmalige Einblicke in den Geist eines Schriftstellers, der an seinem eigenen Werk zugrunde gegangen ist und damit trotzdem einen Bestseller erschaffen hat. Die Wege von Büchern sind wahrlich unergründlich.
Donnerstag, 16. März 1916
Es tut mir leid, Mutter, ich habe Angst. Ich weiß, dass ich ehrlich mit dir sein kann, wie in den Briefen, die ich dir von der Front schickte. Ich danke dir, dass du immer an mich glaubst. Auch wenn du es nicht lesen wirst, widme ich dieses Tagebuch dir.
Heute Morgen ist die SS George Washington aus Bremerhaven ausgelaufen, ich bin seit den frühen Morgenstunden an Bord. Sie ist ein neutrales Schiff und nimmt den Seeweg über die Britischen Inseln, da der Ärmelkanal stark umkämpft ist.
Die See bereitet mir Unbehagen. Letztes Jahr am 7. Mai, ich glaube, es war ein Freitag, hat die Kaiserliche Flotte die Lusitania, ein Passagierschiff, vor der Südküste Irlands versenkt, da, wo dieses Schiff entlang fahren wird. Viele Unschuldige verloren dabei ihr Leben. Ich weiß noch, wie die Kameraden gejubelt haben, als wir die Nachricht an der Westfront erhielten. Jeder, der nicht auf der Seite des Deutschen Reiches steht, ist ein Feind.
Ich weiß, du liest nicht gerne vom Krieg, aber es beruhigt mich, meine Gedanken niederzuschreiben und sie aus dem Kopf zu wissen. Sobald ich sie auf Papier banne, werden sie wahr. Das hast du mir immer eingebläut, als Kind schon. Auch wenn das freilich ein Ammenmärchen ist, habe ich das Schreiben nie aufgegeben. Feldwebel Oberkreiner hat mich nur »Schriftsteller« genannt. Und der Krieg kann nicht noch wahrer werden als das Blut der Gefallenen in den Gräben vor Lille.
Mutter, ich fange schon wieder von der Vergangenheit an, dabei will ich sie hinter mir lassen. Du hast mir das ermöglicht. Bete, dass die SS George Washington nicht von einem Unterseeboot der Kaiserlichen Flotte abgeschossen wird.
Dienstag, 21. März 1916
Nach fünf Tagen haben wir nun endlich den Atlantik erreicht. Die Fahrt ist überraschend ruhig verlaufen, auch wenn einmal in der Ferne ein lauter Donnerschlag zu hören war. Ich hatte mich unter Deck versteckt, wie der Feigling, der ich nun mal bin. Wenn Vater das wüsste. Er war der Meinung, der Kriegsdienst würde einen Mann aus mir machen. Doch das einzige, was der Krieg aus Menschen macht, sind tote Leiber. Ruhe in Frieden, Gefreiter Christ aus Rain am Lech. Ich habe es nicht gern getan, das weißt du. Du warst mein liebster Freund und Kamerad.
Es wird noch Tage dauern, bis die SS George Washington Boston erreicht hat. Sie wird einen Deutschen auf amerikanischen Boden bringen, welcher der Bestie Krieg geradeso entronnen ist. In den Vereinigten Staaten von Amerika wird mich niemand finden. Hoffe ich.
Es ist Nachmittag. Obschon hier, mitten auf dem Atlantik, eine steife Brise weht, lacht die Sonne über dem Schiff. Legt man den Kopf in den Nacken und lässt sich die Haut von Helios küssen, könnte man meinen, man befände sich auf Fronturlaub. Nur wird mich die Front nie wieder sehen. Wieso müssen Menschen so schlecht zueinander sein, wenn über allen doch dieselbe Sonne scheint?
Mittwoch, 22. März 1916
Wir haben mitten in der Nacht und Furchtbares ist passiert! Es gab ein entsetzliches Kreischen. Nicht das eines Kindes oder einer Frau, nein, nicht mal eines Menschen. Es war das Kreischen von Metall, volltönend und guttural und doch ohrenbetäubend hoch. Unwirklich. Mir, einem Schriftsteller, fehlen die Worte, es zu beschreiben. Die Matrosen sind in Aufruhr. Ob etwas den Kiel aufgerissen hat? Aber wie? Ist der Atlantik nicht so tief, dass er bis zum Erdmittelpunkt reicht? Himmel, bitte nicht.
Ein zweiter Schrei. Nicht mehr wie Metall, sondern … ein Heulen. Nicht traurig, aber herrisch wie aus der Kehle eines dunklen Königs, dessen fremdes Reich das Schiff befahren und einen Ort erreicht hat, den es hätte niemals erreichen dürfen. Wo sind wir hier nur? Draußen trampeln die Matrosen. Aufgeregte Hilferufe. Anscheinend hat man kein Leck am Rumpf gefunden, doch in Gottes Namen: Was waren nur diese Schreie?
Beim Herrn, dem Allmächtigen! Da war es wieder! Noch lauter und zorniger. Und diesmal scholl das Kreischen wie aus vielen Kehlen! Wütende, kreischende Hälse, deren Klang menschliche Ohren nicht erreichen dürfte, weil er einen in Wahnsinns Arme triebe. War das die unheilige Armee des dunklen Königs? Ich höre sie im Gleichschritt auf dem Meeresgrund marschieren. Sie kommen!
Die Kerze ist fast heruntergebrannt. Schatten spielen mir Streiche an den Wänden. Ich sehe kaum mehr und es dauert noch Stunden, bis die Sonne aufgeht. Bitte, mach, dass es aufhört! Es klopft! Sie haben mich! Das Deutsche Reich ist hier! Ich will– Das Schiff! Es erschüttert! Himmel! Das Schiff, es hört
Mutter, steh mir bei.
Montag, 3. April 1916
Ich habe es geschafft. Ich bin endlich angekommen. Nachdem die SS George Washington auf Ellis Island angelegt hat, bin ich mit dem Schiff weiter nach Portland gefahren. In Maine hat das Deutsche Reich keine Macht, hier werden sie mich nicht finden. Der Krieg ist fort, auf der anderen Seite des Ozeans, und seine Klauen reichen nicht bis hier. Gerade warte ich auf einen Termin bei einem Vermieter, der Zimmer an Einwanderer vermacht. Den Tipp gab mir ein Matrose, der mich nach der ereignisreichen Nacht wie ein Häufchen Elend in meiner Kajüte fand. Er hatte wohl Mitleid mit mir. Hoffentlich hat der Vermieter noch etwas frei.
Die Hafengegend ist nicht so hübsch wie die in Bremerhaven. Menschenmassen drängen sich auf den Piers, Arbeiter mit Armen wie Baumstämme karren Paletten von Kais in die Lager und Kinder in abgerissener Kleidung vertäuen Seile, die zu dick für ihre kleinen Finger sind. Über allem schwebt eine Atmosphäre der Geschäftigkeit, doch irgendetwas Fremdartiges liegt darunter, vor dem sich sogar die Mittagssonne hinter schweren Wolken versteckt. Es geht nicht von den Menschen aus; es ist anders und gehört hier nicht her. So richtig kann ich es nicht fassen. Die bedrohliche Ausstrahlung einer namenlosen Bestie, die in den Schatten zwischen den Lagerhallen lauert.
Unweit vor mir hebt ein Kran Ladung von einem Frachtschiff und immer, sobald das Gerät ruht, lassen sich Möwen furchtlos darauf nieder. Sie zeigen keine Angst vor dem Ungeheuer aus Stahl, sie ärgern es sogar, indem sie stets wieder zurückkehren. Spott für das Ungeheuer, das sie augenblicklich tilgen könnte. Nein, ich bin nicht wie sie und würde niemals verhöhnen, was mich vernichten kann. Vorsicht ist nicht nur die Mutter der Porzellankiste, Vorsicht ist, was mich bis hierher hat gelangen lassen. Ich bin keine Möwe.
In all diesem Gewimmel aus Menschen und Booten falle ich sowieso nicht auf. Wer würde hier einen deutschen Fahnenflüchtigen suchen, wo man nur umherbrüllende, hart arbeitende Mannsbilder und den Geruch von Salz und rußspeienden Schloten findet? Trotzdem fühle ich, wie Blicke länger auf mir ruhen als sie sollten, unsichtbare, die sich in der Menge verstecken oder hinter Fenstern. Eine Bettelfrau mit verfilztem, hellblondem Haar und Augen klein wie Stecknadelköpfe sticht mit selbigen die Arbeiter nieder. Einen nach dem anderen. Schau bloß nicht her, Weib.
Mit ihren Zungen, die unvertraute Wörter sprechen, erzählen sich Fremde Dinge, die ich nicht verstehe. Das macht mir Angst. Es fehlt der Klang des Vertrauten. Die Geräusche aus ihren Mündern sind Schwüre, die sich mir verschließen. Was sagen sie? In welcher fremdartigen Welt bin ich gelandet? Nur an ihren Gesichtern erkenne ich, ob sie es gut oder böse meinen, traurig sind oder Flüche speien. Ein Arbeiter mit dem Kreuz eines Ochsen verscheucht die Bettlerin. Der Klang seiner Stimme ist bräsig. Er scheint Englisch zu sprechen, zumindest klingt es wie die Sprache, welche die Matrosen auf dem Schiff untereinander genutzt haben. Immerhin. Bis auf einige wenige sieht am Hafen niemand wie von hier aus. Ich erblicke Menschen aus dem Fernen oder Nahen Osten und Schwarze, wie man sie im ganzen Kaiserreich fast nur aus Geschichten kennt.
Unglaublich! Ich habe ein Zimmer! Mit schweißnassen Händen habe ich versucht, dem Vermieter die Dringlichkeit um ein Zimmer klarzumachen. Gelobt sei das kleine Englischbuch von Mutter! Mit desinteressiertem Blick streckte der, zugegeben ein wenig streng riechende, Herr die Hand nach dem Geld aus. Nicht einmal einen Pass wollte er sehen und ihm wie mir war vollkommen egal, dass er mich als ›Frederic Ashburn‹ in sein Register eingetragen hatte. Ihm war lediglich wichtig, mir begreiflich zu machen, dass ich jeden Sonntag pünktlich die Miete zu bezahlen hatte.
Das Zimmer liegt im dritten Stock eines recht moderaten Wohnhauses am Ende eines langen Ganges mit vielen Türen. Sogar Duschen und eine Toilette gibt es im Erdgeschoss. Die Herberge selbst befindet sich direkt im Hafenviertel, viele Ausländer sind hier untergebracht. Für nur wenige Dollar in der Woche habe ich jetzt ein eigenes Bett, einen Schrank und sogar einen Schreibtisch. Heureka! Ich sehe mich schon dort sitzen und mein erstes Buch verfassen, während ich aus dem Fenster über die Dächer der Lagerhallen hinweg schaue und Schiffe beim Ein- und Ausfahren beobachte. Das weckt die kreativen Geister.
Von den Straßen hört man gleichwohl die Köter bellen, die Holztreppe ächzt mit jedem Schritt, als stürbe sie jäh, und die Farbe schält sich von den Wänden, aber das ist mir egal. Ich habe einen Grundstein, auf den ich ein neues Leben aufbauen kann, fernab vom Krieg und als deutscher Schriftsteller, der in den Vereinigten Staaten Fuß fassen wird.
Es ist schon spät, ich werde mich nun schlafen legen und in einem Traum erwachen.
Dienstag, 4. April 1916
Die Nacht war kurz. Das Zudeck ist spartanisch und die Matratze durchgelegen. Nun ja, immer noch besser als der schmutzige Boden eines Schützengrabens, wenn auch nicht unbedingt ruhiger. Von den Wänden bröckelt nicht nur der Putz, sie sind papierdünn und meine Wohngenossen von lautem Zungenschlag. Die nächste Nacht liegt längst über dem Hafen (tut sie das wirklich? Die Straßen unten scheinen mir von hier so geschäftig wie tagsüber), aber neben mir oder unter mir diskutiert jemand in einer Redeweise, die bloß aus Flüchen zu bestehen scheint, und sein Gegenüber ist nicht minder bewandert in Wörtern, die von kehligen Ch-Lauten nur so durchsetzt sind. Was ist das für eine Sprache? Aus dem Nahen Osten? Arabisch? Ich weiß es nicht, aber ich hoffe, sie hören bald auf damit. Kennt man hier denn keine Nachtruhezeiten?
Man sollte meinen, ich würde Portland nach einer langen Schifffahrt erkunden wollen oder doch zumindest das Viertel, in dem ich wohne, aber heute sah ich keine Notwendigkeit. Die Zimmertür steht allzeit offen und ich kann den Schreibtisch verlassen, wann immer mir danach ist, und eine Ration Proviant vom Schiff hatte ich auch noch. Heute jedenfalls habe ich die Zeit in meinem Heim verlebt, denn tagsüber sind die Arbeiter ausgeflogen. Ich habe sogar einige Ideen zu Novellen niedergeschrieben. Mal beobachtete ich das Treiben drunten im Hafen durch das dreckige Fenster vor meinem Pult, dann legte ich mich aufs Bett und blickte nichtstuend an die Decke. Ich genoss es. Wann bin ich das letzte Mal einfach nur dagelegen ohne Angst haben zu müssen, dass der nächste Gewehrschuss sogleich ertönen könnte? Womöglich ist das der Reichtum eines Bürgers, aber keiner, der einem Soldaten im Krieg zuteilwird. Der einzige Gang ins Erdgeschoss war zum Waschen und der Notdurft wegen und auch nur dann, wenn ich draußen nichts gehört habe. In der Leere des Korridors zu meinem Zimmer fühlte ich mich fast schon einsam. Welch größeren Luxus könnte der Mensch haben als Zeit und einen klaren Verstand?
Mittwoch, 5. April 1916
Nach einem ruhigen Vormittag war ich gewillt, nach draußen zu gehen, ich war es wirklich. Ich bin den Gang vorgelaufen, diese fürchterbar knarzende Holztreppe bis ganz hinunter, so wie ich es zuvor bereits für die Morgenwäsche getan hatte. Anstatt den Waschsaal zu betreten, wollte ich eigentlich zur Tür hinaus, doch da standen sie wie Götzen: Männer in langen Mänteln. Sie rauchten, unterhielten sich, lachten – und versperrten den Weg. Ihre Stimmen schnarrten wie rostige Scharniere. Ich verstand ihre Worte nicht, aber in ihren Gesichtern spiegelte sich eine Aggressivität wider, die mich erstarren ließ. Sobald sie mich sahen, richteten sie ihre Blicke gegen mich. Und dann traf mich der Schlag. Das waren Osteuropäer. Russen oder Polen. Hier. In Amerika. Oh, ich zittere beim Schreiben der Zeilen. Gegen die hatten wir kämpft das Deutsche Kaiserreich an der Ostfront! Der Vorderste, ein Mann mit kantigem Kiefer, breiter Nase und eingefallenen Wangen, als wäre die Haut direkt auf seinen Schädel gespannt, zeigte auf den Ausgang. Eine Warze auf der Stirn lugte unter dem Schirm seiner Mütze hervor. Seine stahlgrauen Augen stachen auf mich ein wie Bajonette. Sobald er bemerkte, dass ich ihn nicht verstand, sagte er wohl »Go« (das bedeutet ›geh‹ oder ›los‹), aber wäre ich seinem Befehl gefolgt, wer hätte mir versichert, dass die Kerle mir hinterrücks nicht den Schädel einschlügen? Der Feind war überall und mein Feind konnte jeder sein. Was, wenn sie erkennen, dass ich ein Deutscher bin? Was würden sie dann mit mir tun? Dieses Geheimnis muss ich vor diesen Männern unbedingt wahren.
Mit Nachdruck befahl mir der Osteuropäer, an ihnen vorbeizugehen. Er sagte immer »Go, go«. Seine Kameraden schnipsten ihren Zigarettenstummel zur Tür hinaus. Doch ich hob nur die Hand und drehte ab. Der Mann tippte sich an die Mütze und wandte sich wieder seinen Kumpanen zu. Ich allerdings betrat das Klo. Gott sei’s gelobt, dass dieses Haus die Latrine nicht außerhalb hat. Es fühlte sich an, als käme die Luft nicht in meiner Lunge an. Ich war ein Feigling früher, ich war ein Feigling heute Mittag und ich bin ein Feigling jetzt. Ich wartete, bis ich mir sicher war, dass die Kerle verschwunden waren, nur um mich wieder in meinem kleinen Kämmerlein einzusperren. Einmal hämmerte jemand gegen die Toilettentür und rüttelte an der Türklinke. Hätte ich nicht gesessen, wäre ich rückwärts umgekippt. »Nun haben sie mich«, schoss es mir durch den Kopf. Doch sobald sich sämtliche Schritte entfernt hatten und alle Stimmen vergangen waren, verließ ich meine Zuflucht. Ein erwachsener Mann, einer, der im Krieg Menschen tötete, versteckt sich vor ebendiesen auf dem Klo. Erbärmlich. Selbst jetzt schlägt mir das Herz bis in den Hals. Allein der Gedanke an diesen osteuropäischen Teufel mit Mütze erfüllt mich mit einer Furcht, mit der niemand leben sollte.
Mist. Eigentlich wollte ich gerade zu Bett gehen, doch ich habe kein Wasser mehr auf dem Zimmer. Im ersten Stock steht in der Küche abgekochtes Wasser bereit, an dem sich die Bewohner bedienen dürfen. Ich muss noch einmal runter. Dank dieser vermaledeiten Treppe werde ich alle wach machen, auch den Teufel mit den grauen Augen. Na, wenigstens wird mir um diese Uhrzeit wohl keiner den Weg versperren. Ich schreibe es nieder, damit sich niemand auf dem Gang befindet. Wenn ich es niederschreibe, wird es wahr.
Es hat geklappt.
Donnerstag, 6. April 1916
Ich habe es getan! Ich war endlich draußen! Es war wunderschön. Ja, es riecht nicht toll und in der Ferne sind Kriegsschiffe zu sehen, aber der Reihe nach.
Nach draußen zu gehen war heute ganz leicht. Niemand versperrte mir die Tür, keiner nahm mich wahr. Das war meine Chance gewesen. Nun ja, sie musste es sein, denn ich hatte nichts mehr zu essen. Ich verließ also das Haus am Vormittag, dann, wenn alle Männer ihrem Tagwerk nachgingen und ihren schweißgeschwängerten Geruch mit sich genommen hatten. Am Tag meiner Ankunft hatte ich es nicht erwähnt, aber über dem Hafen liegt immerzu ein Dunst von Fisch und Motorenöl (gepaart mit bitterem, stechendem Ruß, wenn ein großes Frachtschiff angelegt hat). Was soll ich sagen? Es ist ja ein Hafen.
Als Erstes ging ich hinunter zu den Piers. Dort war ich aus Deutschland angekommen, also kannte ich mich ein wenig aus. Und wieder schufteten Kerle und knüpften Burschen Seile – ein Bienenstock war friedsam dagegen. Ein Trunkenbold lag halb an die Mauer eines Hauses gelehnt da, die Beine ausgestreckt, als gehörte der Pier ihm. Die Menschen stiegen ungeachtet darüber hinweg. Ein Rinnsal Speichel lief ihm aus dem Mundwinkel, seine Augen betrachteten nur die Innenseiten der Lider. Ob er tot war oder lebendig, vermochte ich nicht zu sagen. Was musste man erleben, um so zu enden? Ich überließ den armen Tropf Kater und Kopfschmerz und ging weiter den Pier entlang, bis ich auf den ›Old Port‹, den alten Hafen, traf. Kopfsteinpflaster und rote Backsteinhäuser bildeten Schluchten aus Stein. Viele Piers und Kais bestanden hier noch aus Holz, es roch tranig, aber irgendwie hatte es seinen ganz eigenen Charme. Es war weniger geschäftig und man bekam eine Vorstellung davon, wie es in Portland vor fünfzig oder hundert Jahren ausgesehen haben musste. Fast schon romantisch. Hinter mir ragte ein Kirchturm in den Himmel, der mir als Orientierungspunkt dienen sollte. Das Gotteshaus war nur wenige Straßen von meiner Bleibe entfernt. Ich sollte unbedingt an einer Messe teilnehmen.
Etwas zog mich ans Wasser, also schlenderte ich vor zum Ozean. Fischer hielten lange Angeln übers Geländer und starrten aufs Meer hinaus; allesamt trugen sie Mützen gegen die Sonne, die sich heute seit Tagen das erste Mal in aller Pracht zeigte. Konnte man so nah am Hafen überhaupt etwas fangen? Die Blicke der Männer waren glanzlos und seltsam leer, als stünden sie schon seit Urzeiten hier. Fehlte nur noch, dass sich die Möwen auf ihnen niederließen.
Ich lehnte mich an das Geländer und folgte ihren Mienen. Der Wasserspiegel wogte in kleinen Wellen, das monotone Branden des Wassers gegen die Holzbohlen schickte mich in einen Traum. Ein warmer Schoß aus Sonnenlicht empfing mich, dann drifteten meine Gedanken in eine mögliche Zukunft ab. Ich saß am Schreibtisch, setzte das Wort ›Ende‹ unter ein Manuskript. Ob es mein erstes oder mein drittes oder mein zehntes Buch war, weiß ich nicht, doch es war derselbe Schreibtisch, an dem ich jetzt sitze, und derselbe Raum, in dem ich heute Morgen aufgewacht bin. Mit vor Freude zitternden Fingern legte ich den Stift beiseite und betrachtete mein Werk. Die Absätze davor waren unleserlich, dunkle Schwaden aus Tinte, die sich meinen Augen verbaten, wenngleich ich sie just im Eifer, den nur ein Schriftsteller verspürte, niedergeschrieben hatte, doch das letzte und wichtigste aller Wörter glomm vom reinweißen Papier wie mit Fäden aus Esse gelegt: Ende. Ein weiteres fertiges Buch war in die Existenz gelangt. Der Stolz eines Vaters schwoll in meiner Brust und ich fühle ihn noch jetzt. Himmel, dieses Gefühl soll mir als Antrieb dienen, dieses Gefühl will ich wieder erlangen und festhalten und ehren und mich daran laben.
Sobald ich schließlich von den Seiten aufblicke, schaue ich nicht aus einem von getrockneten Regentropfen verschleierten Fenster, sondern in eine Menge. Jubelrote Wangen, eine Wand aus weißen Zähnen, furioses Klatschen. Manch einer steht und schlägt begeistert in die Hände. Ich höre den Lärm, werde sogar vom Blitz einer Kamera geblendet. Konfetti regnet mir auf die Schulter wie beim Karneval in Milan. Ich sitze auf einer Bühne, unter mir die Menschen, vor mir das rotglühende Ende. Das ist, was ich immer wollte: Jubel. Jubel über meine Bücher. Über mich und das, was ich geschaffen habe. Über den Jubel erhebt sich plötzlich das Schlagen einer Glocke in der Ferne. Tiefes Donnern. Es schwillt an, übertönt die Frohlockenden. Ich blinzele und bin wieder am Pier. Die Glocke rief zur Mittagszeit. Ein Platschen, auf das das Reißen einer Leine folgte. Einer der Fischer hatte etwas am Haken. Zurück blieb ein Gefühl der Leere. Aber auch ein Tatendrang, ein Ansporn, das zu tun, was mir das Meer eben gezeigt hatte. Wenn ich es nicht tue, wer dann? Niemand schreibt Bücher für mich. Mir fehlt nur noch eine Idee. Nein, die Idee. Dostojewski gab sich auch nicht mit weniger als ›Schuld und Sühne‹ zufrieden.
Mein Magen knurrte. Mittagessenszeit. Großmutter sagte schon dereinst: »Wer nicht arbeitet, soll wenigstens gut essen.« Nur wenige Schritte weiter servierte eine kleine Garküche Muschelsuppe und Brot, genannt ›Clam Chowder‹ (›klemm tschauder‹ gesprochen). Köstlicher weißer Eintopf mit Muscheln, sowas gibt’s in Süddeutschland nicht. Nur das Brot, nun, also das bekommen wir in der Heimat besser hin.
Anschließend trugen mich meine Füße weiter nach West End. Der Schweiß der Arbeiter reichte nicht bis hierher, im Gegenteil. Ich traf auf einen kleinen Block Wohnhäuser, nur zwanzig Minuten entfernt von meinem und doch weniger heruntergekommen. Die Wohnhäuser grenzten an einen Friedhof, über dem eine gespenstische Ruhe lag. Sicher sehr stimmungsvoll, wenn die Nebelschwaden zwischen den Grabsteinen Kreise ziehen. Über die Congress Street bin ich dann nach Downtown gelaufen, wo ich schließlich auf einem Wochenmarkt gelandet bin, und mir frisches Obst gekauft habe. In einem Tante-Emma-Laden an der Ecke habe ich Brot und Konservenfleisch bekommen, damit sollte ich erst mal eine Weile zurande kommen. Neben dem Tante-Emma-Laden befand sich ein Geschäft für … ich kann es nicht so recht beschreiben. Im Schaufenster lagen Schalen und Banner mit fremden Schriftzeichen. Der Geruch von Räucherstäbchen waberte aus der offenen Tür und hinter einem Tresen stand ein Mann aus dem Fernen Osten in gewöhnlicher Kleidung. Traditionelle Bilder (so weit ich das beurteilen kann) und Banderolen schmückten die Wände, aber ob diese nun chinesisch oder japanisch waren, vermag ich nicht zu sagen. Ich wollte auch nicht neugierig spionieren, darum bin ich schnell weitergegangen, ehe mich der Mann erspähte. Doch dann ist etwas passiert.
Ich befand mich schon auf dem Weg zurück, der Nachmittag dämmerte und die Arbeiter würden bald Feierabend haben, da erblickten meine Augen einen Buchladen. Nicht irgendeinen Buchladen. Auf dem Schild über dem Eingang stand geschrieben: ›Bookstore Schröder‹. Mit ö! Deutsch! Ein Drang, die Tür zu durchschreiten, überkam mich. Doch was, wenn man mich meldet? Was, wenn der Besitzer dem Deutschen Kaiserreich hörig ist? Könnte ich es wagen? Nein. Nicht heute. Außerdem hatte ich Einkauf dabei, wie hätte ich können? Nein, nein. Das ging nicht. Niemals, auch wenn die Welt zwischen Seiten und Wörtern die meine ist und besser als alles, was außerhalb der Buchdeckel passiert.
Samstag, 8. April 1916
Keine zwei Tage habe ich es ausgehalten. Keine zwei Tage, ehe ich den Bookstore Schröder nun also doch besucht habe. Wie könnte ich auch nicht? Der Geruch von frischem Papier, die Geschichten zwischen Umschlägen und ganze Seelen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern feinsäuberlich in Regale einsortiert. Dort gehöre ich hin, in vielerlei Hinsicht. Also habe ich das Buchgeschäft betreten, wenngleich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Der Name lockte mit Heimat, aber auch mit Gefahr. Was, wenn das Deutsche Reich bis hierher … nein. Für einen Moment war ich mutig genug gewesen und habe den Schritt gewagt.
Außer mir war niemand zugegen. Der Laden selbst ist richtig schön schummrig, jedoch nicht wie eine abgehalfterte Kneipe voller zwielichtiger Gestalten, o nein, wie ein Ort, an dem man Zeit verbringen will, da die selbige innehält. Licht fällt nur durch die offene Tür und das vom salzigen Wind blinde Schaufenster hinein. Ist der Bookstore Schröder nun besonders deutsch? Ich weiß es nicht. Er wirkt altehrwürdig, ja. In Regalen aus dunklem Holz reihen sich Buchrücken mit allerhand Titeln auf, vor allem von hiesigen Schriftstellern: Mark Twain, Edgar Allen Poe, Herman Melville. Aber auch ein ganzes Regal mit deutschen Büchern gibt es, wohl dem Namen des Besitzers geschuldet. Ich konnte die Worte auf den Seiten lesen. Goethe, Schiller! Wahrlich ein Stück Heimat!
Auf einmal rief es »Hello, how are you?« (bitte sei mir nicht böse, wenn ich nicht alle englischen Wörter übersetze) und ich erschrak. Eine schwarze Frau stand vor mir und lächelte mich an. Sie ging mir bloß bis zum Brustbein. Ihre Lippen warfen Lachfalten, ihr Haar war bereits ergraut.
»Deutsch?«, brachte ich gerade so heraus. »Äh … German?« In diesem Augenblick war mir eingefallen, dass seit dem Gespräch mit dem Vermieter kaum ein Wort meinen Mund verlassen hatte.
»Oh, ein Deutscher, ja?«, antwortete die Frau in meiner Sprache mit amerikanischem Akzent. Ihre Augen wurden größer. »Es gibt hier so viele Ausländer, verstehst du, aber Deutsche trifft man selten. Ick bin Frau Schröder. Du kannst mick Martha nennen.« Fröhlich frei streckte sie mir ihre Hand hin. Und ich? Ich begann zu schwitzen wie ein Lausbub vor dem Lehrer.
»Frederik Aschenbrenner«, brachte ich gerade so heraus und ergriff, ohne nachzudenken, ihre Hand. Sie war klein und warm.
Unerwartet klopfte sie mir auf die Schulter. »Ach, das ist mir zu kompliziert. Ick nenn dick Freddy, okay?« Ich muss wohl gestarrt haben, denn Frau Schröder sagte mit einem breiten Grinsen nun Folgendes: »Oh, guck doch nicht so. Ist es wegen meiner Haut und dem Namen? Den hab ick von meinem Mann Karl, aber er ist vor ein paar Jahren gestorben. God bless him, aber der Bookstore gehört mir. Wenn du Hilfe brauchst, meld dick, Freddy, ja?« Dann verschwand sie hinter einer Tür und ließ mich allein zurück. Verwunderlich, einen Fremden einfach im Laden stehen zu lassen. Ich hätte mir jedes Buch nehmen und gehen können. Was für eine quirlige Persönlichkeit Frau Schröder doch ist. Ob es in Portland wohl viele Deutsche gibt?
Ich brachte einige Zeit im Buchladen zu und schmökerte in den deutschen Werken. Ich entschloss mich, die englische Ausgabe von ›Die Abenteuer des Tom Sawyer‹ zu kaufen. Auf Deutsch kannte ich das Buch auswendig und das würde mir womöglich helfen, meine Englischkenntnisse aufzubessern. Danke noch mal für das Englischwörterbuch, Mutter.
Sonntag, 9. April 1916
Ja, lebe ich denn in einem Irrenhaus? In den Zimmern nur Geschrei und Getöber, wie soll man sich da konzentrieren? Wer soll bei diesem Lärm nur in Ruhe eine Novelle verfassen können, erst recht einen ganzen Roman? Es ist schönes Wetter, dann werde ich zumindest das nutzen und nach draußen gehen. Alles besser, als in diesem Höllenloch festzusitzen.
Kaum zu glauben, aber ich habe heute noch jemand Neuen kennengelernt. Erinnerst du dich an den Laden mit der fernöstlichen Ausstattung? Ich bin mit dem Besitzer ins Gespräch gekommen. Mit Unmut im Bauch bin ich nach Downtown gelaufen. Ich wusste nicht so recht, wohin mit mir und doch bin ich aus irgendeinem Grund zum Bookstore Schröder gelangt. Anscheinend hat er eine magische Anziehung auf mich. Wie auch immer. Der Laden war zu, ›closed‹ stand auf einem Schild in der Tür. Eigentlich wollte ich Frau Schröder sowieso nicht schon wieder behelligen. Jedenfalls muss ich wohl sehr verloren gewirkt haben, denn plötzlich sprach mich ein Mann an. Er besaß schwarzes Haar zum Mittelscheitel gekämmt, einen Schnauzer und schmale Augen, wie man es von Menschen aus dem Fernen Osten kennt, doch gleichzeitig waren sie weit und offen und freundlich. Zwischen die Finger hatte er eine Zigarette geklemmt. Ich verstand ihn nicht wegen seines starken Akzents. Mit Händen und Füßen versuchte er mir klarzumachen, dass Frau Schröder heute wohl krank sei und der Laden deswegen geschlossen blieb.
Es ist sonderbar. Wir sprechen einer schlechter Englisch als der andere und trotzdem unterhielten wir uns prächtig. Es dauerte gar nicht lang und wir fanden unsere eigene krude Art, uns zu verständigen, und schufen so eine einzigartige Verbindung. Ach, ich habe dir seinen Namen noch gar nicht verraten. Er heißt Yuu und kommt aus Japan. Warte. Er hat mir seinen Namen aufgemalt und ich werde versuchen, die Zeichen so gut es geht ins Buch zu übertragen. Du wirst staunen, dass solche fremdartigen Symbole überhaupt einen Sinn ergeben.
夢宇 (Yuu) 書上 (Shogami)
Im Laufe des Gespräches gewann ich immer mehr den Eindruck, dass wir auf eine weitere, besondere Weise miteinander verbunden waren: Wir teilen ein Schicksal.