The Fourth Monkey - Das Haus der bösen Kinder - J.D. Barker - E-Book

The Fourth Monkey - Das Haus der bösen Kinder E-Book

J.D. Barker

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Beschreibung

Das große Blockbuster-Finale der Reihe um den Four Monkey Killer!

Eine Obdachlose findet auf dem Friedhof von Chicago die Leiche einer Frau, deren Augen, Zunge und Ohren entfernt und in kleine weiße Schachteln verpackt wurden. Neben der Toten liegt ein Schild mit der Aufschrift »Vater, vergib mir«. Kurz darauf tauchen weitere, ähnlich zugerichtete Opfer auf. Für die Polizei von Chicago und das FBI ist klar, dass die Morde die Handschrift des immer noch flüchtigen Four Monkey Killers Anson Bishop tragen. Doch Detective Sam Porter glaubt nicht daran – die Tatorte liegen zu weit entfernt voneinander, als dass nur ein Täter infrage kommen könnte. Zudem stimmt auch etwas mit der Haut der Leichen nicht. Als sich Bishop aus heiterem Himmel stellt und beteuert, keines der Verbrechen begangen zu haben, die ihm zur Last gelegt werden, fällt der Verdacht auf Sam Porter selbst – denn er hat kein Alibi, dafür aber ein verheerendes Geheimnis …

Die spannende Thriller-Reihe um den Four Monkey Killer bei Blanvalet:
Band 1: Geboren, um zu töten
Band 2: Das Mädchen im Eis
Band 3: Das Haus der bösen Kinder

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Seitenzahl: 743

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Buch

Eine Obdachlose findet auf dem Friedhof von Chicago die Leiche einer Frau, deren Augen, Zunge und Ohren entfernt und in kleine weiße Schachteln verpackt wurden. Neben der Toten liegt ein Schild mit der Aufschrift »Vater, vergib mir«. Kurz darauf tauchen weitere, ähnlich zugerichtete Opfer auf. Für die Polizei von Chicago und das FBI ist klar, dass die Morde die Handschrift des immer noch flüchtigen Four Monkey Killers Anson Bishop tragen. Doch Detective Sam Porter glaubt nicht daran – die Tatorte liegen zu weit entfernt voneinander, als dass nur ein Täter infrage kommen könnte. Zudem stimmt auch etwas mit der Haut der Leichen nicht. Als sich Bishop aus heiterem Himmel stellt und beteuert, keines der Verbrechen begangen zu haben, die ihm zur Last gelegt werden, fällt der Verdacht auf Sam Porter selbst – denn er hat kein Alibi, dafür aber ein verheerendes Geheimnis …

Autor

J. D. Barker hat bereits einen preisgekrönten Horrorroman veröffentlicht, für den er hochgelobt wurde. Mit »The Fourth Monkey: Geboren, um zu töten« hat er den fulminanten Auftakt der Thriller-Reihe um Detective Sam Porter und den perfiden Four Monkey Killer nachgelegt, auf den noch zwei weitere Bände – »Das Mädchen im Eis« und »Das Haus der bösen Kinder« – folgen. Barker lebt in Englewood, Florida, und in Pittsburgh, Pennsylvania.

Von J. D. Barker bereits erschienen

The Fourth Monkey: Geboren, um zu töten

The Fourth Monkey: Das Mädchen im Eis

The Fourth Monkey: Das Haus der bösen Kinder

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J.D. BARKER

DAS HAUS DER

BÖSEN KINDER

THE FOURTH MONKEY

THRILLER

Deutsch von Leena Flegler

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Sixth Wicked Child« bei Hampton Creek Press.

Das Zitat aus dem Gedicht »Der Tod« von Emily Dickinson auf S. 334 und 421 stammt aus »Gesammelte Werke in fünf Bänden. Band 5: Übertragungen«, übersetzt von Paul Celan, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1983.

Das Zitat aus dem Gedicht »Willst du ein Sinnbild wissen« von Han Shan auf stammt aus »Gedichte vom Kalten Berg. Das Lob des Lebens im Geist des Zen«, übersetzt von Stephan Schuhmacher, Arbor Verlag, Freiburg im Breisgau, 2005.

Das Zitat von Sri Chinmoy wurde übersetzt von Leena Flegler.

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Copyright der Originalausgabe © 2019 by J. D. Barker

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe

© 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

DN · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-26081-1V002

www.blanvalet.de

Für Truth

1

Tray

Tag 5, 5.19 Uhr

»Hey, du Penner, sieht das hier aus wie eine verdammte Frühstückspension?«

Die Stimme klang ruppig und rau. Um diese Uhrzeit musste es sich um einen Cop handeln, um einen Security-Mann oder vielleicht auch nur um den wütenden Hauseigentümer. Aber wer immer es war – Tray Stouffer machte keine Anstalten, sich unter der muffigen Decke zu regen. Wenn man nur still genug dalag, machten sie sich manchmal wieder vom Acker. Manchmal aber auch nicht.

Der Stiefel näherte sich erneut – schnell diesmal. Hart. Voll in den Bauch.

Tray hätte am liebsten gebrüllt, sich das Bein gekrallt, zurückgeschlagen. Aber Tray blieb einfach still liegen.

»Verdammte Scheiße, ich rede mit dir!«

Noch ein Tritt, härter als die vorigen, in die Rippen.

Tray ächzte, konnte es nicht länger unterdrücken. Zog sich die Decke enger um den Leib.

»Hast du auch nur eine Ahnung, was du und deine Kumpels hier anrichtet? Dass die Preise in den Keller gehen, wenn ihr hier campiert? Ihr erschreckt die Kinder doch halb zu Tode – und die Älteren trauen sich nicht mehr vor die Tür! Eine Schande, dass sie über euch drüberklettern müssen, wenn sie nur einkaufen gehen wollen.«

Dann war es also der Hausbesitzer.

Tray hatte all das schon tausendmal gehört.

»Hast du eine Ahnung, was ich hier draußen mache – um fünf Uhr in der Früh? Während du dein Nickerchen machst? Während du hier draußen schön gemütlich unsere Haustür blockierst? Ich komme gerade von einer Zehn-Stunden-Schicht bei Delphine’s Bakery. Letzte Nacht zwölf Stunden – in dieser gottverdammten Hölle von einer Backstube! Noch mal zehn Stunden, und ich muss wieder dorthin, und das nur, um für dieses Haus hier zu zahlen. Aber das ist nun mal meine verdammte Bürgerpflicht! Mich würdet ihr nicht in einem Hauseingang herumlungern sehen, ihr faulen Säcke! Sucht euch einen Job! Macht etwas aus eurem Leben!«

Mit vierzehn fand man keinen Job. Zumindest keinen legalen. Und nicht ohne Einverständniserklärung der Eltern – und das würde niemals passieren.

Tray wappnete sich gegen den nächsten Tritt.

Stattdessen riss der Mann an der Decke, zog sie weg, warf sie beiseite. Die Decke landete in einer Schneematschpfütze am Fuß der Eingangstreppe.

Tray zitterte, rappelte sich hoch, rechnete mit einem weiteren Tritt.

»Himmel, du bist ja ein Mädchen – und noch ein halbes Kind!«, stellte der Mann fest, und mit einem Mal war die Wut in seiner Stimme verflogen. »Tut mir wirklich leid. Wie heißt du?«

»Tracy«, antwortete sie. »Die meisten nennen mich Tray.« Sie bereute ihre Antwort, sowie sie ihr über die Lippen gekommen war. Sie wusste genau, was passierte, wenn man mit einem von ihnen ins Gespräch kam. Am besten hielt man den Mund und machte sich unsichtbar.

Der Mann ging in die Hocke. In der linken Hand hielt er eine Papiertüte. So alt war er gar nicht, vielleicht Mitte zwanzig. Schwerer Mantel. Braunes Haar unter einer dunkelblauen Strickmütze. Braune Augen. Was immer in der Papiertüte steckte, duftete zum Niederknien.

Er ertappte sie dabei, wie sie die Tüte anstarrte. »Tray, ich bin Emmitt. Du hast wahrscheinlich Hunger?«

Sie nickte. Wusste genau, dass auch das ein Fehler war. Aber sie hatte Hunger. Riesenhunger.

Er griff in die Papiertüte und angelte einen kleinen Brotlaib heraus. Von der Kruste stieg Dampf in die eisige Chicagoer Luft, und für einen kurzen Augenblick vergaß Tray den schneidenden Wind, der vom See herauffegte und in den Straßen aufheulte, wann immer er von Neuem auffrischte.

Ihr knurrte der Magen, und zwar so laut, dass sie es beide hören konnten.

Emmitt brach ein Stück von dem Brotlaib ab und drückte es ihr in die Hand. Ohne groß zu kauen, hatte sie es mit zwei Bissen hinuntergeschlungen. Womöglich das beste Brot, das sie je gegessen hatte.

»Willst du mehr?«

Tray nickte, auch wenn sie nur zu gut wusste, dass sie das besser bleiben lassen sollte.

Emmitt atmete tief durch. Dann streckte er die Hand aus und strich ihr mit der Seite des Zeigefingers leicht über die Wange, hinab bis zum Hals und unter den Saum ihres Pullis.

»Warum kommst du nicht einfach mit rein? Du kannst so viel Brot haben, wie du willst. Ich hab auch noch andere Sachen da – und eine warme Dusche. Ein Bett. Ich …«

Beidhändig stieß sie den Mann an den Schultern von sich weg. Er hatte nicht sonderlich stabil dagehockt, sich bloß auf ein Knie gestützt und war auf den Stoß nicht vorbereitet gewesen. Er kippte nach hinten, die Tüte glitt ihm aus der Hand, und dann krachte er mit dem Kopf gegen das Eisengeländer der Vordertreppe.

»Blöde Schlampe!«

Noch ehe er sich wieder hochstemmen konnte, war Tray auf den Beinen. Sie schnappte sich die Papiertüte und ihren Rucksack und sprang die fünf Stufen hinunter, riss ihre Decke an sich und sprintete die Mercer entlang. Er würde ihr nicht hinterherlaufen, das taten sie so gut wie nie, nur manchmal …

»Lass dich hier nie wieder blicken! Wenn ich dich noch mal hier erwische, dann ruf ich die Cops!«

Tray riskierte einen Blick über die Schulter. Emmitt war aufgestanden, hatte seine Siebensachen aufgeklaubt und drückte gerade die Eingangstür auf. Selbst aus der Ferne meinte sie, die Wärme aus dem Treppenhaus spüren zu können.

Sie sprintete weiter, bis sie das Tor zum Friedhof Rose Hill erreichte. Um diese Uhrzeit war es verschlossen, aber so dünn, wie sie war, hatte sie sich schon einen Augenblick später zwischen den schmiedeeisernen Streben hindurchgequetscht und zog Rucksack und Decke nach.

Es gab natürlich Unterkünfte in Chicago, aber die kannte sie schon. Die waren nachts verriegelt und verrammelt. Und selbst wenn man Tray reinließe – da wäre alles voll besetzt. Mitunter standen die Leute schon mittags dort Schlange, nie gab es genügend Schlafplätze für alle. Außerdem fühlte sich Tray auf der Straße ohnehin sicherer; Emmitts gab es überall, vor allem in den Unterkünften, und das Einzige, was noch schlimmer war, als in einem Hauseingang oder in einer windgeschützten Gasse an einen Emmitt zu geraten, war: in einer Unterkunft über Nacht mit einem eingesperrt zu sein. Manchmal sogar mit mehreren. Emmitts neigten dazu, sich zusammenzurotten und im Rudel zu jagen.

Der Friedhof machte Tray keine Angst. Nach zwei Jahren auf der Straße hatte sie auf jedem Friedhof der Stadt mindestens ein Mal gepennt. Wegen der Mausoleen mochte sie Rose Hill besonders gern. Anders als auf dem Oakwood oder Graceland schlossen sie hier nachts nicht sämtliche Grabhäuser ab. Und auch wenn es hier diverse Sicherheitsleute gab, säßen die in einer kalten Nacht wie dieser in ihrem Aufenthaltsraum und spielten Karten oder sähen fern oder hätten sich sogar aufs Ohr gelegt. Tray hatte sie oft genug durchs Fenster gesehen.

Durch den frisch gefallenen Schnee marschierte sie die Tranquility Lane hinauf. Wegen der Fußstapfen machte sie sich keine Sorgen; darum würde der Wind sich schon kümmern. Trotzdem sollte sie besser kein Risiko eingehen. Deshalb verschwand sie, sobald sie die Hügelkuppe erreichte, in das kleine Wäldchen.

Hier standen nirgends Laternen, allerdings wäre bald Vollmond, und als sie endlich den Teich vor sich sah, blieb sie stehen. Unter der dünnen Schneeschicht glitzerte das Eis; Marmorstatuen standen stumm am Ufer, dazwischen steinerne Parkbänke. Das hier war ein so friedvoller Ort, so still …

Für einen Moment hatte Tray sie glatt übersehen – das Mädchen, das mit dem Rücken zu ihr am Ufersaum kniete. Langes blondes Haar, das ihr über den Rücken fiel. Das Mädchen sah aus wie eine der Statuen – reglos, das Gesicht dem Teich zugewandt. Ihre Haut war merkwürdig blass, fast genauso farblos wie ihr Kleid. Sie trug weder Schuhe noch Winterjacke, nur dieses weiße Kleid, das so dünn war, dass es fast transparent wirkte. Sie hatte die Hände vor der Brust verschränkt wie zum Gebet und den Kopf leicht zur Seite geneigt.

Ohne ein Wort zu sagen, ging Tray ein Stück näher. Nah genug, um zu erkennen, dass dieselbe feine Schneeschicht, die rundherum alles bedeckte, auch auf dem Mädchen lag. Als sie es umrundete und an seine Seite trat, dämmerte ihr, dass es sich nicht um ein Mädchen, sondern um eine erwachsene Frau handelte. Diese krasse, diese allumfassende Blässe wurde von einer dünnen roten Linie durchzogen, die vom Haaransatz über die Wange nach unten verlief … und da war noch eine Linie, die vom Winkel des linken Auges auszugehen schien, eine rote Träne … und eine dritte, aus dem Mundwinkel, und die hatte die Lippen leuchtend rot gefärbt …

Auf ihrer Stirn stand etwas geschrieben.

Moment, nein, nicht geschrieben …

Vor ihren Knien lag ein Silbertablett im Schnee. Solche Tabletts kamen bei feinen Dinnerpartys zum Einsatz oder in teuren Restaurants – Orte, von denen Tray selbst mit ihren vierzehn Jahren wusste, dass sie sie außer im Fernsehen oder im Kino nie im Leben zu Gesicht bekäme.

Auf dem Tablett lagen drei weiße Schächtelchen. Jedes war mit einer schwarzen Kordel verschnürt.

An der Brust der Frau lehnte ein Pappschild, wie auch Tray es benutzte, wenn sie betteln ging. Nur dass sie noch nie diese drei Wörter auf eins ihrer Pappschilder geschrieben hatte.

VATER, VERGIB MIR.

Tray tat das einzig Mögliche. Sie nahm die Beine in die Hand.

2

Poole

Tag 5, 5.28 Uhr

Hallo, Sam,

ich kann mir vorstellen, dass Sie jetzt verwirrt sind.

Ich kann mir vorstellen, dass Sie jetzt Fragen haben.

Ich weiß, ich hatte Fragen. Ich habe noch immer Fragen. Wirklich.

Fragen sind die Basis aller Erkenntnis, allen erlernten Wissens, der Entdeckung und Wiederentdeckung. Jemand, der Fragen stellt, blickt über seinen Tellerrand. Jemand, der Fragen stellt, ist wie ein unendlich großes Warenhaus, wie ein Erinnerungspalast mit unendlich vielen Stockwerken und Zimmern und glitzernden, schönen Dingen. Manchmal jedoch nimmt jemand Schaden; dann bröckelt eine Wand, Zimmer verfallen, der Palast der Erinnerungen muss renoviert werden. Ich fürchte, Sie gehören genau dieser Kategorie an. Die Fotos, die Sie vor sich sehen, die Tagebücher – all das sind Hinweise, die Sie durch den Verfall führen sollen, während Sie Ihren Palast neu errichten.

Ich bin für Sie da, Sam. So wie ich es immer war.

Ich habe Ihnen vergeben, Sam. Andere werden es mir vielleicht gleichtun. Sie sind nicht mehr jener Mann. Sie sind jetzt so viel mehr.

Anson

»Was soll das bitte sein?«, brummte Special Agent Frank Poole und legte den Ausdruck beiseite. Er schloss die Augen und presste sich die Handballen an die Schläfen. Er hatte höllische Kopfschmerzen. Während des Rückflugs von New Orleans hatte er versucht zu schlafen – vergebens. Das Satellitentelefon hatte in einer Tour geklingelt. Seine FBI-Kollegen aus New Orleans kämmten immer noch Sarah Werners Anwaltskanzlei und die darüberliegende Wohnung durch. Gerade erst neun Stunden zuvor hatte Poole die Leiche der Anwältin entdeckt, die ihm vom Sofa aus mit milchigem Blick entgegengestarrt hatte – ein vergammeltes Abendessen auf dem Schoß und mitten auf der Stirn ein kleines pechschwarzes Einschussloch. Der Rechtsmediziner hatte ihm mitgeteilt, dass sie bereits seit Wochen tot gewesen sei – viel länger, als Poole zunächst angenommen hatte –, und dass es sich tatsächlich um Sarah Werner handelte. Was im Umkehrschluss bedeutete, dass die Frau, mit der Detective Porter in den vergangenen Tagen mehrmals gesehen worden war und die behauptet hatte, Sarah Werner zu sein, jemand anders gewesen war. Eine Betrügerin – oder Schlimmeres. Gemeinsam hatten sie eine Gefängnisinsassin aus New Orleans aus dem Knast geholt und quer durchs ganze Land bis nach Chicago kutschiert.

Zwischen den Anrufen der Kollegen aus New Orleans war auch Sam Porters Partner in der Leitung gewesen. Porter selbst hatten sie im Guyon aufgespürt, einem leer stehenden Hotel mitten in Chicago. Die Gefangene, der er zur Flucht verholfen hatte, hatte erschossen im Foyer gelegen, und Porter hatte wie versteinert in einem Zimmer im vierten Stock inmitten von Fotos gekauert, die ihn zusammen mit dem berüchtigten Serienkiller Anson Bishop zeigten, mit dem Four Monkey Killer. Neben ihm hatten Notizbücher gelegen sowie ein Laptop – mitsamt der Nachricht auf dem Bildschirm, die Poole jetzt wieder und wieder las, aber einfach nicht verstand.

Nach allem, was er bislang gehört hatte, hatte die Chicago Metro den Laptop mit einer Reihe aufsehenerregender Morde in Verbindung gebracht, die in den vergangenen Tagen verübt worden waren: Mehrere Mädchen waren wiederholt ertränkt und dann wiederbelebt worden, ehe ihre Körper den Strapazen nicht länger standgehalten hatten; dazu Erwachsene, die auf unterschiedliche Weise zu Tode gekommen waren und alle mit der medizinischen Versorgung eines gewissen Paul Upchurch zu tun gehabt hatten, der zur Stunde im Stroger Hospital operiert wurde.

Wann immer Poole nicht gerade mit New Orleans oder mit Detective Nash telefoniert hatte, hatte er mit Detective Clair Norton gesprochen, die sich derzeit ebenfalls im Krankenhaus aufhielt und einer drohenden Virusepidemie auf den Grund ging – einer Epidemie, die Bishop, Upchurch plus potenzielle Mittäter zu verantworten hatten.

Der Einzige, der sich noch immer nicht bei ihm gemeldet hatte, war sein direkter Vorgesetzter, SAIC Hurless. Doch Poole wusste genau, dass dessen Anruf schneller käme, als ihm selbst lieb wäre. Besser, er hätte dann verdammt noch mal die eine oder andere Erklärung parat.

»Lassen Sie mich mit ihm reden«, sagte Detective Nash, der jetzt hinter Poole im Überwachungsraum stand.

Pooles Kopfschmerzen waren schier unerträglich. »Auf gar keinen Fall.«

Auf der anderen Seite des Spionspiegels war Porter auf seinem Metallstuhl zusammengesackt. Sein Oberkörper krümmte sich über dem Metalltisch. Handschellen hatten sie ihm nicht angelegt. Ob das klug gewesen war?

»Mit mir spricht er aber«, legte Nash nach.

Porter hatte mit überhaupt niemandem gesprochen. Er hatte keinen Mucks gesagt.

»Nein.«

»Sam ist einer von den Guten. Er hat mit dieser Sache rein gar nichts zu tun.«

»Er steckt bis zum Hals mit drin.«

»Doch nicht Sam!«

»Die Frau, die er aus dem Knast geholt hat, ist mit einer Kugel aus derselben Waffe erschossen worden, die wir bei ihm sichergestellt haben. Er hatte Schmauchspuren an der Schusshand. Er hat nicht mal versucht, die Waffe loszuwerden und abzuhauen. Er saß einfach nur da und hat quasi auf seine Festnahme gewartet.«

»Wir wissen trotzdem nicht, ob er es war.«

»Er hat nicht widersprochen«, konterte Poole.

»Er hätte sie im Leben nicht erschossen, außer in Notwehr.«

»Er hat Detective Clair Norton im Stroger Hospital angerufen und ihr Informationen zukommen lassen, die er nur als Insider haben konnte. Er wusste, dass Upchurch ein Glioblastom hat. Woher kannte er überhaupt Upchurchs Namen? Er wusste über beide Mädchen Bescheid. Er kannte Details, die er unmöglich hätte kennen können, wenn er mit der Sache nichts zu tun gehabt hätte.«

»Sie haben gehört, was Clair gesagt hat: Das alles hat Bishop ihm erzählt.«

»Das hat Bishop ihm erzählt«, echote Poole frustriert. »Bishop hat ihm erzählt, dass er die zwei vermissten Mädchen mit SARS-Viren infiziert und sie dann in Upchurchs Haus zurückgelassen hat – als eine Art Trojaner.«

Auch diesen Teil der Geschichte hatte Poole immer noch nicht begriffen. Die beiden Vermissten, Kati Quigley und Larissa Biel, waren in Upchurchs Haus gefunden worden. Porter behauptete, dass ihnen SARS-Erreger injiziert worden seien. Inzwischen war das komplette Krankenhaus abgeriegelt worden, und die Labors liefen auf Hochtouren: Bluttests sollten zeigen, ob die Behauptung der Wahrheit entsprach oder nicht. Bestenfalls war es ein Bluff. Schlechtestenfalls …

»Bishop benutzt ihn nur«, sagte Nash. »Bishop zieht die Strippen.«

»Er hat Clair am Telefon gesagt, dass er’s versaut hat. Er hat ihr gesagt, es tut ihm leid. So was sagt ein Unschuldiger nicht.«

»Aber der Schuldige ergreift die Flucht. Der bleibt nicht in einem Zimmer sitzen und wartet darauf, dass die Polizei ihn sich schnappt. Der Schuldige verwischt seine Spuren und verschwindet.«

»Er hat Beweismittel unterschlagen«, rief Poole Nash in Erinnerung. »Er hat Befehlen zuwidergehandelt. Er ist nach New Orleans abgehauen, hat dort eine Frau aus dem Gefängnis befreit und eine Leiche zurückgelassen. Eine weitere liegt inzwischen hier in Chicago. Und genau deshalb werden Sie nicht mit ihm sprechen: weil Sie zu dicht an ihm dran sind. Vergessen Sie, dass er Ihr Partner ist, vergessen Sie, dass Sie befreundet sind – sehen Sie sich die Beweislage an, betrachten Sie ihn wie einen Fremden. Solange Sie dazu nicht in der Lage sind, sind Sie nicht objektiv. Und solange Sie nicht objektiv sind, sind Sie Teil des Problems.« Poole griff erneut zu dem Ausdruck und überflog den Text. »Wo ist der Laptop jetzt?«

»Oben in der IT.«

»Rufen Sie dort an, die sollen ihn eintüten. Ich will nicht, dass Ihre Leute darauf herumtatschen. Ihr komplettes Team ist befangen. Das FBI-Labor soll ihn auseinandernehmen und die Festplatte durchleuchten«, befahl Poole. »Was ist mit den Fotos und Notizbüchern, die wir um Sam Porter herum in dem Hotelzimmer gefunden haben?«

Nash antwortete nicht.

»Ich will die Frage nicht noch einmal stellen müssen …«

»Die Fotos hängen immer noch in Zimmer 405 im Guyon Hotel. Dort wird alles dokumentiert, dann wird der Raum versiegelt. Ein Beamter steht auf dem Flur Wache, zwei weitere vor dem Gebäude«, erklärte Nash. »Die Notizbücher habe ich mit hergebracht und sie persönlich ins Asservatenregister eingetragen.«

»Sie rühren ab jetzt nichts mehr an. Von jetzt an sind Ihre Leute raus aus der Nummer.«

Wieder reagierte Nash nicht.

Poole stand auf; bei der Bewegung fing in seinem Kopf Schmerz an zu hämmern, als rollte in seinem Schädel eine Bowlingkugel von einer Seite zur anderen und krachte gegen die Außenwand. »Hören Sie, ich tue Ihnen hier einen Gefallen. Was immer mit Sam passiert ist – wenn das hier vor Gericht landet, müssen Sie und Ihr Team auf Abstand gehen. Wenn nicht, wird jeder Staatsanwalt, der seinen Titel verdient, den Fall nach allen Regeln der Kunst zerpflücken. Er wird mit Sam anfangen, dann sind Sie dran, dann Clair, Klozowski – was immer Sie angefasst haben. Ab sofort sind Sie nur noch stiller Beobachter. Sie alle. Alles andere wäre beruflicher Selbstmord.«

»Ich lasse meine Freunde nicht hängen.«

»Schön und gut. Aber manchmal lassen Freunde einen selbst hängen.«

Poole trat an die Durchgangstür zum Vernehmungsraum, zog sie auf und ging hinein. Das metallische Klicken, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, war das Lauteste, was er je gehört hatte.

3

Clair

Tag 5, 5.36 Uhr

Clair musste niesen.

»Verdammt noch mal«, murmelte Klozowski und sah sie quer durch ihre improvisierte Einsatzzentrale im John H. Stroger, Jr. Hospital an.

»Normale Menschen sagen Gesundheit«, gab Clair zurück und putzte sich die Nase.

»Meine Haut fühlt sich schon ganz klamm an. Mein Hals ist trocken, und mir tut alles weh«, sagte Klozowski. »Du weißt, was auf uns zukommt, oder? Als Nächstes Durchfall. Nichts ist schlimmer als Dünnpfiff, wenn man sich nicht innerhalb der eigenen vier Wände befindet. Nach und nach lösen sich die inneren Organe in Wohlgefallen auf und werden zu Brei. Die Augen auch. Wir treten von dieser Welt als breiige Pfütze ab. So hab ich mir das nicht vorgestellt. Als ich zur Polizei gegangen bin, hab ich mir eher gedacht, dass ich bei einem gloriösen Schusswechsel sterbe oder bei einer Durchsuchungsaktion oder bei einer Festnahme durch das Sondereinsatzkommando – aber doch nicht so!«

»Gloriös ist kein Wort«, entgegnete Clair. »Außerdem arbeitest du bei der IT. Was du da aufzählst – davon kriegt ihr Computernerds doch überhaupt nichts mit! Wahrscheinlich verblutest du eher an einem Papierschnitt oder bei einem Unfall mit deinem Federmäppchen.« Sie zerknüllte ihr Taschentuch und warf es in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Obenauf lag immer noch Upchurchs Krankenakte. »Außerdem hast du da, was die Symptome angeht, irgendwas durcheinandergebracht. Was du meinst, ist Ebola. Bei SARS lösen sich die Organe nicht auf.«

»Na, das wär dann ja mal Glück im Unglück.«

Clair nickte in Richtung von Klozowskis Laptop. »Gibt’s schon eine Zahl?«

»Willst du nicht hören.«

»Muss ich aber.«

»Dreiundzwanzig.«

Clair horchte auf. »Gar nicht so viele wie befürchtet. Hätte viel schlimmer kommen können.«

Klozowski hob die Hand. »Dreiundzwanzig potenzielle Opfer aus Upchurchs Akte. Wir haben sie mitsamt Familie hierher ins Krankenhaus gebracht. Wenn man die Ehepartner und Kinder mitzählt, sind wir schon bei siebenundachtzig.«

»Ach du Schande.«

Als sie begriffen hatten, dass Upchurch und sein Komplize die Leute umbringen wollten, die sie für Upchurchs missglückte Behandlung verantwortlich machten, hatte Clair sie alle ausfindig machen können und in die Klinik bringen lassen, weil sie davon ausgegangen waren, dass dies der einzige Ort war, an dem eine so große Gruppe sicher wäre. Doch genau damit hatten Upchurch und sein Komplize gerechnet – sie hatten Upchurchs jüngste zwei Opfer, Larissa Biel und Kati Quigley, mit einem hoch ansteckenden Krankheitserreger infiziert, weil sie genau gewusst hatten, dass die Mädchen ins nächstbeste Krankenhaus gebracht werden würden – und das war nun mal Stroger.

Binnen weniger Stunden hatten sie nicht nur die restlichen Leute von Upchurchs Todesliste der Virusgefahr ausgesetzt, sondern auch sämtliche Mitarbeiter, Patienten und aus anderen Gründen im Krankenhaus Anwesende. Inklusive Clair Norton und Edwin Klozowski.

Porter hatte Clair jedoch nicht nur deshalb angerufen, sondern auch, um zu berichten, dass es sich um ein SARS-Virus handelte und dass Upchurchs Komplize kein Geringerer als Anson Bishop war. Das komplette Krankenhaus war unter Quarantäne gestellt worden, und den gesetzlichen Vorschriften zufolge war Meldung an das Center for Disease Control ergangen, das augenblicklich ein Noteinsatzteam aus der nächsten Quarantänestation am O’Hare Airport geschickt hatte. Das Team war in siebenundzwanzig Minuten vor Ort gewesen; Kloz hatte extra auf die Uhr geschaut. In der Zwischenzeit hatte er bei sich geschlagene vier Mal Fieber gemessen.

Clair verstand immer noch nicht vollends, was Porters letzter Anruf zu bedeuten hatte.

Der Mann in der Leitung hatte nicht geklungen wie derjenige, den sie kannte.

Er hatte geklungen, als wäre er am Boden zerstört. Erledigt.

Sam hatte Dinge gewusst, die er gar nicht hätte wissen dürfen.

Als Nash und das SWAT-Team Upchurchs Haus gestürmt hatten, hatten sie Upchurch in einem Kinderzimmer im ersten Stock aufgespürt. Ein Kind war nirgends auffindbar gewesen – nur eine Schaufensterpuppe, die in Mädchensachen gekleidet und von Plüschtieren und Zeichnungen umgeben gewesen war. Wie sich herausgestellt hatte, handelte es sich bei dem Mädchen, mit dem sie gerechnet hatten, bloß um eine Figur aus einem nie veröffentlichten Comic, den Upchurch gezeichnet hatte. Er hatte sich ohne jeden Widerstand festnehmen lassen. Im Keller hatten sie Larissa Biel entdeckt – bewusstlos. Später erfuhren sie, dass das Mädchen Glas geschluckt hatte. Erst nahmen sie an, Upchurch habe sie dazu gezwungen, aber wie sich zeigen sollte, hatte sie die Splitter aus freien Stücken geschluckt, um zu verhindern, dass er das Gleiche mit ihr täte wie mit den anderen. In ihrer schriftlichen Erklärung schilderte sie, wie Upchurch die Mädchen ertränkt und dann wiederbelebt hatte – allem Anschein nach, weil er auf irgendeine verquere Weise versucht hatte herauszufinden, ob es ein Leben nach dem Tod gab. Als Larissa das Glas geschluckt hatte, war sie für ihn schadhaft gewesen, hatte für seine Versuche nicht länger getaugt.

Clair wollte sich nicht einmal ausmalen, wie man eine solche Entscheidung treffen konnte. Die Stärke, die Larissa Biel an den Tag gelegt hatte, indem sie die Pläne dieses Wahnsinnigen durchkreuzt und ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte, war schier nicht zu fassen. Biel erholte sich derzeit von der OP, bei der die Glassplitter entfernt und die Verletzungen in Hals, Kehlkopf und Magen versorgt worden waren. Was sie in Upchurchs Haus erlitten hatte, würde verheilen – allerdings wies sie inzwischen ebenfalls erste Symptome der Virusinfektion auf, die sie Anson Bishop zu verdanken hatte. Er hatte dem verletzten Mädchen eine Spritze mit dem Virus gesetzt. Ob sie sich auch davon erholen würde, stand in den Sternen.

Ebenfalls bewusstlos und mit einer kleinen weißen, mit schwarzer Kordel umwickelten Schachtel in Händen hatten sie auf dem Küchentisch in Upchurchs Haus Kati Quigley gefunden. Der Anblick schrie regelrecht nach Anson Bishop. In der Schachtel hatte ein Schlüssel gelegen, der zu einem Krankenhausspind im Stroger gepasst hatte. Und in diesem Spind hatten sie schließlich Paul Upchurchs Krankenakte gefunden – sowie einen Apfel, in dem eine Spritze steckte. Porter zufolge enthielt die Spritze den Krankheitserreger. Anscheinend hatte Bishop ihm verraten, dass er im Falle von Upchurchs Ableben irgendwo in der Stadt eine Epidemie damit auslösen würde.

Schneewittchen wusste es auch nicht besser, hatte Porter am Telefon gesagt.

Paul Upchurch selbst wurde zur Stunde operiert. Er hatte einen Gehirntumor, ein Glioblastom vierten Grades. Noch im Polizeigewahrsam war er zusammengebrochen. Porter hatte Clair aufgetragen, einen gewissen Dr. Ryan Beyer hinzuzuziehen, einen Neurochirurgen vom John-Hopkins-Uniklinikum. Sie hatte die Aufgabe an Klozowski delegiert, der keine zehn Minuten gebraucht hatte, um den Mediziner ausfindig zu machen. Clair hatte unterdessen Frank Poole vom FBI alarmiert, der wiederum Dr. Beyers Flug von Baltimore nach Chicago in einer FBI-Maschine organisierte. Der Flieger hob um kurz nach Mitternacht vom internationalen Flughafen Baltimore-Washington ab und landete nachts um einundzwanzig nach zwei in O’Hare. Von dort brachte eine Polizeieskorte Dr. Beyer ins Stroger Hospital, wo er an sämtlichen potenziell Infizierten vorbeigeschleust und zu den Operationssälen im zweiten Stock geführt wurde. Dort war Upchurch bereits vom hiesigen Personal für die OP vorbereitet worden. Upchurch und Bishop hatten mehrere Morde verübt, weil sie der Ansicht gewesen waren, dass Upchurchs Erkrankung nicht adäquat behandelt worden war. Im Guten wie im Bösen hatten seine Taten ihn an die Spitze einer langen Warteliste katapultiert – und nun stocherte also der führende Experte auf dem Gebiet in Upchurchs Gehirn herum.

Es klopfte an der Tür.

Sue Miflin, eine der Stroger-Stationsschwestern, steckte den Kopf herein.

»Detective? Dr. Beyer ist soeben aus dem OP gekommen und würde gern kurz mit Ihnen sprechen.«

4

Poole

Tag 5, 5.38 Uhr

Als Poole den Vernehmungsraum betrat, blickte Detective Sam Porter von der Chicago Metro nicht einmal auf. Er nahm seinen Besucher gar nicht zur Kenntnis. Er blieb einfach weiter still sitzen, blendete rundherum alles aus. Nur seine Lippen bewegten sich, als führte er ein stummes Selbstgespräch. Der Blick war starr auf seine Hände gerichtet. Die Finger zuckten, allerdings sah es nicht bewusst gesteuert aus; unwillkürlich musste Poole an den Moment denken, bevor man einschlief und der Körper durch jähe Hüpfer und Zuckungen das letzte bisschen Bewusstsein austrieb – nur dass Porter von Schlaf weit entfernt war. Sein Blick war geschärft wie der eines Speed- oder Meth-Junkies – wie bei jemandem, der sich gerade die dritte Line Koks reingezogen hatte. Hyperempfindlich, verkrampft, tollwütig – und doch seltsam beherrscht.

Poole kannte Sam Porter nicht allzu gut – kein bisschen besser als den Rest der ursprünglichen 4MK-Taskforce –, aber er hatte durchaus eine gewisse Menschenkenntnis. Er bildete sich ein, sein Gegenüber auf den ersten Blick einordnen zu können und dessen Motive, Ängste, Fähigkeiten und Zweifel halbwegs gut einzuschätzen. Als er Detective Porter erstmals begegnet war, hatte sein Instinkt ihm gesagt, dass Porter ein guter Ermittler war. Poole war felsenfest überzeugt gewesen, dass der Mann den Four Monkey Killer festsetzen und hinter Gitter bringen wollte. Er hatte Porter als einen scharfsinnigen und erfahrenen Vertreter der Strafverfolgungsbehörden kennengelernt, der von seinesgleichen respektiert und hoch angesehen wurde. Exakt so jemand hatte auch Poole sein wollen, seit ihm seine Dienstmarke ausgehändigt worden war. Obwohl Porter in der kurzen Zeit, die sie jetzt miteinander bekannt waren, nicht allzu viel gesagt hatte, war Poole sich relativ sicher, dass er viel zu sagen gehabt hätte; er zog keine voreiligen Schlüsse, er analysierte die Faktenlage genau. Er brachte Mitgefühl für die Opfer auf und hielt die Erinnerung an sie am Leben. Und er sorgte dafür, dass den Hinterbliebenen Gerechtigkeit widerfuhr.

Dieser Detective Porter war ein rechtschaffener Mann.

Die Person hingegen, die jetzt vor ihm im Vernehmungsraum saß, war eine vollkommen andere – diese Person war nur mehr eine leere Hülle.

Der Mann war erledigt.

Seine zerknitterte Kleidung stank nach Schweiß und Dreck. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Sein Blick flackerte, huschte hierhin und dorthin. Vom tagelangen Schlafmangel hatte er dunkle Ringe unter den müden, blutunterlaufenen Augen.

Poole setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl und verschränkte die Finger auf dem Tisch. »Sam?«

Porter starrte weiter auf seine Hände hinab. Seine Lippen bewegten sich immer noch wie zu einer Unterhaltung, die nur er selbst hören konnte.

Poole schnipste mit den Fingern.

Nichts.

»Hören Sie mich, Sam?«

Nichts.

Poole hob die rechte Hand und schlug sie flach auf die Tischplatte, so fest er nur konnte.

Es tat höllisch weh.

Porter blickte auf. Kniff die Augen zusammen. »Frank …«

Es klang nicht nach Frage, nicht nach Begrüßung, lediglich nach einer Feststellung. Er hatte den Namen nicht mal richtig ausgesprochen, eher tonlos gehaucht.

»Sam, wir müssen uns unterhalten.«

Porter lehnte sich zurück. Sein Blick fiel erneut auf seine Hände. »Ich will mit Sarah Werner sprechen.«

»Sie ist tot.«

Porter schreckte hoch. »Wie bitte?«

»Kopfschuss, ist mindestens drei Wochen her. Ich habe sie auf dem Sofa in ihrer Wohnung in New Orleans gefunden.«

Porter schüttelte den Kopf. »Nicht die – die andere. Die andere Sarah Werner.«

»Sagen Sie mir, wo sie ist, und ich lasse sie holen.«

Porter antwortete nicht.

»Wussten Sie, dass sie die echte Sarah Werner erschossen hatte?«

»Wir wissen nicht, ob sie es war.«

Angesichts des geschätzten Todeszeitpunkts hatten sie zumindest sicherstellen können, dass Porter selbst in Chicago gewesen war, als die echte Sarah Werner gestorben war. Was das andere anging, hatte Porter recht: Abgesehen davon, dass sie sich als Sarah Werner ausgegeben hatte, hatten sie keinerlei Beweise, dass die unbekannte Frau auch hinter jenem Mord steckte.

»Ihre Sarah Werner«, sagte Poole, »die sich als Anwältin ausgegeben hat – wissen Sie, wer sie in Wahrheit ist?«

»Wissen Sie es?«

»Ich weiß, dass sie mit Ihrer Hilfe eine dritte Person aus dem Gefängnis in New Orleans befreit hat. Eine dritte Frau, von der wir derzeit annehmen, dass es sich um 4MKs – um Anson Bishops – Mutter handelt. Ich weiß, dass Sie beide die Gefangene quer durch mehrere Bundesstaaten bis hierher nach Chicago gebracht haben. Und ich weiß, dass diese Frau in der vergangenen Nacht im Guyon Hotel erschossen wurde – und zwar mit einer Schusswaffe, die wir kurze Zeit später in Ihrem Besitz sicherstellen konnten. Ich weiß, dass die falsche Sarah Werner sich abgesetzt hat, und Sie selbst hatten anscheinend weder Zeit noch Lust, sich auch nur die Schmauchspuren von den Händen zu wischen, bevor auch schon das SWAT-Team aufgetaucht ist.« Poole seufzte vernehmlich. »Ich weiß also einiges. Aber warum erzählen Sie mir nicht, was ich noch nicht weiß?«

»Das war Bishops Mutter«, flüsterte Porter.

»Die Tote? Hab ich doch gesagt.«

»Nicht die Tote. Die, mit der ich unterwegs war. Die andere Sarah Werner. Die Fake-Sarah Werner. Kurz bevor sie mit Bishop geflohen ist – und nachdem er die Gefangene erschossen hatte –, haben die zwei mir erzählt, dass sie Bishops Mutter ist.«

»Und Sie glauben das?«

Porter starrte erneut auf seine zuckenden Hände hinab. »Ich muss die Notizbücher lesen. Alle. Alles, was in dem Zimmer war. Da steht alles drin – alles, was wir brauchen. Sämtliche Antworten. Alles da drin. Alles da.«

»Sam, Sie reden wirres Zeug – Sie brauchen eine Pause.«

Porter blickte wieder auf und beugte sich über den Tisch. »Ich muss die Bücher lesen.«

Poole schüttelte den Kopf. »Nie im Leben.«

»Die Antworten stehen da drin.«

»Wenn Sie mich fragen, steht da nur Bullshit drin«, entgegnete Poole.

Porter schüttelte vehement den Kopf. »Ich habe den See gefunden. Das Haus. Sie haben das alles doch auch gesehen, oder nicht? Sie waren vor Ort. Ich weiß, dass Sie dort waren. Das war alles echt.« Er senkte die Stimme, klang fast verschwörerisch: »Im Keller war ein Blutfleck, genau dort, wo er hätte sein müssen. Genau dort, wo Carter gestorben ist.«

»Apropos – war das Ihr erster Aufenthalt in Simpsonville, South Carolina? An der 12 Jenkins Crawl Road?«

Porter sah ihn verwirrt an. »Was? Ja, sicher – warum fragen Sie?«

»Ich bin dort mit Sheriff Banister die Grundbücher durchgegangen. Im Grundbuch steht Ihr Name.«

Porter schien ihn nicht gehört zu haben. Stattdessen fragte er: »Haben Sie Carter in dem See gefunden?«

»Wir haben sechs Leichen geborgen – oder vielmehr fünf Leichen plus Leichenteile in einem Müllsack.«

»Carter«, flüsterte Porter.

»Das Grundbuch, Sam. Warum steht da Ihr Name drin?«

Porter richtete erneut den Blick auf die Hände. Seine Lippen bewegten sich lautlos.

»Sam?«

Er schreckte hoch. »Bitte?«

»Warum steht Ihr Name im Grundbuch zur 12 Jenkins Crawl Road?«

Porter winkte ab. »Typisch Bishop. Gefälscht, manipuliert, ausgetauscht … Spielt keine Rolle. Das war er. Spielt aber keine Rolle.« Er lehnte sich wieder zurück. Ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen. »Sie haben Carter gefunden. Sie … haben … Carter … Heilige Scheiße, Sie haben Carter gefunden!«

Porters Finger auf dem Tisch zuckten noch immer, wie Poole zur Kenntnis nahm. Porter selbst schien es nicht zu bemerken.

»Es geht Ihnen nicht gut, Sam. Sie brauchen eine Auszeit.«

Porter schlug beide Hände flach auf den Tisch und beugte sich vor. »Ich brauche die Bücher!«

»Wer waren die anderen fünf Leichen, die wir aus dem See gefischt haben?«

»Keine Ahnung.«

»Es ist Ihr Grundstück.«

Porter machte den Mund auf, als wollte er antworten, überlegte es sich dann aber anders. Er starrte wieder auf seine Hände hinab. Verschränkte die Finger, zog sie auseinander. »Das war Bishop. So was macht er nun mal. Setzt eine Lüge nach der anderen in die Welt.«

»Wenn das so ist, warum glauben Sie dann, was in den Tagebüchern steht?«, hakte Poole nach. »Wenn Bishop doch ohnehin lügt – was kümmert es Sie dann, was in den Büchern steht?«

Fast schon hoffnungsvoll blickte Porter auf. »Wo sind sie – immer noch im Guyon?«

»Ich habe Sie etwas gefragt, Sam.«

»Ihre fünf Leichen – die stehen in den Tagebüchern.«

»Das wissen wir nicht.«

Porter beugte sich noch ein Stück weiter vor. In seinem Mundwinkel schimmerte ein Spucketröpfchen. »Wir wissen, dass es die Wahrheit ist, weil Sie Carter gefunden haben – und zwar genau dort, wo er laut Tagebuch hätte sein müssen. Wir wissen, dass es die Wahrheit ist, weil im Keller ein Blutfleck war – und am Kühlschrank ein Vorhängeschloss! Er will, dass wir erfahren, was dort passiert ist. Der ganze Rest, mein Name in irgend so einer Akte – das ist Blendwerk, genau wie Sie sagen, das ist Bullshit. Aber durch den Bullshit müssen wir uns durchwühlen!«

Poole lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen. Aber diesmal sah auch Porter nicht weg. Leise sprach er weiter.

»›Sie hieß Rose Finicky, und sie hatte es verdient zu sterben, sie hatte es hundertfach verdient – sie war durch und durch verdorben.‹«

»Was soll das?«

»Das hat Bishop zu mir gesagt, gleich nachdem er sie erschossen hatte.«

»Die Frau, die wir in der Guyon-Lobby gefunden haben?«

Porter nickte. »Und die andere, die ich für Sarah Werner gehalten habe – das ist Bishops Mutter. Er hat mich benutzt, um sie beide hierher nach Chicago zu bringen. Und er hat eine Bombe erwähnt.«

»Sie hatten Schmauchspuren an der Hand.«

»Ich hab ihm die Knarre abgenommen und einen Warnschuss abgegeben. Ich habe die Frau nicht erschossen! Das war er.«

»Wenn Sie in den Besitz der Waffe gelangt waren, warum haben Sie die zwei dann abhauen lassen? Warum haben Sie sie nicht festgenommen?«

»Sie wissen genau, warum.«

»Wegen der Sache, die Sie Clair erzählt haben?«

Porter nickte. »Er hat den zwei Mädchen SARS-Viren injiziert und darüber hinaus eine Kostprobe im Krankenhaus deponiert, um zu beweisen, dass er uns in der Hand hat. Er hat mir erzählt, dass er mehr davon hat und dafür sorgen wird, dass sich das Virus verbreitet, wenn ich sie nicht laufen lasse. Ich musste davon ausgehen, dass es die Wahrheit war – ich musste sie ziehen lassen! Er meinte noch, ich dürfte von Zimmer 405 aus telefonieren. Und dass ich dort weitere Beweise vorfinden würde.«

»Und dann haben Sie einfach getan wie geheißen?«

»Was hatte ich denn für eine Möglichkeit?«

Poole hätte ihm am liebsten aufgezeigt, dass er vielerlei Möglichkeiten gehabt hätte. Porter hatte von Anfang an, seit er mit dem Fall betraut worden war, zig falsche Entscheidungen getroffen. Er war derart verblendet gewesen, dass es an Blindheit grenzte.

»Da ist noch etwas, das sollten Sie ebenfalls wissen.« Porters Blick flackerte erneut, als würde in nächster Zukunft eine Glühbirne durchbrennen. Er blinzelte. Konzentrierte sich wieder auf Poole. »Teile des Tagebuchs entsprechen der Wahrheit – die Häuser, der See, die Carters … Ich glaube wirklich, dass all das vollkommen wahr ist. Andere Teile hingegen nicht. Das weiß ich inzwischen. Man merkt es dem Text an, der Wortwahl, da hat er Spuren ausgelegt. Ich glaube, ich könnte den Unterschied herauslesen. Diese Erwachsen-müsste-man-sein-Fassade – die kann ich inzwischen durchschauen. Sie haben das doch auch bemerkt, oder nicht?«

Poole war zusehends frustriert. »Diese Tagebücher sind eine falsche Fährte.«

»Nein!« Angesichts der Lautstärke schien Porter selbst zu erschrecken; er sackte in sich zusammen und schien sich tiefer in seinen Stuhl kauern zu wollen. »Nein, die Tagebücher sind der Schlüssel. Nur damit lösen wir den Fall.«

»Wir lösen den Fall, indem wir den Täter schnappen.«

»Die Täter«, entgegnete Porter.

»Wie bitte?«

»Bevor sie mich in dem Hotel allein zurückgelassen haben, meinte Bishops Mutter: ›Warum hast du dem freundlichen Mann denn erzählt, dein Vater wäre tot?‹ Da hat sie über das Tagebuch gesprochen.« Porter beugte sich wieder vor. »Kapieren Sie das denn nicht? Ich habe es endlich begriffen – es schreit einem förmlich aus den Seiten entgegen. Die Lügen und Wahrheiten – als wären sie in unterschiedlichen Farben gedruckt, so klar sehe ich es vor mir! Sie haben die Leiche von Libby McInley gesehen. Ich will einfach nicht glauben, dass Bishop sie umgebracht hat. Ich glaube, er hat versucht, sie zu beschützen. Aber wenn es nicht Bishop war …« Seine Finger verschränkten sich erneut ineinander und zuckten. »Es sind alles Täter: die Mutter, der Vater, Bishop selbst. Und ich glaube, dass alle drei hier in Chicago sind, in diesem Moment. Sie versuchen, etwas zu Ende zu bringen, was sie vor Jahren begonnen haben. Irgendetwas, was seinen Ursprung in Bishops Kindheit hat. Was in den Tagebüchern erwähnt wird. Irgendwo in diesem Lügengeflecht versteckt sich die Wahrheit.« Er nickte in sich hinein und fing an zu grinsen. »Und endlich kann ich das sehen.« Er sah Poole ins Gesicht. »Sie müssen mir vertrauen!«

Poole starrte ihn an. Sekunden verstrichen. »Es gibt Kollegen, die glauben, Sie könnten Bishops Vater sein.«

Der Spucketropfen löste sich aus Porters Mundwinkel und zerplatzte auf dem Metalltisch zu einem winzigen Pfützchen. Er wischte sich über die Lippen und sah Poole starr in die Augen. »Und was glauben Sie?«

»Ich glaube, wir haben in Ihrem Zimmer im Guyon zwingendes Beweismaterial sichergestellt.«

Porter gluckste in sich hinein. »Die Fotos? Also bitte. Sie wissen genau, wie leicht man so etwas fälschen kann.«

»Einige Fotos sind mehr als zwanzig Jahre alt«, entgegnete Poole. »Selbst wenn er sie hätte fälschen wollen – woher hätte Bishop zwanzig Jahre alte Fotos von Ihnen als Bastelmaterial herkriegen sollen? Wie lange kennen Sie einander schon, Sam?«

»Kein halbes Jahr«, antwortete Porter. »Ich hab ihn am selben Tag kennengelernt wie Nash auch – am Tag des Busunfalls, als er so getan hat, als würde er bei der Chicago Metro arbeiten. Schließen Sie mich an den Lügendetektor an, wenn Sie das beruhigt. Mir doch egal. Ich habe nichts zu verbergen. Die Fotos sind genau wie diese Grundbuchgeschichte – er will Sie damit nur von der Wahrheit ablenken.«

»Von einer Wahrheit, die einzig und allein Sie aus den Tagebüchern herauslesen können.«

Darauf reagierte Porter nicht. Er war mit den Gedanken bereits ganz woanders.

Poole rieb sich die schmerzenden Schläfen. »Wer ist Rose Finicky?«

»Sie müssen mir die Tagebücher zu lesen geben. Sie wissen doch selbst, er hätte sie nie liegen gelassen, wenn sie nicht wichtig wären. Zumindest das müssen Sie doch begriffen haben.«

»Meine Leute sollen sie sich ansehen.«

»Dafür haben wir keine Zeit, die wissen doch gar nicht, wonach sie suchen müssen! Die können den Bullshit nicht von der Wahrheit unterscheiden. Ich kenne Bishop …«

»Ach, jetzt doch?«, fiel Poole ihm ins Wort. »Wie gut kennen Sie einander?«

Jemand klopfte an den Spionspiegel. Hart. Zwei hektische Schläge.

Poole blieb noch für einen Moment reglos sitzen und ließ Porter nicht aus den Augen. Porter starrte zurück.

Poole wurde einfach nicht schlau aus dem Mann. Er wollte, aber er konnte ihn schlichtweg nicht deuten. Falls Porter ihn gerade belog, dann hatte er seine Körpersprache komplett unter Kontrolle. Dann glaubte er an jedes Wort, das er soeben geäußert hatte.

Was es trotzdem nicht unbedingt wahr macht, rief sich Poole ins Gedächtnis.

Dann stand er auf und wandte sich zum Gehen.

In seinem Rücken sagte Porter: »Sie kriegen ihn ohne mich nicht. Sie kriegen keinen von denen.«

5

Clair

Tag 5, 5.43 Uhr

Clair schaute zu der Krankenschwester, die in der Tür zu ihrem improvisierten Büro aufgetaucht war. Die Frau war im Dienst, seit Clair hier angekommen war, und sah keinen Deut besser aus als alle anderen – blutunterlaufene Augen, dunkle Schatten darunter, gebeugte Haltung. Trotzdem schien sie noch immer auf Hochtouren zu laufen. Clair meinte sich zu erinnern, dass die Frau nicht eine einzige Pause eingelegt hatte.

»Der Doktor ist auf Leitung vier«, sagte sie und nickte in Richtung des Telefons in der Dockingstation an der Wand.

Clair bedankte sich und kam auf die Füße.

Ihr tat alles weh.

Ihre Knochen. Die Kehle. Sogar die Augen pulsierten. Ihre Nase hatte sich in eine wahre Rotzfabrik verwandelt, und warm wurde ihr auch nicht mehr.

Kloz warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. Drüben in seiner Ecke schien es ihm selbst kein bisschen besser zu gehen.

Sie lief auf den Telefonapparat zu, nahm den Hörer in die Hand und drückte auf den blinkenden Knopf. »Hallo? Hier spricht Detective Norton.«

»Detective, hier ist Dr. Beyer.«

Aufgrund der Quarantäne waren sie sich noch nicht persönlich begegnet. Sie hatte ihn sich vorgestellt wie eine Mischung aus George Clooney, Patrick Dempsey und diesem niedlichen Typen aus Scrubs, weil der ihr immer ein Lächeln entlockt hatte, und sie brauchte jetzt etwas, worüber sie lächeln konnte. Seine Stimme war sonor, leicht rau. Die Stimme eines Mannes, der schon sein Leben lang genau überlegte, bevor er etwas sagte.

Er räusperte sich und sagte dann genau das, was sie nicht hatte hören wollen: »Der Fall ist hoffnungslos. Das wissen Sie, oder? Dem Mann kann nicht mehr geholfen werden.«

Verstohlen spähte Clair zu Kloz. Was immer er gerade am Rechner getan hatte, lag auf Eis. Er starrte sie an. Leise sagte sie ins Telefon: »Wenn der Mann stirbt, dann bedeutet das höchstwahrscheinlich, dass Anson Bishop irgendwo in der Stadt SARS-Erreger freisetzt. Und das hieße, dass Tausende Menschenleben in Gefahr wären.«

»Das ändert leider nichts an den Tatsachen, Detective. Dieser Mann hat Krebs im Endstadium. Weite Teile seines Gehirns sind von den Tumoren komplett durchsetzt. Ich hab entfernt, was möglich war, aber der Schaden ist schlicht und ergreifend irreparabel. Ich bin gelinde gesagt überrascht, dass er überhaupt noch am Leben ist. Abgesehen davon, dass er motorische und Gedächtnisstörungen gehabt haben muss, hat der Tumor den hinteren Teil des Scheitellappens und die primär-motorische sowie die supplementär-motorische Rinde befallen. Wenn er wieder aufwacht, wird er nicht mehr vom Beatmungsgerät wegkommen. Außerdem ist sein Herzrhythmus gestört, und sein Sehvermögen dürfte gefährdet sein. Was die Lebensqualität betrifft …«

Der Arzt schwadronierte noch eine Weile weiter, und Clair schloss die Augen. »Wir haben gehört, Sie könnten ihn retten, weil Sie irgendeine Methode hätten …«

»Ich forsche an der Hopkins zur fokussierten Ultraschalltherapie«, ging Dr. Beyer dazwischen. »Das ist ein nicht-invasives Verfahren zur Behandlung von Glioblastomen. Allerdings stecken wir, was die klinischen Versuche angeht, immer noch in den Kinderschuhen. Wenn er bei den ersten Symptomen vor ein paar Jahren an uns überwiesen worden wäre, hätte ich ihm vielleicht helfen können – aber jetzt? Dafür ist der Krebs zu weit fortgeschritten. Es gibt keine bekannte Methode mehr und keine Aussicht auf Besserung. Dafür ist es zu spät.«

»Und was können wir jetzt noch machen?«

»Nichts, was nicht schon versucht worden wäre. Stabilisieren Sie ihn. Machen Sie ihm das Leben so leicht wie nur möglich. Bereiten Sie sich auf das Unausweichliche vor. Es würde mich wundern, wenn er in seinem derzeitigen Zustand noch länger als ein, zwei Tage überlebt.«

Clair spähte erneut zu Kloz. Er hatte wieder diesen hoffnungsvollen Blick. Sie drehte sich von ihm weg und sprach weiter: »Sie werden der Presse erzählen müssen, dass Paul Upchurch seit der OP in besserer Verfassung ist, als wir es uns erhofft hätten. Dass sein Zustand sich stabilisiert. Dass Sie vorhaben, ihn mit ins Hopkins zu nehmen, sobald er transportfähig ist, und dort Ihre Behandlung fortsetzen. Sie müssen die Leute dort draußen davon überzeugen, dass Sie guter Dinge sind, was ihn angeht.«

Dr. Beyer antwortete nicht.

Clair sah auf die Uhr. »Hören Sie … Anson Bishop ist immer noch irgendwo dort draußen. Wir müssen ihn glauben machen, dass wir alles tun, was in unserer Macht steht, damit Upchurch die Behandlung bekommt, auf der Bishop bestanden hat. Gehen Sie nicht ins Detail – schieben Sie den Datenschutz vor oder was weiß ich. Sie müssen einfach nach außen überzeugend sein.«

»Detective, ich bin meinem Patienten verpflichtet, und mein Ruf als …«

»Von Ihnen hängt möglicherweise das Leben Tausender Menschen ab. Dieser Mann, dieser Paul Upchurch, hat mehrere Mädchen entführt und ermordet. Zwei seiner Opfer liegen ebenfalls hier im Krankenhaus und kämpfen ums Überleben. Wenn Upchurch stirbt, führe ich hier ein Freudentänzchen auf, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Aber was die Öffentlichkeit angeht, was Anson Bishop angeht, muss die Prognose positiv sein. Zumindest fürs Erste.«

Es blieb eine Weile still in der Leitung. »Darüber muss ich nachdenken, Detective. Und vielleicht mit meinem Anwalt sprechen. Was, wenn Bishop hier im Krankenhaus einen Komplizen hat, der alles mit anhört und an ihn berichtet? Ich persönlich kannte niemanden aus dem Team, das mit im OP war. Ich kenne nur meine eigenen Leute zu Hause in Baltimore.«

Clair seufzte und zupfte ihr zerzaustes Haar zurecht. »Ich sitze in diesem Zimmer fest … Sie müssen mit den Leuten aus dem OP reden. Erklären Sie ihnen, was auf dem Spiel steht.«

»Sie verlangen mir einiges ab, Detective.«

»Könnten Sie das tun?«

»Ich melde mich wieder.«

Er hatte aufgelegt, noch ehe sie etwas erwidern konnte. Sie hielt kurz inne, dann hängte sie den Hörer auf die Gabel.

»Und, wie war er?«, wollte Kloz wissen.

»Fantastisch.«

Noch bevor er darauf reagieren konnte, klopfte es erneut an der Tür. Durch das Fensterchen erkannte Clair Jarred Maltby vom CDC, dem Center for Disease Control. Er sah nicht glücklich aus.

6

Poole

Tag 5, 5.48 Uhr

Seit Poole hinüber in den Vernehmungsraum gegangen war, um mit Porter zu sprechen, hatte sich die Anzahl der Leute im angrenzenden Überwachungsraum verdoppelt. Captain Henry Dalton hatte sich zu Nash gesellt und dazu eine weitere Person, die Poole nie zuvor gesehen hatte.

Auch wenn Dalton eine gute Handbreit kleiner als Poole war, strahlte er eine solche Autorität aus, dass er jeden im Raum in den Schatten stellte. Und obwohl es gerade erst fünf Uhr irgendwas am frühen Morgen war, war er frisch rasiert, frisch geduscht und allem Anschein nach sogar hellwach. Für eine Dusche hätte Poole derzeit alles gegeben.

»Sie können ihn nicht länger festhalten«, verkündete Dalton, ohne sich mit Förmlichkeiten aufzuhalten.

»Und wie ich kann.«

»Wenn die Presse Wind davon kriegt, dass Sie ihn festgesetzt haben, dann teeren und federn sie ihn.«

»Ich nehme an, man hat Sie ins Bild gesetzt, Captain: Dieser Mann teert und federt sich gerade selbst. Er steht nicht nur unter dem Verdacht, den Mord im Guyon verübt zu haben. Er hat überdies eine Insassin aus dem Gefängnis in New Orleans befreit und sie über die Grenzen mehrerer Bundesstaaten befördert. Er hat unseren Befehlen zuwidergehandelt und hat Chicago verlassen, um eigenmächtig Jagd auf Bishop zu machen. Es besteht dringende Fluchtgefahr. Außerdem ist mir egal, was die Presse sagt.« Poole warf dem vierten Mann im Raum einen Blick zu. »Wer sind Sie?«

Der Mann um die fünfzig, im dunkelblauen Anzug und mit akkurat gestutztem weißem Haar, streckte ihm die Hand entgegen. »Anthony Warnick, Büro des Bürgermeisters.«

Statt ihm die Hand zu geben, drehte Poole sich wieder zu Dalton um. »Ich will Porters Personalakte sehen – die Background-Checks, die Eignungstests, sämtliche Beurteilungen. Was immer wir über ihn haben. Jedes Puzzleteil aus seiner Vergangenheit.«

»Und ich glaube, Sie schalten mal einen Gang runter und denken erst noch mal über alles nach«, gab Dalton zurück. »Das sollten wir alle.«

Warnick machte einen Schritt nach vorn. »Agent Poole, es wäre in der Tat unverantwortlich, einen Vertreter der Strafverfolgungsbehörden mit Verbrechen in Verbindung zu bringen, die so abscheulich sind wie die von Anson Bishop, ohne erst das Gesamtbild zu kennen. Die Presse lungert draußen herum wie ausgehungerte Straßenköter. Die werden Ihnen jedes Fitzelchen aus den Fingern reißen und damit losrennen, ohne über die Folgen nachzudenken. Wenn auch nur der leiseste Verdacht gegenüber Detective Porter nach außen dringt, dann wird nicht nur er an den Pranger gestellt, sondern der komplette Behördenapparat – inklusive Ihr Arbeitgeber. Die werden bei ihm nicht aufhören – die werden Sie alle für korrupt erklären. Im Augenblick können wir von der Stadt so etwas nicht auffangen. Bei allem, was hier vor sich geht – was drüben am Stroger passiert –, steht die allgemeine Sicherheit auf Messers Schneide.« Er senkte die Stimme und legte Poole eine Hand auf die Schulter. Poole schüttelte sie ab. Trotzdem fuhr der Mann fort. »Sofern er tatsächlich in die Sache verwickelt sein sollte, wird sich ein Gericht darum kümmern. Niemand hindert uns daran, den Fall erst einmal hinter verschlossenen Türen vorzubereiten und sämtliche Fakten zusammenzutragen, bevor wir damit an die Öffentlichkeit gehen. Das wäre die verantwortliche Herangehensweise.«

»Das ist nicht mehr Sam.« Nash stand am Spionspiegel und starrte in den Vernehmungsraum. »Komplett verwirrt, orientierungslos … Sieht aus, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen. So war er nicht mal, als seine Frau ermordet wurde. Wenn Sie ihm den Fall jetzt wegnehmen, zerbricht er daran.«

»Der Mann ist schon zerbrochen«, kommentierte Poole.

»Er muss das hier zu Ende bringen. Er braucht das, um einen Schlussstrich zu ziehen.«

»Und was schlagen Sie vor?«

Nash zuckte mit den Schultern. »Geben Sie ihm die Bücher. Die Tagebücher.«

»Das sind Beweismittel – und sie könnten ihn potenziell selbst belasten. Die überlasse ich ihm unter gar keinen Umständen. Ich will, dass wir sie in die Verhaltensanalyse nach Quantico schicken. Wenn da irgendwas drinsteht, dann finden die es.«

Dalton wechselte einen flüchtigen Blick mit dem Typen aus dem Bürgermeisteramt. »Wir könnten sie digitalisieren, dann hätten Ihre Leute die Daten schon in ein paar Stunden. Und Porter könnte sie ebenfalls einsehen. Wir sagen ihm, wenn er die Tagebücher lesen will, dann muss er es hier in der Metro tun – ohne Haftbefehl, er bleibt aus freien Stücken. Wenn er etwas findet – wunderbar. Wenn nicht, hätte er diese Räumlichkeiten nie verlassen. Er bleibt, wo wir ihn im Blick behalten können. Das beschert Ihren Leuten auch Zeit genug zu durchleuchten, was Sie in South Carolina gefunden haben.«

Im Vernehmungsraum hatte Porter erneut die Hände auf dem Tisch verschränkt und die Finger ineinandergekrallt. Seine Lippen bewegten sich tonlos.

Nashs Handy klingelte. Er ging hinaus auf den Flur, um den Anruf entgegenzunehmen.

»Wäre das in Ihrem Sinne, Agent?«, fragte Warnick.

Im nächsten Moment klingelte auch Pooles Handy. Er angelte es aus der Tasche und warf einen Blick aufs Display. SAIC Hurless.

Er hielt den Zeigefinger in die Höhe. »Bitte entschuldigen Sie, da muss ich rangehen.«

Hurless wartete nicht mal, bis Poole Hallo gesagt hatte. »Wir haben noch eine Leiche, die auf Bishops MO passt – eine Frau auf einem Friedhof hier in Chicago. Rose Hill. Ein Einsatzteam ist auf dem Weg. Ist Porter hinter Schloss und Riegel?«

Poole warf einen Blick durch die Spiegelscheibe. »Ja.«

»Ich kriege hier außerdem Meldungen von Granger aus South Carolina, aus dem Gefängnis in New Orleans und vom CDC im Krankenhaus hier in Chicago. In der Einsatzzentrale tragen wir alles zusammen. Wenn Sie mit dem Tatort fertig sind, will ich auch von Ihnen alles hören.«

»Ja, Sir.«

Hurless legte auf.

Nash kam wieder herein. Er war leichenblass. Sein Blick huschte von Dalton zu Poole. »Wir haben noch eine Tote.«

»Gerade gehört. Bin quasi schon auf dem Weg.«

Nash atmete hörbar aus. »Sir, wir können die Red Line nicht freigeben, bis wir die Leiche von den Gleisen geborgen haben. Wir müssen die Pendler informieren …«

»Die Red Line?« Poole runzelte die Stirn. »Die Leiche liegt auf einem Friedhof.«

Auch wenn das kaum möglich war, wurde Nash noch blasser. »Ich habe eben einen Anruf gekriegt, dass auf den U-Bahn-Gleisen der Red Line, unmittelbar vor dem Bahnhof Clark, eine Leiche liegt, eine Frau, und sie wurde dort … arrangiert … drei weiße Schachteln mit schwarzer Kordel im Gleisbett neben ihr.«

7

Nash

Tag 5, 6.13 Uhr

Detective Brian Nash stellte seinen nur teils instandgesetzten 72er Chevy Nova hinter dem Rettungswagen ab, der an der Lake Street, Ecke LaSalle, in zweiter Reihe parkte. Er angelte das »Polizeieinsatz«-Schild vor dem Radkasten am Beifahrersitz hervor und schleuderte es unter die Windschutzscheibe. Clair hatte gerade erst Minuten zuvor bei ihm angerufen. Sie war immer noch in der Leitung.

»Und da sind Sie sich sicher?«, fragte er und schob den Schalthebel auf Parken. Dann hielt er die freie Hand über die Lüftungsschlitze – es kam zwar Luft heraus, aber die fühlte sich kein bisschen wärmer an als der Wind, der vom See herüberwehte.

»Maltby vom CDC meint, sie hätten extra einen Sicherheitsdurchlauf gemacht«, erklärte Clair. »Die Probe aus dem Apfel von Upchurchs Krankenakte enthielt einen bereinigten SARS-Virenstamm – Laborqualität.«

»Scheiße.«

»Ganz genau. Scheiße. Die geben hier Medikamente aus, als wären es Süßigkeiten, aber abgesehen davon können sie nicht viel machen. Präventivmaßnahmen gibt es nicht. Dieses Gebäude ist inzwischen so hermetisch abgeriegelt wie der Keuschheitsgürtel einer Zehntklässlerin an einer katholischen Mädchenschule.«

Nashs Gackern schlug um in röchelnden Husten.

»Himmelarsch, du klingst nicht gut!«

»Hab mich erkältet oder so. Hab mich nicht ausgeruht, Mistwetter, mein Körper macht das wohl nicht mehr mit. Und jetzt holt es mich ein.«

»Dass du dich bloß von Fast Food und Schokoriegeln ernährst, macht es bestimmt auch nicht besser. Dein Körper sollte dein Tempel sein, aber du behandelst ihn wie der halbseidene Besitzer seine Mietbaracke im Slum, weil er auf ein hübsches Sümmchen von der Versicherung hofft, wenn das Ding abfackelt.«

Nashs Blick huschte zu den McDonald’s-Verpackungen im Fußraum seines Wagens. Er wechselte das Thema. »Ich hab gehört, dass Upchurchs Arzt vor ein paar Minuten im Radio gesprochen hat. Klang halbwegs so, als wären wir diesbezüglich entlastet.«

»War alles erstunken und erlogen. Der Arzt gibt uns Deckung, weil wir nun mal mehr Zeit brauchen. Upchurch ist auf direktem Wege ins Jenseits. Er hat noch maximal achtundvierzig Stunden zu leben. Ich habe jeden, der mit ihm zu tun hatte, einen Maulkorb angelegt, damit über seinen Zustand keine Silbe nach draußen dringt.«

»Wenn du mich angerufen hast, um mich aufzuheitern, Clair, dann machst du deinen Job gerade hundsmiserabel.«

Im Eingang zum U-Bahnhof duckte sich ein uniformierter Beamter unter dem gelben Tatort-Absperrband hindurch und kam auf Nashs Nova zu. Der Wind fegte den lockeren Schnee zu seinen Füßen auf und wirbelte ihn durch die Luft. Als dem Beamten dämmerte, wem der Wagen gehörte, winkte er Nash halbherzig zu und machte wieder kehrt.

»Ist es eine von Bishops Leichen?«

»Ich bin noch nicht drin«, antwortete Nash. »Klingt aber ganz danach.«

»Glaubst du, was Sam über Bishops Eltern erzählt hat?«

»Ich weiß ehrlich nicht, was ich noch glauben soll.«

»Weil der Mörder Bishops Mutter oder Vater sein könnte … oder auch nicht. Oder irgendein Nachahmer.«

Nash schaltete die Heizung aus und wieder an. Das verdammte Ding blies eindeutig nur kalte Luft aus. Seine Haut fühlte sich eisig an, als würde ihm nie wieder warm werden. »Sam hätte gesagt, wir sollten uns auf die Fakten konzentrieren. Alles andere ist nur Begleitgeräusch. Und genau das machen wir.«

»Du hast ihn gesehen, oder?«, fragte Clair.

»Ich bin mir nicht sicher, wen ich da gesehen habe. Keine Ahnung, ob er sich davon je wieder erholt.«

Clair blieb einen Moment lang still. »Weiß denn dieser FBI-Agent, dass du dort bist?«

»Ja, er weiß Bescheid. Er gibt jetzt die Richtung vor.«

»Was für eine Richtung?«

Jemand klopfte an Nashs Scheibe, und vor Schreck wäre ihm fast das Herz stehen geblieben. »Oh Gott!«

»Was?«, rief Clair.

Nash sah aus dem Fenster. Lizeth Loudon von Channel Seven News stand neben dem Wagen. Sie schob die Hände sofort wieder in ihre Pelzjacke und tänzelte von einem Fuß auf den anderen, um sich warm zu halten.

»Ich muss los, Clair. Ich ruf dich später wieder an.«

Er legte auf und stellte endlich auch den Motor ab, der noch kurz unschlüssig stotterte. Er stieg aus, donnerte die Tür hinter sich zu, schob Loudon zur Seite und marschierte auf den U-Bahn-Eingang zu. »Mit Ihnen rede ich nicht.«

»Dann erfinde ich etwas«, rief sie ihm nach und wieselte hinter ihm her.

»Wo ist denn Ihr Kameramann?«

Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter auf einen Ü-Wagen, der drei Stellplätze hinter ihm gehalten hatte. »Der will im Warmen bleiben.«

»Womöglich sollten Sie ihm Gesellschaft leisten.«

»Ich weiß, dass Sie da unten eine Leiche gefunden haben. Vielleicht das nächste Opfer von 4MK?«

»Es gibt keine Leiche.«

Sie zückte ihr Handy. Auf dem Display war ein Facebook-Post zu sehen. »Sieht nach meinem Dafürhalten nach Leiche aus.«

Nash nahm sich vor, sich den Usernamen zu merken. »Sieht nach meinem Dafürhalten nach Fake aus.«

Er duckte sich unter dem Absperrband hindurch. Als sie ihm hinterherwollte, tauchte der Streifenbeamte von zuvor wieder auf und befahl ihr, stehen zu bleiben.

»Ich gehöre zu ihm«, flötete sie.

»Gar nicht wahr«, brummte Nash, schüttelte den Kopf und lief die Treppe hinunter.