The Hemlock Queen - Ein Hauch von Schatten - Hannah Whitten - E-Book

The Hemlock Queen - Ein Hauch von Schatten E-Book

Hannah Whitten

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Beschreibung

Ein Hauch von Schatten breitet sich aus ... Kann Lore ihn aufhalten, bevor er alles verschlingt?
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Nach dem Tod des korrupten Königs besteigt Prinz Bastian den Thron von Dellaire und erhebt die Totenmagierin Lore zur Gefährtin an seiner Seite. Doch der Frieden ist nicht von Dauer: Eine mysteriöse dunkle Kraft breitet sich aus, die Bastian, den Lore zu kennen und lieben glaubte, plötzlich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Lores starke Gefühle für Gabriel, mittlerweile der zweitmächtigste Mann im Reich, sind ihr dabei Trost und Hindernis zugleich. Kann Lore sich selbst, ihren Prinzen und ihr Königreich vor den dunklen Mächten schützen, bevor sie alles verliert?

Gothic Vibes treffen auf die Tropes Forbidden Romance und Love Triangle – Band 2 der opulenten Romantasy-Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Hannah Whitten bei Blanvalet.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Nach dem Tod des korrupten Königs besteigt Prinz Bastian den Thron von Dellaire und erhebt die Totenmagierin Lore zur Gefährtin an seiner Seite. Doch der Frieden ist nicht von Dauer: Eine mysteriöse dunkle Kraft breitet sich aus, die Bastian, den Lore zu kennen und lieben glaubte, plötzlich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Lores starke Gefühle für Gabriel, mittlerweile der zweitmächtigste Mann im Reich, sind ihr dabei Trost und Hindernis zugleich. Kann Lore sich selbst, ihren Prinzen und ihr Königreich vor den dunklen Mächten schützen, bevor sie alles verliert?

Autorin

Hannah Whitten schreibt, seit sie einen Stift halten kann. Kein Wunder, dass sie als Autorin des romantischen Bestsellers »Für den Wolf«, mit dem sie von 0 auf Platz 10 der »New York Times«-Bestsellerliste einstieg, heute unzählige Leser*innen zum Träumen bringt. Auch ihre »Nightshade Crown«-Trilogie wurde zu einem internationalen Bestsellererfolg. Sie lebt in Tennessee mit ihrem Mann und ihren Kindern in einem Haus, das von einer temperamentvollen Katze regiert wird.

Die »Nightshade Crown«-Reihe bei Blanvalet

The Foxglove King. Ein Hauch von Tod

The Hemlock Queen. Ein Hauch von Schatten

The Nightshade God. Ein Hauch von Gift

ROMAN

Deutsch von Simon Weinert

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »The Hemlock Queen (The Nightshade Crown: Book Two)« bei Orbit, a division of Hachette Book Group Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Das Gedicht auf S. 7 stammt von T.S. Eliot, übersetzt von Nora Wydenbruck. In: T.S. Eliot: Gesammelte Gedichte, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Eva Hesse, Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. (11. Auflage)

In diesem Buch werden Neopronomen verwendet. Da es zum Zeitpunkt des ersten Erscheinens für die deutsche Sprache noch keine einheitliche Regelung gibt, haben wir uns als Verlag für das Neopronomen dey entschieden.

Copyright © 2024 by Hannah Whitten

This edition published by arrangement with Orbit, a division of Hachette Book Group Inc., New York, New York, USA. All rights reserved.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung und -motiv: © www.buerosued.de

Karte: © Charis Loke

SH · Herstellung: fe

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32690-6V002

www.blanvalet.de

Möge dieses Buch dich daran erinnern, dass du ganz allein dir selbst gehörst.

Jetzige Zeit und vergangene Zeit Sind vielleicht gegenwärtig in künftiger Zeit Und die künftige Zeit enthalten in der vergangenen. Ist alle Zeit auf ewig gegenwärtig Wird alle Zeit unerlösbar.

T. S. Eliot, »Burnt Norton«

Der Jüngling fand die Quelle,

Die er gesucht so lang

Auf des Güldnen Berges höchster Stelle,

Und kam mit Fragen bang.

Er fragte nach der Sonne, fragte nach der See,

Er fragte nach dem Wind, nach Mond und Feuer,

Nach der Erde und dem Schnee.

Die Quelle gab ihm Antwort,

Doch der Jüngling wollte mehr,

Er heischte ewiges Leben,

Das ohne End und Altern wär.

Dass dies nicht könne sein, die Quelle ihm beschied,

Er sei ja noch ein Mensch,

Bis als Mensch er einst verschied.

Drum bracht er Freund und Buhlen

Zu des Güldnen Berges höchster Stelle,

Aller Dinge Seele tranken sie

Aus funkelnd tiefer Quelle.

Auverrainisches Kneipenlied, das 400 NGS im Zuge der Gründung der festländischen Kirche und der offiziellen Anerkennung des Pantheons als Götterhimmel verboten wurde

Erstes Kapitel

Alles ist alles. Alle Mächte bewegen sich gemeinsam und entstammen derselben Quelle.

Prophezeiung des kadmaranischen Mönchs Elan Adabbo. Als man sie dem Erhabenen Priester vorlegte, befand dieser, dass es nicht nötig sei, sie zu katalogisieren

Es gab vieles, auf das Lore heute keine Lust hatte. Früh aufstehen. Das Frühstück hinunterwürgen. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er von tausend winzigen Hämmerchen bevölkert. Das lag an dem Wein, den sie vor dem Einschlafen in sich hineingekippt hatte, um sicherzugehen, dass sie nicht träumen würde. Die Kombination aus Schmerz und trockenem, saurem Mund führte dazu, dass selbst die köstlichsten Backwaren wie Abfallhaufen schmeckten. Sich anziehen stand auch nicht sonderlich weit oben auf der Liste der Dinge, die sie gern tun wollte, und deshalb hatte sie sich von Juliette, ihrer Zofe, in ein blass pfirsichgelbes Kleid stecken lassen. Bei ihrem Teint war es nicht vorteilhaft, aber sie hatte keine Energie gehabt, sich dagegen zu wehren. Das war typisch für sie in letzter Zeit: Sie hatte keine Kraft, für irgendetwas zu kämpfen.

Aber noch vor all diesen Unannehmlichkeiten stand eine Sache unverrückbar ganz oben auf der Liste, etwas, das sie auf keinen Fall tun wollte, und zwar, in die Katakomben zu gehen.

»Bist du bereit?« Bastian starrte in den eben geöffneten Brunnen, die Brauen tief zu den Augen gezogen. In der aufgehenden Sonne wirkten seine kräftig whiskeybraunen Augen etwas weniger dunkel. Um seine Finger wirbelte ein goldenes Flirren, Licht, das er aus der Luft gezogen hatte, so schwach, dass man es sich auch hätte einbilden können.

Doch Lore wusste, dass es keine Einbildung war.

Die Presquemorts, die im Kreis um den Brunnen herumstanden, konnten das Spiritum nicht sehen, da sie es nicht kanalisieren konnten. Trotzdem beäugten sie den Gebenedeiten König mit einer unausgegorenen Mischung aus Furcht und Bewunderung.

Obwohl er – zwar nicht als Inkarnation, aber doch der Stellung nach – der Herold der Rückkehr ihres Gottes war, mochten die Presquemorts Bastian Arceneaux nicht besonders.

»Nein«, antwortete Lore, wohl wissend, dass es keinen Unterschied machen würde. Nein, sie war nicht bereit, noch einmal in die Dunkelheit hinabzusteigen. Nein, sie war nicht bereit für den Versuch, den Leichen die ewige Ruhe wiederzugeben, den Opfern des Mortems, das Anton aus ihr herausgezogen hatte, um damit über Nacht ganze Dörfer auszulöschen.

Aber es waren ihre Opfer. Sie lagen in ihrer Verantwortung.

Und obwohl sie sich einredete, dass sie nichts mehr verabscheute, als Mortem zu kanalisieren, juckte es sie in den Fingern.

Bastian sah sie an, als hätte er ihren Gedanken gehört. Beide Gedanken. Aber als er sich vom Brunnen abwandte und ihr die Hand an die Wange legte, ging er nur auf den ersten ein. »Es war nicht deine Schuld, Lore«, murmelte er zum unzähligsten Mal in den drei Wochen seit dem Tod seines Vaters. Seine Krönung war erst für übermorgen anberaumt, aber er füllte die Rolle des Königs bereits aus. »Anton war es, nicht du.«

Doch ohne sie wäre Anton dazu nicht in der Lage gewesen. Lores Fähigkeit hatte seine Pläne erst möglich gemacht, denn sie konnte die Magie kanalisieren, die aus dem Leichnam in der Gruft der Begrabenen Göttin unter der Zitadelle austrat. Auf diese Macht hatte Anton gewartet, während er beobachtet hatte, wie sie aufgewachsen war, und sich Schritt um Schritt ihrer Bestimmung genähert hatte, bis er sie hierhergebracht hatte, um Bastian zu bestricken.

Ihre Schuld. Es war alles ihre Schuld.

Aber Lore widersprach nicht. Man konnte es nicht mehr ungeschehen machen.

Er sah sie besorgt und mit zusammengekniffenen Lippen an. »Du musst das nicht tun. Vielleicht finde ich einen Weg …«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin hier. Ich tue es.«

Bastian musterte ihr Gesicht, während seine Hand noch immer auf ihrer Wange lag. Er berührte sie völlig zwanglos und kümmerte sich überhaupt nicht darum, wer sie dabei sah. Lore musste sich erst noch daran gewöhnen. Eigentlich war sie es gewohnt, verborgen zu sein.

Schließlich nickte er.

Als hätte er auf das Zeichen gewartet, trat der Presquemort, der sich freiwillig gemeldet hatte, um sie zu begleiten, nach vorn. Nur einer hatte sich gemeldet, obwohl dieser Ausflug in den Untergrund vom Erhabenen Priester abgesegnet worden war. Doch die Reste des heiligen Ordens waren nicht scharf darauf, die Katakomben zu betreten.

Der Erhabene Priester stand hinter dem offenen Brunnen, trug aber noch die schwarzen Kleider der Presquemorts und nicht das weiße Gewand, das seinem Amt entsprach. Der Anhänger mit dem Herz des Blutenden Gottes hing jedoch um seinen Hals und blinkte im Licht der Nachmittagssonne.

Einen Herzschlag lang traf Lore sein Blick aus dem einen blauen Auge, während das andere hinter schwarzem Leder versteckt war. Dann sah er weg.

Bastian achtete überhaupt nicht auf den Erhabenen Priester. Doch als Lores Blick von Gabe wieder zu ihm zurückkehrte, zeigte er ihr ein schwaches, von Sorge eingetrübtes Lächeln, als würde auch ihn die Gleichgültigkeit des anderen schmerzen.

»Das wird schon«, murmelte Bastian so leise, dass nur sie beide es hören konnten. »Uns wird schon nichts passieren.«

Der Presquemort, der sie in die Katakomben begleiten sollte, hieß Jerault, und Lore war einigermaßen überzeugt, dass er sich nur deshalb freiwillig gemeldet hatte, weil er und Bastian einmal eine Affäre gehabt hatten und der Mönch immer noch eine Schwäche für ihn hatte. Anscheinend war Gabe so ziemlich der einzige Mönch, der dieses spezielle Gelübde so streng befolgte. Als Bastian ihr am Abend zuvor beim Dinner lachend von seiner und Jeraults Geschichte erzählt hatte, hatten ihr Tränen der Demütigung in den Augen gebrannt, die sie mit viel Wein verborgen hatte.

Jerault war hübsch, vielleicht ein Jahr jünger als Lore, hatte goldene Haare und graue Augen, die ein wenig zusammengekniffen waren, da ihm aufgefallen war, wie dicht der König und seine Todeshexe beieinanderstanden. Als Bastian sich wieder zum Brunnen umwandte, stieß Jerault etwas aus, das einem sehnsüchtigen Seufzer nahekam.

Es war schon fast lustig, dass alle Welt überzeugt war, sie würde mit Bastian schlafen.

Gabe auf der anderen Seite des Brunnens blieb stumm, hatte den Mund im Schatten seiner Augenklappe fest zusammengepresst. Lore erwartete, dass er etwas sagen oder wenigstens sein Gesicht zu etwas verziehen würde, das kein Ausdruck von Leere mit einer hauchfeinen Spur Missbilligung war. Aber er tat nichts dergleichen.

Er hatte schon einmal getobt, weil sie mit Bastian in die Katakomben hatte gehen wollen. Das war für ihn so schlimm gewesen, dass er zu Anton gerannt war und ihm alles verraten hatte, und nun tat er so, als würde es ihn überhaupt nicht kümmern.

Lore aber kümmerte es durchaus. Es wäre alles so viel einfacher, wenn es das nicht getan hätte.

Bastian begab sich als Erster auf die gewundene Treppe und stieg an der Brunnenwand entlang hinab. Je weiter er nach unten kam, desto weniger leuchtete sein weißes Hemd. Er hatte keine Fackel, aber auf halbem Weg schnippte er sein Feuerzeug an und hielt die schimmernde Flamme an eine Zigarette, die ihm im Mund steckte. Natürlich rauchte Bastian unbeirrt, auch wenn es galt, eine Armee kreischender Leichen zur Ruhe zu bringen.

Götter, Lore hoffte so sehr, dass sie diesmal nicht kreischen würden. Heute Morgen würde ihr Kopf das nicht aushalten.

Sie ging als Zweite, und Jerault machte den Schluss. Sie schwiegen. Beinahe unten angekommen, sah Lore noch einmal nach oben.

Gabe hatte sich doch noch gerührt. Er beugte sich über den Brunnenwand, die tätowierten Hände in die Seiten gestemmt, und starrte zu ihnen hinab. Er war zu weit weg, als dass sie seinen Gesichtsausdruck hätte erkennen können, aber vielleicht war er etwas sanfter geworden und enthielt die für ihn so typische Sorge. Inzwischen war Lore alles recht.

Falls es doch etwas anderes als Sorge war, interessierte es sie nicht. Ohne noch einmal hinaufzublicken, stieg Lore ganz hinab.

Von allen Seiten rückten die Katakombentunnel erdrückend dunkel auf sie ein, und Lore stellte sich dicht neben Bastian, während sie aus den auf dem gestampften Boden zurückgelassenen Vorräten mit zitternden Fingern eine Fackel bastelte. »Warum hast du keine mitgenommen?«

Bastian zuckte mit den Schultern, nahm ihr die halb fertige Fackel aus der Hand und erledigte den Rest für sie. »Ich fand das Verschwendung.« Er reichte sie ihr. »Es gibt nichts, vor dem man Angst haben müsste, Lore. Wir sind die mächtigsten Wesen hier unten.«

Sie schnaubte. »Die Begrabene Göttin würde das wahrscheinlich anders sehen.«

»Sie ist tot, weshalb ich zuversichtlich bin, dass ich Sie mit meinen Argumenten schlagen würde.«

Lore lächelte müde und lehnte sich an ihn, nur ein wenig, angezogen von seiner Schwerkraft. Er küsste sie auf die Stirn, rasch und lautlos, so flüchtig, dass sie es sich in der Dunkelheit auch hätte einbilden können.

»Alles wird gut«, murmelte er, und seine Lippen strichen ihr dabei über die Haut. Die Worte waren ihr nach vielen Wiederholungen vertraut. »Ich verspreche, dass ich auf dich aufpassen werde.«

Das war in den letzten Wochen zum unablässigen Refrain geworden: Bastians Versprechen, dass er sie beschützen würde, sie nicht aus seiner Nähe lassen würde, tun würde, was immer nötig sein sollte. Und sie ließ ihn gewähren. Lore war zu müde und zu verloren in diesem neuen Leben, um irgendetwas anderes zu tun.

Mit der Fackel in der Hand ging Bastian ihr in den Tunneln voraus. Nach einem Blinzeln hatte Lore ihre innere Karte der Katakomben vor Augen, doch die würde sie vermutlich nicht brauchen. Die Nacht, in der sie herabgestiegen waren und den Saal mit den Leichen entdeckt hatten – und in der Gabe sie verraten hatte –, hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Jerault räusperte sich. »Ist da … äh, müssen wir uns Sorgen machen wegen …«

»Hier unten ist niemand«, antwortete Lore.

Der Presquemort atmete vor Erleichterung so heftig aus, dass Lores Haare flatterten. Er ging sehr dicht hinter ihr, als hätte er Angst, in der Finsternis zurückzubleiben. Lore brachte es nicht über sich, sich darüber zu ärgern.

»Und falls doch jemand hier unten ist – genau deswegen haben wir dich ja dabei.« Bastian sah den Mönch mit einem koketten Lächeln an. »Ich bin überzeugt, dass du uns vor so ziemlich allem beschützen könntest, Jerault. Ich erinnere mich noch gut an dein Stehvermögen.«

Jerault gab ein Geräusch von sich, als wäre ihm ein Schluck in den falschen Hals geraten. Lore verdrehte die Augen. Bastian aschte mit einem zufriedenen Lächeln ab.

Sie gingen zügig, da keiner von ihnen länger als nötig hier unten sein wollte. Flackernd fiel der Flammenschein von Bastians Fackel auf den fleckigen Stein, und an einer Gabelung beleuchtete er kurz die in die Wand gemeißelten Worte.

Göttlichkeit wird nie zerstört.Nur zurückgeworfen.

Im Vorbeigehen beäugte Lore die Inschrift skeptisch.

Es dauerte nicht lange, bis sie in dem Gewölbe ankamen, in dem die jungen, gesunden Leichen aus den Dörfern aufbewahrt wurden. Lores Mortemgespür, das unterhalb der Bewusstseinsschwelle vor sich hin geköchelt hatte, stieg nun auf wie eine schwarze Flut, die sie beinahe überwältigte.

Sie machte die Augen zu und stellte sich einen Wald vor. Ein kleiner Hain von gleichmäßigen Bäumen, ein heiliger Ort, der sie schützte.

Das half ein wenig, allerdings nicht so sehr wie früher.

»Sie schreien nicht.« Bastian drehte sich von der Tür zu Lore herum, die Brauen hochgezogen und mit vom Fackellicht golden leuchtendem Haar. »Das ist immerhin etwas.«

Jerault schauderte. »Ich dachte, du hättest bloß übertrieben damit.«

»Ich übertreibe niemals, Jerault.«

Das Schloss aus manipuliertem Mortem, das Anton geschaffen hatte, war nicht mehr da. Lore drückte die Hand gegen den Stein, um sich zu vergewissern, aber sie spürte nur das dem Stein ohnehin innewohnende Mortem. »Das wird sich leicht öffnen lassen.«

Bastian nickte, nun ganz sachlich und ohne den errötenden Mönch weiter zu frotzeln. »Wahrscheinlich sollten wir uns einen Plan zurechtlegen«, sagte er und stellte sich neben sie, als wollte er nicht, dass sie das Gewölbe als Erste betrat.

»Der Plan sieht so aus, dass ich hineingehe und ihnen etwas Tod zurückgebe.« Jetzt, da sie hier waren, wollte Lore es hinter sich bringen. Reingehen, kanalisieren und wieder abhauen. »Ehrlich, ich hätte es wohl auch allein hingekriegt. Du hättest nicht mitkommen müssen.«

»Ich hätte dich das niemals allein machen lassen.«

»Deshalb habe ich dir erst gar nicht widersprochen«, sagte sie liebevoll. Sie wollte nicht allein hier unten sein, das wusste er. »Wäre Zeitverschwendung gewesen.«

»Kluges Köpfchen«, gab Bastian zurück.

Lore schob die steinerne Tür auf.

Dahinter war es dunkel. Bastian fand die Schnur, die wie beim letzten Mal von der Decke hing, und zündete sie an. Langsam wanderte der Feuerschein durch den Saal und erfüllte ihn mit Licht.

Die glücklicherweise stummen Leichen lagen auf ihren Sockeln. Lore wusste nicht, ob jemand hergekommen war, um sie wieder auf ihre Plätze zu legen, oder ob sie, nachdem Lore die Tür geschlossen hatte, zurückgegangen waren und sich selbst auf ihre Steinklötze gelegt hatten wie Schlafwandler, die ins Bett zurückkehrten. Die Leichen hatten die Hände vor der Brust gefaltet, sodass die Narben auf ihren Handflächen nicht zu sehen waren, die jenen glichen, die Bastian und sie trugen.

Instinktiv zogen sich ihre Finger zusammen.

Lore war darauf gefasst, den Atem anzuhalten, ihren Herzschlag zu verlangsamen und alles zu tun, um an den Ort zu gelangen, wo man Leben und Tod berühren und manipulieren konnte. Doch dieses Mal war es anders. Ihr Puls wurde zwar langsamer, aber es ging ganz leicht, ein schlichtes Aussetzen, ehe der Herzschlag wieder einsetzte. Es kam ihr eher wie ein nachgereichter Gedanke vor, als würde ihr Körper einem Ritual folgen, an das er sich erinnerte, obwohl es gar nicht notwendig war.

Vermutlich sollte sie das beunruhigen. Die Schleusen ihrer Macht waren geöffnet worden, und alle Dämme, die sie errichtet hatte, waren schon lange abgetragen.

Eben sah sie das Gewölbe noch in trüben Farben, dann wurde alles schwarz und weiß. Über der Brust einer jeden Leiche schwebte ein Mortemknoten wie ein auf dem Kopf stehender Stern.

Sie warf einen Blick über die Schulter zurück zu Bastian und musste den Zustand beinahe wieder aufgeben, in den sie sich zum Kanalisieren gebracht hatte. Er war so hell, dass es wehtat, ihn anzuschauen, und jeder Quadratzentimeter seines Körpers strahlte weiß.

Lore erholte sich rasch wieder und wandte sich ihrer Aufgabe zu. Über der Leiche, die ihr am nächsten war, schwebte das Mortem ein wenig dichter – es war die Frau, die sie beim ersten Mal hatte wiederauferstehen lassen und die die Welle der sich erhebenden Leichname ausgelöst hatte. Sie hatten skandiert: Sie sind erwacht, und waren schwerfällig von ihren Podesten gestiegen.

Am besten, sie fing dieses Mal wieder mit dieser Leiche an.

»Muss ich rausgehen?«, fragte Bastian. Als das Spiritum ganz neu in ihm gewesen war, hatte es ihre Macht aufgehoben. Das tat es jedoch nicht mehr. Was auch immer während der Sonnenfinsternis geschehen war, es hatte sie verändert und zu etwas gemacht, das er nicht mehr ersticken konnte.

Weil sie darüber nicht sprechen wollte, schüttelte sie nur den Kopf und trat zu der Leiche. Die beiden Männer folgten ihr und stellten sich um den Steinklotz herum auf wie Trauergäste bei einer Beerdigung.

Einatmen, ausatmen.

Mit Fingerbewegungen sammelte sie das Mortem, nur so viel, dass sie für jede Leiche im Saal einen Tod erschaffen konnte. Sie zog es aus den Wänden, aus dem Stein, aus der trockenen, gestampften Erde, in der nichts wachsen konnte, und aus dem Knoten, der über der Brust der Frau auf dem Podest hing. Es flocht sich um ihre Finger, schmiegte sich an wie eine Katze.

Es fühlte sich nicht so schlimm an wie früher. Es war nun beinahe … natürlich. Die Nebenwirkungen waren dieselben, der verlangsamte Puls und die kribbelnden Finger, aber sie taten nicht weh. Fühlten sich noch nicht einmal unangenehm an. Sie waren einfach nur da.

Mortem filterte durch ihren Körper, ließ sich nach ihrem Wunsch lenken, und ganz langsam fing Lore an, es wieder aus sich herauszuschieben …

Ein gedämpfter Schrei. Von Jerault.

Die Hand der Leiche schoss hoch und packte Jeraults Kehle. Schwarze, vom herannahenden Mortem mit kriechender Fäulnis überzogene Fingernägel bohrten sich in ihn und hinterließen halbmondförmige Blutflecke, während der Presquemort vergeblich mit den Füßen scharrte. Die Leiche sah mit unerbittlicher Miene und leeren Augen an die Decke, als hätte die Hand von ganz allein gehandelt.

Eine Sicherung. In den dicken Mortemknoten über der Leiche war etwas eingebaut worden, das sie zur Verteidigung schreiten ließ, falls jemand versuchte, die einmal erweckte Armee zu neutralisieren.

Für Lore, die alles in Schwarz und Weiß sah, verblasste der Spiritumfunke in Jerault bereits etwas. Weißes Licht zog lange Fäden, als würde ein Stern in Zeitlupe kollabieren, ihre Enden, wo Leben sich chemisch in Tod verwandelte, wurden dunkel, und das Jerault angeborene Mortem erblühte im ersterbenden Leben.

Ein weiteres Leuchten neben ihr – Bastian hastete herbei. Die Hand der Leiche drückte derweil immer fester und fester zu.

Lore hielt die Finger weiter über die Leiche und presste das kanalisierte Mortem schneller heraus als zuvor, da sie hoffte, dadurch würde sich der Würgegriff der Toten lockern. Aber sie war zu langsam. Jerault wäre tot, ehe sie die Leiche zur Ruhe betten konnte. Bastians Hände fuhren in ihr Blickfeld und zogen Lichtfäden nach. Sie suchten die Hand des Leichnams, die sich unnachgiebig um Jeraults Hals schloss. Lore hörte knackende Knochen, als Bastian der Leiche einen Finger brach.

Mit der Hand, die kein Mortem kanalisierte, ergriff Lore das Spiritum, das aus Jerault herausfloss. Sie ließ das helle Licht durch sich hindurchströmen, parallel zum dunklen Mortem, und lenkte beide nach ihrem Willen. Dann stieß sie das Spiritum wieder in Jeraults Richtung aus.

Leben und Tod gleichzeitig zu kanalisieren, diese Zweispurigkeit, war nicht einfach. Lore speiste Jerault mit Licht, ließ es brennen und flößte der Leiche Tod ein. Das Licht ballte sich in Jeraults Brust, brodelte, leuchtete trotzig gegen den Tod an, der die Oberhand gewinnen wollte.

»Hilfe?«, fragte sie leise und richtete ihre schwarz und weiß sehenden Augen auf Bastian. Er hatte der Leiche einen weiteren Finger gebrochen, sodass die getrocknete Haut und der Knochen an ihrem Handrücken herunterbaumelten. Aber die Kraft in den verbliebenen drei Fingern reichte aus, um Jerault zu erdrosseln.

Bastian ließ die Leiche los und streckte die Hände aus. Lore ließ das Spiritum fahren, sodass die Fäden ganz natürlich, vom Licht angezogen, zu Bastian flossen. Es floss durch ihn hindurch wie Wasser, strömte durch seinen Körper, ehe es zu Jerault zurückkehrte, gestärkt durch die Nähe des Gebenedeiten Königs.

Bastians Mundwinkel hoben sich zu einem breiten Lächeln.

Das schwebende Mortem senkte sich auf die Brust der Frau herab, einzelne Ranken reckten sich erst nach Lore, dann nach der Leiche wie die Teile eines zerbrochenen Spinnennetzes. Die Knoten hielten, doch Lore dröselte sie mit zuckenden Fingern auseinander, nahm sie auf und kanalisierte sie hinaus, sodass sie und die Leiche zum Zentrum eines abgerissenen Sternbilds wurden.

Als sie fertig war, wirkte die Frau auf dem Steinklotz tatsächlich friedlich.

Lore machte einen Satz zurück und keuchte. Ihr Körper war ein einziges Durcheinander von Widersprüchen – ihr Blut schob sich durch ihre Adern, als wäre es halb gefroren, floss schneller, als es sollte. Ihre Lunge sog zu viel Luft ein, während es in all ihren Gliedern kribbelte.

Sie hatte beides kanalisiert, Mortem und Spiritum zur selben Zeit.

Götter, und sie hatte am Morgen noch geglaubt, sie habe Kopfschmerzen.

Bastian hielt Jerault an den Schultern aufrecht und untersuchte seine Kehle. Sie war von blutigen Nageleindrücken übersät. Hässliche Ergüsse breiteten sich von den verletzten Blutgefäßen aus, aber davon abgesehen, war er unversehrt. Er wirkte jedoch entsetzt, und als Bastian ihn mit einem Klaps auf den Rücken losließ, starrte der Presquemort Lore an, als erblickte er Traum und Albtraum zugleich.

Lore wusste nicht, ob sie lächeln oder verärgert blicken sollte, deshalb erwiderte sie seinen Blick ausdruckslos.

Froh, dass Jeraults Leben gerettet war, drehte Bastian sich zu Lore um. »Lass mich mal sehen …«

»Nein, mit mir ist alles in Ordnung.« Sie wirbelte zur Tür herum und ging, so schnell es ohne zu rennen möglich war, hinaus. »Mir geht es gut.«

Im dunklen Gang lehnte sich Lore gegen die Steinwand, den Kopf in den Nacken gelegt und schwer atmend. Inzwischen war sie die Beschwerden gewohnt, die das Kanalisieren von Mortem mit sich brachte, aber der heftige Gegensatz, sowohl die Nachwirkungen des Mortem als auch die des Spiritum zu spüren, war, als würden sich sämtliche Stiche, mit denen sie zusammengenäht war, in rasantem Tempo auflösen.

Es war beinahe … berauschend.

Das Herz klopfte ihr in der Brust, pumpte große Mengen kalten Bluts. In ihrer Lunge war viel Luft, aber ihre Kehle war zu trocken, um richtig ein- und auszuatmen.

»Scheiße«, murmelte Lore und rieb sich die Brust.

Im Augenwinkel schimmerte etwas. Etwas weiter hinten im Tunnel, im Dunkeln.

Lore wandte sich um.

Es war zu dämmrig, um Einzelheiten zu erkennen. Lediglich den vagen Umriss einer Gestalt. Aber mehr brauchte Lore auch nicht.

Sie lehnte an der Steinwand, versuchte, ihren Körper nach der vielen Magie wieder zu ordnen, und starrte ihre Mutter an.

Die Nachtpriesterin starrte zurück. Sie hob ein wenig die Hand, streckte sie aus wie jemand, der wusste, dass er nicht erreichen konnte, was er ergreifen wollte.

Dann wandte sie sich ab und verschwand in den Schatten.

Zweites Kapitel

Bei der Kunst des Traumwandelns geht es weniger um Magie als um Konzentration, auch wenn Magie notwendig ist. Während man davon ausging, dass Träumen unter die Zuständigkeit Lereals fiel, ist der wichtigste Faktor dabei, dass beide Parteien – der Träumer und der Traumwandler – in der Lage sein müssen, die Magie derselben Quelle zu nutzen. Deshalb können mächtige Mortemschleuser oft traumwandeln. Man kann lediglich annehmen, dass kurz nach dem Göttersturz, als es noch Elementarmagie gab, diejenigen, die alle Kräfte kanalisieren konnten, gegenseitig in ihren Träumen wandeln konnten.

Mortem und seine nicht mit dem Tod in Verbindung stehenden Anwendungen, Seite 113, von Antoinette Harleone

»Du hast ihm das Leben gerettet.«

Es war das dritte Mal in einer Stunde, dass Bastian das voller Schock und der Ehrfurcht sagte und lächelnd den Kopf schüttelte. Zum ersten Mal hatte er es gesagt, kurz nachdem sie sich in seinen Privatgemächern zu einem Abendessen hingesetzt hatten. Das zweite Mal beim Suppengang, und zum dritten Mal, während die Bediensteten die Reste des Nachtischs wegtrugen – von dem Lore wegen ihres noch unruhigen Magens nur wenige Bissen gekostet hatte. Jedes Mal hatte sie ihm mit einem angespannten Lächeln geantwortet und bedeutungsvoll zu den Leuten um sie herum geblickt, in der Hoffnung, dass er ihren Hinweis verstehen würde. Sie wollte nicht, dass die ganze Zitadelle davon erfuhr.

Doch Bastian merkte es nicht, weshalb sie diesmal das Wort ergriff. »Er hätte wahrscheinlich auch überlebt, wenn du die restlichen Finger auch noch gebrochen hättest.«

»Nein, hätte er nicht«, schnaubte Bastian. »Er wurde erdrosselt, Lore, und du hast das aufgehalten. Du hast gleichzeitig Mortem und Spiritum kanalisiert, um es aufzuhalten. Das ist unglaublich.«

Bis zu diesem Punkt hatten die Diener gleichgültige Mienen gemacht, doch nun sahen sie sich mit großen Augen an. Lore sackte auf ihrem Platz zusammen.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte Bastian und schenkte sich noch etwas Wein ein. Lore schob ihm ihr Glas hin, und er füllte es beinahe randvoll. »Erinnerst du dich an Einzelheiten? Wie es sich angefühlt hat?«

Er fragte wie jemand, der ein Experiment nachstellen will. Hätte er Papier und Stift parat gehabt, hätte er sich wahrscheinlich Notizen gemacht. Lore ließ sich noch mehr gegen die Lehne sinken, beäugte die Bediensteten und trank einen zu großen Schluck Wein. Sie wollte nicht zu sehr in Einzelheiten gehen, da alles, was sie sagte, noch vor Sonnenuntergang als Gerücht die Runde machen würde.

»Ich habe es eigentlich gar nicht absichtlich getan«, antwortete sie. »Ich habe … einfach nur reagiert. Ganz instinktiv.«

Seltsamerweise schien ihm das zu gefallen. Vor dem mit Pflanzen verstellten Fenster war die Sonne bereits im Sinken begriffen und ihr Licht schwer und golden. »Dann kam es also natürlich«, sagte er und lehnte sich zurück. »Du musstest nichts Besonderes … tun, um sie beide gleichzeitig zu kanalisieren. Es fühlte sich einfach richtig an.«

Richtig war nicht der Ausdruck, den sie gewählt hätte, aber Lore hatte kein Interesse daran, das klarzustellen. Dann hätten sie länger darüber reden müssen. Sie trank noch einmal eine einer Hofdame unziemliche Menge und stellte das Glas ab. »Ich würde wirklich gern nicht mehr darüber reden, Bastian.«

Er stellte sein Glas ab, das ebenfalls völlig leer war. »Lore …«

»Nein.« Sie winkte abschlägig. »Bitte such dir ein anderes Gesprächsthema aus, Majestät.«

Dass sie ihn mit seinem Titel ansprach, schien ihn aus der Spirale herauszuschleudern, in die er geraten war. Die Sonne sank vollends hinter den Horizont, und das goldene Leuchten ging in weiches Zwielicht über. Bastian seufzte und rieb sich mit einer Hand das Gesicht. »Na gut«, sagte er sanft. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, es kam mir nur so vor, als sollte ich …« Er brachte den Satz nicht zu Ende. »Worüber würdest du lieber sprechen?«

Gabe. Sie wollte über Gabe sprechen, wollte Bastian fragen, was er über seinen Gleichmut dachte, als sie heute in die Katakomben gestiegen waren. Ob er mit seinem einstigen Freund schon eine richtige Unterhaltung hatte führen können, seit er ihn zum Erhabenen Priester ernannt hatte. Sie wusste, dass sie sich getroffen hatten. Gabe war das Oberhaupt der Kirche und einer von Bastians offiziellen Beratern. Sie hatte sich mit Gabe nur während der Übungsstunden unterhalten, in denen sie ihren Gedankenwald trainierte, und da hatte er alle anderen Themen vermieden. Ihr kam es vor, als würde sie mit einer Statue sprechen.

Aber sie würde nicht über Gabe reden, nicht jetzt, da von jeder Person in Hörweite Gerüchte in Umlauf gebracht werden würden. Die Wunde war noch zu frisch. Sie brauchte einen Verband in gemischter Gesellschaft.

Stattdessen griff Lore zu ihrer Gabel und stocherte damit noch etwas in dem beinahe unberührten Nachtisch herum – es gab Obst, Sahne und ein Gebäck aus Blätterteig. »Pferd«, sagte sie schließlich. »Du wolltest doch ein Fest veranstalten, wenn er zur Ruhe gebettet wird …«

»Der Blumenlieferant ist alarmiert. Für Claude.«

Sie lächelte ihn müde an. »Aber wäre es okay, wenn wir ihn noch eine Weile lassen? Er tut ja niemandem weh.« Und sie besuchte ihn hin und wieder ganz gern. Er erinnerte sie auf angenehme Art daran, dass sie Dinge tun konnte, die nicht abscheulich waren, dass Mortem ein Werkzeug war, das man gelegentlich auch zum Guten einsetzen konnte.

»Für mich ist das vollkommen in Ordnung«, erwiderte Bastian. »Ich mag ihn, auch wenn er abstoßend ist.« Er hatte seinen Nachtisch ganz aufgegessen, weshalb er mit der Gabel über den Tisch langte und etwas von ihrem aufspießte. Halbherzig schlug sie nach seiner Hand, die in die Sahne titschte, sodass er anschließend den Daumen abschlecken musste. »Vielleicht können wir ihn für Partys verleihen«, fuhr er mit einer Erdbeere im Mund fort. »Das wäre eine Möglichkeit, Geld für die nächste Bürgerzahlung aufzutreiben. Vielleicht würden die Schatzkämmerer mich dann weniger hassen.«

»Solange du dem einfachen Volk Geld gibst, werden sie dich hassen.« Lore schlang den restlichen Nachtisch hinunter, bevor er ihr noch mehr stibitzen konnte.

»Das glanzvolle Leben eines Monarchen.« Bastian stand auf. »Wo wir es schon davon haben: Ich habe eine Besprechung.«

»Nachts?«

»In der Kirche.«

Die kurze Heiterkeit, die sie empfunden hatte, fiel wieder in sich zusammen, da das Thema, dem sie aus dem Weg gehen wollte, wieder zu ihr gefunden hatte.

Vielleicht waren Gabe und Bastian darin besser als sie. Vielleicht konnten sie den Schlamassel von vor einem Monat für die gute Sache hinter sich lassen.

Die gute Sache hatte Lore noch nie interessiert.

Bastian ging um den Tisch herum und küsste sie auf die Stirn. Diese Nettigkeit war neu für ihn. Die mühelose Vertrautheit, die davor schon zwischen ihnen geherrscht hatte, war nicht zärtlich gewesen, aber in letzter Zeit schien er sich zu wünschen, dass sie sich dahin entwickelte. Das hatte beinahe etwas Zögerliches an sich, als erwartete er, dass sie ihn zurückweisen würde. Das tat sie aber nie. Nettigkeit war für sie genauso fremd wie für ihn, und sie sehnte sich danach.

Auch wenn sie dabei jedes Mal an Gabe dachte.

»Warte nicht mit dem Zubettgehen, bis ich zurück bin«, erklärte er ihr. »Bei mir wird es spät.«

Dann war er weg, und die Bediensteten näherten sich schweigend, um das restliche Geschirr abzuräumen. Durchs Fenster betrachtete Lore den Himmel, dessen Honiggelb und Lavendel immer mehr von Indigoblau überdeckt wurde. Heute Nacht schien kein Mond.

Lore versuchte sich nicht in den Schlaf zu trinken. Das gelang ihr an den meisten Abenden. Aber die Gefahr von Träumen schwebte immer über ihrem Nacken, klopfte an ihre Schläfen, und wenn sie laut hämmerte, waren ein oder zwei zusätzliche Gläser das einzige ihr bekannte Mittel, um sie zu übertönen.

Träumen war gefährlich. Träume hatten aus ihr eine Waffe gemacht. Und auch wenn Anton nicht mehr da war, um sie zu manipulieren, wollte Lore trotzdem nicht träumen. Wenn sie sich hinlegte, wollte sie einen leeren Kopf, ein leeres Bewusstsein, wollte überhaupt keine Gedanken haben, bis sie am Morgen wieder erwachte.

Deshalb war sie alles andere als begeistert darüber, dass sie sich, nachdem sie die Augen geschlossen hatte, hier befand.

Es war ganz offensichtlich ein Traum. Lore war in ihrem Wald, den Gabe ihr in ihrem Geist zu wachsen beigebracht hatte. Die gleichmäßigen Bäume sahen zu perfekt aus, um echt zu sein. Rauch von einem Feuer in der Nähe kräuselte sich am Himmel.

Eines, das sie offenbar selbst entfacht hatte. Sie beobachtete, wie ihre Hand, ohne von ihr gesteuert zu werden, die brennende Fackel an einen Baum hielt. Sie wich zurück, ein stummer Passagier in ihrem eigenen Kopf, und verfolgte, wie der Baum Feuer fing und sich dem lodernden Inferno der anderen zugesellte, sodass sie schließlich in einem Flammenkreis stand.

Sie reckte das Gesicht gen Himmel und schrie.

Dann wachte Lore schweißgebadet und keuchend auf, und es fühlte sich an, als würde man einen Verband abreißen.

Langsam kehrte das Bewusstsein in ihren Körper zurück, während sie schnaufend im Dunkeln lag und mit den Fingern und Zehen zuckte, um sich zu vergewissern, dass sie wach war.

Der Traum kam ihr unsinnig vor. Das war gut. Immerhin glaubte sie das. Auf jeden Fall kam er ihr nicht wie die Träume vor, bei denen Anton ihre Kraft missbraucht hatte, und das war gut genug.

Katakomben, flüsterte ihr Geist.

Lore sah stirnrunzelnd ins Dunkel. Ein Überbleibsel des Traums musste noch an ihr haften, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, was er mit den Katakomben zu tun hatte. Traumlogik, Bruchstücke, die sich in ihren Bewusstseinsströmen verfangen hatten wie Abfälle in einem Gully.

Sie drückte sich die Handballen auf die Augen, so lange und kräftig, dass sie Sterne sah, als sie sie wieder wegnahm.

Ihr Bett im Südostturm hatte keinen Himmel gehabt, und die Bezüge waren in einem senfgelben Ton gehalten, der, das wusste sogar sie, schon lange nicht mehr in Mode war. Hier jedoch, in einem der vielen Gästezimmer in Bastians Palastgemächern, schwebte ein Himmel, leicht bewegt von der Brise, die durchs offene Fenster kam, aus demselben dünnen Stoff wie die Kleider in ihrem Schrank, gespenstisch weiß und wallend.

Trotz des offenen Fensters war es im Zimmer stickig. Die Sommer in Auverraine waren lächerlich heiß und feucht, fühlten sich mittags wie mitternachts wie gekochte Pisse an, und dieses Jahr wuchs sich zu einem der schlimmsten aus.

In einem Eimer mit geschmolzenem Eis auf ihrem Nachttisch stand eine halb leere Weinflasche. Lore starrte sie einen Moment lang an, wog ab, ob die Hoffnung auf traumlosen Schlaf den trockenen Mund und den dröhnenden Kopf am nächsten Morgen wert wäre.

Sie entschied, dass es das nicht war, nahm die Flasche aber dennoch aus dem Eimer, um sich das kühle Glas an die Stirn zu drücken. Der Traum hatte jede Hoffnung auf eine erholsame Nacht zunichtegemacht, und sollte sie wieder einschlafen, würde sie vermutlich erneut träumen. Dennoch war es ihr lieber, wenn das unausweichliche morgendliche Kopfweh von einer Nacht ohne Schlaf und nicht von Alkohol herrührte. Sie war schon einmal an dem Punkt gewesen, dass aus Genuss leicht hätte eine Abhängigkeit werden können, und dafür war die Zitadelle ein zu tückischer Ort.

Mit einem Seufzen verließ Lore das Bett. Sie streckte sich. Fand den seidenen Morgenmantel zusammengeknüllt auf dem Boden, schlüpfte hinein und machte sich nicht die Mühe, ihn zuzubinden. Sie hatte auf ihren häufigen nächtlichen Touren einige Übung darin erlangt, umherstreunenden Höflingen aus dem Weg zu gehen, und man konnte sich ziemlich sicher darauf verlassen, dass diejenigen, denen sie begegnen würde, noch skandalöser gekleidet waren als sie selbst. Während die älteren Adligen sich misstrauisch und verärgert von Bastians neuen Maßnahmen zurückzogen, schienen die jüngeren den Anbruch eines neuen Herrschaftsstils zu begrüßen. Lore fragte sich, wie lange das anhalten würde, wenn erst einmal die Steuern angehoben würden.

Ihr Hals tat weh. Wahrscheinlich sollte sie ein Glas Wasser trinken. Sie konnte sich eines von einem Bediensteten bringen lassen, aber sie wollte niemanden wecken. Natürlich führte dieser Gedanke dazu, dass sie auch Bastian um ein Glas Wasser hätte bitten können, denn der würde ja wissen, wo in seiner Wohnung eines zu finden war. Sicher war er inzwischen von seiner Besprechung mit Gabe zurück.

Aber mitten in der Nacht in spärlicher Bekleidung in Bastians Zimmer zu spazieren, darauf konnte sie momentan gut verzichten.

Die gegenseitige Anziehung war offensichtlich. Das Begehren war da. Doch die Situation war schon verfickt genug, ohne dass der Gleichung noch ein tatsächlicher Fick hinzugefügt werden musste.

Sie schnaubte, da ihr einfiel, dass sie vor ein paar Wochen schon einen ganz ähnlichen Gedanken gehabt hatte, als sie sich zwischen Gabe und Bastian gefangen und zu ihnen beiden hingezogen gefühlt hatte. Dieses Gefühl hatte nicht nachgelassen.

Und damals hatte sie schon geglaubt, es wäre alles kompliziert.

Es roch nach Schwefel, als eine Flamme ins Leben zischte. Sie hatte ein Zündholz angestrichen und sah die Funken fliegen. Lore hielt es an den Docht, schüttelte es aus und warf es in den dafür bestimmten Korb. Dann nahm sie die Kerze und schlich sich aus dem Zimmer.

Vor ihrer Tür war eine Halle, die auf einer Seite zum Hauptraum von Bastians Wohnung hin offen war. Es war der in Marmor und Gold gehaltene Salon, in dem sie vor einigen Wochen mit Alie Tee getrunken hatte. Eine breite, von üppigen grünen Farnen gesäumte Treppe in der Mitte der Halle führte zum Salon hinunter. Der zweite Stock wurde von drei Gästezimmern eingenommen, und eine kleinere Wendeltreppe am Ende des offenen Korridors führte hinauf zu Bastians Zimmern, die den gesamten dritten Stock ausmachten.

Mit zwischen den Zähnen eingeklemmter Lippe sah Lore einen Moment lang die Wendeltreppe an. Dann schüttelte sie den Kopf und ging Richtung Wohnungstür.

Als sie eingezogen war, hatte Bastian – allen Göttern sei Dank – die Pfauen wegbringen lassen, und deshalb war es im Salon bis auf das Plätschern des Brunnens in seiner Mitte ruhig. Bei den Fenstern standen Topfpflanzen, die unregelmäßige Schatten auf die Eisenbänder im Boden warfen.

Sie blieb mit einem Pantoffel an einem der Bänder hängen. Sie waren hier dünner, eher Fasern in den Fliesen als die dicken Balken im Erdgeschoss der Zitadelle, dienten aber demselben Zweck. Sie sollten an die göttliche Autorität und die göttliche Verpflichtung erinnern. Ein König aus dem Haus Arceneaux hatte den Auftrag, dafür zu sorgen, dass das Mortem nicht entwich und die Begrabene Göttin … nun ja, dass sie eben begraben blieb. Und nun also saß Bastian, der einer Todeshexe Unterschlupf gewährte, auf dem Thron, und endlich herrschte Apollius’ Auserwählter.

Falls es noch irgendeinen Beweis gebraucht hätte, dass die Götter allesamt tot waren – oder sich zumindest um nichts mehr kümmerten –, dann war es dieser Umstand. Anton war so felsenfest überzeugt gewesen, dass Apollius Lores Tod wollte, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatte, dass Bastians Fähigkeiten ein Zeichen für Seine Rückkehr waren. Aber von Apollius fehlte jede Spur, und Lore war noch immer hier, und die Welt war noch nicht untergegangen.

Sie stapfte durch die Korridore des Nordwestturms.

Hier gab es weniger Fenster, und in der mondlosen Nacht draußen leuchteten die Sterne umso heller. Ohne ein bestimmtes Ziel wanderte Lore umher und wechselte jedes Mal die Richtung, wenn sie Stimmen hörte.

Schließlich führte ihr Streifzug sie ins Erdgeschoss der Zitadelle. Sie hatte sich inzwischen etwas an die labyrinthartigen Gänge gewöhnt, die sich immer wieder zu prachtvollen Sälen voller Statuen, Brunnen oder Kunstwerken öffneten. Ihre gleichmäßigen Schritte stumpften den Verstand ab, und sie achtete fast nur noch auf den Boden direkt vor ihr. Das fand sie erholsamer als Schlaf. Zumindest brauchte sie keine Angst vor Träumen zu haben.

Der Boden vor ihr veränderte sich, wurde zur Schwelle des Eingangstors.

Lore hob den Blick. Hier sollten eigentlich Wachen stehen, aber sie sah keine – wahrscheinlich hatten sie ihre Posten verlassen, weil sie spaßigere Dinge im Sinn hatten.

Sie drückte die Tür auf.

Draußen wirbelte die feuchtwarme Luft Nebel über den Rasen. Da kein Mond schien, waren alle Umrisse undeutliche, formlose Schatten, die die Einbildung leicht zu Ungeheuern machen konnte.

Neben einer Formschnitthecke blieb Lore stehen und hob das Gesicht zu den Sternen. Die Nacht hüllte sie ein wie eine Decke.

Rosendornen zupften an ihrem seidenen Morgenmantel, während Lore die Gärten durchwanderte. Eigentlich war es Bastians Morgenmantel. Auf dem Brustteil waren seine Initialen eingestickt. Er hatte ihn ihr in der Nacht nach dem Ritual gegeben, als er sie kalt, blutverschmiert und benommen in seine Wohnung gebracht hatte.

Ich kümmere mich um dich, hatte er zu ihr gesagt. Seine Hände hatten noch golden geschimmert, die Augen beinahe ebenso, und seine Stimme hatte unnatürlich viel Klang gehabt. Du bist mein.

Zumindest glaubte sie, dass er das gesagt hatte. Ihre Erinnerung war undeutlich. Sie wusste noch, dass er am nächsten Tag anders ausgesehen hatte, als sie erwacht war und die Sonne bereits in der Dämmerung verblasst war: müde, mit dunklen Augen. Sie hatte sich zu ihm ans Fenster gestellt, und er hatte schweigend seinen Arm um sie gelegt.

Aus dem Nebel ragte der gusseiserne Zaun auf, der den Steingarten der Presquemorts einschloss. Lore hielt sich nicht mit der Frage auf, ob sie eintreten sollte oder nicht. Sie tat es einfach, denn irgendein Instinkt trieb sie an.

Steinblumen, steinernes Laub. Am anderen Ende stand ein Gewächshaus, das sie noch nie betreten hatte.

Lore ging weiter, auf den Brunnen zu.

Doch als sie die Gestalt sah, die davorstand, blieb sie stehen.

»Tochter«, sagte ihre Mutter leise und doch so, dass ihre Stimme klar durch den Nebel drang.

Drittes Kapitel

Endlos kehrt die Vergangenheit wieder. Nichts ist in Stein gemeißelt, solange wir nicht tot sind.

Amita Giro, kirytheanische Dichterin

Lore fühlte sich, als wären ihre Füße am Boden festgefroren. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, und der Drang, wegzulaufen, zerrte gleichermaßen an ihr wie der, sich nicht zu rühren. Ihre Muskeln verkrampften.

Ihre Mutter war ausgezehrt. Im schwachen Licht der Sterne konnte sie die Ringe unter ihren haselnussbraunen Augen ausmachen, die müden Falten, die ihr Gesicht durchzogen. Sie sah so aus, als hätte sie in letzter Zeit auch nicht mehr geschlafen als Lore.

Als die Nachtpriesterin einen Schritt auf sie zumachte, wich Lore zurück, sodass der Abstand zwischen ihnen gleich blieb. Ihre Mutter seufzte.

»Warum bist du hier?« Lores Stimme klang rau. Sie hätte wirklich etwas Wasser trinken sollen. »Was willst du?«

Augen, die den ihren glichen, erwiderten ihren Blick. »Ich will nicht …« Ihre Mutter sprach nicht zu Ende, sondern presste die Lippen zusammen und sah weg, als könnte sie die Worte, die ihr nicht einfielen, im Garten finden.

»Du hast verloren«, zischte Lore. »Kapierst du das nicht? Diese Weltuntergangsprophezeiung, an die du und Anton geglaubt habt, das war eine Lüge. Ich lebe, und die Welt ist noch nicht untergegangen.«

»Ein Weltuntergang braucht seine Zeit«, murmelte ihre Mutter, sah sie aber immer noch nicht an.

Lore schluckte hörbar.

Die Nachtpriesterin verringerte den Abstand zu ihr nicht, kam ihr nicht näher. Seufzend richtete sie den Blick wieder auf Lore, allerdings schien es ihr Schmerzen zu bereiten. »Du glaubst zu wissen, weshalb ich hier bin. Aber das tust du nicht.«

»Halt den Mund.« Lore schüttelte den Kopf und ballte die Fäuste, sodass sich die Narben in ihrer Handfläche schmerzhaft aneinander rieben. »Es ist vorbei. Du wirst mich nicht zum Sterben überreden.«

»Das versuche ich auch gar nicht«, erwiderte ihre Mutter. »Ich bin gekommen, um dich aufzuhalten.«

Lore hatte den Mund schon zu einer bissigen Entgegnung geöffnet, doch nun klappte sie ihn zu, dass die Zähne klackten. Sie hatte geträumt, war aufgewacht und dann umhergewandert. Katakomben, hatte die Stimme in ihrem Kopf geflüstert, die sie für ihr eigenes Unterbewusstsein hielt, das die Ereignisse des Tages verarbeitete …

»Du hast den Ruf vernommen«, murmelte die Nachtpriesterin. »Wir haben gespürt, wie er hinausging. Die Dinge fügen sich, Lore. Die Zeit ist knapp. Du musst gehen.« Das letzte Wort klang gepresst, als hätte ihre Kehle versucht, es in sich einzuschließen. »Du musst weglaufen.«

Lore sog erschrocken feuchte Blütenluft ein, die sich beinahe zu zäh zum Atmen anfühlte. »Was für ein Spiel treibst du eigentlich?« Trotz der Hitze schlang Lore Bastians Morgenmantel fester um sich. »Vor drei Wochen wolltest du, dass ich sterbe, und nun willst du, dass ich weglaufe? Meinst du, das täuscht darüber hinweg, dass du auf dem falschen Dampfer bist, dass deine ganze Religion auf Lügen beruht? Es kommt keine Apokalypse, Nachtpriesterin …«

»Lilia«, flüsterte ihre Mutter.

»Und selbst wenn …« Doch der Name krachte in sie hinein und knautschte Lores Worte wie in einer Karambolage.

»Ich würde dich niemals bitten, mich Mutter zu nennen«, sagte die Nachtpriesterin. Sie schloss die Augen. »Nicht nachdem … Aber mein Name ist Lilia.«

Keine der Schwestern der Nacht wurde bei einem Namen gerufen. Sie nannten sich alle nur Schwester, stellten ihre Individualität zurück und unterwarfen sie der Unermesslichkeit ihrer Aufgabe. Wie lange war es wohl her, dass diese Frau ihren Namen benutzt hatte?

Lore wusste nicht, was sie sagen sollte. Schweiß kitzelte sie im Nacken, obwohl sich ein schleichendes Frösteln ihre Wirbelsäule hinunterarbeitete.

»Wenn du wegläufst, besteht vielleicht noch eine Chance«, fuhr ihre Mutter – Lilia – fort. »Durch Nähe stärken sich die Kräfte, und da du hier bist, erwachen allmählich auch die anderen. Wenn du gehst, kannst du dich vielleicht retten. Kannst du uns alle retten.«

»Dann willst du also gar nicht meinen Tod«, sagte Lore mit tauben Lippen. »Aber du willst, dass ich gehe. Weit weg und allein.« Ein kurzer Laut brach aus ihrer Kehle, den sie keiner Empfindung klar zuordnen konnte. »Du erträgst den Gedanken nicht, dass ich etwas für mich habe.«

Eine Träne presste sich aus Lilias noch immer geschlossenen Augen. »Ich verdiene deinen Zorn«, erklärte sie mit gemessener und ruhiger Stimme. »Und ich habe dein Vertrauen nicht verdient. Aber Lore, ich schwöre, alles, was ich getan habe, habe ich aus guten Gründen getan.«

»Aber ich war keiner dieser Gründe«, erwiderte Lore. »Vielleicht hast du sie für gut gehalten, aber ich bin deine Tochter. Waren sie so gut, dass du mich dafür töten wolltest?«

»Ich habe dich gerettet.«

»Du hast mich im Stich gelassen.« Sie hätte am liebsten geschrien. Sie wollte es auch, aber die Worte kamen dann doch schlicht und sachlich aus ihrem Mund. »Ich war noch ein Kind, ganz allein in einer Welt, von der du wusstest, dass ich darin kaum überleben konnte. Hast du mich wirklich retten oder nur dafür sorgen wollen, dass du dir die Hände nicht schmutzig machst?« Lore trat wie ein Raubtier auf sie zu, der Nebel umwaberte sie, und die Nacht folgte ihr auf den Fersen. »Vor drei Wochen hättest du mich für einen Gott getötet, von dem du nicht einmal weißt, ob er existiert. Und jetzt, wo sich erweist, dass du dich geirrt hast, überlegst du es dir anders?« Sie machte noch einen Schritt, woraufhin sich Lilia krümmte und ein kleines Stück zurückwich. »Untersteh dich, mir zu erzählen, dass du das für eine gute Sache getan hast.«

»Hallo?«

Die Stimme kam von hinter dem Brunnen, aus dem Teil des Gartens, der an die Kirchenmauern stieß.

Gabe.

Sie erstarrten beide. Die Nachtpriesterin wirkte panisch. Bastian hatte die Dokumente, die die Begrabene Garde zu einem offiziellen Teil der Kirche machte, nie unterschrieben. Offiziell existierte sie noch immer nicht. Und wenn Gabe eine Nachtpriesterin im Steingarten ertappte, dürfte das Probleme machen.

»Sag ihm nichts«, flüsterte ihre Mutter. Im Nebel wirkten ihre Bewegungen geisterhaft, als sie über den Brunnenrand zu der Treppe nach unten kletterte. Sie schimpfte nicht weiter, bat um nichts weiter. Nur eine Mutter, die mit ihrer Tochter sprach.

Und verdammt, trotz allem, was sie ihr eben gesagt hatte, wusste Lore sehr wohl, dass sie es für sich behalten würde.

Lilia war schon halb in die Dunkelheit des Brunnenlochs abgetaucht, als sie innehielt und zu Lore aufblickte. »Falls du es dir anders überlegst«, sagte sie, »ich helfe dir. Wirf eine Rose in den Brunnen.«

Dann war sie verschwunden.

Einen Herzschlag später stapfte Gabe in Lores Blickfeld. Nebel wallte um ihn wie ein wehender Mantel. In der tätowierten Hand hielt er eine schaukelnde Gaslaterne, von der unbarmherziges Licht in den stillen Garten fiel und sich in seinem Anhänger spiegelte. Der Brunnen war noch offen, und er sah ihn misstrauisch an. Lore hatte er noch gar nicht bemerkt. »Ich war mir sicher, dass wir ihn abgedeckt hatten.« Seine Stimme klang etwas erschöpft. Lore fragte sich, ob er überhaupt schon geschlafen hatte.

Außerdem fragte sie sich, ob sie davonrennen sollte. Ob sie in den Nebel schlüpfen sollte und hoffen, dass sie mit ihrem bleichen Morgenmantel darin getarnt wäre, während sie sich auf den Rückweg zum Tor, in die Zitadelle, in das Bett in Bastians Wohnung machte. Zwar hatte sie sich den Ort nicht ausgesucht, aber da war sie eben gelandet, denn Gabes Verhalten hatte sie zu einer Entscheidung gezwungen, die zu treffen sie nicht in der Lage gewesen war. Und die sie nicht treffen wollte.

Die Laterne schwang erneut herum, als Gabe vom Brunnen aufsah und der gelbe Schein auf Lores Gesicht fiel. Das Licht war hell, und sie zuckte zurück, sodass Nebellocken um ihr Gesicht schwirrten.

»Lore?«

Scheiße.

Schon so lange hatte sie sich mit Gabe einmal richtig unterhalten wollen, ihn fragen, wie es ihm ging, ihn wütend anbrüllen, ihn umarmen. Jetzt aber wusste sie nicht, was sie tun sollte. Über die Steinblumen hinweg starrten sie sich nur gegenseitig an.

»Ich …« Gabe sprach nicht zu Ende, rieb sich unter der Augenklappe. »Warum bist du hier?«

Es klang sowohl klagend als auch anklagend. Lore richtete sich auf und sah ihn finster an. »Konnte nicht schlafen. Bin herumspaziert.«

Mit seinem einen Auge betrachtete er die Stickerei auf ihrem Morgenmantel, und dabei klickte sein Kiefer, als könnte er die Initialen im Dunkeln deutlich lesen. »Ziemlich langer Spaziergang von den Gemächern des Gebenedeiten Königs hierher.«

Woher nahm er das Recht, in diesem Ton zu sprechen? Als wäre sie diejenige, die ihn verraten hatte. Welcher Funke auch immer zwischen ihnen geschlagen worden war, seine Tat hatte ihn wieder ausgehen lassen. Lore tat sich schwer mit Vertrauen, und war es einmal zerstört, dann war es das.

Und doch lag ihr immer noch etwas an ihm. Und doch wünschte sie sich immer noch, dass sie zu ihrer Freundschaft zurückfinden konnten, auch wenn zwischen ihnen nie mehr sein konnte. Wenigstens diesen einen Teil von ihm wollte sie.

»Ich brauchte frische Luft«, antwortete sie, ohne seinen gehässigen Ton zu erwidern.

Das fiel Gabe auf. Er sackte in sich zusammen, ließ die Schultern hängen und wandte den Kopf ab, sodass sie nur noch den Schatten seiner Augenklappe sehen konnte. Jetzt fragte er leise und ernst: »Behandelt er dich gut?«

Natürlich wollte er über Bastian reden. Da es jedoch eine ehrlich gemeinte Frage war, antwortete sie auch ehrlich. »Sehr gut.« Sie spürte noch den Phantomatem seines Kusses auf ihrer Stirn, die Nettigkeit, die zu akzeptieren oder zu zeigen sie sich außerstande fühlte. »Aber es ist nicht so mit uns. Nicht richtig.«

Mit über dem blauen Auge hochgewölbter Braue sah er zu ihr auf. »Aber du hättest es gern.«

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Lore schüttelte sacht den Kopf, aber es reichte nicht zu einer Verneinung. Es war vielmehr der Versuch, das zu heilen, was Gabe ins Gesicht geschrieben stand, es blank zu wischen und einfacher zu machen. Sie wollte keinem von beiden wehtun, aber das erschien unmöglich, als wäre sie eine Klinge ohne Griff.

Gabe richtete sich auf, schüttelte das Gespräch regelrecht ab und steuerte es in eine andere Richtung. »Ist sonst noch jemand hier? Ich meinte, zwei Stimmen zu hören.«

»Nein«, sagte sie, ehe sie zu sehr darüber nachdenken konnte. »Nur ich. Ich habe Selbstgespräche geführt.«

»Ist das eine neue Angewohnheit?«

»Muss die Zeit ja irgendwie rumkriegen.« Sie lächelte ihn schief an. »Ich bin eine angenehmere Gesellschaft als die meisten Höflinge.«

»Hätte nie gedacht, dass du darin so gut bist«, erklärte Gabe. »Mit der Elite zu verkehren.«

»Du gehörst auch zur Elite, Mort.«

»Und nun schau uns an, wie wir durch die Nacht schleichen.« So scherzhaft es sein sollte, hatten seine vorsichtigen Worte doch etwas Scharfes an sich.

Er kratzte sich am Kinn, wo ihm rötlich goldene Stoppel wuchsen, und sah zu Boden. »Alie meinte, dass es dir gut ginge«, sagte er. »Als ich sie letztens fragte. Aber es freut mich, es von dir selbst zu hören.«

»Alie hat mir geholfen.« Die Hinweise ihrer Freundin hatten ihr bei offiziellen Staatsempfängen das Leben gerettet, und das war keine Übertreibung. Aufgrund von Lores seltsamer, prekärer Stellung in der Zitadelle wusste niemand so wirklich, wie man sie bei den seit Bastians Thronbesteigung viel zu häufigen Bällen und Dinnerpartys behandeln sollte – und nach seiner Krönung würde es davon noch viel mehr geben. Er selbst hatte zwar keine ausgerichtet, aber die Einladungen waren unausweichlich bei ihm eingegangen. Er schlug sie nicht aus, nicht einmal die der Höflinge, die sie beide misstrauisch und Lore zuweilen mit unverhohlener Missachtung behandelten. Alies beruhigende Anwesenheit hatte manch eine Situation gerettet, die auch damit hätte enden können, dass Lores Wein im Gesicht ihres Gegenübers gelandet wäre – oder, falls sie ganz mieser Laune war, auch ihre Faust.

Sie verfielen wieder in Schweigen.

»Du weißt, dass es mir leidtut, oder?«, brachte Gabe schließlich flüsternd hervor. »Ich glaube … ich glaube nicht, dass das, was ich getan habe, falsch war …« Sein Blick huschte in die Ecke des Steingartens, in der neben der überwucherten Mauer das Gewächshaus aufragte. »Aber es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe, Lore. Ich habe versucht, das Bestmögliche zu tun.«

»Wie wir alle.«

Sag bloß nicht, es war für die gute Sache. Sie verzieh ihm nicht, wollte es aber, und bei Gabe kam dieser Wunsch so viel leichter als bei ihrer Mutter. Lore wusste, dass das ungerecht war. Aber sie konnte es nicht ändern.

Gabe nickte. Dann wandte er sich um und ging in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Immer noch baumelte die Laterne in seiner Hand. Kurz überlegte sie, ob sie ihn rufen sollte, aber das Gespräch war zu einem natürlichen Ende gekommen, und sie wusste nicht, wie sie es noch einmal in Gang setzen sollte.

Lore stand allein im Garten, und eine Million Sterne sahen auf sie herab. Erst ihre Mutter, dann Gabe. Das alles kam ihr jetzt schon unwirklich vor, und ihre Gedanken waberten herum wie der Nebel. Die Nacht war ihr oft vorgekommen wie eine Zeit außerhalb der Realität, in der Dinge weniger stofflich und konkret waren.

Was für eine Zeit für unangenehme Gespräche.

Ihr Saum saugte sich mit Tau voll und schleifte hinter ihr her, als Lore den Steingarten verließ, an Rosen und Formschnittbüschen vorbei zum Zitadelleneingang ging und die Tür aufschob. Auf leisen Sohlen ging es durch den Irrgarten des Prunks hinauf zu Bastians Wohnung, zu ihrem Bett.

Etwas in ihr war noch unstet. Wie eine Frage, die noch nicht beantwortet worden war.

Katakomben, flüsterte es wieder in ihrem Bewusstsein, doch Lore war schon am Einschlafen. Diesmal schlief sie, ohne zu träumen.

Viertes Kapitel

Spielt es eine Rolle, dass er sie nicht geheiratet hat? Der Junge behandelt sie wie eine Königin. Als hätte er nicht begriffen, was wir für ihn getan haben. Wenn es auch nicht wie geplant gelaufen ist, so haben wir ihn doch in das gewünschte Amt gehievt.

Die Sache kann noch herumgerissen werden, wenn wir uns um das Mädchen kümmern.

Brief von Graf Alphonse Levett aus seinem wegen der Beteiligung am Sonnenfinsternisritual verhängten Hausarrest an den Herzog Alan Lavigne. Abgefangen und Bastian Arceneaux, dem Gebenedeiten König, vorgelegt. Berichten zufolge habe er bei der Lektüre gelächelt

»Zeit, aufzustehen, meine Teuerste.«

Die Worte waren zwar sanft, aber dass Bastian die Decke von ihr herunterzog, war ganz entschieden unsanft. Lore rollte sich auf der Seite zusammen und hielt sich gegen das Licht die Arme vors Gesicht.

»Warum?«

»Weil in der Zitadelle ein neuer, köstlicher Sommertag angebrochen ist.« Mit einem hörbaren Scheppern stellte Bastian eine zierliche Kaffeetasse auf den Tisch. Er wedelte den Dampf in ihre Richtung, als würde der Duft sie aus dem Bett locken. »Und weil wir heute auf die Felder müssen. Oder hast du das vergessen?«

Sie hatte es im gestrigen Chaos tatsächlich vergessen. Aber dass sie an den königlichen Termin am Stadtrand von Dellaire – auf den Feldern, an deren Zerstörung sie mitgewirkt hatte – erinnert wurde, führte nicht dazu, dass sie dringender aufstehen wollte. Ganz im Gegenteil. Lore zog sich das Kissen über den Kopf. »Warum muss ich denn da hin?«

Gänsefedern dämpften ihre Worte, aber der quengelnde Ton war deutlich zu vernehmen. Bastians Seufzen ebenfalls. »Weil du meine Todeshexe bist, Lore, und das höchste Amt am Hof innehast.«

»Ein Amt, das du erfunden hast.«

»Und zum höchsten erklärt habe.« Die Matratze bog sich, als er sich daraufsetzte. »In meiner Nähe zu bleiben, ist auch am besten für deine Sicherheit. Aber ich will diese Diskussion nicht wiederholen.«

»Und wenn ich nie wieder mit dir darüber diskutieren müsste, ob ich in deiner Nähe bleiben soll, wäre das immer noch zu bald.« Noch immer unter ihrem Kissen, kniff Lore die Augen zu. »Wir wissen nicht einmal, ob ich überhaupt bis zu den Feldern gehen kann.«

Seit dem Ritual schien das Mortem, das sie durchwob und das ihr nie gestattet hatte, Dellaire zu verlassen, seinen Griff etwas gelockert zu haben. Nicht dass sie es ausprobiert hätte – sie hatte die Zitadelle seither nicht verlassen –, aber sie spürte es. Dadurch, dass sie sowohl Spiritum als auch Mortem in sich hatte, löste sich die Fessel des einen, und ihr öffnete sich das Tor zur Welt. Vermutlich sollte sie dankbar sein.

»Mir scheint, heute ist so gut wie jeder andere Tag, um es auszuprobieren«, sagte Bastian. »Wenn du den Kaffee nicht trinkst, nehme ich ihn. Du hast dreißig Sekunden.«

Widerwillig zog sie das Kissen von ihrem Kopf.

Bastian sah wie immer umwerfend gut aus. Seine dunklen Haare lockten sich um seinen Kragen, darüber teilte der mit Rubinen besetzte Goldreif die gut verheilte Narbe, die sich von seiner Stirn bis in seinen rechten Augenwinkel zog. Er hatte kein Spiritum eingesetzt, um sie glatter verheilen und weniger grausam aussehen zu lassen.

Er beäugte sie mit einer hochgezogenen Braue, als sie sich aufsetzte, und hielt ihr die Kaffeetasse neckend an den Mund. Da streckte sie die Hand aus, und er reichte ihr das feine Porzellan. »Du siehst aus, als würdest du ihn brauchen. Wann bist du ins Bett gegangen, zehn Minuten vor Sonnenaufgang?«

Lore blies erst ein wenig, bevor sie den ersten Schluck nahm. »Ich bin gleich nach dem Abendessen ins Bett, danke. Ich hab nur nicht besonders gut geschlafen. Hab schlecht geträumt.«

Seine neckisch gewölbte Braue sackte herab, und er war plötzlich ernst. »Du träumst wieder?«

Brennende Bäume, schreiender Himmel. Ja, sie hatte geträumt, aber anders. Es war eher eine Erinnerung als ein Traum gewesen.

Lore stellte den Kaffee ab und stand auf, um in ihrem Schrank zu kramen. »Ja, aber nichts Bedeutsames. Nicht so wie damals.« Lore schluckte hörbar, während sie in den Kleidern wühlte. Im Sommer trugen die Höflinge Kleider, die entweder so viel Haut wie möglich zeigten oder diese so wenig wie möglich berührten. Lore entschied sich für Letzteres, ein hauchdünnes, zeltartiges Gewand, das wie eine Wolke um ihren Leib schwebte.

Bastian ließ allerdings nicht locker. »Ich dachte, er bringt dir bei, wie du deinen Geist schützen kannst.«

Er. Sie sprachen Gabes Namen so gut wie nie aus, als wäre er ein Fluch. »Das tut er auch.«

»Aber offenbar nicht gut. Ich muss wohl mal mit ihm …«

»Nein, Bastian.« Lore fuhr herum und hielt sich dabei ein Kleid, das sie kaum angeschaut hatte, vor die Brust. »Das liegt nicht an ihm, sondern an mir.«

An ihrer Angst. Ihrer Scham. Ihrem Egoismus.

Du bist der Samen der Apokalypse, hatte ihre Mutter während der Sonnenfinsternis gesagt. Ein Weltuntergang braucht seine Zeit, hatte sie letzte Nacht am Brunnen gesagt.

Bastian seufzte und legte den Kopf in den Nacken. Dann kam er behutsam zu ihr. Seine warmen Hände legten sich erst leicht auf ihre Schultern, bevor er sie fester hielt.

Sie sah nicht zu ihm auf, sondern starrte ihre nackten Füße auf dem weichen Teppich an.

»Du musst das hinter dir lassen, Lore«, murmelte er.