The Falcon and the Rose - Vergiss mich nicht - Beatrice Braun - E-Book
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The Falcon and the Rose - Vergiss mich nicht E-Book

Beatrice Braun

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Beschreibung

Kurz vor ihrer Verlobung wird Tenyas Dorf von einem mächtigen Zauberer überfallen und ihr Bruder entführt. Dadurch sollen die Bewohner gezwungen werden, den Falken zu verraten, einen Räuber, der die Herrschaft des Zauberers bekämpft. Um ihren Bruder zu befreien, hilft Tenya bei der Suche nach dem Gesetzlosen. Im Wald stößt sie auf ein Schloss hinter einer hohen Dornenhecke, von dem es heisst, dass Dornröschen darin schlafen würde. Tenya wagt sich in die Hecke und findet das Turmzimmer, aber das Bett ist leer. Was hat der Räuber mit der Figur aus dem Märchen zu tun?

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Table of Contents

Title Page

Titel

Über die Autorin

Widmung

Der Falke

Kapitel 1

Kapitel 2 - Damals -

Kapitel 3

Kapitel 4 - Damals -

Kapitel 5

Kapitel 6 - Damals -

Kapitel 7

Kapitel 8 - Damals -

Kapitel 9

Kapitel 10

Assimoé

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

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Impressum

 

Traumschwingen Verlag GbR

 

 

 

 

Beatrice Braun

The Falcon and the Rose

Vergiss mich nicht

Über die Autorin

 

Beatrice Braun ist in einem kleinen Dorf im Erzgebirge aufgewachsen, wo die alten Sagen und Legenden noch lebendig waren.

Sie lebt mit ihrer Familie in Dresden.

Sie erreichen die Autorin auf

www.beatricebraun.com

oder per EMail unter autorinbeatricebraun@gmx. de

„Alles drin, was einen schönen Fantasyroman ausmacht: Spannung, Romantik, mythische Wesen und ein wunderbares Ende“

Testleserin

Widmung

Für Freya, Konrad und Henrik

 

Der Falke

Kapitel 1

Auspeitschungen machten hungrig. Genießerisch biss Schizal in ein gebratenes Taubenbrüstchen. Heute war ein guter Tag. Zufrieden strich er über die Landkarte, die auf dem langen Tisch ausgebreitet war. Jeden Tag konnte er seine kleinen Bleisoldaten etwas weiter vorrücken. Siegesgewiss ließ er den Blick über die Karte schweifen. All diese Länder würden sehr bald ihm gehören.

Es klopfte an der Tür. »Herr, seid Ihr da?«

Ausgerechnet Mudobar. Er seufzte. Sein Gewinsel war das Letzte, was er an diesem hoffnungsfrohen Morgen hören wollte. »Was willst du? Wehe, es ist nichts Wichtiges!«

Die hohe Tür wurde geöffnet und herein wieselte Mudobar, sein treuester Diener. Dessen Gang war in seiner Gegenwart immer ein wenig gebeugt, sodass die strähnigen Haare vor seinem Gesicht hängen würden, wenn er den Kopf nicht schräg hielte.

»Herr, die Milizen sind zurückgekehrt. Habt Ihr weitere Befehle?«

»Wurde der Falke gefunden?«

»Leider nicht, Herr.«

»Wie kommst du dann darauf, dass weitere Befehle nötig wären?«

»Sie wissen nicht, wo sie noch suchen sollen …«

»Ich kann nicht glauben, dass jedes Dorf durchsucht wurde.« Er war von unfähigen Idioten umgeben!

»Herr, ich habe die Männer schon überallhin geschickt.«

»Nichts da! Ich will, dass dieser Bastard gefunden wird und wenn ihr dazu jedes Bauernkaff niederbrennt und jeden lausigen Stein umdreht, verstanden?« Vielleicht sollte er zur Abschreckung einige dieser Trottel in Esel verwandeln.

Sofort machte Mudobar einen tiefen Diener. »Wie Ihr wünscht, Herr!«

»Sieh zu, dass du nicht wieder nur lauter feuchtes Holz holst. Der Qualm vom letzten Mal brennt mir jetzt noch in den Augen.« Picabo beobachtete grinsend Tenya, die Schwester seines Freundes Manteo, wie sie Holz für ein Feuer sammelte. Auf dem Rückweg vom Markt hatten sie auf einer Lichtung Rast gemacht, um ihre Wegzehrung einzunehmen.

»Ach, was du nicht sagst? Helft gefälligst mit! Außerdem ist an meinem Holz nichts auszusetzen.« Tenya blitzte ihn wütend an.

»Jeder macht eben das, was er gut kann.« Lachend wich er einem Stock aus, den Tenya nach ihm warf und begann mit Zunder und Stahl ein Feuer zu entfachen. Er liebte es, sie zu necken.

»Riecht es hier nach Rauch?«, fragte sie.

»Wahrscheinlich hat da noch jemand anders nasses Holz gesammelt.«

Da Tenya auf seine Neckerei nicht reagierte, hob Picabo den Kopf. »Was hast du?« Als er ihren starren Blick sah, sprang er auf und trat neben sie. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Eine gewaltige Rauchsäule erhob sich über den Baumwipfeln, die zusehends größer und dunkler wurde.

»Das kommt aus dem Dorf.« Picabo rannte los. Ein Überfall? Der Falke hatte keine Warnung geschickt. Manteo und Tenya folgten ihm.

Brandgeruch lag in der Luft. Dann hörte er die ersten Schreie. Als die Bäume zurückwichen und den Blick auf das Dorf freigaben, bot sich ihnen ein erschreckendes Bild. Zwei Häuser brannten lichterloh. Soldaten verfolgten mit gezogenen Waffen ihre Opfer. Überall vollkommen verängstigte Menschen, die verzweifelt versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Panisches Geschrei erfüllte die Luft. Die Flammen hatten leichtes Spiel, denn die Gebäude waren größtenteils aus Holz, besonders auf den reetgedeckten Dächern breiteten sie sich rasend schnell aus. Dichte Rauchschwaden nahmen ihnen die Sicht.

Picabo rannte zum ersten Gebäude und lugte um dieHausecke. Kurz darauf waren Manteo und Tenya neben ihm.

Auf der Straße sahen sie zwei Bewaffnete, die Halfer, den Dorfältesten gepackt hielten. »Ich frage noch einmal: Wo ist der Falke? Wir wissen, dass ihr Bauern dieses Räubergesindel versteckt!«

»Herr, ich versichere Euch, wir wissen nichts von einem Falken.«

»Blödsinn, seit Jahren führt dieser Halunke uns an der Nase herum und das kann er nur, weil Bauern wie ihr ihm Unterschlupf gewährt.«

Plötzlich rannte Manteo aus der Deckung und schlug einen der Soldaten mit einem Knüppel zu Boden. Picabo verfluchte die Leichtsinnigkeit seines Freundes und wollte ihm gerade zu Hilfe eilen, als ein Bewaffneter angaloppiert kam und Manteo mit dem Streitkolben niederschlug.

Tenya schrie auf und wollte zu ihrem Bruder.

»Nein!« Picabo packte sie am Arm. »Du darfst dort nicht hingehen.«

»Ich muss ihm helfen!« Verbissen wollte Tenya ihren Arm befreien. »Lass mich sofort los, ich muss zu meinem Bruder.« Als sie in ihrer Verzweiflung sogar versuchte zu beißen, umschloss er sie von hinten mit seinen Armen.

»Das ist zu gefährlich.« Er machte sich selbst Sorgen um Manteo, aber er konnte sie nicht gehen lassen, viel zu groß war seine Angst, ihr könnte etwas zustoßen.

»Was fällt dir ein? Lass mich sofort los!« Ächzend kämpfte sie gegen seine Umklammerung an.

»Nein, das kann ich nicht.«

»Bitte lass mich los! Ich muss ihm doch helfen.« Sie begann zu weinen.

»Schsch.« Er würde sie beschützen, denn sie war seine große Liebe. Auch wenn sie bald den reichsten Bauern des Nachbardorfes heiraten würde und er ein Niemand war, der kein eigenes Land besaß, änderte das nichts an seinen Gefühlen.

Durch den Qualm beobachteten sie, wie zwei Soldaten Manteo packten, und sie merkten, dass er nur verletzt war.

»Hier haben wir also einen dieser Aufrührer, sieh an! Nun, das wird dir noch leidtun.« Sie fesselten ihn an einen Karren, an dem bereits zwei weitere Männer angebunden waren. Einer der Bewaffneten trat an den Dorfvorsteher heran. »Wer diesem Rebellengesindel hilft, wird mit Sklaverei bestraft. Und Sklaven braucht der Herr Schizal immer.«

»Aber wir wissen doch nichts von dem Mann, den ihr sucht«, rief Halfer.

»Fürs Erste nehmen wir nur drei eurer Männer. Wenn wir wiederkommen, habt ihr besser Antworten für uns. Vielleicht lassen wir die Kerle dann wieder frei. Aber wenn nicht, machen wir euer Dorf dem Erdboden gleich!«

Picabo musste schweigend zusehen, wie sich die Soldaten in Bewegung setzten und die Männer verschleppten.

Als er seinen Griff lockerte, fuhr Tenya herum und stieß ihn von sich. »Elender Feigling!«

Er wollte ihr vieles sagen, fand aber keine Worte. Stumm beobachtete er, wie sie ihn stehen ließ und ins Dorf rannte.

*****

Picabo lief unruhig vor dem Haus des Dorfältesten auf und ab. »Wir können doch nicht hierbleiben. Sie könnten jeden Augenblick wiederkommen.«

»Und wo sollen wir hin?« Halfer ließ sich schwerfällig auf dem Rand des Wassertroges nieder. Gesicht und Hände schwarz von Ruß. Stundenlang hatten sie versucht, die Feuer zu löschen, dennoch waren zwei Häuser bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

»Irgendwohin! Alles ist doch besser, als hierzubleiben und abzuwarten, bis sie das nächste Mal kommen und alles verwüsten. Außerdem sollten wir versuchen, unsere Männer zu befreien.«

»Du vergisst wohl, mit wem wir es hier zu tun haben? Das waren Schizals Soldaten. Gegen diesen Zauberer kannst du gar nichts unternehmen.«

»Also sollen wir ruhig abwarten und alles hinnehmen?«

»Natürlich nicht. Die Soldaten suchen diesen Falken und wir werden dafür sorgen, dass sie ihn auch finden.«

»Aber das ist doch für diese Kerle nur ein Vorwand. Meint Ihr, sie lassen uns in Ruhe, wenn Ihr ihnen irgendeinen armen Teufel ausliefert?«

»Ich bin für das Dorf verantwortlich, ich werde unsere Leute nicht in den Wald treiben, wo sie frieren und nichts zu essen haben. Und für wie lange? Eine Woche? Einen Monat? Meinst du, dann ist die Bedrohung durch Schizal vorbei? Sicher lässt er uns in Ruhe, wenn wir kooperieren und dieses Räubergesindel aufspüren.«

»Dieser Falke ist doch nur ein Ammenmärchen. Noch ist Zeit, hier zu verschwinden. Ihr könnt nicht die Augen vor der Gefahr verschließen. Was hindert sie, uns alles zu nehmen? Ich weiß, wie es ist. Jetzt habt ihr die Chance, die Überlebenden in Sicherheit zu bringen«, rief Picabo. Er hatte vor Jahren seine Familie verloren. Eines Tages waren die Soldaten gekommen und hatten ihr Haus niedergebrannt. Außer ihm waren alle umgekommen. Seitdem wohnte er in der Jägerhütte am Waldrand.

Der Dorfälteste schüttelte den Kopf. »Wir alle wissen, dass es Räuber in den Wäldern gibt. Seit die Fae von hier verschwunden sind, breitet sich dieses Gesindel immer weiter aus. Ihnen muss endlich das Handwerk gelegt werden. Ich werde mich mit dem Rat besprechen, das ist mein letztes Wort.« Picabo war damit entlassen. Er hatte kein Mitspracherecht, da er nur ein Tagelöhner war. Wütend unterdrückte er einen Fluch. Er musste den Falken umgehend warnen!

Picabos Herz legte einen Schlag zu, als Tenya aus dem Haus trat. »Eure Frau braucht Ruhe, sie muss jetzt schlafen.« Sie hatte sich trotz ihres Schmerzes wegen Manteo um das gebrochene Bein der Frau des Dorfältesten gekümmert, die die Soldaten die Treppe hinuntergestoßen hatten.

Tenya lief an Picabo vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er folgte ihr, woraufhin sie ihre Schritte beschleunigte.

»Ich bitte dich, Tenya. Ich wollte dich doch nur schützen.« Er hatte keine Mühe mit ihr Schritt zu halten.

»Aber meinen Bruder hast du nicht beschützt.«

»Das ist nicht fair! Jetzt lauf doch nicht weg.«

»Ich muss zum Schmied. Er hat schlimme Verbrennungen.«

Picabo bemerkte ihre rotgeweinten Augen und hatte das Gefühl, dass sie sich mit der Arbeit ablenken wollte.

»Wenn ich nur die geringste Chance gesehen hätte, deinem Bruder zu helfen, hätte ich keine Sekunde gezögert. Das weißt du doch. Außerdem ist die Gefahr noch nicht gebannt. Diese Kerle können jederzeit zurückkommen.«

»Sicher weiß der Dorfälteste, was zu tun ist.«

Picabo schnaubte resigniert. »Der verschließt die Augen vor der Gefahr und glaubt, wir haben Ruhe, wenn wir mit Schizal kooperieren. Aber er wird nichts weiter tun, um unsere Leute zurückzuholen.«

Sie blieb stehen und blickte ihn erschrocken an. »Was? Aber mein Bruder... Ich muss sofort mit Rewida reden. Sie behandelt gerade den Schmied.« Entschlossen hielt sie auf die Schmiede zu.

»Das alte Kräuterweib?« Picabo glaubte, sich verhört zu haben.

»Sie weiß sehr viel.«

Picabo hätte am liebsten laut aufgeschrien. »Wir müssen uns in Sicherheit bringen und nicht nur auf ein Kräuterweiblein hören.« Einige Leute aus dem Dorf waren ganz versessen auf Tinkturen und Tränke von der Alten und liefen ständig zu ihrem Mooshaus mitten im Wald. Picabo hatte sich nie darum geschert.

*****

»Ihr solltet zum alten Schloss gehen, um Hilfe zu finden.« Rewida deckte den Schmied behutsam zu.

»Was denn für ein Schloss?« Tenya wunderte sich über diese Antwort, nachdem sie die Kräuterfrau nach Hilfe gegen die Soldaten gefragt hatte.

»Das alte Schloss im Wald.« Rewida trat aus der Kammer.

»Meinst du etwa das Dornröschenschloss?«, fragte Tenya verwirrt. Eine Tagesreise entfernt von ihrem Dorf lag im Wald ein verlassenes Schloss. Und die Leute sagten sich gern, dass dies das echte Schloss aus dem Märchen sei. Wozu sollten sie so weit laufen?

»Genau das meine ich.«

»Was sollen wir denn dort?«

»Ich sage euch eines: der Einzige, der Schizal wirklich besiegen könnte, ist der Falke. Und um ihn zu finden, müsst ihr zum alten Schloss gehen.«

Tenya fuhr zusammen. »Hast du das gehört?« Aufgeregt wandte sie sich an Picabo, der sie begleitet hatte. »Der Falke ist beim alten Schloss. Wenn wir ihn ausliefern, kommt mein Bruder wieder frei! Wir müssen es sofort dem Dorfältesten …«

»Der Falke? Willst du uns auf den Arm nehmen?«, wandte sich Picabo abfällig an Rewida. »Wie soll er uns gegen Schizal helfen? Immer vorausgesetzt, dass es ihn überhaupt gibt.«

»Ihr habt doch sicherlich schon von der Prinzessin und dem Zauberer gehört, die im Schloss gelebt haben?«

Tenya nickte. »Natürlich, jeder kennt die Geschichte.« Aber was hatte das alles mit dem Falken und ihrem Bruder zu tun?

»Das ist doch nur ein Märchen, das man den Kindern erzählt«, rief Picabo.

Bevor die Kräuterfrau das nächste Haus betrat, blieb sie stehen und blickte ihn an. »Du weißt doch sicher, dass die Prinzessin eine Fae war und ihr Geliebter ein mächtiger Zauberer?«

»Was heißt hier ›war‹? Das ist ein Märchen!« Tenya hörte den Ärger in Picabos Stimme.

Tenya mochte diese Geschichte. Sie besagte, dass die Prinzessin einen bösen Magier verschmäht hatte, da sie einen anderen Prinzen liebte. Der Zauberer verfluchte das junge Paar und seitdem schlief sie in ihrem Schloss. Aber wie, in aller Welt, sollte ihnen dieses Märchen helfen?

»Es ist keineswegs ein Märchen.« Rewida reagierte resoluter als Tenya sie kannte. Sie schien regelrecht wütend zu werden. »Es ist allenfalls eine Sage und Sagen haben einen wahren Kern.« Rewida wies auf die brennenden Mauerreste gegenüber. »Seht euch um, dieses Grauen muss aufhören!« Mit diesen Worten ließ sie sie stehen.

Tenya blickte Rewida verwirrt hinterher. »Wer ist denn dieser Falke, den sie suchen?«

Picabo zuckte die Schultern. »Die Leute erzählen von irgendeinem Räuber, den es angeblich in den Wäldern gibt.«

Entschlossen setzte sie sich in Bewegung. »Was auch immer Rewida gemeint hat. Der Falke soll beim alten Schloss sein, also muss das der Dorfälteste erfahren. Wenn wir diesen Räuber ausliefern, kommt mein Bruder frei …«

»Halt. Das kannst du nicht tun!« Er hielt ihren Arm fest.

»Was? Wieso denn nicht?« Was war nur in ihn gefahren?

Unter ihrem Blick wurde sein Ausdruck weicher. Zögernd ließ er ihren Arm los. »Ich meine nur. Bei diesem Schloss ist nichts. Ich war schon oft dort, es ist nur eine Ruine. Was glaubst du, macht Schizal mit uns, wenn wir ihn umsonst dorthin schicken?«

»Meinst du, wir sind noch auf dem richtigen Weg?« Tenya blieb stehen und befreite sich von einer Brombeerranke, die sich in ihrem Rock verhakt hatte. Sie wollte sich davon überzeugen, was es mit dem Schloss auf sich hatte. Sie würde alles versuchen, um ihren Bruder zu retten.

»Doch, doch. Es dauert nicht mehr lange, dann kann man die Mauern sehen.« Tenya wusste, dass Picabo oft im Wald unterwegs war. Für ihn als Tagelöhner war die Jagd wohl häufig die einzige Möglichkeit, an Essen zu kommen.

Unvermittelt hörte der Bewuchs auf und machte den Blick frei auf eine rotgrüne Wand von gewaltigen Ausmaßen. Bei näherem Hinsehen bemerkte sie, dass es sich um Mauern handelte, die über und über von rotblühenden Rosenhecken bewachsen waren. Nein, das waren nicht nur Mauern, es war ein ganzes Schloss. Die Sonne beschien Dächer und Zinnen, die ebenfalls von einer enormen Rosenhecke überwachsen waren.

»Du meine Güte!« Tenya starrte auf die blühende Hecke. Sie war dem Schloss noch nie so nah gewesen. »Kein Wunder, dass man bei einem solchen Anblick an Märchen denkt, nicht wahr? Aber mehr ist es leider auch nicht.«, sagte Picabo.

»Hast du eine Idee, wie wir hineinkommen?«, fragte sie, auch wenn ihr eigentlich davor graute.

Picabo schüttelte den Kopf. »Es muss einst ein Tor gegeben haben. Aber das ist alles zugewachsen.« Zögernd liefen sie näher heran.

Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um den oberen Rand der Mauern unter den Rosenranken zu erahnen. Die Hecke war zwar von grünem Blattwerk bewachsen, hatte aber lange, spitze Dornen, die sie undurchdringlich machten.

»Hier kommt niemand durch, wie du siehst«, sagte Picabo. Aber Tenya wollte nicht so schnell aufgeben und lief an der Hecke entlang. »Sehen wir uns weiter um.«

Picabo folgte ihr zögernd. Es gab keinen Pfad, das Gelände war wild und verwachsen, wodurch sie nur sehr langsam vorankamen. Endlos schien sich die Dornenhecke entlangzuziehen.

»Ich glaube, du hattest recht. Hier ist niemand.« Tenya blickte sich resigniert um.

»Ja, so ist es. Tut mir leid. Komm, lass uns zurückgehen.«

Sie hatte das Gefühl, Erleichterung aus seiner Stimme heraus zu hören. »Aber Rewida wirkte so sicher.«

»Ist sie nicht ein bisschen verwirrt?«, fragte er. »Ich finde sie schon manchmal ein wenig seltsam.«

»Nein! Was Rewida sagt, hat Hand und Fuß. Hier muss etwas sein!« Sie lief weiter entlang der Hecke und suchte nach einer Möglichkeit hineinzugelangen.

Picabo seufzte vernehmlich. »Das bringt doch nichts! Wir sollten uns lieber auf den Rückweg machen.«

Tenya wollte jedoch nicht aufgeben. Hier musste etwas sein, sonst hätte Rewida sie nicht hergeschickt. Aber die Mauern waren überall von ausgreifenden Büschen mit spitzen Dornen bewachsen. Schließlich sah sie ein Vordach, was noch nicht vollständig zugewuchert war. »Ich werde es hier versuchen.«

»Ich mache das.« Picabo trat ihr in den Weg. Tenya sah ihm an, dass es ihm davor graute, in diese Dornenhecke zu steigen. Vorsichtig arbeitete er sich vor. Bevor er irgendwo zugriff, entfernte er mit seinem Messer so viele Dornen wie möglich, dennoch schien er sich immer wieder an den Händen zu verletzen. Sie hörte seine unterdrückten Flüche, Dornenranken verhakten sich in seiner Kleidung. Er entfernte die Triebe stets sofort wieder, trotzdem zerriss er sich sein Hemd. Fluchend hievte er sich auf das Vordach. »Du wartest hier. Ich …«

»Ich komme mit!« Auf keinen Fall wollte sie hier draußen allein bleiben. »Hilf mir hoch!«

Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich auf das Dach. Von hier aus erreichten sie ein Fenster, dessen Scheiben eingeschlagen waren. Offenbar war bereits vor ihnen jemand hier gewesen. Leise kletterten sie ins Innere und fanden sich in einem riesigen Saal wieder. Staunend hob sie den Blick zu den hohen Gewölben. Die Wände waren mit farbenfrohen Landschaftsbildern bemalt. Vereinzelt blätterte die Farbe ab. Es gab auch Bilder von Personen mit wunderschönen Gesichtern. Es waren Fae. Tenya hatte noch nie welche gesehen, aber sie erkannte sie an ihren spitzen Ohren und den großen gefiederten Flügeln. Tenyas Anspannung stieg, denn man sagte, dass einst Fae in diesem Schloss gelebt hätten. Also stimmte womöglich auch die Sage vom Dornröschen?

Tenya wollte sich weiter umsehen, verharrte aber nach dem ersten Schritt wieder, denn jedes Geräusch hallte durch den Saal.

»Warum gibt es keine Möbel?«, flüsterte Tenya.

»Es ist schon lange verlassen. Und wer auch immer hier lebte, wird alles mitgenommen haben.«

Beide Türen des Saales standen offen. Tenya entschied sich für die rechte Seite. Die Tür führte auf einen Gang, der sich endlos zu erstrecken schien. Auch dieser Flur war leer. Vom Gang aus gingen unzählige Zimmer ab, unzählige Türen. Tenya öffnete die Erste und fand sich in einem weiteren großen Raum wieder, der ebenfalls leer war. Auch hier waren die Decken und Wände prächtig bemalt.

»Na gut, wir sehen uns jetzt, der Reihe nach, alle Räume an.« Tenya öffnete die nächste und Picabo die übernächste Tür. Und so arbeiteten sie sich den Flur entlang. Sämtliche Räume waren leer. Ihre Schritte hallten laut. Am Ende des Ganges stießen sie auf eine Wendeltreppe. Tenya lief voraus die Treppe hinauf. Langsam setzte jedoch bei ihr die Erkenntnis ein, dass sie nichts finden würden. Dieses Schloss war leer. Auch oben stießen sie auf einen Gang und öffneten Tür um Tür, sahen Raum um Raum - alles leer.

»Ach komm, lass uns umkehren. Ich habe die Nase voll«, sagte Picabo.

Tenya öffnete die nächste Tür und fuhr zurück. »Es ist ein Schlafzimmer!«, zischte sie aufgeregt.

»Ja, und?«

»Ein Schlafzimmer, verstehst du? Dornröschens Schlafzimmer!«

»Unsinn!«

Ohne etwas zu erwidern, zog Tenya die Tür weiter auf und der Blick wurde frei auf ein helles Turmzimmer. Rosen wuchsen zum Fenster herein und rankten sich an den Wänden entlang, sodass der ganze Raum zu blühen schien.

Aber Tenya beachtete es nicht, denn ihre ganze Aufmerksamkeit war auf das große Himmelbett gerichtet, das in der Mitte des Raumes stand. Sie war sich nicht sicher, was sie da eigentlich sah. Sie betrachtete den Betthimmel, die Kissen und die weiche Decke, die zurückgeschlagen war.

»Es ist leer.« Enttäuschung machte sich in ihr breit. Aber was hatte sie erwartet?

»Es ist einfach ein Schlafzimmer, weiter nichts.«

»Bist du blind? Das ist doch das Schlafzimmer von Dornröschen.«

»Dornröschen ist ein Märchen. Das hier ist ein Schlafzimmer mit einem Bett darin, in dem noch nicht einmal jemand liegt.«

»Vielleicht kommt sie zurück?«

»Hast du schon jemals gehört, dass Dornröschen sich mal schnell etwas zu essen holt und dann wieder hinlegt?«

Tenya kicherte. »Du bist dumm!«

»Also schön, suchen wir weiter«, sagte Picabo. »Aber du wirst sehen, hier ist nichts.«

Sie durchsuchten das ganze Schloss, den Turm und sämtliche Gänge. Manche Türen ließen sich nicht öffnen. Tenya hatte sogar das Gefühl, dass sie einige der Gänge nicht betreten konnten. Dennoch stand schließlich fest, dass sie hier ihre Zeit verschwendeten.

Picabo blickte aus dem Fenster. »Verdammt wir haben die Zeit vergessen. Hier ist nichts und niemand, das ganze Schloss ist leer.«

»Aber was ist mit dem Schlafzimmer?«, fragte Tenya.

»Ich weiß nicht. Vielleicht haben sie die Möbel nicht mehr gebraucht.«

Tenya fuhr sich müde über das Gesicht. »Ich habe Hunger.«

Picabo nickte. »Lass uns im Gasthof ›Zum alten Turm‹ übernachten. Das ist keine halbe Stunde von hier.«

Tenya hätte unter normalen Umständen keinen Fuß in diese Spelunke gesetzt. Aber nun hatte es auch noch angefangen zu regnen, und so war sie doch froh, hier zu sein. Die Schenke war gut gefüllt. Einzelne Kerzen spendeten schummriges Licht. Tische und Stühle waren roh zusammengezimmert und der Geruch in der Gaststube war eine Mischung aus nasser Kleidung, Schweiß und altem Fett. Tenya betrachtete die Anwesenden argwöhnisch, es war zum Großteil zwielichtiges Volk. Picabo schien einige von ihnen zu kennen und ihr wurde klar, wie wenig sie eigentlich von ihm wusste.

Sie fanden einen Tisch ganz hinten in der Ecke, wo es ruhiger war.

»Willst du etwas essen?« Picabo zog ihren Stuhl unter dem Tisch hervor und stellte ihn so, dass sie sich setzen konnte.

»Ich weiß nicht, ob wir hierbleiben sollten.« Die Tischplatte klebte von den Essens- und Getränkeresten vieler vorheriger Gäste und ihr Stuhl kippelte. Tenya war froh, nicht mit ihrem Verlobten hier zu sein, für ihn wären solche Zustände untragbar. Auch sie hatte Mühe, es hier auszuhalten.

»Doch, doch. Das haben wir gleich.« Picabo ging zur Theke und sprach mit dem Wirt. Sie sah ihn lachen und dachte nicht zum ersten Mal, was für ein hübscher Kerl er doch mit seinen dunklen Locken war. Kurz darauf kam er mit zwei Schüsseln Kartoffelsuppe zurück, die überraschend schmackhaft war. Langsam entspannte sie sich. Picabos unerschrockene, freundliche Art gab ihr Sicherheit.

Der Wirt war ein älterer Mann, dessen schmierige Schürze über seinem Bauch spannte. Er brachte ihnen kurz darauf einen Krug dampfenden Würzwein. »Ich habe gehört, euer Dorf wurde überfallen. Gab es Opfer?«

Tenya wunderte sich, dass der Wirt wusste, aus welchem Dorf sie kamen. »Mein Bruder wurde entführt.«

»Armer Kerl. Diese Bastarde wüten in letzter Zeit fürchterlich.«

»Was hat es eigentlich mit dem Schloss auf sich?«, fragte Tenya.

»Was meint Ihr?«

»Das Dornröschenschloss. Sie lassen meinen Bruder frei, wenn wir den Falken ausliefern, wurde uns gesagt. Wisst Ihr, wo wir diesen Räuber finden?«

Der Wirt zögerte und blickte Picabo an. »Wollt ihr mich auf den Arm nehmen?«

»Meiner Meinung nach ist der Falke nur eine Legende.« Picabo löffelte ungerührt seine Suppe.

Der Wirt wischte beiläufig die Tischplatte ab. »Nun, Tatsache ist, dass es ohne ihn, Legende oder nicht, vielen hier noch schlechter gehen würde.«

Tenya konnte nicht nachfragen, was der Wirt damit meinte, denn er verabschiedete sich, um bei einigen neuen Gästen Bestellungen aufzunehmen. Sie grübelte über seine Worte nach. »Was meint er damit?«

Picabo zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Aber in Kneipen wird viel geredet. Das muss gar nichts bedeuten.«

Unter den Neuankömmlingen waren auch einige Gaukler, die sich alsbald anschickten, ihre Kunststücke vorzuführen – was von den anderen Gästen freudig begrüßt wurde. Es wurde jongliert und ein junger Mann ging auf seinen Händen durch den ganzen Schankraum, was bei dem herrschenden Gedränge eine zusätzliche Leistung war. Zwischendurch spielten die Musiker schwungvolle Melodien, die die Gäste begeistert mitgrölten.

Die Stimmung wurde immer ausgelassener.

»Sing doch mal das Lied vom Dornröschen«, rief einer der Besucher. Der Zwischenruf wurde von den anderen Gästen begeistert aufgenommen. Das Stück war überall beliebt mit seiner sehnsuchtsvollen Melodie und Tenya kannte es gut. Ab dem ersten Ton sangen die Anwesenden inbrünstig mit.

Altes Schloss, so tief im Wald, Mauern hoch und stark,

Altes Schloss, in deinen Mauern war sie einst so glücklich,

Altes Schloss, so hoch die Hecke, die Dornen scharf.

Und sie schläft einsam hinter deinen Mauern.

Das Lied handelte von der verbotenen Liebe zweier Königskinder: Die schöne Prinzessin war einem mächtigen Zauberer versprochen, den sie aber verabscheute, denn er war grausam und abstoßend. Sie liebte den stattlichen und gutherzigen Prinzen des Nachbarreiches. Aus Eifersucht nahm der böse Zauberer seinen Nebenbuhler gefangen und belegte die Prinzessin mit dem Fluch, in tiefen Schlaf zu fallen. So schläft sie bis heute in ihrem Schloss.

Altes Schloss, einhundert Jahre lang hält dein Fluch,

Altes Schloss, so viele starben schon an deinen Mauern.

Altes Schloss, wann endlich kommt und erlöst er sie?

Nur sein Kuss wird den Fluch des Bösen brechen.

»Ich liebe dieses Märchen«, sagte Tenya, nachdem der Spielmann geendet hatte. Von der Geschichte gab es verschiedene Varianten, die beliebteste erzählte davon, dass eine Faeprinzessin einen jungen Zauberer liebte.

»Ja es ist ein schönes Märchen, aber mehr eben auch nicht«, sagte Picabo.

Tenya musste wieder an das Schlafzimmer denken.

Als Picabo am nächsten Morgen den Gastraum betrat, rekelten sich gerade die ersten Schläfer. Glücklicherweise schien Tenya seine Abwesenheit nicht bemerkt zu haben. Er hatte sie nicht allein lassen wollen, aber seinen Freund musste er unbedingt warnen.

Nach dem Frühstück traten sie vor die Schenke, wo mehrere Händler gerade ihre Zugtiere vor die Karren spannten. Zwei davon waren augenscheinlich wohlhabend. Sie hatten überdachte Fuhrwerke mit großen Pferden. Aber die meisten hatten Bauernkarren. Einige waren zu Fuß unterwegs.

»Ich denke, wir sollten uns diesem Zug anschließen«, meinte Tenya.

»Ich weiß nicht, allein sind wir schneller.« Picabo verspürte absolut keine Lust auf diese Gesellschaft.»Aber zusammen mit den Händlern ist es sicherer. In diesen Wäldern gibt es Räuber und anderes Gesindel.«

»Also schön.« Picabo bedurfte dieses Schutzes nicht, aber das konnte er ihr nicht sagen.

*****

Die Karawane bewegte sich zügig, sie hatten jedoch keine Mühe mitzuhalten. Sie gingen als Fußgänger am hinteren Ende der Gruppe. Nach etwa einer Stunde durchquerten sie ein flaches Tal, zu beiden Seiten erstreckten sich dichte Wälder. Anstatt schneller zu werden, wurde der Zug immer langsamer und kam schließlich ganz zum Stehen.

Picabo reckte den Kopf, um zu erfahren, was die Karawane aufhielt, und sah es sofort: Auf der Straße lag ein Baum. Nicht sehr groß, aber für Fuhrwerke ein unüberwindliches Hindernis. Auch das noch!

»Wir verschwinden von hier.« Picabo nahm Tenyas Hand und zog sie hinter sich her.

»Was hast du?«, fragte sie.

»Wir müssen sofort weg von hier!« Er achtete nicht auf ihre Widerworte und zog sie ins Dickicht.

»Was? Wieso …«

Unvermittelt kamen aus dem Unterholz rechts und links des Weges Männer gestürmt und umstellten die Händler. Sie waren mit Knüppeln und Schwertern bewaffnet und schrien: »Überfall! Ergebt euch!«

Einer der Händler nutzte das Durcheinander und kroch zu ihnen ins Gebüsch.

Picabo verfluchte ihr Pech. Ausgerechnet ihre Karawane musste ausgeraubt werden. Er sah Tenyas Furcht. »Wir verschwinden von hier, komm!«

Aber Tenya starrte voller Angst auf die Kämpfe, die auf dem Weg vor ihnen stattfanden. Picabo hatte dies schon gesehen, aber noch nie auf der Seite der Opfer. Dann kamen die Reiter. Ein Dutzend Männer auf großen Pferden mit Kettenrüstungen und Schwertern. Und jeglicher Widerstand der Reisenden erstarb.

Als der Händler, der neben ihnen hockte, den Letzten der Reiter erblickte, keuchte er entsetzt auf. »Die Götter mögen uns beistehen! Dieser Bastard ist der Schlimmste von allen.«

»Ihr kennt ihn?«, wunderte sich Tenya.

»Ja! Ich habe einiges vom ihm gehört und den Schurken schon mal gesehen. Sie nennen ihn den Falken.«

Tenya fuhr herum. »Das ist der Falke?«

Als sie ihn anstarrte, fügte der Mann hinzu: »Er führt seit Jahren die größte Räuberbande in den Wäldern an. Die Soldaten schaffen es nicht, ihn zu ergreifen.«

Picabo schwieg und folgte Tenyas Blick. Sie sahen einen großen Mann in einer geschwärzten Kettenrüstung, der sein dunkles Haar im Nacken zusammengebunden hatte. Sein Freund konnte wirklich furchterregend sein.

Die Räuber gingen zielstrebig vor. Sie nahmen von den reichen Händlern Schmuck, Geld und Waffen, sowie einige Säcke, in denen Picabo Getreide vermutete. Binnen kurzem war der Spuk vorbei und die Räuber im Wald verschwunden.

»Was war das denn?« Tenya war noch völlig außer sich aufgrund des Überfalles. Sie hatten die Karawane verlassen und liefen querfeldein.

»Was meinst du?«

»Du bist erstaunlich ruhig geblieben. Wusstest du etwa, dass es einen Überfall geben würde?« Sie wunderte sich, dass Picabo seltsam unbeeindruckt schien.

»Was? Nein, natürlich nicht!«

Vielleicht hatte er auch einfach schon zu viel erlebt. Immerhin war seine Familie bei einem Überfall ums Leben gekommen.

Im selben Moment bemerkte Tenya eine Taube, die sich seltsam verhielt. Sie schien genau auf sie zuzufliegen. »Merkwürdig …« Aber weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment hatte die Taube sie schon erreicht. Von einem Augenblick auf den nächsten stand stattdessen eine Frau vor ihnen. Tenya schrie erschrocken auf. Auch Picabo schien vor Schreck ganz starr.

»Rewida?«, stammelte Tenya. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen.

»Ja, meine Liebe. Es tut mir leid, dass ich euch erschreckt habe, aber ich suche euch schon eine Ewigkeit.«

»Du … du … du bist eine Zauberin?« Tenya hatte das Gefühl, sie wäre gegen eine Wand gelaufen.

Rewida seufzte. »Ja, das ist ziemlich offensichtlich, nicht wahr? Ihr wisst doch hoffentlich, dass es Zauberer gibt?«

»Natürlich wissen wir das. Schizal ist einer.«

Tenya bemerkte, dass Rewida gar nicht mehr alt wirkte. »Wir haben im alten Schloss niemanden gefunden.«

Die Zauberin schnaubte abfällig. »Das solltet ihr glauben. Aber wir werden dem Falken jetzt einen Besuch abstatten.«

*****

Entschlossen führte sie Rewida durch den Wald. Am Schloss angekommen, ging sie zielstrebig zur Rückseite des Gebäudes. Auch dort war alles mit einer Dornenhecke bewachsen. Rewida steuerte einen abgestorbenen Baum an, der in der Hecke stand.

Unvermittelt trat ihr Picabo in den Weg. »Was glaubst du, hier zu finden?«

»Geh mir aus dem Weg. Ich weiß, dass der Falke hier wohnt. Und ich denke, dass du das auch weißt!«

Tenya glaubte, sich verhört zu haben. Was hatte es mit Picabo auf sich? Sie kannte ihn seit Jahren aus ihrem Dorf. Er war doch ein harmloser Jäger, oder nicht?

Unvermittelt öffnete sich hinter ihnen ein Durchgang in der Hecke. Das Gebüsch war also an dieser Stelle nicht miteinander verwachsen, sondern nur auf einem Holztor befestigt und ließ sich damit öffnen.

Vier Männer standen in dem nun entstandenen Tor. Darunter auch ein dunkelhaariger Mann, den Tenya sofort wiedererkannte. Ihr fuhr der Schreck in die Glieder, denn dieser Kerl war der Anführer der Räuber gewesen.

»Was wollt Ihr?«

»Wir müssen reden!«, sagte Rewida.

»Hast du sie hergebracht?«, wandte sich der Mann an Picabo.

»Natürlich nicht, was glaubst du denn? Aber ich konnte sie nicht aufhalten. Immerhin ist das eine Zauberin, was du sicherlich schon weißt.«

Tenya war wie vom Donner gerührt. Picabo kannte diesen Schurken! Wie in Trance folgte sie den Männern ins Innere des Schlosses.

»Die Aufpasserin bemüht sich höchstpersönlich her. Dann scheint es ja wirklich ernst zu sein«, sagte der Räuber.

»Die Leute brauchen deine Hilfe gegen diese Barbarei, die hier täglich stattfindet«, sagte Rewida.

»Wenn du mir mit dieser alten Leier kommst, kannst du gleich wieder verschwinden.«

»Unser Dorf wurde überfallen«, schaltete sich Tenya ein. Sie wusste zwar nicht, was sie hier sollten, aber sie würde jeden Strohhalm ergreifen, wenn auch nur die geringste Chance bestand, ihren Bruder zu retten.

»Ich kann nichts dagegen tun.«

»Doch, das kannst du!«, sagte Rewida energisch.

»Ihr habt die Karawane überfallen!« Tenya konnte ihre Empörung nicht länger zurückhalten.

»Hältst du es immer noch für angemessen, Überfälle zu verüben? Auch Unschuldige sind davon betroffen«, rief Rewida sichtlich erzürnt.

»Über Schuld lässt sich streiten.«

»Wie bitte?« Tenya hatte das Gefühl an ihrer Entrüstung zu ersticken. Was war das nur für ein elender Halunke! Was wollten sie überhaupt hier?

Rewida machte einen Schritt auf ihren Gastgeber zu. »Wenn du das weiterhin tust, sorge ich dafür, dass du zur Rechenschaft gezogen wirst.«

»Drohst du mir?« Der Falke verschränkte die Arme. »Und was genau willst du tun?«

»Ich sorge dafür, dass dir das Handwerk gelegt wird.«

»Glaubst du, dass du das kannst?« Der Räuber lächelte die Zauberin herablassend an.

»Ja, das kann ich. Sieh dich an. Du bist nichts als ein heruntergekommener Wegelagerer.«

»Vorsicht! Ich könnte meinen Grundsatz, keine Frauen anzugreifen, überdenken.«

»Ich habe keine Angst vor dir. Und das ist die eigentliche Schande! Aber anstatt dafür zu sorgen, dass du deine Kräfte wiederbekommst, lungerst du hier herum und bemitleidest dich.«

Die beiden starrten sich noch eine Weile an, dann machte der Falke kehrt und verschwand in den Tiefen des Schlosses.

Rewida atmetet entgeistert aus und fluchte in einer Weise, wie es Tenya niemals von ihr erwartet hätte.

»Würdet ihr mir jetzt endlich einmal sagen, was hier los ist? Dieser Mann ist ein Verbrecher! Wir müssen ihn an die Soldaten ausliefern!« Sie wandte sich an Picabo. »Und du! Was in aller Welt hast du mit ihm zu schaffen?«

»Als Schizals Schergen meine Familie getötet haben, hat der Falke mich gerettet. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass die Soldaten ihn in die Finger bekommen.«

»Aber wir müssen das tun, um meinen Bruder zu befreien!«

Rewida ließ sich schwerfällig in einen der Sessel fallen. »Schizal darf den Falken nicht erwischen. Er ist die einzige Hoffnung, die dieses Land hat.«

»Er ist ein Räuber!«

Rewida nickte. »Ja, das ist er. Aber er bestiehlt nur reiche Kaufleute, die mit Schizal Geschäfte machen und verwendet die Beute, um den Ärmsten zu helfen.«

»Und warum wissen wir im Dorf nichts von ihm? Ich habe noch nie etwas von einem Falken gehört.« Sie konnte nicht glauben, dass dieser Verbrecher von ihren Freunden verteidigt wurde.

Picabo schüttelte den Kopf. »Wir können nur den Ärmsten der Armen helfen. Dazu zählt das Dorf glücklicherweise nicht.«

»Du sprichst von ›wir‹. Du zählst dich zu diesen Räubern?«

Picabo seufzte. »Hätte mir der Falke damals nicht geholfen, wäre ich gestorben. Alles, was ich heute bin, verdanke ich ihm.«

»Aber wie soll uns ein Räuber gegen Schizal helfen?« Tenya war der Verzweiflung nah.

»Auch wenn es schwer zu glauben sein mag, aber der Falke, wie er sich jetzt nennt, war einstmals ein ebenso mächtiger Zauberer wie Schizal. Er verliebte sich in eine wunderschöne Fae. Und sie liebte ihn. Schizal tyrannisierte schon damals das Land. Der Falke war ein paarmal heftig mit ihm aneinandergeraten und Schizal nahm die Bedrohung seiner Macht durch ihn ernst. Außerdem wollte er ihm sein Glück mit der schönen Prinzessin nicht gönnen. Schizal war krank vor Eifersucht und verletztem Stolz. Und so schmiedete er den Plan, das Paar zu vernichten. An einem Sommerabend hier ganz in der Nähe schnappte die Falle zu: Das junge Paar muss völlig arglos gewesen sein, als der schreckliche Fluch sie traf. Der Falke war danach viele Jahre Schizals Gefangener, seine Geliebte aber verschwand und niemand hat sie je wiedergesehen.«

»Aber das ist ja beinahe unsere Geschichte vom Dornröschen. Und du willst mir erzählen, dass dieser Räuber hier tatsächlich einst der Zauberer aus dem Märchen war?«

»Es ist so, Tenya. Die Geschichte ist wirklich passiert.«

»Wir erzählen uns, dass die Prinzessin hier im Schloss schläft.« Tenya dachte wieder an das Schlafzimmer.

»Das stimmt leider nicht. Niemand weiß, was aus ihr geworden ist.«

»Aber du bist auch eine Zauberin, dann kannst du doch etwas gegen diesen Schizal unternehmen«, meinte Picabo.

Rewida schüttelte den Kopf. »Ich kann zwar etwas zaubern, aber gegen Schizals gewaltige Macht habe ich keine Chance. Für ihn bin ich nicht viel mehr als eine Ameise unter seinem Stiefel. Der Falke allerdings könnte ihn besiegen.«

»Und warum tut er es dann nicht?« Tenya konnte kaum stillsitzen. Sie wollte unbedingt endlich etwas unternehmen. Wer wusste schon, was ihr Bruder derzeit zu erdulden hatte?

Picabo schüttelte den Kopf. »Er kann nicht mehr zaubern.«

»Er hat durch den Fluch damals seine gesamte Zauberkraft verloren. Allerdings bin ich der Meinung, dass alles rückgängig gemacht werden könnte. Aber wir haben lange genug herumgesessen.« Rewida erhob sich.

Sie brauchten nicht lange zu suchen. Der Falke stand in einem der angrenzenden Zimmer und starrte aus dem Fenster.

Rewida hielt sich nicht mit Vorreden auf. »Gibt es denn nichts Wichtigeres für dich zu tun?«

»Ich helfe den Leuten unter Schizal zu überleben. Ich nehme den Reichen und geben den Armen.«

Rewida trat neben ihn. »Meinst du nicht, es reicht langsam? Meinst du nicht, du hast dich genug in Selbstmitleid gesuhlt?«

Der Falke fuhr herum und schleuderte den Becher, den er in der Hand gehalten hatte gegen die Wand. »Du kommst in mein Haus und sagst mir diese Dinge. Verschwinde gefälligst!«

»Es zerreißt mir das Herz, wie du hier herum vegetierst und Schizal einfach so gewähren lässt. Du hast etwas Besseres verdient als das.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«

»Du sollst etwas an diesen Zuständen ändern. Ich weiß, du hilfst armen Bauern, aber du könntest viel mehr tun. Vernichte Schizal, ziehe ihn gefälligst für seine Verbrechen zur Rechenschaft!«

»Meinst du nicht, dass ich mich bemüht habe?« Seine Fassade aus Arroganz fiel in sich zusammen. »Meinst du, ich hätte nicht wahrhaftig alles versucht, was möglich ist? Aber ich kann den Zauber nicht brechen. Kann mich von dem Fluch nicht befreien …« Er setzte sich auf eine der Bänke und ließ seinen Kopf in die Hände sinken.

»Wenn du hierbleibst, wird dich Schizal früher oder später finden. Er lässt in den Dörfern nach dir suchen. Die Schlinge zieht sich zu.«

Mit fahrigen Bewegungen sammelte der Falke die Scherben seines Bechers auf, den er an die Wand geworfen hatte. Endlich waren seine unliebsamen Besucher verschwunden. Er hätte sich nicht so provozieren lassen sollen. Wusste er doch, dass Rewida ihn aus der Reserve locken wollte. Und das war ihr auch gelungen, er hatte seine Beherrschung verloren, und zwar gründlich. Aber wie konnte sie sich erdreisten, ausgerechnet ihm vorzuwerfen, nicht genug gegen Schizal zu unternehmen? Wo er doch alles tat, was er konnte, um den Menschen hier zu helfen! Er riskierte täglich sein Leben, um den obdachlosen Bauern und den Geächteten ein Überleben zu sichern. Deswegen war er hiergeblieben auf Afrah, obwohl es nicht seine Heimat war. Auch wenn sein eigentlicher Grund ein ganz anderer war. Hier konnte er immer noch nach seiner Liebsten suchen. Vielleicht fand er ja doch irgendwann eine Spur von ihr.

Und dennoch wusste er, dass Rewida recht hatte.

Er zuckte zusammen, als Picabo polternd die Tür öffnete. »Tut mir leid, aber ich konnte nicht verhindern, dass sie hierherkam.«

Der Falke winkte ab. »Das weiß ich doch.«

»Aber wir sollten uns einen neuen Unterschlupf suchen. Irgendwann wird dich jemand verraten.« Picabo war ein richtig guter Freund.

Der Falke erhob sich und warf die Scherben in den Ascheeimer. »Ich habe es satt, ständig davonzulaufen!« Ihm war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Ganz abgesehen davon, dass er früher oder später gefasst werden würde. »Irgendwann wird jemand den Tyrannen bekämpfen müssen.« Daran führte kein Weg vorbei. Und ganz im Inneren wusste der Falke, dass dies sein Schicksal war.

»Was meinst du?« Picabo zog seine Augenbrauen zusammen.

»Tatsache ist, es wird nicht leicht, vielleicht ist es auch unmöglich. Schizal ist mächtiger als je zuvor und ohne meine Magie habe ich nicht die leiseste Chance. Aber auch dann werde ich Hilfe brauchen, denn Schizal hat inzwischen eine ganze Armee.«

»Du willst dich doch nicht diesem Teufel stellen?«

»Wer soll es denn sonst tun? Also werde ich nach Melinas reisen. Es gibt vielleicht einen Weg, den Fluch zu brechen.«

»Du willst das wirklich riskieren? Was für einen Weg?«

»Ich müsste mich mit Dämonen verbünden.«

Picabo stieß entsetzt den Atem aus. »Das klingt gefährlich. Das verstehe sogar ich.«

»Mmh, wahrscheinlich.«

»Das weißt du nicht? Aber dann wäre es doch Irrsinn, es einfach darauf ankommen zu lassen!«

Kapitel 2

- Damals -

Arnas nahm sich ein weiteres Glas. Er spielte mit dem Gedanken, sich hemmungslos zu betrinken, dann wäre die Farce einfacher zu ertragen.

»Reiß dich zusammen!« Sein Vater nahm ihm das Glas aus der Hand. »Man erwartet von dir ein würdevolles Auftreten. Unterhalte dich mit unseren Gästen.«

»Deinen Gästen! Ich habe diese eingebildeten Laffen nicht eingeladen.«

»Halt den Mund! Benimm dich gefälligst deinem Stand entsprechend.«

Arnas hatte es so satt. Er wollte gar nicht hier sein, in diesem riesigen Festsaal voller bornierter Langweiler, die sich sonst was auf ihren Stand und ihren Reichtum einbildeten. Viel lieber wollte er mit seinen Freunden in der Unterstadt feiern, die aber für seinen Vater nicht standesgemäß waren. Lange würde er jedenfalls nicht mehr bleiben. Er hörte ein Kichern von der Empore. Von oben winkten ihm ein paar Mädchen zu. Er lächelte. Das wäre immerhin eine Möglichkeit, den Abend erträglicher zu gestalten, also machte er sich auf den Weg zu ihnen. An der Treppe traf er mit dem Finanzminister zusammen, der offenbar erwartete, vorgelassen zu werden, um als erster die Stufen zu betreten. Arnas dachte jedoch gar nicht daran und drängelte sich an ihm vorbei. Er konnte den Kerl nicht ausstehen.

»Unerhörtes Benehmen! Dein Vater kann einem nur leidtun.«

Arnas schwenkte herum. »Wie bitte?«

»Von einem Sohn des Konsuls erwartet man ein anderes Verhalten. Aber du warst schon immer ein Taugenichts! Ein Jammer, dass dein Vater das nicht sieht.«

Arnas gab sich keine Mühe seine Abneigung zu verbergen. »Was Ihr nicht sagt? Und was ist mit Eurem schwangeren Dienstmädchen? Hat sie sich Euch freiwillig hingegeben oder musstet Ihr …«

Der Minister bekam eine bedenklich rote Gesichtsfarbe und unterbrach ihn. »Halt dein dreckiges Schandmaul, du elender Versager!«

Arnas griff ein Glas, das ein Diener soeben vorbeitrug, und schüttete seinem Widersacher den Inhalt ins Gesicht. Der Minister brüllte auf und packte Arnas am Kragen, wohl um ihn umzustoßen. Arnas griff auch zu und beide gingen zu Boden.

»Jetzt werde ich dir mal Manieren beibringen!«, ächzte der Minister. Er war ein bulliger Mann, aber Arnas war ebenfalls groß und hielt dagegen. Sie wälzten sich über den Boden. Arnas hörte die Schreie der Umstehenden. Als der Minister oben auf war, holte er aus und schlug Arnas die Faust ins Gesicht. Aber Arnas bog den Kopf zur Seite, sodass er nur seinen Hinterkopf traf. Dadurch geriet der Würdenträger aus dem Gleichgewicht und Arnas war selbst wieder oben auf. Hände umfassten seine Schultern und wollten ihn wegziehen. Er spürte, dass der Minister einen gefährlichen Fluch vorbereitete, und ließ sich hochzerren. Einem solchen Fluch sollte man nicht zu nahekommen.

»Ich bin noch lange nicht fertig mit dir, du ungehobeltes Großmaul!« Der Minister rappelte sich auf die Füße, er war vor Anstrengung ganz rot im Gesicht.

Als Arnas sah, dass der Mann nicht von seinem Fluch ablassen wollte, schüttelte er die Hände ab, die ihn festhielten. Als der Fluch ihn traf, wirkte er einen Verteidigungszauber und sorgte dafür, dass der Fluch zurück auf den Minister raste. Der Würdenträger wurde zurückgeschleudert und krachte gegen eines der großen Fenster. Das Glas splitterte und der Mann stürzte auf die Terrasse. Mit einem Aufschrei eilten die Gäste, um ihm zu helfen. Aber er war unverletzt geblieben, da sie sich im Erdgeschoss befanden.

Arnas wurde herumgerissen und stand seinem Vater gegenüber. »Bist du noch ganz bei Trost? Wie kannst du es wagen, dich auf solch schändliche Weise zu benehmen?« Wütend starrte ihn sein Vater an.

»Wieso ich? Dieser Kerl hat angefangen.« Er wollte am liebsten verschwinden, aber sein Vater hielt ihn fest.

»Das ist der Herr Minister und du behandelst ihn gefälligst mit Respekt! Geh sofort zu ihm und entschuldige dich in aller Form!«

»Ich denke nicht daran!« Das wäre das Letzte, was Arnas tun würde.

»Wenn du nicht lernst, dich zu benehmen, hast du hier keine Zukunft!«, presste sein Vater wütend hervor.

Heiße Wut durchflutete Arnas. »Es ist mein Leben, und ich mache damit, was ich will!«

*****

Am nächsten Morgen betrat Arnas die Wohnung seines Freundes Widuran.

»He, wie hast du meine Tür aufbekommen? Ich hatte sie extra magisch gesichert!«, rief Widuran vorwurfsvoll.

»Du bist eben ein erbärmlicher Zauberer.« Arnas winkte ab. »Ich habe es alles so satt! Soeben wurde ich von einem sogenannten Ordnungshüter angehalten. Ich würde die anderen Zauberer mit meinem Flugstil gefährden! Pah! Wer nicht richtig fliegen kann, der soll eben zu Fuß gehen! Diese lächerlichen Regeln, Verordnungen und Gesetze sind doch nur gemacht für die Dummen und die Schwachen.« Arnas ließ sich in einen Sessel fallen und schloss stöhnend die Augen.

Widuran grinste. »Es ist eben nicht jeder so schnell mit dem Flugbrett wie du. Jedenfalls bist du das Stadtgespräch.« Arnas brummte, ohne die Augen zu öffnen.

»Warst du schon wieder zu Hause?«

Arnas stieß verächtlich Luft aus. »Das fehlte noch! Ich habe keinen Bedarf an weiteren Predigten, dass ich etwas aus meinem Leben machen solle – dass ich mein Talent für meine Familie und mein Land einsetzen müsse. Ich kann es nicht mehr hören!« Er sprang auf. »Ich habe keine Lust, mein ganzes Leben in irgendwelchen dunklen, muffigen Amtsstuben zu verbringen, von bornierten Langweilern umgeben, immer darauf bedacht, dass auch ja alle Regeln eingehalten werden.«

Widuran lachte. »Die Amtsstube deines Vaters ist ein Palast.«

»Und wenn schon. Es muss doch noch mehr geben als dieses Leben in einem Käfig.«

»... einem goldenen Käfig.« Widuran grinste.

Arnas ignorierte den Einwurf. »Ich habe große Lust, alles hinzuschmeißen und abzuhauen!«

Fassungslos ließ Prinzessin Assimoé den Blick über das verbrannte Tal schweifen. Von den meisten Häusern waren nur verkohlte Trümmer übrig. Eine ganze Siedlung war ausradiert worden.

Sie hatte seit drei Tagen kaum geschlafen, denn genau vor drei Tagen war eine Katastrophe über das Reich der Fae hereingebrochen. Drei Tage kämpften sie gegen das Feuer. Dennoch hatten die Flammen einen ganzen Landstrich verwüstet. Wo einst märchenhafte Wälder gestanden hatten, sah man nur noch kahlgebrannte Hügel. Die vorherrschende Farbe war das Grau der Asche, hin und wieder unterbrochen von verkohlten Baumstämmen, die sich wie mahnende Finger in den Himmel reckten.

Wie durch ein Wunder hatte es keine Todesopfer gegeben, da sich die Betroffenen durch die Luft in Sicherheit gebracht hatten. Fae vermögen jederzeit Flügel aus ihrem innersten Wesen hervorzubringen und wieder verschwinden zu lassen. Aber einige Personen mussten mit hässlichen Brandwunden zu den Heilern gebracht werden. Die Fae erwarteten von ihrem Herrscher, dass er etwas unternahm. Denn man munkelte, dass dieses Feuer keine unvermeidbare Naturkatastrophe gewesen sei, sondern verursacht worden war durch einen Zauberer, der an der Grenze zum Faereich sein Unwesen trieb.

Am Tag darauf unterstützte Assimoé ihren Vater, den König, bei der Bewältigung der Katastrophe. Es galt vorübergehende Unterkünfte für die nun obdachlosen Untertanen zu finden. Sie saßen in einem der kleineren Räume des Palastes, als es klopfte und der Minister einen Gesandten meldete.

Ein würdevoller, alter Mann in einem langen blauen Samtmantel kam herein und verbeugte sich vor dem König.

»Hochverehrte Majestät, ich komme als Gesandter des Zaubererreichs von Melinas zu Euch. In dieser schweren Stunde versichere ich Euch des tiefempfundenen Mitgefühls meiner Regierung. Ich bin befugt, Euch jede nur erdenkliche Unterstützung zuzusagen.«

Der König blickte ihn finster an. »Ich bin gerade nicht besonders gut auf Zauberer zu sprechen.«

»Das bringt mich zu einem weiteren Grund meines Besuches.« Der Gesandte deutete eine Verbeugung an. »Die Regierung von Melinas ist in tiefer Sorge über den Verbleib eines ihrer Untertanen. Wir wissen, dass er sich hier auf Afrah aufgehielt. Und es gibt alarmierende Hinweise, dass er für das Feuer verantwortlich ist, welches in Eurem Reich so verheerend gewütet hat. Aber auch für andere Missetaten.«

Der König fuhr auf. »Ihr wisst, wer diese Katastrophe verschuldet hat? Dann sagt schon, wer ist es? Wir werden ihn zur Verantwortung ziehen!«

»Majestät, Eure Reaktion ist verständlich, aber in diesem Fall ersucht die Regierung von Melinas dringend um ein etwas diskreteres Vorgehen. Der Täter stammt aus einer der angesehensten Familien des Landes. Sein Vater ist eine sehr einflussreiche Persönlichkeit …«

»Wenn Ihr glaubt, wir würden ihn ungestraft davonkommen lassen, habt Ihr Euch getäuscht!«, rief Assimoé.

»Ihr könnt Euch darauf verlassen, dass der Täter seine Strafe bekommen wird. Das ist selbstverständlich auch im Interesse meiner Regierung. Aber einen öffentlichen Skandal gilt es, um jeden Preis zu verhindern. Der Täter würde in ein Umerziehungslager gebracht werden.« Der Alte verbeugte sich wieder. »Eure Majestäten, die Regierung von Melinas möchte Euch somit im Hinblick auf das Verhältnis beider Länder dringend ersuchen, den Täter auszuliefern.«

Assimoé verständige sich schweigend mit ihrem Vater. Einerseits wollten sie unbedingt den Täter in die Finger bekommen und bestrafen, andererseits musste ein Konflikt mit Melinas verhindert werden. Der König erhob sich. »Einverstanden. Der Täter wird an Melinas ausgeliefert werden, wenn wir seiner habhaft werden.«

Assimoé brannte noch eine Frage auf der Seele. »Aber wer ist denn nun verantwortlich für diese Katastrophe, die unser Reich getroffen hat?«

»Sein Name ist Arnas.«

Assimoé wusste, dass ihr Vater überall im Faereich nach dem Verbrecher suchen ließ, man fand jedoch keine Spur von ihm. Die Dringlichkeit seiner Ergreifung wurde noch gesteigert, da plötzlich Gerüchte laut wurden, er sei auch für andere Verbrechen verantwortlich. Kundschafter berichteten von ermordeten Nixen mit scheußlichen Verstümmlungen.

Der König setzte eine hohe Belohnung für jeden Hinweis auf den Aufenthaltsort des Verbrechers aus. Aber die Wochen vergingen. Niemand hatte diesen Arnas gesehen. Schließlich kam ein Gewürzhändler mit der langersehnten Nachricht. Arnas war auf Ikallar gesehen worden, einer Insel einige Tagesreisen entfernt.

Sofort rief der König seine Berater, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Auch Assimoé war anwesend, denn die Ergreifung des Verbrechers war ihr ein besonderes Anliegen.

»Ikallar ist zwar ein kleines, aber sehr wohlhabendes Reich«, sagte ein hagerer Mann mit gewichtiger Miene. »Von Ikallars Herrscher ist bekannt, dass er ein sehr eigensinniger Mann ist, der sich sehr schnell in seiner Ehre verletzt fühlt.«

»Es ist somit undenkbar, einfach Soldaten vorbeizuschicken und diesen Arnas festzunehmen«, meinte ein alter Mann mit weißen Haaren.

»Ganz abgesehen davon, dass wir es hier mit einem Zauberer zu tun haben, der sich seiner Gefangennahme entziehen könnte«, gab ein Weiterer zu bedenken.

Assimoé seufzte im Stillen. Der Kronrat bestand aus einem Dutzend Würdenträgern, deren Aufgabe es war, den König zu beraten.

»Was denkst du?«, wandte sich Assimoé an ihre Tante Kasana, die auch dem Rat angehörte. Assimoé schätzte sie als besonders scharfsinnig.

Kasana lächelte. »Wir haben es doch hier mit einem Zauberer zu tun. Wie schon zutreffend festgestellt, wird er fliehen, sobald er sich bedroht fühlt. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass er beschließt, sich zu verteidigen, und wir haben gesehen, wozu er fähig ist.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Wir müssen also mit einer List vorgehen!«

Der König beugte sich nach vorn. »Fahr fort!«

»Arnas ist trotz allem auch nur ein Mann. Die meisten Männer haben nichts dagegen, wenn sich ihnen eine schöne Frau nähert. Es ist für sie wie ein natürliches Privileg.« Kasana blickte spöttisch in die pikierten Gesichter der sie umgebenden Männer, ohne sich stören zu lassen. »Einen anderen Mann würden sie niemals so nah an sich heranlassen. Aber Frauen sind nach der Ansicht vieler Männer ungefährlich, ja harmlos. Eine Frau wäre in der Lage, ihm unbemerkt wer weiß was ins Getränk zu schütten.«

Assimoé unterdrückte ein Grinsen, denn die Reaktion der anderen Berater kam zögerlich. Offensichtlich mussten sie sich zunächst darüber klar werden, ob womöglich zwischen den Worten eine Beleidigung versteckt war. Schließlich griffen sie den Vorschlag aber dankbar auf.

»Eine hervorragende Idee Eurer klugen Schwester, Majestät. Sie stellt wahrhaftig eine Bereicherung unserer ehrwürdigen Runde dar.« Ein alter Mann mit großen Ohren neigte den Kopf vor dem König und lächelte Kasana gönnerhaft an. »Ich plädiere für einen Schlaftrunk!«

Aber Kasana ging nicht auf die Schmeicheleien des Alten ein und schüttelte den Kopf. »Ein Schlaftrunk ist zu unsicher. Der Trank müsste ihm wahrscheinlich an einem öffentlichen Ort verabreicht werden. Wenn er an einem solchen Ort einschläft, wie sollen wir seiner dann habhaft werden? Das würde viel zu viel Aufmerksamkeit erregen.«

Sie lächelte kalt. »Wir nehmen einen Liebestrank!«

Prinzessin Assimoé flanierte mit kleinem Gefolge die Hafenpromenade von Ikallar entlang. Sie war seit Tagen zu Besuch bei einer Cousine. Aber eigentlich war sie hier, um Ily zu unterstützen. Die großgewachsene Fae war für den Geheimdienst des Faereiches tätig und hatte den Auftrag, den Verbrecher zu fangen, der für das große Feuer verantwortlich war.

Sie betrat das gemütliche Gasthaus, wo sie sich mit Ily verabredet hatte.

»Also? War dein Informant erfolgreich?« Der Mann wurde gebraucht, um den Verbrecher zu identifizieren, denn sie wussten ja nicht, wie dieser aussah.

Ily stützte niedergeschlagen ihren Kopf auf die Hand. »Noch immer keine Spur von ihm.«

»Aber den Zaubertrank hast du?«

Ily lächelte bedeutungsvoll und griff in ihre Tasche. Heraus beförderte sie eine braune Phiole, die so klein war, dass sie sich in der Hand verbergen ließ.

Der Plan sah vor, dass sie dem Täter ein paar Tropfen davon ins Getränk schütteten. Danach würde er unweigerlich alles tun, was sie von ihm verlangten. Außerdem wurden sie von Soldaten begleitet, die den Verbrecher festnehmen würden.

»Und die Fesseln hast du auch?«

Ily nickte und berührte ihre Tasche. Karminfesseln nahmen jedem noch so starken Zauberer seine Zauberkraft. Er hätte sofort keine Magie mehr.

Während sie sich unterhielten, bemerkte Assimoé ihren Informanten, der zielstrebig an ihren Tisch kam. Ungefragt setzte er sich zu ihnen. »Wir haben ihn!«, raunte er.

Assimoé fuhr auf. »Den Verbrecher?«

Der Mann nickte und grinste stolz. »In zwei Tagen finden hier einige Wettkämpfe statt. Eine der Hauptattraktionen ist ein Rennen mit Flugbrettern – Arnas steht auf der Starterliste.« Aufgeregt knetete er seine Hände.

»Jetzt haben wir ihn!« Assimoé lächelte rachsüchtig. »Entweder wir stoßen mit ihm auf den Sieg an oder wir spenden ihm Trost, wenn er verliert.« Der Kerl hatte keine Chance.

Anlässlich des Thronjubiläums veranstaltete die Herrscherfamilie ein großes Volksfest, das mehrere Tage andauerte. Im Laufe dessen wurden auch die verschiedensten Wettkämpfe ausgetragen. So zeigten Fae ihre Flugkünste und Zauberer maßen ihre Kräfte, indem fantastische Skulpturen gezaubert wurden. Es wurde das köstlichste Eis und das leckerste Brot gewählt. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich allerdings die Wettkämpfe der Spirituosenhersteller und Brauer, die um den Titel des besten Bieres, Liköres oder Obstbrandes wetteiferten.

Den Höhepunkt jenes Tages würde jedoch der Wettkampf der Zauberer mit den Flugbrettern bilden, an dem sogar der Prinz teilnahm. Er sollte ein echter Könner mit dem Flugbrett sein und hatte in den letzten Jahren den Wettbewerb stets gewonnen.

Assimoé hatte alles geplant. Von ihrem erhöhten Platz auf der Tribüne aus konnte sie das Geschehen gut überblicken. Rings um den Platz am Ufer, der als Start und Ziel dienen würde, hatte sie ihre Wachen postiert. Das Problem könnten die vielen Zuschauer darstellen, die sich nicht nur auf den Tribünen, sondern auch am Ufer drängten.

Der Prinz und die anderen Zauberer wurden vom Volk mit großem Beifall begrüßt. Für das Rennen waren insgesamt zwanzig Starter zugelassen. Jeder trug ein etwas über zwei Meter langes windschnittiges Brett bei sich, das die Teilnehmer mit farbenprächtigen Verzierungen versehen hatten. Das Interesse an diesem Wettkampf war enorm, die Gäste standen dicht gedrängt und umringten die Starter. Es waren sogar Ordner nötig, die die Zuschauer zurückriefen und den Startplatz räumten.

Als die Teilnehmer an den Start kamen, konnte Assimoé die Männer erstmalig sehen, da sie vor ihrer Tribüne vorbeikamen. Die fünf Frauen konnte sie ignorieren.

»Das neben dem Prinzen ist er.« Der Informant neben ihr deutete unauffällig auf einen großen Mann mit dunklem Haar. Der Mann, der sich mit dem breitschultrigen Königssohn unterhielt, war für Assimoé bisher nur von hinten sichtbar. Er war schlanker als der Prinz, aber etwas größer. Die dunklen Haare hatte er sich im Nacken zusammengebunden. Sie kontrollierte die Position ihrer Wachen. Sie standen trotz der Zuschauermassen auf ihren zugewiesenen Posten und überblickten sämtliche Zugänge. Hier würde er ihnen nicht entgehen können.

Als sich der Mann zu ihnen umwandte, stockte ihr der Atem. Sie starrte auf seine schwarzen Augenbrauen, seine gerade Nase und sein perfekt geformtes Kinn. Mit einer geschmeidigen Bewegung wechselte er sein Brett in die andere Hand, seine dunklen Augen schweiften über die jubelnden Massen auf der Tribüne und auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, das endgültig ihr Herz stolpern ließ. Er war einer der schönsten Männer, den sie je gesehen hatte.

Die Teilnehmer wandten sich zum Start und Assimoé rief sich zur Ordnung. Was waren das nur für unsinnige Gedanken? Dieser Mann war ein skrupelloser Verbrecher und sie würden ihn gefangen nehmen.

Als das Startsignal ertönte, ließen die Teilnehmer die Bretter schweben, sprangen darauf und flogen, so schnell sie konnten, dem Ziel entgegen. Die meisten der Zauberer standen auf ihrem Brett. Einige knieten jedoch auch und einzelne lagen sogar auf dem Bauch. Wer zu hoch flog, verlor wertvolle Zeit und würde nur hintere Plätze belegen können. Die besten Teilnehmer flogen wie Arnas im Stehen und bretterten so nah über die Wasseroberfläche, dass es stiebte.

Vom Start weg, der am Strand lag, rasten die Teilnehmer hinaus aufs Meer. Eine magische Flammenspur zeigte den Zauberern den Weg. In der Bucht schauten viele Felsen aus dem Wasser, die es auf einer vorgeschriebenen Route zu umrunden galt. Schließlich mussten alle Teilnehmer durch ein schmales Felsentor, was sich ebenfalls über dem Wasser erhob. Man durfte nicht zu hoch und nicht zu tief über die Meeresoberfläche fliegen. Wer zu niedrig flog, lief Gefahr von einer der Wellen erfasst zu werden, was auch vier Startern im Laufe des Rennens passierte.

Assimoé erkannte, dass Arnas ein exzellenter Flieger war. Er steuerte sein Brett elegant im Stehen. Mit einer fließenden Bewegung wich er einem Zauberer aus, der mit einer großen Fontaine ins Wasser stürzte.

Der Prinz kam als Erster durch das Felsentor. Aber Arnas war nicht weit dahinter. Nur noch ein Teilnehmer trennte ihn von der Spitze. Das Rennen näherte sich inzwischen dem Ziel, was die Geräuschkulisse gewaltig anschwellen ließ. Sieger war, wer als Erster wieder den Strand erreichen würde.

Der Prinz lag die ganze Zeit über an der Spitze. Aber Arnas, als Dritter, holte auf. Er schob sich an die zweite Position und schloss langsam zum Prinzen auf. Dieser versuchte zwar, dagegen zu halten. Dennoch wurde der Abstand zwischen beiden unaufhaltsam kleiner. Schließlich rasten sie zusammen im selben Moment über die Ziellinie.

Die Menge tobte. Die Zuschauer schrien aus voller Kehle ihre Bewunderung heraus und sofort wurden die beiden Sieger von ihren Anhängern umringt. Aber Assimoé und Ily hatten alles vorbereitet. Assimoé beobachtete von ihrem erhöhten Platz auf der Tribüne, wie sich Ily, einen prunkvollen Pokal vor sich hertragend, durch die Menge wand. Die Leute machten ihr bereitwillig Platz, da sie offenbar annahmen, ihr Auftritt wäre Teil der Siegerehrung.

Sie hatten den Pokal sorgfältig mit dem Liebestrank präpariert. Einzig die Tatsache, dass es nun zwei Sieger gab, hatte sie verunsichert. Aber nur kurz. Sollte doch der Prinz auch davon trinken, Hauptsache der Verbrecher würde einen Schluck zu sich nehmen. Dann wäre er Ily unweigerlich ausgeliefert und müsste ihr folgen. Den Prinzen würde sie schon irgendwie loswerden.

Nur noch wenige Leute trennten Ily von ihrem Ziel. Sie musste unbedingt Erfolg haben! Assimoés Anspannung stieg. Sie verständigte sich mit ihren Wachen, die den Mann im geeigneten Moment in Gewahrsam nehmen würden.

Der vor Ily stehende Gratulant trat zur Seite und nun war sie an der Reihe. Sie setzte ein betörendes Lächeln auf. Aber in diesem Augenblick drängte sich plötzlich ein dicker Zauberer an Ily vorbei und fiel dem Prinzen ohne Umschweife um den Hals. Allerdings hatte er Ily vorher einen gehörigen Stoß versetzt, sie stolperte beiseite.

*****

Assimoé trat zu Ily, die deprimiert im Sand saß und auf das Wasser starrte. Der Zaubertrank hatte einen großen Fleck auf dem prächtigen Rock hinterlassen.

»Es war nicht deine Schuld. Alles hätte wunderbar funktioniert, wenn nicht dieser flegelhafte Mann gewesen wäre. Ein unmögliches Benehmen!«, schimpfte Assimoé.

Ily stützte niedergeschlagen den Kopf in ihre Hände. »Ich habe versagt. Der Verbrecher wurde nicht gefangen genommen.«

»Ach, wir versuchen es auf der Siegesfeier einfach noch mal.« Die Prinzessin schmiedete sofort einen neuen Plan.

»Wir haben nur noch eine Dosis.«

»Ja, diesmal muss es klappen, denn ich weiß beim besten Willen nicht, wie wir den Verbrecher dazu bringen sollen, den Zaubertrank aus deinem Rock zu saugen.«

Ily ließ sich stöhnend nach hinten in den Sand fallen. »Wer konnte auch ahnen, dass der Kerl das Rennen gleich gewinnen würde. An einen traurigen Verlierer ist viel einfacher heranzukommen.«

Ily trug zur abendlichen Siegesfeier des Prinzen ein sehr aufreizendes Kleid. Dies war ihre letzte Chance. Assimoé bemerkte voller Genugtuung, dass Ily die Aufmerksamkeit etlicher männlicher Gäste auf sich zog. Der Verbrecher würde ihr nicht widerstehen können.