The Foxglove King - Ein Hauch von Tod - Hannah Whitten - E-Book

The Foxglove King - Ein Hauch von Tod E-Book

Hannah Whitten

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Beschreibung

Ein Hauch von Tod ... Kann Giftschmugglerin Lore ihn kontrollieren, bevor er ihr zum Verhängnis wird?
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Seit jeher kann sich Schmugglerin Lore nur auf ihren scharfen Verstand verlassen. Als sie bei einem Botengang erwischt wird, bringt man die junge Frau an den Hof des Königs, der ihr dunkles Geheimnis kennt: ihre illegale Affinität zur Totenmagie Mortem. Um der Hinrichtung zu entgehen, übernimmt Lore einen Auftrag für ihn. Zur Seite gestellt bekommt sie den jungen Mönch Gabriel, zu dem sie – wie auch zu ihrem Zielobjekt Prinz Bastian – eine unbestreitbare Anziehung verspürt. Gefangen in einem Gewirr aus Intrigen, Machtspielchen und ihren Gefühlen darf Lore ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren ...

Gothic Vibes treffen auf die Tropes Enemies to Lovers, Forbidden Romance und Love Triangle – die opulente neue Romantasy-Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Hannah Whitten.

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Seitenzahl: 727

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Seit jeher kann sich Giftschmugglerin Lore nur auf ihren scharfen Verstand verlassen. Als sie bei einem Botengang erwischt wird, bringt man die junge Frau an den Hof des Königs, der ihr dunkles Geheimnis kennt: ihre illegale Affinität zur Totenmagie Mortem. Um der Hinrichtung zu entgehen, übernimmt Lore einen Auftrag für den König. Zur Seite gestellt bekommt sie den jungen Mönch Gabriel, zu dem sie – wie auch zu ihrem Zielobjekt Prinz Bastian – eine unbestreitbare Anziehung verspürt. Gefangen in einem Gewirr aus Intrigen, Machtspielchen und ihren Gefühlen, darf Lore ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren …

Autorin

Hannah Whitten schreibt, seit sie einen Stift halten kann. Kein Wunder, dass sie als Autorin des romantischen Bestsellers »For the Wolf«, mit dem sie von 0 auf Platz 10 der »New York Times«-Bestsellerliste einstieg, heute unzählige Leser*innen zum Träumen bringt. Auch ihre »Nightshade Crown«-Trilogie wurde zu einem internationalen Bestsellererfolg. Sie lebt in Tennessee mit ihrem Mann und ihren Kindern in einem Haus, das von einer temperamentvollen Katze regiert wird.

Die »Nightshade Crown«-Reihe bei Blanvalet

The Foxglove King. Ein Hauch von Tod

The Hemlock Queen. Ein Hauch von Schatten

The Nightshade God. Ein Hauch von Gift

ROMAN

Deutsch von Simon Weinert

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The Foxglove King (The Nightshade Crown: Book One)« bei Orbit, a division of Hachette Book Group Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Das Gedicht auf S. 7 stammt von William Woodsworth, übersetzt von Werner von Koppenfels. In: Werner von Koppenfels und Manfred Pfister (Hrsg.): Englische und amerikanische Dichtung, Band 2. C.H. Beck, München 2000.

Copyright © 2023 by Hannah Whitten

This edition published by arrangement with Orbit, a division of Hachette Book Group Inc., New York, New York, USA. All rights reserved.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung und -motiv: © www.buerosued.de

SH · Herstellung: fe

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32689-0V002

www.blanvalet.de

Für alle, die sich für sich selbst entschieden haben.

Um uns ist zu viel Welt: tagein, tagaus Verzehrn wir uns im Raffen und Vergeuden; Sehn nichts in der Natur, das unser eigen – Das Herz graben wir fort in schäbigem Tausch! Die See, die ihre Brust dem Mond darbringt, Die Winde, die sonst alle Stunden rasen, Doch jetzt gesammelt, wie die Blumen, schlafen – Für dies, für alles, sind wir falsch gestimmt. Es rührt uns nicht.

William Wordsworth

Erstes Kapitel

Niemand ist geduldiger als der Tod.

Auverrainisches Sprichwort

Jeden Monat glaubte Michal aufs Neue, sich mit dem Vermieter geeinigt zu haben, und jeden Monat schickte Nicolas aufs Neue einen seiner Söhne zu ihm, um dennoch die Miete einzutreiben. Die Söhne hatten wohl Strohhalme gezogen – das Pech traf diesen Monat Pierre, den Jüngsten und Pickeligsten der Bande, und er schleppte sich durch das Hafenviertel von Dellaire wie einer, den die Guillotine erwartet.

Das konnte Lore sich zunutze machen.

Der Morgenmantel, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, war ihr von einer Schulter gerutscht. So lehnte sie im Türrahmen und beobachtete den Herannahenden. Pierres Blick glitt immer wieder zu der Stelle, wo der Stoff die Haut durchblitzen ließ, und sie musste sich auf die Innenseite der Wange beißen, um nicht zu lachen. Offenbar ließ er sich, wenn man ihm nackte Haut zeigte, nicht von den silbernen Messernarben beirren, die sie in Gassenkämpfen davongetragen hatte.

Sie hatte noch andere, interessantere Narben, hielt die Handfläche aber fest geschlossen.

Vom Meer kam eine kühle Brise heran, und Lore unterdrückte ein Schlottern. Pierre verschwendete keinen Gedanken an die Frage, weshalb sie so spärlich bekleidet aus dem Haus gegangen war, wo es morgens im Hafen doch selbst im Sommer immer frisch war. Ein leichtes Ziel in mehr als einer Hinsicht.

»Pierre!« Lore schenkte ihm ein strahlendes Grinsen, das Michals Augen immer zugleich aufblitzen und sich zusammenziehen ließ, und dann fragte er meistens, was sie von ihm wolle. Eine weitere Drehung im Türrahmen, eine weitere scheinbar nachlässige Pose, ein weiterer Windstoß, den sie mit einem unterdrückten Fluch quittierte. »Ist der Monat denn schon wieder vorbei?«

Michal sollte sich darum kümmern. Schließlich war das seine verdammte Bude. Aber die Lieferung, die er gestern Abend für Gilbert erledigt hatte, war in die Nordweststadt gegangen, und deshalb ließ Lore ihn schlafen.

Da sie hingegen früh aufgestanden war, hatte sie Gelegenheit gehabt, in Michals Taschen nach der Adresse zu stöbern, an der die Lieferung deponiert worden war. Diese hatte sie zur Schenke an der Ecke gebracht und sie Frederick, dem Wirt, gegeben. Seit Lore denken konnte, hatte Frederick in Vals Sold gestanden. Val würde jemanden vorbeischicken, der die Lieferung, noch ehe die Sonne am Himmel stand, abholen würde, und jemand anderen, der Gilberts Giftlieferung holen sollte, bevor es sein Kunde tat.

Lore war gut in ihrem Job.

Im Moment bestand der darin, dafür zu sorgen, dass der Mann, mit dem sie seit einem Jahr zusammenwohnte und den sie ausspionierte, nicht aus dem Haus geworfen wurde.

»Ich … ähm … ja, ja, schon wieder vorbei.« Pierre brachte es mit einiger Anstrengung fertig, ihr in die Augen zu schauen. »Mein Vater … ähm, er meint, diesmal wäre es ihm ernst, und …«

Lore ließ ihre Gesichtszüge mehrere ausgewählte Stadien durchlaufen, erst verwirrt, dann entsetzt, dann traurig. »Oh«, murmelte sie, schlang die Arme um sich und drehte sich so von ihm weg, dass er ihren weißen Hals sehen konnte. »Ausgerechnet diesen Monat.«

Sie erklärte nichts weiter. Das war nicht nötig. Wenn Lore in ihren dreiundzwanzig Jahren, von denen sie zehn auf Dellaires Straßen verbracht hatte, etwas gelernt hatte, dann, dass es den Männern lieber war, wenn man in ihrer Geschichte als Versatzstück vorkam und nicht als aktive Mitspielerin.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Pierre die blassen Augenbrauen zusammenzog und sich die Haut rings um seine Sommersprossen rot färbte. Nicolas’ Söhne waren alle mondbleich. Wenn sie rot anliefen, wirkten sie, als hätten sie einen viralen Infekt.

Sein Blick glitt an ihr vorbei ins Innere des einsturzgefährdeten Reihenhauses. Die Schatten, die der Sonnenaufgang warf, verbargen alles bis auf die Staubkörner, die in den Lichtbalken schaukelten. Nicht dass es dadrin viel zu sehen gegeben hätte. Michal schlief noch eine Etage höher, und seine Schwester Elle lag ausgestreckt auf der Couch, hielt noch eine Weinflasche in der Hand und schnarchte ansatzweise melodiös. Es wirkte wie jedes andere der Reihenhäuser in der Straße, die allmählich auseinanderfielen und voller Leute waren, die sich knapp unterhalb der Legalitätsgrenze bewegten, um über die Runden zu kommen.

Oder auch zuweilen sehr weit unterhalb.

»Ist jemand krank?« Pierre sprach mit gesenkter Stimme. Er versuchte sich an einem mitfühlenden Gesichtsausdruck, aber er sah eher aus, als hätte er schlechte Milch in seinen Kaffee getan. »Ein Kind vielleicht? Ich weiß, dass Michal das Haus gemietet hat, und nicht du. Ist es seins?«

Lores Augenbrauen ruckten nach oben. In all den Geschichten, die sich Männer über sie ausdachten, war das noch nie vorgekommen – Pierre musste Sex im Kopf haben, wenn er als Erstes an Schwangerschaft dachte. Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. Sie legte sich sanft eine Hand auf den Bauch. Das sollte Antwort genug sein. Wenn sie ihn seine eigenen Schlüsse ziehen ließ, war es streng genommen nicht einmal eine Lüge.

Mit Lügen hatte sie auch längst keine Probleme mehr. Lore war so oder so verdammt, ganz gleich, ob sie ihr spirituelles Führungszeugnis makellos hielt oder nicht. Das konnte sie genauso gut ausnutzen.

»Ach, du armes Mädchen.« Pierre war vermutlich jünger als sie, aber er bemutterte sie wie eine Glucke. Lore schaffte es gerade so, die Augen nicht zu verdrehen. »Und auch noch mit einem Giftschieber? Du weißt, dass er dich nicht wird aushalten können.«

Lore biss sich wieder auf die Innenseite der Wange, und zwar fest.

Ihr offensichtliches Unbehagen flößte Pierre Kühnheit ein. »Du könntest mit mir kommen«, sagte er. »Mein Vater könnte dir helfen, Arbeit zu finden, da bin ich sicher.« Er hob eine Hand und legte sie auf ihre nackte Schulter.

Und sämtliche Nerven in Lores Körper schlugen Alarm.

Es geschah so plötzlich und unerwartet, dass sie erschauderte und seine Hand mit einer Bewegung abschüttelte, die nicht zu ihrer sanften, verletzlichen Geschichte passte. Sie hatte sich daran gewöhnt, so auf Totes zu reagieren – auf Stein, Metall, Stoff. Auf Leichen, wenn sie ihnen nicht aus dem Weg gehen konnte. Es war ganz natürlich, dass sie in toten Dingen Mortem fühlte, wie unangenehm es auch sein mochte, und inzwischen konnte sie ihre Reaktion darauf verbergen und für sich behalten. Darin hatte sie genug Übung.

Aber in einem lebendigen Mann sollte sie eigentlich kein Mortem spüren, zumindest nicht bei einem, der noch nicht mit einem Bein im Jenseits stand. Ein scharfer Schreck durchfuhr sie, auf dessen Fersen etwas anderes folgte – der Duft von Fingerhut. So stark, dass er ihn sich erst wenige Minuten vor seiner Ankunft bei ihr verabreicht haben konnte.

Und er redete schlecht über Giftschieber. Was für ein Heuchler.

Ihre Finger schlossen sich um seine Faust, verdrehten sie und zwangen ihn dadurch auf die Knie. Das alles passierte so schnell, dass er dabei auf einem Kiesel ausrutschte, das Bein in einem empfindlichen Winkel abspreizte und ein ersticktes »Scheiße« durch die morgendlichen Straßen des Hafenviertels von Dellaire hallen ließ.

Lore kauerte sich zu ihm hinunter. Nun, da sie wusste, auf was sie achten musste, war es offensichtlich, denn seine Augen waren blutunterlaufen und glasig. Sein Puls an ihrer Hand ging langsam und unregelmäßig. Er war zu einem der billigen Todeshehler gegangen, der nicht wusste, wie hoch er die Dosis für seine Kundschaft einstellen sollte. Die Adern in Pierres Augenwinkeln waren kaum angegraut. Er hatte also nicht genug Gift abbekommen für eine Lebensverlängerung und ganz bestimmt nicht genug, um die Macht nutzen zu können, die am Tor zum Jenseits wartete.

Vermutlich hatte er es sowieso nicht auf derlei abgesehen. Die meisten Leute in seinem Alter wollten sich einfach nur berauschen.

Die dunklen Fäden des Mortems unter Pierres Haut, die durch das Gift in seinem Organismus aus dem Schlaf gerissen worden waren, zuckten in Lores Hand. Mortem schlummerte in jedem – die Essenz des Todes, die Macht der Entropie, die nur darauf wartete, den Körper zu überschwemmen, sollte der einmal den Geist aufgeben –, aber man konnte es nur nutzen, nur dann unter den eigenen Willen zwingen, wenn man beinahe starb.

Wenn man es nicht auf die Macht oder das euphorische Gefühl abgesehen hatte, das das Gift einem verleihen konnte, dann lockten die zusätzlichen Lebensjahre. Richtig dosiert, vermochte das Gift einen Körper auf der Scheide zwischen Leben und Tod zu balancieren, und paradoxerweise konnte dieses kurzzeitige Zugeständnis an Mortem das Leben verlängern. Nicht dass das Leben, das man im Tausch dafür bekam, besonders gut gewesen wäre – vielmehr versteinerte man allmählich, die Adern setzten sich mit Kieseln zu, sodass das Blut sich an ihnen rieb wie an einem Pflasterstein, an dem man sich das Knie schürfte.

Auf was Pierre es auch abgesehen hatte, als er an diesem Morgen einen Todeshehler aufgesucht hatte: Er hatte nicht genug bezahlt, um das Gewünschte zu bekommen. Wäre er richtig berauscht gewesen vom Gift, läge er jetzt in irgendeiner Seitengasse und würde nicht die Miete eintreiben. Die Miete, die nun, da Lore darüber nachdachte, höher war, als sie in Erinnerung gehabt hatte.

»Das läuft jetzt folgendermaßen«, murmelte Lore. »Du wirst Nicolas sagen, dass wir für die nächsten sechs Monate im Voraus bezahlt haben, oder ich erzähle ihm, dass du sein Geld bei Todeshehlern lässt.«

Scheiß auf Michals fruchtlose Abmachungen mit dem Vermieter. Sie würde nun einfach ihre eigene Abmachung treffen.

Pierres Augen, deren Lider schwer vom Gift waren, weiteten sich. »Wie …«

»Du stinkst nach Fingerhut, und deine Augen sind groß wie Fenster.« Das stimmte zwar nicht ganz, denn das alles war ihr erst aufgefallen, nachdem sie das Mortem gespürt hatte, aber bis er wieder Gelegenheit haben würde, sich selbst zu untersuchen, wäre die Wirkung ohnehin abgeklungen. »Man braucht dich nur anzuschauen, Pierre, dann weiß man Bescheid, und das, obwohl dein Todeshehler dir nur so viel gegeben hat, dass es gerade mal ein bisschen kitzelt. Es würde mich überraschen, wenn du dafür fünf Minuten Verlängerung bekommen würdest. Deshalb hoffe ich, dass der Rausch es wert war.«

Der Junge stierte sie an und sah mit seinem offenen Mund unter den Fensterglasaugen wie ein Fisch aus. Zweifellos hatte er ein hübsches Sümmchen für die Prise Fingerhut gezahlt. Wäre Lore nicht so gut darin, für Val zu spionieren, wäre sie womöglich selbst Todeshehlerin geworden. Die verdienten ein Schweinegeld mit Nichtstun.

Pierres unvorteilhafte Röte breitete sich bis zum Hals aus. »Ich kann doch aber … Er wird fragen, wo das Geld ist …«

»Ich bin zuversichtlich, dass ein fleißiger junger Mann wie du es irgendwoher beschaffen kann.« Eine rasche Bewegung mit den Fingern, und Lore ließ ihn los.

Pierre erhob sich taumelnd auf zittrigen Beinen und rückte sein zerrauftes Hemd gerade. Die grauen Adern in den Augenwinkeln färbten sich bereits wieder blaugrün ein. »Ich werd’s versuchen«, sagte er, und seine Stimme zitterte wie der ganze Kerl. »Ich kann nicht versprechen, dass er es mir abkauft.«

Lore bedachte ihn mit einem gewinnenden Lächeln. Indem auch sie sich wieder aufrichtete, zog sie ihren Morgenmantel über die Schulter. »Das sollte er tunlichst.«

Pierre lief zwar nicht davon, aber er ging sehr schnell.

Die Sonne stieg höher, und das Hafenviertel erwachte allmählich zum Leben – Stoffknäuel in dunklen Ecken regten sich, Licht und Seewind kitzelten die Verkaterten wach. Aus dem Reihenhaus gegenüber erklangen die verräterischen Seufzer von Madam Brochforts Mädchen, die ansetzten zu ihrem täglichen Streit um das Vorrecht, die Waschschüssel als Erste benutzen zu dürfen, und jeden Moment würden zwei saumselige Freier höflich, aber bestimmt vor die Tür gesetzt werden.

»Pierre?«, rief Lore, als der schon halb die Straße hinunter war.

Er wandte sich mit verkniffenen Lippen um. Offenbar wunderte er sich, mit was sie ihn noch erpressen wollte.

»Ein guter Rat.« Sie wirbelte zu Michals Reihenhaus herum, dass der verschlissene Morgenmantel flatterte. »Richtige Todeshehler haben eine Leichenhalle im Hinterhaus. Man ist leicht das Zünglein an der Todeswaage.«

* * *

Elle war wach, aber noch nicht richtig. Mit verkniffenen Augen spähte sie aus einem Haufen goldener Locken in den lichtflimmernden Staub. Auf ihren Lippen war noch Schminke verschmiert. »Wasnlos?«

»Als ob du das nicht wüsstest.« Lore schüttelte die Hand aus, mit der sie Pierres Schulter berührt hatte, um das Kribbeln loszuwerden. In letzter Zeit hatte es ihr zunehmend gefallen, Mortem zu spüren, und diese Entwicklung behagte ihr gar nicht. Sie schüttelte ihre Hand noch einmal kräftig aus, bevor sie in die Küche ging. »Monatsende, Elle-Blümchen.«

In der ramponierten Keramikdose war kaum noch genug Kaffee für eine Tasse. Lore kippte ihn in das fleckige Tuch, das sie als Filter benutzte, und drückte ihn mit den Fingern zu einer Kugel zusammen, während sie den Wasserkessel aufs Feuer setzte. Sollte es in diesem Haus nur noch eine Tasse Kaffee geben, dann würde sie ihn trinken.

»Nenn mich nicht so.« Elle setzte sich ächzend auf. Sie war in ihren Tanzstrumpfhosen eingeschlafen, und über jede Wade zog sich eine Laufmasche. Wenn es ihr auffiele, würde sie ausrasten, aber der Kundschaft im Nebelhorn und Geige ein paar Häuser weiter wäre es egal. Nach einem zerknitterten Blick in die Weinflasche, um sich zu vergewissern, dass sie leer war, drückte Elle sich von der Couch hoch und stand auf. »Michal ist nicht auf, wir müssen also nicht so tun, als würden wir uns mögen.«

Lore schnaubte. Im Verlauf des Jahres, das sie nun schon bei Michal wohnte, war es mehr als offensichtlich geworden, dass sie sich nie mit seiner Schwester vertragen würde. Lore störte das nicht. Ihre Beziehung zu Michal fußte auf einer Lüge, ihr Fundament war auf Sand gegründet und konnte nicht bestehen, weshalb also sollte sie versuchen, sich Freunde zu machen? Sobald Val ihr den Befehl geben würde, wäre sie weg.

Elle drängte sich an ihr vorbei in die Küche, und das adrige Licht, das durch die mit einem Spinnennetz aus Sprüngen überzogenen Fensterscheiben fiel, brach sich an den ausgefransten Enden ihres Tüllrocks. Sie lugte in die Dose. »Kein Kaffee?«

Lores Faust schloss sich fester um den Stoffball in ihrer Hand. »Ich fürchte nein.«

»Blutender Gott.« Elle sackte auf einen der Stühle an dem pockennarbigen Küchentisch. In nüchternem Zustand war sie für eine Tänzerin erstaunlich plump. »Dann nehm ich halt einen Tee.«

»Du erwartest doch wohl nicht, dass ich dir einen koche.«

Mit einem Grummeln und einem Verdrehen ihrer hellblauen Augen schlurfte Elle zum Küchenschrank. Als sie ihr den Rücken zugekehrt hatte, steckte Lore den Stofffilter in ihre Tasse und goss heißes Wasser hinein. Sie hoffte, dass Elle noch so viel Alkohol intus hatte, dass sie den Geruch nicht bemerkte.

Immer noch grummelnd löffelte Elle Tee, der nicht viel mehr war als Staub, in eine andere Tasse. »Und?« Ohne sie anzuschauen und offenbar auch ohne den Kaffee zu riechen, nahm sie Lore den Kessel aus der Hand. »Wie lief es? Muss Michal nun tatsächlich Geld für etwas anderes ausgeben als für Fusel und Boxwetten?«

»Zumindest nicht für Miete.« Lore blieb von ihr abgekehrt, während sie den Stoff mit dem winzigen Ball aus Kaffeepulver aus der Tasse nahm und sich in die Tasche steckte. »Die Miete für die nächsten sechs Monate ist beglichen.«

»Siehst du deshalb so zerzaust aus?« Elle verzog den Mund zu einem selbstgefälligen Flunsch. »Gegenüber hätte er es billiger haben können.«

»Dass ich zerzaust bin, daran ist tatsächlich dein Bruder schuld.« Lore wandte sich um und lehnte sich gegen die Arbeitsfläche. »Und Gehässigkeiten gegenüber den Mädchen von Madam stehen dir nicht an, Elle-Blümchen. Es ist eine Arbeit wie jede andere. Wenn du anders darüber denkst, beweist du damit nur, dass du dumm bist.«

Ein neuerliches Augenverdrehen. Elle zog eine Grimasse, während sie an ihrem dünnen Tee nippte, und Lores Lächeln wurde von Genugtuung in die Breite gezogen. Sie nahm einen verschwenderisch kräftigen Schluck Kaffee und bewegte sich zur Treppe. In der Schenke hatte sie eine Nachricht erwartet – Val brauchte heute ihre Hilfe bei einer Lieferung. Es war ein riskantes Unternehmen, sie einzusetzen, während sie verdeckt an diesem Fall arbeitete, aber es fehlten Leute. Viele Rekruten wurden ihnen im Hafen von anderen weggeschnappt.

Und Lore verfügte über Fähigkeiten, die sonst niemand hatte.

Sie würde sich eine Ausrede einfallen lassen müssen, weshalb sie den ganzen Tag fort sein würde, aber wenn sie Michal mit Küssen weckte, würde er keine weiteren Fragen stellen. Sie ertappte sich dabei, dass sie bei dem Gedanken daran lächelte. Sie küsste Michal gern. Das war gefährlich.

Ihr verging das Lächeln.

Die Treppe war genauso wackelig wie der Rest des Hauses, und die vierte Stufe quietschte fürchterlich. Lore zuckte zusammen, als ihr Absatz darauf landete, verschüttete Kaffee und verbrannte sich daran die Finger.

Als Lore den verschlissenen Vorhang zur Seite schob, der als Tür diente, hatte sich Michal bereits aufgesetzt, das Laken knäulte sich um seine Hüfte, floss vom Bett herunter auf den Boden. Ob er wegen der quietschenden Stufe oder durch Lores lauten Fluch aufgrund des verbrannten Fingers aufgewacht war, ließ sich nicht erkennen.

Er schob sich die dunklen Haare aus den zusammengekniffenen Augen. »Kaffee?«

»Die letzte Tasse, aber ich teile sie mit dir, wenn du sie dir holen kommst.«

»Das ist großzügig, denn ich nehme an, dass du sie brauchst.« Grummelnd erhob er sich von der auf dem Boden liegenden Matratze, wobei er sich das Laken um die Hüfte gewickelt hielt. »Letzte Nacht hattest du wieder einen Albtraum. Hast um dich geschlagen, als wäre die Nachthexe höchstpersönlich hinter dir her.«

Sie wurde rot, zuckte aber nur mit den Schultern. Die Albträume waren eine jüngere Entwicklung und unvorhersehbar. Sie konnte sich nie an viel erinnern, lediglich an vage Eindrücke, die nicht zu dem Panikgefühl passen wollten, das in ihr zurückblieb. Weiter blauer Himmel, ein wogendes Meer. Ein dunkler Schemen, der durch die Luft schoss wie Rauch, nur dichter.

Lore hielt ihm den Kaffee hin. »Entschuldige, falls ich dich wach gehalten habe.«

»Immerhin hast du diesmal nicht geschrien.« Michal nahm einen kräftigen Schluck aus der angebotenen Tasse, verzog aber beim Schlucken das Gesicht. »Keine Milch?«

»Elle hat den letzten Tropfen aufgebraucht.« Lore zuckte mit den Schultern, nahm ihm die Tasse wieder aus der Hand und trank sie leer.

Michal fuhr sich mit der Hand durch die Haare, um sie zu zähmen, während er sich bückte und den Kleiderhaufen vom Boden aufhob. Dabei fiel ihm das Laken herunter, und Lore gönnte sich einen ausgiebigen Blick.

»Ich habe heute wieder eine Lieferung«, erklärte er, während er sich anzog. »Deshalb werde ich wohl bis zum Abend weg sein.«

Das machte ihr das Leben um einiges leichter. Lore setzte sich halb aufs Fensterbrett, schaute ihm beim Ankleiden zu und hoffte, dass er ihr die Erleichterung nicht ansah. »Gilbert lässt dich ganz schön schuften.«

»Die Nachfrage ist gestiegen, und er hat immer weniger Leute. Die lassen sich jetzt am Hafen als Schauerleute anheuern, da kriegen sie mehr Lohn, als Gilbert sich leisten kann.« Michal spähte mit schmalen Augen im Zimmer umher, bis er seine Stiefel unter einem Stapel Laken in der Ecke entdeckte. »Die Presquemorts und die Blutmäntel waren damit beschäftigt, sich auf die Weihe des Sonnenprinzen morgen vorzubereiten, und alle nutzen es aus, dass die gerade etwas anderes zu tun haben.«

Wie es schien, machte Gilbert während der Sicherheitslücke mehr Geschäfte, als klug war, aber das war nicht Lores Problem. Zumindest redete sie sich das ein, wenn sich die Sorge um Michal wie eine Faust um ihre Eingeweide schloss. »Muss ja eine zutiefst heilige Weihe sein, die sie da vorhaben, wenn die Presquemorts eingeladen sind. Die sind nicht gerade als die besten Festgäste bekannt.«

Michal stieß ein verärgertes Lachen aus, während er sich die Stiefel anzog. »Vor allem nicht, wenn es bei dem Fest Gift gibt.« Er ließ den Kopf kreisen, um seinen von der steinharten Matratze steif gewordenen Hals zu lockern, und stand auf.

»Sei vorsichtig heute Nacht«, sagte Lore und biss sich plötzlich auf die Lippen. Das hatte sie nicht sagen wollen. Das hatte sie nicht meinen wollen.

Ein träges Lächeln hob seine Mundwinkel. Michal schlenderte zu ihr und nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Machst du dir etwa Sorgen um mich, Lore?«

Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick, schüttelte ihn aber nicht ab. »Gewöhn dich besser nicht dran.«

Ein Lachen polterte durch seine Brust, an die er sie gedrückt hielt, und dann legte er seine Lippen auf die ihren. Lore seufzte und erwiderte den Kuss, schlang die Hände um seine Schultern und zog ihn zu sich heran.

Es war sowieso bald vorbei, deshalb konnte sie es ruhig noch auskosten.

Trotz Michals Wärme fühlte Lore sich fröstelig. Sie spürte überall Mortem – im Stoff von Michals Hemd, den Pflastersteinen der Straße draußen, der abgeplatzten Keramiktasse auf dem Fensterbrett. Obwohl ihr Gespür dafür immer stärker wurde, sich in den letzten Monaten kontinuierlich gesteigert hatte, konnte sie es normalerweise ignorieren, doch Pierres unerwarteter Fingerhut hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Hier, in den Randgebieten von Dellaire, war Mortem nicht so verbreitet wie in der Nähe der Zitadelle – in der Nähe des Leichnams der Begrabenen Göttin darunter, dem die Todesmagie entströmte –, aber es war noch genug, um eine Gänsehaut zu bekommen.

Weiter als ins Hafenviertel am Südende von Dellaire ließ Mortem sie nicht kommen. Sie hätte versuchen können, ein Schiff zu besteigen oder eine der gewundenen Straßen zu nehmen, die in die anderen Gegenden Auverraines führten, aber es wäre zwecklos gewesen. Die Mortemfäden, die mit ihrem Mark verwoben waren, hätten sie einfach wieder zurückgezogen. Sie war so fest an diese verdammte Stadt gefesselt, wie der Tod ans Leben gebunden war oder der eingebrannte Halbmond an den unteren Teil ihres Handtellers.

Michals Mund wanderte zu ihrem Hals, und sie bog sich ihm mit geschlossenen Augen entgegen. Sie verkrallte sich in seinen Haaren, und sein Arm schlang sich um ihre Hüfte, als wollte er sie hochheben, zu der Matratze auf dem Boden tragen und sie vergessen lassen, dass dies alles ein Ende haben würde.

Aber weil sie es tatsächlich vergessen wollte, stieß sie ihn von sich, wobei sie es spielerisch verpackte. »Du willst doch nicht zu spät kommen.«

Er verweilte noch kurz auf ihren Lippen, bevor er einen Schritt zurücktrat. »Dann sehen wir uns heute Nacht.«

Sie lächelte, aber es fühlte sich unnatürlich an.

Michal ging, die Stufe ließ ihr Quietschen hören, und die Fenster klapperten, als er die Tür schloss. Lore hörte Elle seufzen, als wäre die Arbeit ihres Bruders eine persönliche Beleidigung, und durch die dünnen Wände klang es, als wäre sie nicht im Erdgeschoss, sondern direkt neben Lore.

Lore blieb einen Moment stehen, das Licht der langsam aufsteigenden Sonne glänzte auf ihrem Haar, auf der abgetragenen Seide ihres Morgenmantels. Dann zog sie sich eine fließende Bluse und enge Kniehosen an und ging ebenfalls hinunter. Sie hatte ein Treffen mit Val.

Elle hatte sich wieder auf der Couch zusammengerollt, in einer Hand die zerlesene Taschenbuchausgabe eines Romans, in der anderen eine weitere Tasse lauwarmen Tee. Sie beäugte Lore, als wäre sie etwas Unangenehmes, das jemand von der Straße eingeschleppt hatte. »Und wo gehst du hin?«

»Ach, hast du es denn nicht gehört? Ich habe eine Einladung zur Weihe des Sonnenprinzen bekommen. Eigentlich wollte ich nicht hin, aber es heißt, danach gäbe es eine Orgie, und das kann ich mir schlecht entgehen lassen.«

Elle verdrehte die Augen so sehr, dass Lore staunte, dass sie sich dabei keinen Muskel zerrte. »Du bist mächtig komisch.«

»Du machst dir kein Bild.« Lore öffnete die Tür. »Tschüss, Elle-Blümchen.«

»Verfaule in deiner Hölle, Lore-Liebste.«

Lore wackelte zum Abschiedsgruß übertrieben mit den Fingern, bis die Tür geschlossen war. Sie würde Elle schon ein bisschen vermissen, wenn Val nicht mehr Gilbert, sondern einen anderen Schieberring beobachten lassen wollte und ihr Spionageauftrag zu Ende wäre.

Allerdings nicht so sehr, wie sie Michal vermissen würde.

Aber sie würde die beiden nicht lange vermissen können. Leute kamen und gingen. Die einzigen Konstanten waren ihre Mütter – Val und Mari – und die Straßen von Dellaire, die sie nie würde verlassen können.

Und die Erinnerungen an eine Kindheit, die sie immerzu vergessen wollte.

Nach einem letzten Blick auf das Reihenhaus machte sich Lore auf den Weg.

Zweites Kapitel

Die zur Dunkelheit Geborenen tragen es in ihrem Wesen. Die Sünde tragen sie in sich, in ihrem Körper, ihrem Geist und ihrer Seele.

Das Buch der Gesetze der Sterblichen, 7. Traktat

Sich in Dellaire zurechtzufinden, war nicht schwer. Lore hatte von anderen Städten gehört – verworren und verwirrend, voller Nebenstraßen –, und die Vorstellung war ihr vollkommen fremd, nachdem sie ein halbes Leben auf Dellaires wohlgeordneten Straßen zugebracht hatte. Die vier Stadtteile entsprachen den vier Himmelsrichtungen. Die beiden westlichen stießen ans Meer, während die östlichen auf das hügelige Ackerland Auverraines hinausgingen. Im Stadtzentrum stand die kreisrund erbaute Kirche, die über die Zitadelle wachte.

Wenn Dellaires Straßen auch ein Gitter bildeten, so waren die Katakomben darunter doch ein verschlungenes Netz.

Mit schwachem Sonnenlicht im Nacken stand Lore vor dem Eingang eines baufälligen Gebäudes ein paar Straßen von Michals Reihenhaus entfernt. Es wirkte wie etwas, das schon vieles gewesen war, so vieles, dass sich alles gegenseitig aufhob und es heute als nichts mehr zu erkennen war. Ein leichter Seewind kräuselte die ausgerissenen Stoffe, die in den Fenstern hingen.

Lore fluchte leise. Wenn sie in die Nähe der Katakomben kam, wurde sie immer nervös.

Sie waren leer. Das spürte sie selbst jetzt, einige Schritte von ihrem Eingang entfernt. In den Tunneln im Umkreis einiger Meilen war niemand.

Dennoch kribbelte es auf ihrer Haut.

Das war die Fähigkeit, die sie unbezahlbar machte. Mit ihr hatte sie vor zehn Jahren als dreizehnjähriges Straßenkind mit leeren Augen und einer frischen Brandwunde in der Handfläche Mari entsetzt. Vals Frau war auf dem Weg zum Markt gewesen und dabei der jungen Lore begegnet, die durch ein zertrümmertes Loch in ein verlassenes Haus gestarrt hatte, das in die Katakomben führte.

Lore konnte sich noch daran erinnern. Fast alles, was sich vor diesem Augenblick ereignet hatte, hatte sie aus ihrem Gedächtnis verbannt – die dreizehn Jahre ihres Lebens, die sie fast ausschließlich unter der Erde verbracht hatte. Aber die Erinnerung an ihre Begegnung mit Mari war kristallklar, vollkommen erhalten, als könnte ihr Verstand alles davor wegwischen, indem er diese Erinnerung in allen Einzelheiten am Leben erhielt.

»Alles in Ordnung mit dir?« Maris Stimme war sanft und tief, ihre langen Zöpfe hatte sie auf dem Kopf zusammengebunden. Sie hatte kurz gezögert, bevor sie Lore ihre goldbraune Hand auf die Schulter gelegt hatte. »Stimmt etwas nicht?«

Lore hatte auf das Loch gestarrt und sich auf das Brennen der noch nicht verheilten Wunde in ihrem Handteller konzentriert, auf die Dunkelheit dahinter, die sich schon immer in ihr Wesen hinein erstreckte. Sie hatte geblinzelt, und über die Innenseite ihrer Augenlider hatte sich das Gewirr der Tunnel gelegt. »Niemand kommt«, hatte sie geantwortet. »Jetzt gerade nicht.«

Nun, viele Jahre später, schüttelte Lore den Kopf. Inzwischen gelang es ihr besser, nur dann auf ihren siebten Sinn für die Katakomben zurückzugreifen, wenn sie ihn brauchte – selbst jetzt, da ihre seltsame Fähigkeit genau wie ihr Gespür für Mortem an Stärke zuzunehmen schien –, aber wenn sie so dicht davorstand, konnte sie es fast unmöglich ignorieren, weil es in ihre Gedanken einsickerte wie Tinte in Wasser. Sie spürte die Tunnel wie Phantomglieder, als wären die Katakomben und das Mortem in ihnen ein Teil von ihr. Manchmal meinte Lore, wenn man ihr die Haut abziehen und sie umdrehen würde, könnte man auf der glitschigen Innenseite eine Karte finden, die sich ihr ins Fleisch geprägt hatte.

Seufzend lehnte sie sich an die Hauswand. Sie war ein wenig früher hier, als Val sie bestellt hatte, und Val war alles andere als unpünktlich.

Eine Minute später kam Val auf sie zu, entschlossenen Schrittes, wie sie immer ging, ob sie nun dahinschlenderte oder zu einem Angriff beim Messerkampf ansetzte. Sie war mittleren Alters, eher streng als im herkömmlichen Sinne schön. Ihr Gesicht war bleich wie Papier, die Augen wie grünes Glas, und ihre goldenen Haare waren mit einem schon fast zur Farblosigkeit verblichenen Schal zusammengebunden.

Lore hob grüßend die Hand, doch Val schnappte ihre Finger und zog sie in eine Umarmung. »Hast du dich auch nicht in Schwierigkeiten gebracht, Maus?«

»Zumindest in keine, die du nicht willst.« Lore erwiderte die Umarmung, sodass ihr der vertraute Geruch von Bienenwachskerzen und Whiskey schwer und beruhigend in der Lunge lag. Seit dem Tag, als Lore aus der Dunkelheit in eine ihr fremde Welt gekommen war, hatten Val und Mari sie aufgezogen. Sie hatten sie beschützt und ihr einen Sinn gegeben, obwohl es ein Risiko für sie bedeutet hatte und sich die Auswirkungen ihrer sonderbaren Kindheit auf furchtbare Weise manifestiert hatten.

Aber darüber sprachen sie nicht.

Val schnaubte und machte die Arme gerade, wobei sie Lore noch an den Schultern hielt. Ihr Blick war schon immer durchdringend wie ein Skalpell gewesen, so auch jetzt. »Ich zieh dich ab«, sagte sie ohne weitere Einleitung.

Lore kräuselte die Stirn. »Was?«

»Wir haben alles, was wir über Gilberts Organisation wissen müssen. Wenn er diese Woche so viele Geschäfte abwickelt, wie du sagst, wird er sowieso nicht mehr lange Gift liefern. Nach einer königlichen Weihe steigen die religiösen Gefühle an. Die Presquemorts sind nun vielleicht abgelenkt, aber nach der Zeremonie werden sie überall herumschnüffeln, dass du Augen machen wirst.«

Sosehr Lore ihre Ziehmütter liebte, konnte sie doch nicht leugnen, dass sie mörderisch waren. Val und Mari verfolgten die Vision, die einzigen Giftlieferantinnen in Dellaire zu werden – dann wären sie nahezu unantastbar. Blutmäntel nahmen jedes Bestechungsgeld, das man ihnen bot, und selbst die Presquemorts und der Rest der Kirche sahen manchmal nicht so genau hin. Die kriminelle Schattenseite Auverraines war nur kriminell, solange nicht genug Gold in die richtige Hand gewandert war.

Trotzdem schüttelte Lore den Kopf und redete sich ein, ihr Widerstreben habe geschäftliche Gründe und nichts mit Michal zu tun. »Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich kann noch einiges in Erfahrung bringen.«

Eine bleiche Braue wanderte nach oben. Val hielt den Kopf schief, und ihr Skalpellblick bohrte sich tiefer. »Du magst ihn.«

»Nein.« Ja. »Das hat damit nichts zu tun.«

»Ach, Maus«, seufzte Val. »Ich hab’s dir doch gesagt. Du musst dich distanzieren.«

Aber sie war doch immer distanziert. Die Macht in ihren Adern, die schrecklichen Dinge, zu denen sie fähig war, distanzierten sie immer. Und es tat gut, den Seiten ihrer Persönlichkeit, die man mögen – sogar lieben – konnte, manchmal ein wenig Trost zu gönnen.

Val klopfte ihr auf die Schulter. »Es ist zu deinem Besten, Lore. Glaub mir.« Sie hielt inne. Ihre Zähne bohrten sich in die Ecke ihrer Unterlippe. »Es ist alles zu deinem Besten.«

Und damit hatte sie recht. Val hatte immer recht. Lore seufzte und nickte.

Es würde ganz einfach sein. Sie hatte Skripte dafür, Listen mit Ausflüchten, mit denen sie über die Jahre andere Beziehungen gelöst hatte, Beziehungen zu Leuten, die sie hatte ausspionieren sollen, um Informationen über deren Auftraggeber zu erlangen, und vor denen sie genauso gewarnt worden war. Da gab es einmal die kranke Tante, um die sie sich kümmern musste, den eifersüchtigen Ehemann, der sie schließlich gefunden hatte, das plötzliche Verlangen, in eine andere Stadt zu ziehen und ein neues Leben anzufangen. Üblicherweise wurden diese Ausflüchte nicht in Frage gestellt, und Dellaire war so groß, dass sie diese Leute selten wiedersah. Kam es doch einmal vor – äußerst selten –, nahmen sie keine Notiz von ihr. Lore hielt ihre Beziehungen kurz, und Giftschieber kamen in noch kürzerer Zeit darüber hinweg.

»Erzähl mir von dieser Lieferung«, sagte Lore, die dringend das Thema wechseln wollte.

»Eine ganz einfache Sache.« Vals Blick wandte sich von Lore ab. »Normalerweise würde ich dich nicht damit belästigen. Aber der Kunde wollte, dass die Kisten am Katakombeneingang auf dem Marktplatz des Nordwestviertels abgestellt werden.«

»Dann brauchst du mich also, um sie zu bewachen und sicherzugehen, dass sich ihnen niemand nähert, bis der Kunde sie abholen kommt.« Oft nutzten Stadtstreicher die äußeren Tunnel der Katakomben, um sich in Dellaire zu bewegen. Dort etwas abzustellen, war riskant.

»Sollte nicht lange dauern«, sagte Val. »Wenn du jetzt aufbrichst und die Hafenstraßen abkürzt, solltest du zur Wachablösung dort sein. Es wird Chaos herrschen, weil morgen die königliche Weihe stattfindet. Jean-Paul bringt die Ware auf den Marktplatz, und wenn er während der Wachablösung ankommt, sollte es ihm gelingen, durchzuschlüpfen, ohne durchsucht zu werden. Dann kannst du ihm beim Abladen helfen.«

Zum Marktplatz gehen, die Lieferung abladen, das Gift bewachen, bis es abgeholt wurde. Die Kunden ließen die Ware nicht gern lange stehen, deshalb sollte Lore nicht länger als eine Stunde dortbleiben müssen. Dann könnte sie zu Michals Reihenhaus zurückkehren, in die rostige Löwenfußbadewanne hüpfen, um sich den Juckreiz abzuwaschen, den die Nähe der Katakomben bei ihr verursachte, und entscheiden, welche ihrer Lügen sie nehmen wollte, um das, was zwischen ihnen war, zu beenden.

Sie nickte Val entschlossen zu. »Dann mache ich mich auf den Weg.«

Die alte Giftschieberin betrachtete sie einen Moment mit einem undeutbaren Ausdruck. Dann zog sie sie erneut zu sich heran und drückte sie so fest, dass Lore vor Schreck fast aufgeschrien hätte.

»Wir lieben dich wie eine Tochter«, murmelte sie in Lores Haarschopf. »Mari und ich. Das weißt du, oder?«

Verdutzt nickte Lore, obwohl sie den Kopf kaum bewegen konnte. »Natürlich weiß ich das.«

»Und was immer wir tun, wir tun es, weil wir es müssen.« Val trat einen Schritt zurück, ließ die Hände aber auf Lores Schultern liegen und sah sie mit ihren grünen Augen ungewohnt sanft an. »Es tut mir leid, dass ich dich zwinge, ihn zu verlassen, Maus.«

Lore nickte noch einmal ruckartig und schluckte, weil sich ihr die Kehle eigenartig zuschnürte.

Noch einmal drückte Val ihr die Schultern. »Na, dann los mit dir«, sagte sie. »Nicht dass du zu spät kommst.« Sie wandte sich um und ging in die Richtung davon, aus der sie gekommen war.

Lore schloss die Augen. Ihr Seufzen klang nur ein wenig zittrig. Dann wandte auch sie sich um und ging in die andere Richtung, wo der Hafen lag.

* * *

Die Hafenstraßen zu nehmen, war ein Fehler. Lore war kaum eine Meile weit gekommen, als sie am Horizont Gold erspähte, und nach eineinhalb Meilen war klar, dass die Vorbereitungen für die Weihe des Sonnenprinzen fast sämtliche Straßen zwischen hier und dem Nordwestviertel in Beschlag genommen hatten. Bunte Buden säumten die sonst verlassenen Wege und boten Figürchen des Blutenden Gottes und grünliche Kupferrepliken der Strahlenkrone des Gebenedeiten Königs feil. Blutmäntel in ihren roten Jacken liefen mit blitzenden Bajonetten durch die wachsende Menschenmasse, und Lore entdeckte sogar ein oder zwei Presquemorts, von Kopf bis Fuß in drückendes Schwarz gekleidet.

»Bescheuert«, fauchte sie vor sich hin. »Götterverdammt bescheuert, vor einer Weihe eine Lieferung durchzuführen.«

Vermutlich würde sie sich durch die Menschenmenge winden können, aber das würde Zeit kosten, und die Ware bliebe unbewacht. Unter einer Salve von Flüchen machte Lore kehrt und lief zu dem Gebäude zurück, vor dem sie sich mit Val getroffen hatte.

Wenn sie oberirdisch nicht weiterkam, blieben ihr nur die Katakomben, um rechtzeitig zum Übergabeort zu gelangen.

Scheiße.

Das Gewicht ihres Dolches zog beruhigend an ihrer Hüfte, als Lore sich vorsichtig durch den gebogenen Türsturz duckte und dabei nach Wiedergängern Ausschau hielt. Wiedergänger waren keine echte Gefahr, da die körperlichen Auswirkungen von zu viel Gift und zu langem Leben sie langsam machten, aber Lore war trotzdem nicht scharf darauf, einem von ihnen zu begegnen. Sie pflegten sich an den Eingängen von Katakomben herumzutreiben, und mit ihrer lästigen Fähigkeit konnte Lore lediglich spüren, ob sich jemand tatsächlich im Tunnel befand.

Außerdem bestand an Katakombeneingängen jederzeit die Gefahr von austretendem Mortem, weshalb es im besten Fall unangenehm, im schlimmsten Fall gefährlich war, sich ihnen zu nähern. Ungerichtetes Mortem konnte sich durch einen Körper ätzen, und da so viel aus dem Leichnam der Begrabenen Göttin unter der Zitadelle floss, schaffte es die Kirche oft nicht einmal mit der Hilfe der Presquemorts, alles zu kontrollieren.

Beim Gedanken an die Morts zog sich Lores Mund zusammen. Die Eliteeinheit aus Mortem nutzenden Mönchen war speziell zu dem Zweck geschaffen worden, auslaufendes Mortem zu kanalisieren, damit es Dellaire nicht überschwemmte, aber manchmal war es schlicht zu viel. Und dann war da noch die Frage, was man damit tun sollte. Die Presquemorts lenkten das Mortem normalerweise in den Stein zurück, da dieser bereits tote Materie war, aber dadurch entstanden überall auf den Straßen Karsttrichter. Dellaires tote Göttin war verheerend für das Wegenetz.

Eine andere Möglichkeit bestand darin, Mortem in etwas Lebendes zu kanalisieren, normalerweise in Pflanzen – Gerüchten zufolge hatten die Morts einen Garten voller Steinblumen und Bäumen aus Fels. Wenn besonders viel austrat, mussten die Presquemorts manchmal aufs Ackerland ausweichen und ganze Felder zerstören. Aber ein derart katastrophales Leck war seit Ewigkeiten nicht mehr vorgekommen.

Der Katakombeneingang befand sich weiter hinten im Haus, über einer Ansammlung vollgekritzelter Steinbrocken und zerbrochener Bodendielen. Freundlicherweise hatte jemand ein Gesicht mit Kreuzen über den Augen und einen Richtungspfeil an die Wand gemalt.

Lore brauchte den Richtungspfeil nicht. Je weiter sie ging, desto mehr kribbelte ihre Haut, und ihr angeborenes Wissen um den Untergrund erwachte mit einem Übelkeit erregenden Ruck. Aus dieser Nähe konnte sie, wenn sie die Augen schloss, die schwarzen Linien der Katakomben in ihrem Kopf sehen – ein Wirrwarr aus Tunneln, der sich über ihre Gedanken legte und sie dunkel einfärbte.

Da sie das immer aus dem Gleichgewicht brachte, versuchte sie angestrengt, nicht zu blinzeln, während sie auf die marode Tür zuging. Durch die Nase atmete sie tief ein und durch den Mund wieder aus, um ihren Kopf frei zu machen. Eine Giftlieferung in den Katakomben abzustellen, war eine Sache, aber es war etwas ganz anderes, wenn man sie durchwanderte und sie von allen Seiten auf einen eindrängten. Das halbmondförmige Brandmal in ihrem Handteller schmerzte, und sie war so abgelenkt, dass sie die Gestalt hinter ihr nicht bemerkte, ehe es zu spät war, um ihr zu entkommen.

Ein Arm schlang sich um Lores Hals, schmutzige Finger bohrten sich in ihre Haut, dicht gefolgt vom süßen, krautigen Geruch von Belladonna. Mit einem erstickten Fluch riss Lore den Ellbogen hoch und rammte ihn nach hinten in eine Gestalt, die sich furchtbar knochig anfühlte.

Das musste ein Wiedergänger sein. Die sahen immer aus wie wandelnde Leichen.

Der Wiedergänger lachte, ein behauchter, keuchender Laut, bei dem eine weitere Wolke blumigen Gifthauchs ausgestoßen wurde. Der Arm fiel von ihr ab, die hagere Gestalt zuckte zurück – Lore wirbelte mit gezücktem Dolch auf dem Absatz herum und hielt ihn ihr an die schmutzige Kehle.

Eindeutig ein Wiedergänger, einer, der schon längst hätte tot sein müssen. Abgemagert zum Skelett, mit nur noch wenigen Zähnen im Mund, tief in ein Gesicht eingesunkene Augen, das die Farbe eines Fischbauchs hatte und von steingrauen Adern durchzogen war. Er war so ausgezehrt, dass man sein Geschlecht nicht mehr bestimmen konnte. Er gab ein weiteres pfeifendes Lachen von sich, und Lore sah die Lunge unter seiner Haut angestrengt arbeiten, denn sein Körper bestand mehr aus Stein als aus Fleisch.

»Dachtest, du könntest dich verstecken, was?« Die Lippen des Wiedergängers öffneten sich zu einem verkrampften Grinsen. Die untere Lippe platzte auf, aber es trat keine Flüssigkeit aus. »Ich rieche den Tod an dir schon auf einige Meilen Entfernung, Süße. So ein Schatz von Tod. Wie kommt es, dass du gesund bist, so unversehrt? Ein Mädchen, das für das Vergessen gemacht ist, sollte nicht so gesund sein.«

»Anscheinend verabschiedet sich der Verstand schnell, auch wenn der Körper fortbesteht«, zischte Lore.

Der Wiedergänger lachte rau und schmerzhaft. »Ich war ein paarmal so nahe dran. So nahe dran, dass ich fast die Ewigkeit berühren konnte.« Eine Schulter hob sich und sackte wieder herunter. »Aber ich habe es nie ganz dahin geschafft. Aber du … du hast diese Macht, obwohl du es gar nicht versuchst. Wie neuartig. Wie selten.« Abgeplatzte gelbe Zähne zeigten sich bei seinem Lächeln. »Sie hätten dich töten sollen, als sie Gelegenheit dazu hatten.«

Lore bekam starre Knie. Die Spitze ihres Dolchs wackelte.

»Einmal bin ich da runter, weißt du.« Wieder lächelte der Wiedergänger. »Bin tagelang herumgewandert. Sie stocken auf, fein säuberlich aufgereiht, bereit für den Krieg.«

Sinnloses Gefasel, das deutliche Zeichen, dass er schon längst den Verstand verloren hatte. Kurz empfand sie Mitleid mit der Gestalt, die eigentlich eine Leiche hätte sein sollen, und ihre mörderische Entschlossenheit geriet ins Wanken. Lore steckte ihren Dolch weg und ging auf leicht zittrigen Beinen weiter Richtung Tür. Sie konnte laufen. Wenn sie laufen würde, käme sie nur ein paar Minuten zu spät zum verabredeten Ort.

Hinter ihr erklang ein weiteres Lachen und dann ein Knarren, als der Wiedergänger seinen Skelettleib auf den Boden legte. »Lauf, lauf, Süße«, trällerte er leise. »Du kannst nicht vor dir selbst davonlaufen.«

* * *

Noch ehe sie die Wachen sah, wusste sie bereits, dass sie zu spät war.

Man konnte sie nur schwer übersehen. Die Protektoren der Zitadelle trugen hellrote Wämser und hielten ihre Bajonette blitzblank poliert, so sauber, dass man sich fragte, wie viele Leute überhaupt mit ihnen Bekanntschaft machten. Doch Lore wusste es besser – man nannte sie nicht umsonst Blutmäntel. Sie wusste auch, dass sie ihrer Aufmerksamkeit entgehen konnte, wenn sie ihre Haare zusammenband und unter eine Mütze steckte, ihre üppigen Rundungen unter losen Jungenkleidern verbarg und den Kopf einzog. Die Wachablösung hatte offenbar schon stattgefunden, und sie konnte nur hoffen, dass Jean-Paul es durchgeschafft hatte, solange der Kontrollposten unbemannt gewesen war.

Hier drängte sich die Menge sogar noch dichter als im Hafenviertel. Lore stellte sich auf die Zehenspitzen, um das Tor zu beobachten, nach Jean-Pauls herausstechendem roten Haarschopf und dem großen, behäbigen Pferd Ausschau zu halten, das sie innerhalb des Viertels für Lieferungen nutzten. Sie sah ihn aber nicht und musste gegen die Panik ankämpfen, die in ihrem Bauch einen immer dickeren Knoten bildete, während sie auf die alte Ladenfassade zuging, wo sie die Ware hatten deponieren sollen. Vielleicht hatte er den Kontrollpunkt schon passiert, vielleicht wartete er dort auf sie …

Lore bog um die letzte Ecke, und die alte Ladenfassade kam in Sicht. Rote Mäntel, polierte Gewehre. Ein Wagen mit größtenteils leeren Kisten. Jean-Pauls roter Haarschopf. Er sah auf und bemerkte sie, er, ein untersetzter Weißer mittleren Alters, der schon für Val gearbeitet hatte, als Lore dazugestoßen war, und obwohl er möglichst ausdruckslos dreinschaute, glänzten seine Augen furchtsam und hatten etwas beinahe Tierisches.

Zu spät, zu spät, zu spät.

Für einen Moment vermochte Lore nichts anderes zu tun, als am Fleck zu verharren. Als sich einer der Gardisten zu ihr umwandte, huschte sie in eine Seitengasse und drückte den Rücken so schwer atmend an die schmutzigen Ziegel, dass ihr die Kehle wehtat.

»Scheiße«, spie sie heiser aus. »Scheiße.«

Mit angehaltenem Atem lugte Lore um die Ecke. Offenbar hatte Jean-Paul es an dem Kontrollpunkt vorbeigeschafft, ohne durchsucht zu werden, aber dann war den Blutmänteln ihr Fehler anscheinend aufgefallen, und sie hatten ihn eingeholt, als er gerade am Laden ankam. Selbst wenn Lore rechtzeitig hier gewesen wäre, hätte sie nichts ausrichten können.

Jean-Paul, das musste man ihm lassen, behielt seine ungerührte Miene selbst dann noch bei, als die Blutmäntel in seinen Kisten herumstocherten. Der große Kerl hatte die Hände in den Taschen, kippte auf den Füßen vor und zurück, wie es ein argloser Händler tun würde, der darauf wartete, dass die Durchsuchung abgeschlossen war. Er hielt den Kopf ein wenig geneigt, damit seine verängstigten Augen unter der Hutkrempe verborgen blieben.

Sie sollte ihn im Stich lassen. Das war ihr klar. Das war eine der ersten Lektionen Vals gewesen. Wenn etwas schiefging, sollte jeder auf sich selbst sehen.

Aber sie brachte es nicht über sich wegzulaufen. Jean-Paul hatte einen Ehemann und einen kleinen Sohn, und wenn man ihn erwischte, würde man ihn zu den Verbrannten Inseln schicken. Lore konnte ihn nicht einfach diesem Schicksal überlassen.

»Scheiße.« Nach diesem letzten Fluch, bei dem sie das Sch besonders auskostete, verließ sie die Seitengasse und mischte sich unter die Menge.

Die Blutmäntel schenkten ihr keine Beachtung, während sie sich so unauffällig wie möglich näherte. Einer von ihnen, ein stämmiger Mann mit gerolltem Schnauzer unter der kleinen, blassen Nase hielt eine Kistenattrappe voller beinahe keimender Kartoffeln in der Hand und zog eine Braue hoch. »Wenn du mich beliefern würdest, Alter«, höhnte er, »würde ich denken, dass du mich bescheißen willst.«

Die Kisten mit der eigentlichen Ware standen immer ganz oben. Die Blutmäntel rechneten nie damit, sondern sahen immer zuerst in den unteren Kisten nach, weil sie glaubten, dass das Gift so gut wie möglich versteckt wäre. Außerdem bestand die Chance, dass, wenn man während einer Lieferung ertappt wurde, die Ladung bereits am Übergabepunkt abgeladen worden war.

»Alaric brauchte Kisten«, sagte Jean-Paul ohne jede Gesichtsregung. Alaric war der Name, den sie immer nannten, wenn sie angehalten wurden und nach ihrem Auftraggeber gefragt wurden. »Er wollte was einlagern. Die Kartoffeln sind nur fürs Gewicht, damit sie besser auf dem Wagen stehen.«

Inzwischen waren alle Kisten vom Wagen heruntergenommen worden. Die Kollegen von Rollschnauzer fingen an, in den neuen herumzustochern. Eine weitere Kiste wurde geöffnet und war voller mehliger Kartoffeln. Eine zweite. Eine dritte.

»Du willst mir erzählen, dass ein Kaufmann einen Wagen mietet, um Kisten mit alten Kartoffeln aus dem Südwestviertel ins Nordwestviertel zu transportieren?«

Es waren noch sechs Kisten übrig. Drei von ihnen enthielten Alraune. Lores Rücken wurde schweißnass.

»Ist doch nicht mein Problem, wofür er sein Geld ausgibt«, erwiderte Jean-Paul.

Eine fünfte Kiste wurde geöffnet. Wenn Lore etwas unternehmen wollte, dann musste sie das jetzt tun. Sie wusste jedoch nicht, was. Es waren zu viele, um sie mit dem Dolch anzugreifen, vor allem, nachdem sie das Überraschungsmoment verloren hätte. Und Prügeln war noch nie ihre Stärke gewesen.

In ihre Handflächen, ihre Fingerspitzen, kroch ein eigenartiges Gefühl. Ein Kribbeln, ein überdeutlicher sechster Sinn. Mortem lauerte in den Steinen unter ihren Füßen, in den Ziegeln und dem toten Holz der Ladenfassade, des Wagens und des Gifts in der noch nicht entdeckten Alraune. Ein leises Summen, eine Saite, die sie berühren, an der sie ziehen konnte, und es wäre so einfach …

Ein Blutmantel griff nach der sechsten Kiste und brach mit seinem Bajonett den Deckel auf. Darunter sah Lore es grün hervorschimmern.

Sie stürzte nach vorn, verbannte den Ruf des Mortems und plapperte los, ehe sie wusste, was sie sagen sollte. »Ihr habt sie gefunden!«

Jean-Paul und Rollschnauzer drehten sich zu ihr um, und der Blutmantel, den sie gerade unterbrochen hatte, sah mit fragend gerunzelter Stirn zu ihr auf. Sie ergriff die Kiste und drückte sie mit dem Deckel voran an sich. »Vater hat mich geschickt. Tut mir leid, dass ich zu spät komme.«

Rollschnauzer hielt den Kopf schief. »Und handelt es sich bei deinem Vater etwa um Alaric, Mädchen?«

Verdammte Brüste. Sie hatte geglaubt, das Hemd wäre weit genug, um sie zu kaschieren, aber sie hatte nun einmal keine Brust, die sich so leicht verbergen ließ. »Ja«, sagte Lore, richtete sich etwas gerader auf und lächelte breiter. »Er ist so wütend, weil ich so viele Gläser kaputt gemacht habe, als ich versuchte, sie einzeln aufzuladen. Wir brauchen die Kisten dringend …«

Während sie in hohem Tempo und immerzu lächelnd sprach, wich sie zurück und tastete sich mit der Ware näher an die alte Ladenfassade heran. Durch die Falltür im Innern gelangte man in die Katakomben, und laut der unheimlichen Karte in ihrem Kopf waren die Tunnel im näheren Umkreis leer. Wenn sie die Kisten nur durch die Tür bekommen würde …

Ihr Fuß traf auf einen Kiesel und rutschte seitlich weg, sodass sie das Gleichgewicht verlor. Die Kiste fiel ihr aus der Hand.

Ein grüner Streifen aus Alraune zog sich über das Straßenpflaster.

Einen Moment lang standen alle regungslos da, Jean-Paul, Lore, die Blutmäntel und das große, behäbige Pferd, das Val nur für Giftlieferungen hielt und das Lore liebevoll »Pferd« getauft hatte, weil ihm niemand einen Namen gegeben hatte.

Einen Herzschlag später stieß Rollschnauzer einen Jubelschrei aus und stürmte vor.

»Lauf!« Lore warf sich zur Seite in Richtung der Seitengasse, in der sie sich versteckt hatte, und zog ihren Dolch. Doch dabei vertrat sie sich den Fuß, fiel auf die Knie, und das Knacken raubte ihr das Augenlicht. Behandschuhte Hände packten sie grob an den Schultern und zerrten sie hoch.

Unter den Blutmänteln herrschte Chaos, und Pferd reagierte entsprechend und stieg, woraufhin sich der Wagen in Bewegung setzte und auf die Umstehenden zuraste. Jean-Paul gab einen unartikulierten Schrei von sich und versuchte, Pferds Zügel zu fassen. Doch der wieherte nur noch angstvoller und reckte die Vorderhufe zum Morgenhimmel, während die Blutmäntel sie umzingelten. Jean-Paul hechtete nach dem Zügel, war aber nicht schnell genug, um Pferd herumzureißen. Ein Bajonett zerfetzte dem Tier die Kehle, und es fiel zitternd in sich zusammen.

Lore sah noch immer verschwommen, als sie versuchte, dem Blutmantel, der sie hielt, mit der Dolchklinge in der Faust einen Schlag zu verpassen. Ein anderer Blutmantel packte ihren Arm und riss ihn so kräftig zurück, dass sie das Mahlen ihrer Knochen spürte, die um ein Haar gebrochen wären. Ein rauer, erstickter Laut entrang sich ihr, ein Schrei, von der kalten Spitze eines Bajonetts unterbrochen, die ihr an die Kehle gehalten wurde. Jetzt wurde sie schon von drei Blutmänteln festgehalten – zwei an den Armen und der dritte mit dem Gewehr. Die Chancen standen nicht gut.

Wieder kribbelte es in ihren Handflächen, der kalte sechste Sinn kroch durch ihre Glieder.

»Wenn du dich rührst, schieße ich«, knurrte der Blutmantel mit dem Gewehr. »Und ein Schuss in den Hals ist kein schneller Tod.«

Ihre Finger zitterten, denn das Mortem, das aus den Katakomben und aus dem sterbenden Pferd sickerte, juckte darin. Seit dreizehn Jahren hatte Lore es nicht mehr kanalisiert, sondern in ihr Unterbewusstsein verdrängt, um es dort verfaulen zu lassen. Doch nun ertrank sie beinahe im Gefühl ihres sechsten Sinns.

Gefühl und Instinkt. Ihre Hände brannten mit dem Wunsch, Mortem von jedem toten Ort, an dem es lauerte, herbeizurufen, es durch ihren Körper zu leiten und ihrem Willen zu unterwerfen. Dem Wunsch zu widerstehen, machte sie schwindelig und ihren Atem flach.

Die Hälfte der Blutmäntel kümmerte sich um die ausgeschüttete Alraune, aber ihr Anführer hielt einzig Jean-Paul im Auge. Er packte ihn am Arm. Jean-Paul versuchte, mit den von Pferds Blut – armer Pferd – verschmierten Händen nach dem Dolch zu greifen, der in seinem Mantel versteckt war, doch der Blutmantel hielt ihm das Bajonett an die Kehle, bevor er ihn zu fassen bekam.

»Zwing mich nicht zu schießen«, fauchte der Blutmantel durch seinen blutigen Schnauzer. »Jemanden wie dich können sie in den Minen der Verbrannten Inseln gut brauchen.« Ein kehliges Lachen. »Dein Mädchen auch. Sie sieht kräftig genug aus, um mit der Schaufel zu arbeiten.«

Eine Kugel wäre den Minen vorzuziehen. Lore hatte schon von Giftschiebern gehört, die sich lieber die Kehle aufgeschnitten hatten, als den Rest ihres verkürzten Lebens in der Dunkelheit und dem Staub der Verbrannten Inseln zu verbringen.

Dunkelheit. Staub. Tod. Alles wirbelte um sie herum, kupferfarbenes Blut und eine Leere, die in ihren Stirnhöhlen scheuerte. Schwarzer Nebel stieg von Pferds Leiche auf und verdichtete sich zu dunklen Fäden, die nur eine Mortemschleuserin sehen konnte. Sie flossen aus den Augen, aus dem schlaffen Maul. Mortem. Das sie rief.

Nutze es.

Lore wusste nicht, ob es tatsächlich eine Stimme war, die sie rief, oder nur das Lodern ihres eigenen Gehirns, das unbedingt irgendetwas tun wollte, irgendetwas nutzen wollte.

Sie brauchte eine Ablenkung. Etwas, das ihr gestatten würde wegzulaufen, etwas so Schreckliches, dass es die Aufmerksamkeit der Blutmäntel auf sich lenkte und Jean-Paul entkommen konnte. Für sie war es zu spät. Lore war gefangen, und was auch immer sie nun tun würde, würde nichts daran ändern.

Sie hatte die Wahl zwischen den Verbrannten Inseln oder dem Scheiterhaufen. Am Ende war es kein großer Unterschied, wenn es bedeutete, dass Jean-Paul zu seiner Familie zurückkonnte.

Also eine Ablenkung. Und kaum hatte Lore die Entscheidung getroffen, als ihr Körper loslegte.

Sie holte tief Luft, hielt sie an, überließ sich ganz dem Instinkt, so wie schon zuvor. Sie war dafür geboren, für die Magie und Dunkelheit, und bis auf ihren Verstand gierte alles in ihr danach.

Im einen Moment war alles hell und leuchtend, und im nächsten sah sie kaum noch ihre Umgebung, da die Welt in Grautöne gehüllt war. Ihre Lunge fing an zu brennen, als ihr Körper sich dem Tod zuneigte. Die Blutmäntel, Jean-Paul und die Leute in der Menschenmasse waren alle von weißen Lichtauren umgeben. Der Umriss von Pferds Leiche verblasste langsam von Weiß zu Schwarz, während das Leben daraus wich und der Tod seine Stelle übernahm. Mortemfäden wackelten in der Luft wie Spinnenbeine, wie die schwarzen Strahlen einer umgekehrten Sonne.

Lore sah nicht an sich hinab, während sie langsam ausatmete, denn sie war nun ganz in dem Mortem, das sie fest gepackt hielt, völlig vom Instinkt mitgerissen. Sie wusste, wie sie aussah – ihre Finger waren kalt und totenbleich, ihre Augen nicht mehr haselnussbraun, sondern undurchsichtig weiß. Die Mondnarbe in ihrer Hand leuchtete wie ein Signalfeuer, ein schwarzes Glühen, das die Abwesenheit von Licht bedeutete und doch so hell war, dass es wehtat, es anzuschauen. Über ihrem Herz wirbelte ein Knoten aus Dunkelheit, ein schwarzer Stern der Leere, der sich unter ihrem Hemd verbarg.

Sie wusste, wie sie aussah, nämlich wie der wandelnde Tod.

Ihre Hände krümmten sich zusammen, während sie die dunkle Materie, die Macht des Todes, nach innen zog, als wäre ihr von Mortem berührtes Herz ein Magnet. Die Fäden, die über Pferds Leichnam wehten, zitterten und flossen dann auf sie zu. Sie flochten sich zusammen und verbanden sich mit ihren Fingern, denn die Magie durchbrach mit Leichtigkeit die Barriere ihrer Haut.

Pferds Tod tänzelte durch ihre Adern hinab, waberte durch sie hindurch wie verschmutztes Blut. Lore leitete das Mortem rasch durch ihren Organismus, presste es durch alle ihre Blutbahnen wie ein halb gefrorener Winterstrom, kämpfte gegen ihren erschlaffenden Herzschlag an, ihren flach gewordenen Atem. Todesmagie umschwirrte all ihre Organe, ließ sie alle stillstehen wie Frost an einer Knospe an der Grenze zum Frühling.

Wegen dieses Aspekts lebte man angeblich länger, weil die Innereien eingefroren wurden, sodass sie langsamer arbeiteten und die Jahre sie weniger in Mitleidenschaft zogen. Diejenigen, die Gift nahmen, konnten den Tod, den es brachte, nicht wieder aus sich hinausleiten, konnten nichts anderes tun, als unter seinem Einfluss zu pervertierter Unsterblichkeit zu gerinnen, da es das schlummernde Mortem in ihren Körpern weckte. Wollte man Mortem kanalisieren, musste man den Tod empfangen wie einen Liebhaber und hoffen, dass er einen wieder gehen ließ, und kaum jemand gelangte absichtlich so weit.

Das nahm Lore jedenfalls an. Sie war damit zur Welt gekommen, den Tod an ihrer Seite wie ein Schatten.

Langsam, ganz langsam presste Lore das Mortem, das sie kanalisiert hatte, wieder zurück in ihre Hände, als würde sie schwarzen Faden in ihren Fäusten sammeln. Dann stieß sie den angesammelten Tod wieder aus sich hinaus.

Im Bogen schwirrte Mortem aus ihren Fingern, begierig auf der Suche nach einem neuen Heim, und Lore war gerade noch so geistesgegenwärtig, auf eine Blumenrabatte in der Mitte der Straße zu zielen, die ohnehin schon braun und welk war, weil es zu wenig geregnet hatte. Die Blüten gingen vollends ein und sanken herab, die Wurzeln, die sie hielten, wurden leblos und spröde, und alles wurde grau. Auch in den Stein schnitt das Mortem, und unter hastig trippelnden Füßen breiteten sich spinnennetzartige Risse aus. Zwar öffnete sich kein Loch im Boden, den toten und sterbenden Göttern sei Dank, aber dennoch war die Luft von Schreien erfüllt.

Das Herz krampfte sich ihr zusammen und setzte einen Schlag aus. Der Instinkt, der von ihr Besitz ergriffen hatte, ebbte ab und ließ nur Angst und Abscheu zurück.

Schmerzvoll ächzend erhob sich Pferd wieder vom Boden.

Drittes Kapitel

Für Sterbliche ist der Tod unantastbar. Wer eine Leiche von den Toten wieder auferweckt, macht sich der schlimmsten Ketzerei schuldig und muss hingerichtet werden, auf dass der Übeltäter auf ewig in seiner eigenen Hölle schmore.

Das Buch der Gesetze der Sterblichen, 1. Traktat

Cedric war ein Jahr älter als Lore gewesen, vierzehn und dabei schon so weltgewandt wie ein Prinz. Er war der Sohn eines Schiebers aus der Bande von Val und Mari gewesen und das einzige Kind, mit dem Lore öfter Zeit verbracht hatte in den ersten Monaten, nachdem Mari sie gefunden hatte. Herzlich und gütig, mit großen braunen Augen und wirrem Haar, das ihm immer ins Gesicht fiel. Er hatte ihr im Hafen das Schwimmen beigebracht.

Dann war er während einer Razzia vom Pferd eines Blutmantels niedergetrampelt worden.

Sein Körper hatte grauenerregend ausgesehen. Lore erinnerte sich lebhaft daran. An manchen Stellen eingesunken, wo es nicht hätte sein sollen, an anderen Stellen standen Dinge heraus und spannten Zelte aus gerissener Haut über Tälern aus zermalmten Knochen und Organen. Sein Gesicht jedoch war unversehrt geblieben, die braunen Augen hatten wie hypnotisiert in den Himmel geblickt.

Sie hatte nicht nachgedacht, sondern einfach reagiert, sich ihrem Instinkt überlassen. Lore hatte sich Cedrics Tod um den Finger gewickelt wie bei den Fadenspielen, die er ihr beigebracht hatte, hatte den Tod aus ihm heraus und in sich hineingesponnen. Sie hatte ihn durch ihren Körper fließen lassen und in den Fels geleitet, wo die Wurzeln niedergetrampelten Grases der Sonne entgegenstrebten, sie hatte seinen Tod in die Erde gepflanzt statt in seinen Körper.

Und er hatte sich wieder aufgesetzt. Dabei waren fürchterliche Geräusche zu hören gewesen – denn nichts war mehr an der richtigen Stelle gewesen und alles hatte geschmatzt –, doch nichtsdestotrotz hatte er sich aufgesetzt und zu ihr umgewandt. Seine Augen waren nicht mehr braun. Sie waren schwarz und hatten weder Iris noch Pupille.

Ihr wurde klar, dass er nichts tun würde, was sie ihm nicht befahl. Er war ein Automat, den man erst aufziehen und dann lenken musste. Also hatte sie das Garnknäuel, das sie fürs Fadenspiel benutzten, aus ihrer Tasche gezogen. »Spiel mit mir.«

Und so hatte Val sie gefunden. Ein Mädchen mit einem toten Jungen, die sich Fäden um die Finger gewickelt hatten und so taten, als wäre alles in Ordnung.

Ehrlich gesagt, war es ein Wunder, dass Val sie damals nicht getötet hatte. Nachdem sie gesehen hatte, was sie war. Zu was sie imstande war.