Für den Wolf - Hannah Whitten - E-Book
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Für den Wolf E-Book

Hannah Whitten

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Beschreibung

Die erste Tochter gehört dem Thron. Die zweite Tochter gehört dem Wolf ... Der romantische »New York Times«-Bestseller und TikTok-Erfolg!

Wie alle Menschen fürchtet die Königstochter Red den Wilden Wald – einen verwunschenen Ort, an dem schreckliche Monster hausen. Das schlimmste unter ihnen ist der Wolf, dem seit jeher die zweitgeborene Königstochter geopfert wird. Red ist diese Tochter, und obwohl ihre ältere Schwester Neve ihr verbieten will, den Wilden Wald zu betreten, sehnt sich die jüngere danach. Denn in Red glüht eine gefährliche Macht, die sie nicht kontrollieren kann – und im Wilden Wald kann sie wenigstens niemanden verletzten, den sie liebt. Doch an dem Tag, als sie dem Wolf gegenübersteht, ahnt Red nicht, dass sie dieses Monster in Menschengestalt mit jeder Faser ihres Daseins lieben wird.

Betrete den Wilden Wald – und verfalle dem Wolf mit Haut und Haar:
1. Für den Wolf
2. Für den Thron

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Seitenzahl: 705

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Buch

Wie alle Menschen fürchtet die Königstochter Red den Wilden Wald – einen verwunschenen Ort, an dem schreckliche Monster hausen. Das schlimmste unter ihnen ist der Wolf, dem seit jeher die zweitgeborene Königstochter geopfert wird. Red ist diese Tochter, und obwohl ihre ältere Schwester Neve ihr verbieten will, den Wilden Wald zu betreten, sehnt sich die jüngere danach. Denn in Red glüht eine gefährliche Macht, die sie nicht kontrollieren kann – und im Wilden Wald kann sie wenigstens niemanden verletzten, den sie liebt. Doch an dem Tag, als sie dem Wolf gegenübersteht, ahnt Red nicht, dass sie dieses Monster in Menschengestalt mit jeder Faser ihres Wesens lieben wird.

Autorin

Hannah Whitten schreibt, seit sie einen Stift halten kann. Irgendwann in der Highschool fand sie heraus, dass das, was sie selbst unterhält, auch andere unterhalten könnte. Wenn sie nicht gerade schreibt, liest sie, macht Musik oder versucht zu backen. Sie lebt in Tennessee mit ihrem Mann und ihren Kindern in einem Haus, das von einer temperamentvollen Katze regiert wird.

Die Wilderwood-Saga von Hannah Whitten:

1. Für den Wolf

2. Für den Thron

Hannah Whitten

FÜR den WOLF

Roman

Deutsch von Simon Weinert

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »For the Wolf« bei Orbit, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Hannah Whitten

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

This edition published by arrangement with Orbit, New York, USA. All rights reserved.

Redaktion: Ulrike Gerstner

Umschlaggestaltung: Umschlaggestaltung: www.buerosued.denach einer Originalvorlage von © 2021 Hachette Book Group, Inc.

Umschlagdesign: Lisa Marie Pompilio

Umschlagmotiv: Sybille Sterk / Arcangel Images

BL · Herstellung: sam

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29169-3V002

www.blanvalet.de

Für alle, deren Wut so tief sitzt, dass man sie nicht mehr frei bekommt, für alle, die sich zu scharfkantig fühlen,um etwas Weiches in Händen zu halten, für alle, die es müde sind, Welten hochzuhalten.

Du gehst wie lauter lichte Reheund ich bin dunkel und bin Wald.

Rainer Maria Rilke

Prolog

Dem Willen der Könige zu entgehen, flüchteten sie sich in die entlegensten Gegenden des Wilden Waldes. Wollte der Wald ihnen Zuflucht gewähren, so würden sie ihm alles geben, was sie hatten, solange ihr Geschlecht bestünde. Sie schworen, ihn in ihren Gebeinen wachsen zu lassen und ihm beizustehen. Dies gelobten sie mit ihrem Blut, das sie bereitwillig gaben als Opfer und Versprechen.

Der Wilde Wald ging den Handel ein, und sie blieben in seinen Grenzen, um ihn zu bewachen und vor den Wesen zu schützen, die unter ihm gefesselt waren. Und alle Zweiten Töchter, die darauf folgten, und alle Wölfe, die hernach kamen, hielten sich an die Abmachung, an den Ruf und an das Mal.

An dem Baum, an dem sie ihr Gelübde taten, erschienen diese Worte, und ich habe die Borke aufbewahrt, auf der sie geschrieben standen:

Die Erste Tochter gehört dem Thron.

Die Zweite Tochter gehört dem Wolf.

Und die Wölfe gehören dem Wilden Wald.

Tiernan Niryea Andraline vom Geschlecht Andraline,

Erste Tochter von Valleyda, im Ersten Jahr des Bundes

Kapitel eins

Am zweitletzten Abend, bevor man sie zum Wolf schicken würde, trug Red ein blutfarbenes Kleid.

Es ließ das Gesicht ihrer Zwillingsschwester Neve, die die Schleppe hinter ihr glatt strich, rot aufleuchten. Doch das Lächeln ihrer Schwester war zögerlich und schmallippig. »Du siehst schön aus, Red.«

Reds Lippen waren wund genagt, und als sie das Lächeln noch einmal wiederkehren lassen wollte, spannte ihre Haut. Sie hatte den scharfen Geschmack von Kupfer auf der Zunge.

Neve merkte nicht, dass Red blutete. Sie trug Weiß, wie es alle an diesem Abend tun würden, und lediglich das Silberband, das ihre schwarzen Haare zusammenhielt, kennzeichnete sie als Erste Tochter. In ihrem blassen Gesicht blitzten verschiedene Empfindungen auf, während sie sich mit den Falten von Reds Gewand abmühte – Sorge, Wut und Trauer, die bis ins Innerste reichten. Red konnte das alles an ihrer Miene ablesen. Bei Neve hatte sie das schon immer gekonnt. Seit sie nacheinander aus demselben Bauch geschlüpft waren, war Neve ein offenes Buch für sie gewesen.

Schließlich setzte Neve eine nichtssagend freundliche Miene auf, die nichts von ihrem inneren Aufruhr preisgeben sollte. Sie hob die halb volle Weinflasche vom Boden auf und hielt sie schräg in Reds Richtung. »Jetzt kannst du sie auch noch leer trinken.«

Red trank direkt aus der Flasche. Auf ihrem Handrücken blieb rote Farbe zurück, als sie sich damit den Mund abwischte.

»Gut?« Neve nahm ihr die Flasche ab, und obwohl sie sie nervös in den Handflächen herumrollte, klang ihre Stimme fröhlich. »Der ist aus Meducia. Ein Geschenk für den Tempel von Raffes Vater, eine kleine Dreingabe zur Gebetssteuer für gutes Segelwetter. Raffe hat ihn geklaut und gemeint, die normale Steuer sollte eigentlich mehr als ausreichend sein für ruhigen Seegang.« Ein halbherziges Lachen, spröde und trocken. »Er meinte, wenn dir etwas durch diese Nacht helfen kann, dann dieser Wein.«

Reds Rock legte sich in Falten, als sie sich auf einen der Sessel beim Fenster setzte und den Kopf auf der Faust abstützte. »Der Wein der ganzen Welt kann mir nicht helfen.«

Neves aufgesetzte fröhliche Maske bekam Risse und fiel herab. Sie saßen schweigend da.

»Du könntest immer noch weglaufen«, flüsterte Neve und bewegte dabei kaum die Lippen, den Blick auf die leere Flasche gerichtet. »Wir geben dir Deckung, Raffe und ich. Heute Nacht, wenn alle …«

»Ich kann nicht«, sagte Red hastig, beinahe scharf, und dabei ließ sie die Hand auf die Armlehne fallen. Die endlosen Wiederholungen dieser Worte hatten ihrer Stimme allen Glanz geraubt.

»Natürlich kannst du.« Neves Finger krampften sich um die Flasche. »Du hast ja noch nicht das Mal, und dein Geburtstag ist erst übermorgen.«

Reds Hand verirrte sich zu dem scharlachroten Ärmel, der ihre weiße, makellose Haut verdeckte. Seit ihrem neunzehnten Geburtstag suchte sie ihre Arme nach dem Mal ab. Das von Kaldenore war gleich nach deren Geburtstag aufgetaucht, das von Sayetha ein halbes Jahr später und das von Merra erst wenige Tage vor Vollendung ihres zwanzigsten Lebensjahres. Das von Red zeigte sich noch nicht, aber sie war eine Zweite Tochter – dem Wilden Wald versprochen, dem Wolf versprochen, an den alten Handel gebunden. Ob Mal oder nicht, in zwei Tagen wäre sie nicht mehr hier.

»Liegt es an den Geschichten über Ungeheuer? Ernsthaft, Red, das sind Märchen, um kleinen Kindern Angst einzujagen. Ganz gleich, was der Orden sagt.« Neves Ton war scharf geworden, kein Schmeicheln mehr, sondern Strenge. »Das ist Unsinn. In beinahe zweihundert Jahren hat sie niemand mehr gesehen – vor Sayetha gab es keine und vor Merra auch nicht.«

»Aber vor Kaldenore.« Red sprach ohne Eifer, jedoch auch ohne Kälte, vielmehr ganz neutral und ausdruckslos. Sie hatte genug von diesem Kampf.

»Ja, vor zweihundert Jahren stürmte eine Monsterhorde aus dem Wilden Wald heraus und versetzte die Nordlande eine Dekade lang in Angst und Schrecken, bis Kaldenore kam und sie verschwunden sind. Ungeheuer, von denen wir keine richtigen historischen Aufzeichnungen haben. Monster, die anscheinend immer die Gestalt annahmen, die denjenigen gerade gut passte, die die Geschichte erzählten.« War Reds Tonfall ein milder Herbst, so war der von Neve ein schneidender Winter, kalt und beißend. »Aber selbst wenn sie existiert haben sollten, dann tauchten seither keine mehr auf, Red. Nichts deutet darauf hin, dass etwas aus dem Wald kommt, nicht wegen einer der anderen Zweiten Töchter und auch nicht wegen dir.« Eine Pause, in der Worte aus einer Tiefe aufstiegen, die sie beide nie berührt hatten. »Gäbe es Ungeheuer im Wald, dann hätten wir sie gesehen, als wir …«

»Neve.« Red bewegte sich nicht, ihr Blick ruhte auf der verschmierten Lippenfarbe auf ihrem Handrücken, die wie eine Wunde leuchtete. Doch ihre Stimme schnitt durch das Zimmer.

Die Bitte zu schweigen, blieb allerdings unerhört. »Wenn du einmal bei ihm bist, ist es vorbei. Der lässt dich nicht wieder raus. Du kannst den Wald nie mehr verlassen, nicht wie … nicht wie beim letzten Mal.«

»Darüber möchte ich nicht sprechen.« Ihr neutraler Ton verlor an Boden, rutschte ab in Heiserkeit und Verzweiflung. »Bitte, Neve.«

Einen Moment lang glaubte sie, Neve würde ihre Bitte erneut ignorieren, würde das Gespräch über die sorgsam bewahrten Grenzen hinausdrängen, die Red sich setzte. Doch stattdessen seufzte Neve, und ihre Augen leuchteten wie das Silber ihrer Haare. »Du könntest wenigstens so tun«, murmelte sie und wandte sich zum Fenster. »Du könntest wenigstens vorgeben, dass es dir wichtig ist.«

»Es ist mir doch wichtig.« Reds Finger auf ihrem Knie krampften sich zusammen. »Aber es macht keinen Unterschied.«

Sie hatte längst geschrien, getobt, aufbegehrt. Sie hatte all das bereits getan, was Neve nun von ihr verlangte, damals, vor ihrem sechzehnten Geburtstag. Denn vor vier Jahren war alles anders geworden, da hatte sie begriffen, dass es für sie keinen anderen Platz als den Wilden Wald geben würde.

Nun machte sich in ihrem Bauch wieder dieses Gefühl breit. Es blühte auf, stieg an ihren Knochen hinauf. Es wuchs.

Auf der Fensterbank stand ein Farn, dessen Grün nicht zu dem Frost draußen passen wollte. Die Blätter zitterten und reckten sich langsam in Richtung von Reds Schulter. Die Bewegungen waren zu bestimmt und zielgerichtet, um von einem Windstoß herzurühren. Das Netz aus Adern an ihrem Handgelenk nahm unter ihrem Ärmel einen grünlichen Schimmer an und hob sich wie Äste von ihrer blassen Haut ab. Im Mund hatte sie den Geschmack von Erde.

Nein. Red ballte die Fäuste, bis ihre Knöchel weiß hervortraten. Langsam nahm das Gefühl, dass da etwas wuchs, wieder ab, war wie eine Ranke, die abgeschnitten wurde und sich erneut in ihrem Versteck zusammenringelte. Der erdige Geschmack verschwand von ihrer Zunge, aber sie griff dennoch zur Weinflasche und kippte sich die letzten Tropfen in den Mund. »Es liegt nicht nur an den Monstern«, sagte sie, als kein Wein mehr da war. »Die Frage ist doch auch, ob ich ausreiche, um den Wolf dazu zu bringen, die Könige freizugeben.«

Alkohol machte sie mutig, so mutig, dass sie sich keine Mühe mehr gab, den Hohn in ihrer Stimme zu verbergen. Sollte jemals ein Opfer würdig sein und den Wolf besänftigen können, damit er die Fünf Könige herausgab, die er vor Hunderten von Jahren irgendwo versteckt hatte, dann war sie es bestimmt nicht.

Nicht, dass sie an die Geschichte auch nur im Geringsten glaubte.

»Die Könige kommen nicht mehr zurück«, sprach Neve ihrer beider Unglaube aus. »Der Orden hat dem Wolf drei Zweite Töchter gesandt, und bei keiner hat er die Könige gehen lassen. Das wird er jetzt auch nicht tun.« Sie verschränkte die Arme eng vor ihrem weißen Gewand und starrte auf die Fensterscheibe, als könnte sie mit ihrem Blick ein Loch hineinbohren. »Ich glaube nicht, dass die Könige zurückkehren können.«

Red glaubte das auch nicht. Sie hielt es für wahrscheinlich, dass ihre Götter tot waren. Sie war zwar entschlossen, den Weg in den Wald einzuschlagen, aber das lag nicht daran, dass sie dachte, Könige oder Monster oder sonst etwas würden dann aus dem Wald kommen.

»Es ist einerlei.« Inzwischen hatten sie diesen Wortwechsel bis zur Vollkommenheit eingeübt. Red bog ihre nunmehr blauadrigen Finger vor und zurück und zählte den Takt dieses endlos im Kreis führenden Gesprächs. »Ich gehe in den Wilden Wald, Neve. Es ist vorbei. Lass es einfach … vorbei sein.«

Mit entschlossen aufeinandergepressten Lippen trat Neve vor, schloss die Lücke zwischen ihnen, und ihr Seidengewand raschelte auf dem Marmor. Red schaute nicht auf, sondern drehte den Kopf so, dass eine honigfarbene Haarsträhne ihr Gesicht verbarg.

»Red«, hauchte Neve, und Red zuckte angesichts des Tonfalls zusammen, denn ihre Schwester sprach zu ihr wie zu einem erschreckten Tier. »Ich wollte mit dir kommen, damals, als wir in den Wilden Wald gingen. Es war nicht deine Schuld, dass …«

Quietschend öffnete sich die Tür – und nur selten hatte Red sich mehr gefreut, ihre Mutter zu sehen.

Während Neve Weiß und Silber gut standen, ließen sie Königin Isla eisig erscheinen, kalt wie der Frost an der Fensterscheibe. Dunkle Brauen wölbten sich über noch dunkleren Augen, doch das war alles, was sie mit ihren Töchtern gemein hatte. Keine Diener folgten ihr, als sie den Raum betrat und die schwere Holztür hinter sich schloss.

»Neverah.« Sie nickte Neve zu, ehe sie den undurchschaubaren Blick auf Red richtete. »Redarys.«

Keine der Töchter erwiderte den Gruß. Einen Moment lang, der sich wie eine Stunde anfühlte, versanken die drei in Schweigen.

Isla wandte sich zu Neve um. »Die ersten Gäste kommen. Bitte geh sie begrüßen.«

Neve raffte ihren Rock mit den Fäusten. Unter zusammengezogenen Augenbrauen starrte sie Isla an, die dunklen Augen wild funkelnd. Aber ein Streit war sinnlos, und das wussten alle im Zimmer. Als sie zur Tür ging, sah sie über die Schulter zu Red, und in ihrem Blick lag ein Befehl – Trau dich.

In Gegenwart ihrer Mutter fühlte sich Red alles andere als mutig.

Sie hielt es nicht für nötig aufzustehen, während ihre Mutter sie prüfend betrachtete. Die Locken, die man mühsam in Reds Haar gedreht hatte, lösten sich bereits wieder, und ihr Kleid war zerknittert. Kurz blieb Islas Blick auf der verschmierten Lippenfarbe auf Reds Handrücken hängen, doch selbst das reichte nicht aus, um ihr eine Reaktion zu entlocken. Es handelte sich weniger um einen Ball als um einen Beweis für die Opferung, ein Ereignis für Würdenträgerinnen und Würdenträger aus allen Ecken des Kontinents. Sie alle kamen, um die Frau zu sehen, die für den Wolf bestimmt war. Vielleicht passte es ganz gut, dass sie ein wenig ungezähmt aussah.

»Dieser Ton steht dir.« Die Königin deutete mit einem Nicken auf Reds Rock. »So rot wie das Red in Redarys.«

Ein Scherz, der Red dazu brachte, so stark mit den Zähnen zu knirschen, dass sie fast zerbarsten. Als sie Kinder waren, hatte Neve sie immer nur Red genannt. Noch ehe die beiden die volle Bedeutung dahinter begriffen hatten. Doch der Spitzname war haften geblieben, und Red hätte ihn ohnehin nicht ändern wollen. Er hatte etwas Wildes und machte deutlich, wer und was sie war.

»Den habe ich seit Kindertagen nicht mehr gehört«, sagte sie und sah, wie Islas Lippen sich flach zogen. Wenn sie ihre Kindheit erwähnte – dass sie einmal ein Kind war, dass sie Islas Kind gewesen war, dass sie ihr Kind in den Wald schickte –, schien ihre Mutter stets aus der Fassung zu geraten.

Red deutete auf ihren Rock. »Scharlachrot für das Opfer.«

Nach einem Augenblick räusperte sich Isla. »Die Delegation aus Floriane ist am Nachmittag eingetroffen und die Gesandtschaft von Karseckan Re. Die Premierrätin aus Meducia lässt ihr Bedauern bestellen, aber einige andere Ratsleute lassen sich blicken. Von überall auf dem Kontinent sind im Laufe des Tages Ordenspriesterinnen eingetroffen, sie beten in Schichten im Schrein.« Das alles verkündete sie mit leiser, steifer Stimme, als leiere sie eine langweilige Liste herunter. »Die drei Herzöge von Alpera und ihr Gefolge sollten noch vor der Prozession ankommen …«

»Oh, gut.« Red sprach zu ihren Händen, die regungslos und blass waren wie die einer Leiche. »Die wollen sich das nicht entgehen lassen.«

Islas Finger zuckten. So angespannt sie klang, redete sie doch wie eine Königin. »Die Hohepriesterin hegt große Hoffnungen«, sagte sie, und ihr Blick wanderte überall hin, nur nicht zu ihrer Tochter. »Da ja eine längere Lücke ist zwischen dir und … und den anderen, glaubt sie, dass der Wolf die Könige vielleicht endlich herausgibt.«

»Bestimmt glaubt sie das. Das wird richtig peinlich für sie, wenn ich in diesen Wald hineinwandere und absolut nichts passiert.«

»Behalte deine Lästerworte für dich«, rügte Isla, wenn auch sanft. Red war es nie gelungen, ihrer Mutter eine Emotion zu entlocken. Sie hatte es versucht – als Kind mit Geschenken, sogar mit gepflückten Blumensträußen. Später dann hatte sie Vorhänge heruntergerissen, hatte betrunken das feine Abendessen vermasselt und sich bemüht, Wut aus ihr herauszukitzeln, wenn sie schon keine wärmeren Gefühle auslösen konnte. Doch selbst damit hatte sie nichts anderes geerntet als ein Seufzen oder ein Augenrollen.

Man musste ein richtiger Mensch sein, damit jemand um einen trauerte. Für ihre Mutter war sie das nie gewesen. Für sie war Red nie mehr als eine Altlast.

»Glaubst du denn, dass sie zurückkommen werden?« Eine dreiste Frage, die sie nicht zu stellen gewagt hätte, wenn sie nicht schon mit einem Fuß im Wilden Wald stünde. Nichtsdestotrotz schaffte Red es nicht, ihrer Stimme einen ernsten Klang zu verleihen, konnte die Stichelei nicht aus ihrem Ton heraushalten. »Glaubst du, dass der Wolf dir die Könige zurückgibt, wenn er mich wohlgefällig findet?«

Im Zimmer herrschte Schweigen, kälter als die Luft draußen. Red selbst besaß keinerlei Glauben, doch sie verlangte nach dieser Antwort, als wäre sie die Absolution. Für ihre Mutter. Und für sie.

Isla sah ihr in die Augen, und der Moment zog sich in die Länge, nahm seltsame Ausmaße an. Er schien Ewigkeiten zu umfassen und hielt all das bereit, was in so vielen Jahren unausgesprochen geblieben war. Aber als Isla etwas erwiderte, richteten sich ihre dunklen Augen auf etwas anderes. »Ich kann schwerlich erkennen, inwiefern das eine Rolle spielen soll.«

Und damit war die Sache abgehakt.

Red erhob sich, schüttelte ihre Haarmähne, die schwer wie ein Vorhang war, wischte die Lippenfarbe auf ihrem Handrücken am Rock ab. »Aber gewiss doch, Hoheit, dann zeigen wir ihnen mal, dass ihr Opfer gefesselt und bereit ist.«

Red stellte im Kopf rasch einige Berechnungen an, während sie in Richtung Ballsaal rauschte. Mit ihrer Gegenwart musste sie ein Zeichen setzen – all diese Würdenträgerinnen und Würdenträger waren nicht gekommen, um zu tanzen und Wein zu trinken. Sie wollten Red sehen, den scharlachfarbenen Beweis dafür, dass Valleyda bereit war, seine Zweite Tochter als Opfer auszusenden.

Die Ordenspriesterinnen wechselten sich im Schrein ab, beteten die Splitter der weißen Bäume an, die angeblich aus dem Wilden Wald selbst geschnitten worden waren. Für Leute von außerhalb war es eine religiöse Pilgerfahrt. Sie bot damit nicht nur die einzigartige Gelegenheit, einmal im Leben im berühmten Schrein von Valleyda zu beten, sondern man konnte auch miterleben, wie eine Zweite Tochter zum Wolf gesandt wurde.

Sie beteten zwar, aber sie taten es mit offenen Augen. Augen, die Red maßen, die abwogen, ob sie die Einschätzung der Hohepriesterin von Valleyda teilen sollten. Ob sie Red ebenso wohlgefällig fanden.

Ein, zwei Tänzchen, ein Gläschen Wein oder auch vier. Red würde so lange bleiben, dass sich alle von der Qualität der Opfergabe überzeugen konnten. Dann würde sie gehen.

Eigentlich war es Frühsommer, doch in Valleyda stiegen die Temperaturen zu keiner Jahreszeit merklich über den Gefrierpunkt. Der Ballsaal war von Öfen gesäumt, die flackerndes, orangefarbenes und gelbes Licht spendeten. Hofleute aus allen Königreichen des Kontinents, gekleidet in eine unüberschaubare Vielzahl von Schnitten und Stilen, wirbelten über die Tanzfläche, jedes bisschen Stoff mondbleich. Als Red in den Ballsaal trat und sich Myriaden von Augen auf sie richteten, schien sie wie der Blutstropfen in einer Schneewehe.

Sie erstarrte wie das Kaninchen vor dem Fuchs. Einen Augenblick starrten sie sich gegenseitig an, die Versammlung der Gläubigen und die herausgeputzte Opfergabe.

Mit zusammengebissenen Zähnen vollführte Red eine tiefe, übertriebene Verneigung.

Kurz geriet der Tanz aus dem Rhythmus. Dann nahmen die Hofleute ihn wieder auf, rauschten, ohne sie anzublicken, an ihr vorbei.

Manchmal musste man für die kleinen Dinge dankbar sein.

In der Ecke, neben einer Unmenge Gewächshausrosen und Weinkisten stand eine vertraute Gestalt. Raffe fuhr sich über das kurz geschorene schwarze Haar, die Finger der anderen Hand hoben sich wie Mahagoni vor dem Gold seines Kelchs ab. Im Moment war er allein, aber das würde sich bald ändern. Als Sohn einer meducianischen Rätin und als ziemlich guter Tänzer fehlte es ihm auf Bällen nicht an Gesellschaft.

Red huschte zu ihm hinüber, nahm ihm den Kelch aus der Hand und leerte ihn in einem routinierten Zug. Raffe kräuselte die Lippen. »Dir auch Hallo.«

»Wo du den herhast, gibt es noch mehr als genug.« Red reichte ihm den Kelch zurück und verschränkte die Arme. Entschlossen starrte sie die Wand an statt auf die Festgesellschaft. Deren Blicke stachen wie Nadeln in den Rücken ihres Kleides.

»Stimmt.« Raffe goss sich nach. »Ehrlich gesagt überrascht es mich, dass du bleibst. Die Leute, die dich sehen mussten, haben doch nun alle einen Blick auf dich geworfen.«

Sie nagte an ihrer Lippe. »Aber ich hoffe, noch jemanden zu sehen.« Das Eingeständnis machte sie vor sich selbst und auch vor Raffe. Sie sollte Arick eigentlich nicht sehen wollen. Sie sollte einen klaren Schnitt machen, ihn einfach gehen lassen …

Doch im Herzen war Red ein selbstsüchtiges Wesen.

Raffe nickte kurz und hob verständnisvoll eine Augenbraue. Er reichte ihr den vollen Weinkelch, bevor er sich einen neuen holte.

Sie kannte Raffe, seit sie vierzehn war – als sein Vater die Stellung eines Rates angenommen hatte, hatte er das florierende Weingeschäft an seinen Sohn weitergeben müssen, und nirgends lernte man mehr über Handelsrouten als bei valleydanischen Lehrern. Denn hier wuchs nicht viel, in diesem winzigen, kalten Land am äußersten Zipfel des Kontinents, sah man einmal ab vom Wilden Wald an der nördlichen Grenze und dem gelegentlich zu leistenden Opferzoll an Zweiten Töchtern. Darum war Valleyda beinahe vollständig auf Importe angewiesen, um sein Volk zu ernähren – darauf und auf Gebetssteuern der Tempel, in denen die wirkungsvollsten Bittgesuche an die Könige gestellt wurden.

Während der letzten sechs Jahre waren sie zusammen aufgewachsen, und in dieser Spanne hatte Red gemerkt, wie sehr sie sich von allen unterschied. Hatte gemerkt, dass ihre Zeit rasch ablief. Doch während ihrer ganzen Bekanntschaft hatte Raffe sie nie anders als eine Freundin behandelt. Nicht als eine Märtyrerin und nicht als ein Götterbild, das man verbrannte.

Raffes Blick wurde sanfter, und er sah über sie hinweg. Red folgte seinem Blick und entdeckte Neve, die allein und mit leicht blutunterlaufenen Augen auf einem Podest an der Stirnseite des Saals saß. Islas Platz war noch immer leer. Red hatte gar keinen.

Sie zeigte mit dem Weinkelch auf ihre Zwillingsschwester. »Fordere sie zum Tanz auf, Raffe.«

»Das kann ich nicht.« Die Antwort kam prompt und abgehackt hinter seinem Kelch hervor. Er leerte ihn in einem Zug.

Red drängte ihn nicht weiter.

Ein Tippen auf ihre Schulter ließ sie herumwirbeln. Der junge Adlige hinter ihr wich rasch einen Schritt zurück, die Augen furchtsam aufgerissen. »Äh, mein … meine Dame … nein, Prinzessin …«

Er rechnete sichtlich mit scharfen Worten, doch Red fühlte sich plötzlich zu müde dafür. Es war anstrengend, immer so schneidend zu sein. »Redarys.«

»Redarys.« Er nickte nervös. Von seinem weißen Hals stieg Röte auf, die die Flecken in seinem Gesicht aufleuchten ließ. »Würdest du mit mir tanzen?«

Unwillkürlich zuckte Red mit den Schultern. Der meducianische Wein zerschmolz ihre Gedanken in gestaltlose Wärme. Es war nicht der, den sie zu sehen gehofft hatte, aber warum sollte sie nicht mit jemandem tanzen, der so viel Tapferkeit aufgebracht hatte, sie aufzufordern? Noch war sie nicht tot.

Der kleine Adlige peitschte sie zu einem Walzer an, wobei er die Kurve ihrer Taille kaum berührte. Red hätte lachen können, wenn ihre Kehle nicht so wund gewesen wäre. Noch immer scheuten sich alle, etwas zu berühren, was dem Wolf bestimmt war.

»Du sollst zu ihm, in den Erker«, flüsterte der Adlige, wobei ihm beinahe die Stimme wegbrach. »Das hat die Erste Tochter gesagt.«

Red wurde aus ihrer Weinseligkeit herausgerissen und sah den jungen Herrn aus zusammengekniffenen Augen an. In ihrem Magen rebellierte der Alkohol zusammen mit strahlender Hoffnung. »Zu wem soll ich?«

»Zum Prinzverlobten«, stammelte der Junge. »Herr Arick.«

Er war hier. Er war gekommen.

Der Walzer war zu Ende, und sie landete mit ihrem unpassenden Partner ganz in der Nähe des besagten Erkers, sodass die Schleppe ihres Kleides beinahe den Brokatvorhang berührte. »Danke.« Red vollführte einen Knicks vor dem Adelssöhnchen, der nun vom Haaransatz bis zum Hals puterrot war. Er stotterte etwas Unverständliches und machte sich davon. Seine Fohlenbeine wären ihm fast davongerannt.

Sie wartete einen Moment, bis sich ihre Hände beruhigten. Das hatte Neve eingefädelt, und Red kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, was sie damit bezweckte. Neve konnte sie nicht zum Weglaufen überreden, war aber der Ansicht, Arick könnte das gelingen.

Sollte er es ruhig versuchen.

Sie schlüpfte am Vorhang vorbei, und noch ehe der Ballsaal ihren Blicken entschwunden war, hatte er ihre Hüfte umfasst.

»Red«, murmelte er in ihren Haarschopf. Seine Lippen bewegten sich auf ihre zu, die Finger griffen ihre Taille fester, als er sie zu sich heranzog. »Red, ich habe dich vermisst.«

Ihr Mund war zu beschäftigt, um etwas zu erwidern. Dennoch schaffte sie es, ihm zu vermitteln, dass sie sein Gefühl teilte. Aricks Pflichten als Prinzverlobter und Herzog von Floriane hielten ihn häufig vom Hof fern. Jetzt war er nur wegen Neve hier.

Die Verlautbarung, dass Arick Neves künftiger Ehemann würde, hatte Neve genauso überrascht wie Red. Mit der Ehe sollte der brüchige Vertrag gefestigt werden, der aus Floriane eine Provinz Valleydas machte. Neve wusste, dass zwischen Arick und Red etwas war. Aber sie sprachen nie darüber, weil sie nicht in der Lage waren, Worte für noch eine weitere kleine Tragödie zu finden. Arick war eine Klinge, die bei ihnen beiden Wunden schlug, und diese heilten am besten für sich alleine.

Red löste ihre Lippen von ihm und legte die Stirn auf Aricks Schulter. Er roch wie immer, nach Minze und teurem Tabak. Sie atmete seinen Duft ein, bis ihr die Lunge schmerzte.

Arick hielt sie einen Moment lang, die Hände in ihren Haaren. »Ich liebe dich«, flüsterte er neben ihrem Ohr.

Das sagte er jedes Mal, und sie antwortete ihm nie darauf. Früher hatte sie geglaubt, sie würde ihm einen Gefallen tun, wenn sie sich ihm verweigerte, denn dann wäre es an ihrem zwanzigsten Geburtstag einfacher, wenn der Wald seinen Opferzoll fordern würde. Aber das stimmte nicht ganz. Red antwortete ihm nie darauf, weil sie schlichtweg nicht so fühlte. Auf gewisse Art liebte sie Arick, doch nicht so, dass ihre Liebe der seinen entsprochen hätte. Deshalb war es einfacher, die Worte ohne Erwiderung verklingen zu lassen.

Bisher hatte ihn das anscheinend nicht gestört, aber heute Abend spürte sie, wie sich seine Muskeln unter ihrer Wange anspannten, und sie hörte das Knirschen seiner Zähne. »Immer noch, Red?« Er sagte es leise und in einem Ton, als kenne er die Antwort bereits.

Sie schwieg beharrlich.

Nach einem Moment schob er mit einem bleichen Finger ihr Kinn nach oben, um ihr forschend ins Gesicht zu schauen. Im Erker brannten keine Kerzen, doch spiegelte sich das Mondlicht, das durch die Fenster fiel, in ihren Augen, so grün wie die Farne auf den Fensterbänken. »Du weißt, weshalb ich hier bin.«

»Und du weißt, was ich dir sagen werde.«

»Neve hat die Frage falsch gestellt«, raunte er, und Verzweiflung lag in seiner Stimme. »Sie wollte einfach nur, dass du wegrennst, und hat sich keine Gedanken darüber gemacht, was dann kommt. Aber ich. Ich habe an nichts anderes gedacht.« Er hielt inne, seine Hand krampfte sich in ihren Haaren zusammen. »Lauf mit mir gemeinsam weg, Red.«

Ihre Augen, wegen der Küsse und des Mondlichts halb geschlossen, öffneten sich weit. Red wich zurück, so schnell, dass ihre goldenen Haarsträhnen noch an seinen Fingern hingen. »Was?«

Arick ergriff ihre Hände, zog sie wieder zu sich heran. »Lauf mit mir weg«, wiederholte er und rieb mit den Daumen in ihren Handflächen. »Wir gehen nach Süden, nach Karsecka oder Elkyrath, lassen uns in einem Provinzkaff nieder, wo sich niemand um Religion oder die Rückkehr der Könige kümmert, und so weit weg, dass keiner Angst vor Monstern aus dem Wald haben muss. Ich suche mir Arbeit als … als egal was, und …«

»Das können wir nicht machen.« Red entzog sich seinem Griff. Die angenehme Benommenheit des Weins wich zügig einem tauben Schmerz, und sie hielt sich die Schläfen, während sie sich von ihm abwandte. »Du hast Verpflichtungen. Gegenüber Floriane, gegenüber Neve …«

»Das ist alles nicht wichtig.« Seine Hände lagen links und rechts auf ihrer Taille. »Red, ich kann dich nicht in den Wilden Wald lassen.«

Nun spürte sie es erneut, das Erwachen in ihren Adern. Die Farne auf der Fensterbank zitterten.

Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie es ihm sagen sollte.

Ob sie ihm von dem verirrten Splitter der Wilde-Wald-Magie erzählen sollte, der seit der Nacht, in der sie und Neve zum Rand des Waldes geritten waren, in ihr steckte. Ob sie ihm von der Zerstörung berichten sollte, die dieser Splitter anrichtete, vom Blut und von der Gewalt. Ob sie ihm erklären sollte, dass jeder Tag für sie eine Lektion darin war, den Splitter niederzukämpfen, ihn gefangen zu halten, sicherzustellen, dass er nie wieder jemandem schadete.

Doch die Worte wollten nicht aus ihr heraus.

Red ging nicht in den Wilden Wald, um die Götter zurückzubringen. Sie ging nicht als eine Versicherung gegen Ungeheuer. Sie mochte zwar in ein altes, geheimnisvolles Netz hineingeboren worden und ganz darin verstrickt sein, doch der Grund dafür, dass sie sich nicht dagegen wehrte, lag nicht in ihrer Frömmigkeit, nicht in der Religion, an die sie nie wirklich geglaubt hatte.

Sie ging in den Wilden Wald, um die Menschen, die sie liebte, vor sich selbst zu bewahren.

»Es muss doch nicht so sein.« Arick fasste sie bei den Schultern. »Wir könnten zusammenleben, Red. Wir könnten einfach nur wir selbst sein.«

»Ich bin die Zweite Tochter. Du bist der Prinzverlobte.« Red schüttelte den Kopf. »Das sind wir.«

Schweigen. »Ich könnte dich zum Gehen zwingen.«

Reds Augen wurden schmal, ihr Blick halb verwirrt, halb misstrauisch.

Seine Hände glitten von ihren Schultern herab, schlossen sich um ihre Handgelenke. »Ich könnte dich an einen Ort bringen, wo er dich nicht kriegen würde.« Arick hielt inne, und sein Zögern war voll scharfem Schmerz. »Von wo aus du nicht zu ihm gelangen könntest.«

Arick hielt sie so fest gepackt, dass er ihr beinahe wehtat. Wirbelnd wie Laub in einem Sturm brach sich Reds Magiesplitter wütend Bahn.

Er grub sich einen Weg aus ihren Knochen heraus, schlängelte sich aus den Zwischenräumen ihrer Rippen wie Ranken, die an Ruinen hochkletterten. Die Farnblätter auf der Fensterbank bogen sich in ihre Richtung, angezogen von einem eigentümlichen Magnetismus. Und selbst noch durch die Marmorschichten zu ihren Füßen spürte Red, wie die Erde unter ihr erwachte, wie darin Wurzeln, einem wilden Fluss gleich, brandeten und nach ihr tasteten …

Kurz bevor die Farne, deren Wedel innerhalb von Sekunden gewachsen waren und ausschlugen, Aricks Schulter berührten, brachte Red die Kraft unter Kontrolle. Sie stieß ihn von sich, heftiger, als sie beabsichtigt hatte. Arick torkelte zurück, während der Farn wieder schrumpfte und zu seiner normalen Gestalt zurückfand.

»Du kannst mich nicht zu etwas zwingen, Arick.« Ihre Hände zitterten, und ihre Stimme war schwach. »Ich kann nicht hierbleiben.«

»Warum?«, fragte er drängend, wütend und leise.

Red drehte sich um und griff mit einer Hand, von der sie hoffte, dass sie nicht zitterte, zum Saum des Brokatvorhangs. Ihr Mund bewegte sich, aber keine Worte schienen zu passen, und deshalb wurde die Stille immer bedrückender und schließlich zu ihrer Antwort.

»Wegen dem, was mit Neve passiert ist, nicht wahr?« Das war eine Anschuldigung, und genauso schleuderte er sie ihr entgegen. »Als ihr in den Wilden Wald gegangen seid?«

Reds Herz klopfte heftig in ihrer Brust. Sie duckte sich unter dem Vorhang durch, ließ ihn hinter sich fallen, sodass Aricks Worte nur noch gedämpft hindurchdrangen und sein Gesicht dahinter verborgen war. Ihr Gewand strich raschelnd über den Marmor, als sie den Korridor entlang auf die Doppeltür des Nordbalkons zuging. In einer fernen Ecke ihres Bewusstseins fragte sie sich, wie die Informantinnen und Informanten der Priesterinnen ihr zerrauftes Haar und ihre geschwollenen Lippen interpretieren würden.

Tja. Sollten sie sich eine unberührte Opfergabe gewünscht haben – das Schiff hatte den Hafen längst verlassen.

Nach der Ofenhitze des Ballsaals wirkte die Kälte erfrischend, doch Red stammte aus Valleyda, und deshalb gehörte Gänsehaut auf den Armen für sie auch zum Sommer. Der Schweiß in ihren Haaren, die inzwischen hoffnungslos glatt waren, trocknete. Hitze und Aricks Hände hatten die sorgsam gewickelten Locken zerstört.

Einatmen, ausatmen, die bebenden Schultern ruhig halten, das Brennen in den Augen wegblinzeln. Die Menschen, die sie liebten, konnte sie an einer Hand abzählen, und sie alle flehten sie um die eine Sache an, die sie ihnen nicht gewähren konnte.

Die Nachtluft ließ die Tränen an ihren Wimpern gefrieren, ehe sie heruntertropfen konnten. Von Geburt an war sie verdammt gewesen – eine Zweite Tochter, für den Wolf und den Wilden Wald bestimmt, so wie es in die Borke im Schrein eingeritzt war –, und dennoch fragte sie sich manchmal. Sie fragte sich, ob sie sich nicht selbst verdammt hatte mit dem, was sie vor vier Jahren getan hatte.

Nach dem desaströsen Ball hatten sie sich von Leichtsinn hinreißen lassen – von Leichtsinn, Übermut und zu viel Wein. Sie hatten Pferde gestohlen und waren nach Norden geritten, zwei Mädchen gegen ein Monster und einen endlosen Wald. Mit nichts anderem bewaffnet als Steinen, Streichhölzern und einer grimmigen Liebe füreinander.

Diese Liebe loderte so hell, dass es Red fast schien, als wäre die Kraft, die sich in ihr eingenistet hatte, eine absichtliche Verhöhnung. Etwas, mit der der Wilde Wald beweisen wollte, dass er stärker war als diese Liebe. Dass ihre Verbindung zum Wald und dessen Wolf, der ihrer harrte, auf ewig stärker sein würde.

Red schluckte mit zugeschnürter Kehle. Welch Ironie des Schicksals, dass sie vielleicht getan hätte, was Neve von ihr wollte, wenn diese Nacht damals und ihre Folgen nicht gewesen wären. Dann wäre sie jetzt womöglich weggelaufen.

Sie sah nach Norden, kniff im kalten Wind die Augen zusammen. Irgendwo jenseits des Nebels und der verschwommenen Lichter der Hauptstadt lag der Wilde Wald. Der Wolf. Deren langes Warten wäre bald zu Ende.

»Ich komme«, murmelte sie. »Verdammt seist du, ich komme.«

Sie wandte sich mit fliegenden, karmesinroten Röcken um und ging wieder hinein.

Kapitel zwei

Der Schlaf stellte sich kaum ein. Als die aufgehende Sonne den Himmel blutrot färbte, stand Red bereits am Fenster, verschränkte ihre Finger und starrte auf den Schrein draußen.

Ihr Zimmer ging zu den inneren Gärten hinaus, eine Anlage mit sorgfältig gepflegten Bäumen und Blumen, die speziell wegen ihrer Widerstandskraft gegen die Kälte gezüchtet worden waren. Der Schrein versteckte sich in der hinteren Ecke, kaum zu sehen unter einer blühenden Laube. Als das Sonnenlicht auf die Steinbögen fiel, tauchte es sie in mattes Gold.

Die Ordensleute standen zwischen den Gewächsen verstreut, drängten sich um die Blumen, ein Meer aus weißen Kutten und Frömmigkeit. Hier hatten sich alle Priesterinnen, die Valleyda ihre Heimat nannten, versammelt. Dazu alle, die angereist waren – von Rylt jenseits des Meeres, von Karsecka am südlichen Zipfel des Kontinents und von überall dazwischen. In jedem Tempel befand sich ein weißer Baumscheit, ein kleiner Splitter des Wilden Waldes, der angebetet werden konnte. Aber es war eine ganz besondere Ehre, zum Tempel in Valleyda zu pilgern, wo es einen ganzen Hain davon gab. Es war ein Privileg, vor den knochenbleichen Ästen zu beten, die das Gefängnis der Könige waren, und deren Freilassung zu erflehen.

Aber an diesem Morgen betrat keine der Priesterinnen den Schrein. Die einzige Person, der es erlaubt war, bei den weißen Ästen zu beten, war Red.

Die Scheibe beschlug von ihrem Atem. Gedankenverloren zog Red mit dem Finger einen Strich durch die Wolke. Vor langer Zeit hatten das ihre Kindermädchen getan, um ihre Geschichten zu veranschaulichen. Geschichten vom Wilden Wald, als es noch keine Schattenlande gegeben hatte. Bei deren Erschaffung war die gesamte Magie der Welt in dem Wald weggesperrt worden, ein Gefängnis für die göttergleichen Geschöpfe, die mit Schrecken geherrscht hatten.

Davor war der Wald ein Ort des ewigen Sommers gewesen, ein Ort des Trostes in einer Welt der Gewalt. Glaubte man den Kindermädchen, dann war er sogar in der Lage, Segensgeschenke zu gewähren, wenn man innerhalb seiner Grenzen Opfergaben zurückließ – Haarbüschel, ausgefallene Zähne, blutbeflecktes Papier. Die Magie war frei geflossen, und jeder, der sie zu nutzen gelernt hatte, konnte auf sie zugreifen.

Doch nachdem sich die Fünf Könige mit dem Wald darauf geeinigt hatten, die göttlichen Ungeheuer zu bannen – die Schattenlande als ihr Gefängnis zu schaffen –, war alle Magie verschwunden, denn der Wilde Wald hatte sie für die Bewerkstelligung dieser enormen Aufgabe eingesogen.

Aber selbst dann noch verhandelte der Wald – er ging einen Handel mit Ciaran und Gaya ein, dem ursprünglichen Wolf und der ersten Zweiten Tochter. Im ersten Jahr des Banns, in dem Jahr also, in dem die Monster eingesperrt wurden, erbaten sie vom Wilden Wald Schutz vor Gayas Vater Valchior und ihrem Verlobten Solmir – zwei der sagenhaften Fünf Könige. Der Wilde Wald gewährte Gaya und Ciaran die Bitte und gab ihnen ein Versteck, einen Ort, an dem sie für immer zusammen sein konnten. So kam es, dass sie den Wald nicht mehr verlassen konnten und übermenschlich wurden.

An dieser Stelle brachen die Kindermädchen ab. Sie erzählten nicht, dass die Könige erneut in den Wilden Wald eindrangen, fünfzig Jahre nach dem Bann, und niemals zurückkamen. Sie erzählten nicht, dass Ciaran Gayas Leiche zum Waldrand trug, eineinhalb Jahrhunderte nachdem die Könige verschwunden waren.

Red kannte die Geschichte. Sie hatte sie hundertmal gelesen, sowohl in den Büchern, die als heilig galten, als auch in weniger bedeutsamen Schriften. Sie hatte jede Variante davon, die sie hatte auftreiben können, gelesen. Auch wenn sich Einzelheiten unterschieden, waren die groben Pinselstriche immer dieselben. Ciaran brachte Gayas Leiche zum Rand des Wilden Waldes. Durch ihre halb verrotteten sterblichen Überreste wanden sich Ranken und Baumwurzeln, als wäre sie mit dem Fundament des Waldes verwoben gewesen. Zu ein paar unbedeutenden Dorfbewohnern des Nordens, die ihn sahen und dadurch plötzlich Teil der Geschichte einer Religion wurden, sprach er.

Schickt die nächste.

Und so verwandelte sich eine Liebesgeschichte in blanken Schrecken, so wie der ewige Sommer zu einem welken Herbst verblasste.

Als sich die Ränder des Nebelflecks auflösten, zog Red die Hand zurück. Die Striche, die ihre Finger hinterließen, sahen aus wie Krallenspuren.

Es klopfte an der Tür, beinahe zögerlich. Red lehnte die Stirn gegen die Scheibe. »Einen Augenblick.«

Ein Atemzug, tief und frostig, dann stand sie auf. Kalter Schweiß ließ ihr Nachthemd an ihren Schultern kleben, als sie es auszog. Beinahe unbewusst wanderte ihr Blick auf eine Stelle über ihrem Ellbogen. Noch immer kein Mal, und sie musste sich dagegen wehren, dass Hoffnung die Zähne in ihre Brust schlug.

Es gab keine Aufzeichnungen darüber, wie die Male auszusehen hatten, es hieß lediglich, dass sie auf den Armen von Zweiten Töchtern irgendwann während des neunzehnten Lebensjahrs erschienen und einen erbarmungslosen Drang in Richtung Norden, in Richtung des Wilden Waldes, auslösten. Seit ihrem letzten Geburtstag hatte sie sich jeden Morgen gründlich abgesucht, hatte jedes Muttermal und jede Sommersprosse begutachtet.

Es klopfte erneut. Red funkelte die geschlossene Tür an, als könnte ihr Zorn das Holz durchdringen. »Wenn du nicht willst, dass ich nackt bete, dann gib mir noch einen Augenblick.«

Es folgte kein Klopfen mehr.

Zu ihren Füßen lag ein zerknittertes Gewand. Red zog es sich über und machte die Tür auf, ohne sich mit Kämmen zu belasten.

Drei Priesterinnen standen schweigend im Gang. Sie waren ihr vage bekannt, mussten also aus dem Tempel von Valleyda stammen und waren keine der Gästinnen. Vielleicht sollte sie das trösten.

Sollten die Priesterinnen sich über ihren zerzausten Zustand erschrocken haben, zeigten sie es jedenfalls nicht. Sie neigten lediglich die Häupter, hatten die Hände in weiten Ärmeln verborgen und führten sie den Gang entlang, hinaus in die helle, kalte Luft.

Die fromme Versammlung im Garten blieb wie versteinert links und rechts des blumengeschmückten Eingangs zum Schrein stehen, die Köpfe gesenkt. Mit jeder Priesterin, an der Red vorbeiging, schlug ihr der Puls heftiger in der Kehle. Sie sah sie nicht an, sondern richtete den Blick unverwandt nach vorn und trat geduckt in den Schatten des Türbogens. Allein.

Der vordere Raum des Schreins war rechteckig und schlicht. Ein kleiner Tisch voller Gebetskerzen stand neben der Tür, und in der Mitte erhob sich hoch und stolz eine Statue von Gaya. Zu Füßen der Statue war die weiße Borke mit der Inschrift angebracht, ein Stück des Baumes, an dem Gaya und Ciaran ihren Handel mit dem Wald geschlossen hatten. Gayas Schwester Tiernan hatte den beiden bei der Flucht geholfen, und sie hatte die Borke als Beweis dafür mitgebracht, dass Solmirs Anspruch auf Gaya nichtig war.

Red sah stirnrunzelnd zu ihrer Vorgängerin auf. Eine stattliche Leistung, dass Gaya heute so verehrt und der Wolf so geschmäht wurde, denn man hatte die Wissenslücken in der Geschichte geschickt ausgefüllt. Da die Fünf Könige im Herrschaftsgebiet des Wolfes verschwunden waren, musste er schließlich die Schuld tragen. Niemand wusste genau, was er mit der Gefangennahme der Könige bezwecken wollte – vielleicht mehr Macht. Vielleicht handelte er einfach nur, wie Monster eben so handeln. Immerhin hatte er sich in eines verwandelt, nachdem der Wald, an den er gebunden war, finster und verdorben geworden war. Der Orden behauptete, Gaya wäre bei dem Versuch ums Leben gekommen, die Könige von dem Ort zu befreien, wo Ciaran sie versteckt gehalten hatte. Aber es gab keinen Weg, das herauszufinden, oder? Man wusste lediglich, dass die Könige verschwunden waren und Gaya tot.

Flackernde scharlachrote Gebetskerzen – Scharlachrot für das Opfer; vermutlich zählte auch das Gebet als eines – waren die einzigen Lichtquellen, und es reichte nicht, um etwas zu lesen. Doch Red kannte die Worte auswendig.

Die Erste Tochter gehört dem Thron. Die Zweite Tochter gehört dem Wolf. Und die Wölfe gehören dem Wilden Wald.

Das unruhige Licht tanzte auf den eingemeißelten Figuren an der Wand. Rechts von ihr fünf vage männliche Gestalten – die Fünf Könige. Valchior, Byriand, Malchrosite, Calryes und Solmir. An der linken Wand drei weitere Figuren, die detailreicher ausgeführt waren. Die Zweiten Töchter – Kaldenore, Sayetha, Merra.

Red fuhr mit den Fingern über die glatte, leere Stelle neben Merras Umrissen. Irgendwann, wenn sie nur noch ein Haufen Knochen im Wald wäre, würden sie ihr Abbild hier einmeißeln.

Durch die offene Steintür drang ein Windstoß herein und ließ den dünnen schwarzen Vorhang hinter Gayas Statue flattern. Die zweite Kammer des Schreins. Nur einmal war Red dort gewesen – vor einem Jahr, an ihrem neunzehnten Geburtstag, hatte sie darin gekniet, während die Ordenspriesterinnen dafür gebetet hatten, dass ihr Mal schnell erscheinen möge.

Red fand wenig Muße, sich in Götterhäusern herumzutreiben.

Dennoch hatte ein Jahr nicht ausgereicht, um die Erinnerung an die weißen Äste entlang der Wände verblassen zu lassen. Man hatte sie von den Bäumen des Wilden Waldes geschnitten und mit Steinen eingefasst, damit sie aufrecht standen. Die bleichen, toten Äste bewegten sich nicht, und doch erinnerte sich Red an das Gefühl, dass sie nach ihr griffen. Wie es Farne und andere Pflanzen taten, wenn sie ihren Magiesplitter nicht niederzwingen und unter Kontrolle halten konnte. Während des gesamten Gebets der Priesterinnen hatte sie den Geschmack von Erde im Mund gehabt.

Nervös zupfte sie an ihrem zerknitterten Rock. Eigentlich sollte sie nun die zweite Kammer betreten, die Zeit nutzen, um sich auf ihren Gang in den Wilden Wald vorzubereiten, doch die Vorstellung, wieder zwischen diesen Ästen zu stehen, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

»Red?«

Eine vertraute Gestalt stand im Durchgang zum Garten, blickte in das Dunkel des Schreins und wurde vom Morgenlicht eingerahmt. Neve eilte auf Red zu, und eine frisch entzündete Gebetskerze flackerte in ihrer Hand.

In Reds Brust brach Verwirrung aus, auf die gleich ein wenig Erleichterung folgte. »Wie bist du hier reingekommen?« Sie spähte über Neves Schulter. »Die Priesterinnen …«

»Ich habe ihnen gesagt, dass ich die zweite Kammer nicht betreten würde. Begeistert waren sie nicht, aber sie haben mich durchgelassen.« Von Neves Wimpern löste sich eine Träne. Sie wischte sie grob weg. »Red, das kannst du nicht machen. Bloß wegen ein paar Worten auf einer schattenverdammten Borke.«

Red dachte an einen nächtlichen Galopp, peitschende Haare, Seite an Seite mit ihrer Schwester. Geschleuderte Steine und eine Wildheit, von der ihr die Brust schmerzte.

Und dann an Blut. An Gewalt. An das, was sich unter ihrer Haut ringelte, der Samen, der darauf wartete, aufzugehen.

Das war der Grund. Keine Ungeheuer, keine Worte auf einer Borke. Die einzige Möglichkeit, ihre Schwester zu schützen, bestand darin, sie zu verlassen.

Sie hatte keine Worte des Trostes. Stattdessen zog sie ihre Zwillingsschwester zu sich heran, sodass deren Stirn sich an ihre Schulter schmiegte. Sie schluchzten beide nicht, aber die Stille, die nur von heftigem Atmen gestört wurde, war beinahe noch schlimmer.

»Du musst mir vertrauen«, murmelte Red in die Haare ihrer Schwester. »Ich weiß, was ich tue. So ist es richtig.«

»Nein.« Neve schüttelte den Kopf, und ihr schwarzes Haar bauschte sich an Reds Wange auf. »Red, ich weiß … Ich weiß, dass du dir die Schuld für das gibst, was damals passiert ist. Aber du hast nicht wissen können, dass man uns folgte …«

»Nicht.« Red kniff die Augen zu. »Bitte nicht.«

Neves Schultern spannten sich unter Reds Armen an, doch sie sprach nicht weiter. Schließlich wich sie mit dem Kopf zurück. »Du wirst sterben. Wenn du zum Wolf gehst, stirbst du.«

»Woher willst du das wissen?« Red schluckte, aber es gelang ihr nicht, den Knoten in ihrer Kehle zu lösen. »Wir wissen nicht, was mit den anderen geschehen ist.«

»Wir wissen, was mit Gaya geschehen ist.«

Darauf hatte Red keine Antwort.

»Offenbar bist du fest entschlossen zu gehen.« Neve versuchte, das Kinn hochzuhalten, aber es zitterte zu sehr. »Und offenbar kann ich dich nicht aufhalten.«

Sie wandte sich auf dem Absatz um, stürmte an den gemeißelten Fünf Königen und Zweiten Töchtern, an den flackernden, nutzlosen Gebetskerzen vorbei. Dabei gingen gleich mehrere aus.

Benommen griff sich Red eine Kerze und ein Streichholz von dem kleinen Tisch. Es brauchte ein paar Flüche, ehe der Docht endlich anging. Dabei versengte sie sich die Finger, doch der Schmerz war beinahe wohltuend, ein roher Empfindungsfaden, der sich an dem Panzer, in den sie sich eingeigelt hatte, vorbeirankte.

Red stieß die Kerze in den Fuß der Gaya-Statue. Wachs bildete eine Lache, tropfte am Rand der Inschriften-Borke hinab.

»Schattenverdammt«, flüsterte sie, das einzige Gebet, das sie hier sprechen würde. »Mögen die Schatten uns alle verdammen.«

Stunden später war Red gebadet, parfümiert und in Karmesinrot gehüllt und wurde offiziell als Opfergabe für den Wolf des Wilden Waldes gesegnet.

In dem hohen Saal reihten sich Hofleute, allesamt schwarz gekleidet. Draußen drängten sich noch mehr Menschen, die Bürgerinnen und Bürger der Hauptstadt Schulter an Schulter mit Leuten aus den Dörfern, die von überallher angereist waren, um vielleicht einen Blick auf eine vom Orden geheiligte Zweite Tochter zu erhaschen.

Von dem erhabenen Podest an der Stirnseite des Saals aus wirkten die Zuschauenden auf Red wie eine einzige formlose Masse, die nur aus unbeweglichen Gliedern und starrenden Augen bestand.

Das Podest war rund, und in der Mitte, auf einem Altar aus schwarzem Stein, saß Red mit untergeschlagenen Beinen. Sie war umgeben von einem Kreis aus Priesterinnen, die aus Tempeln von überall auf dem Kontinent stammten und speziell für diese ehrenvolle Aufgabe ausgewählt worden waren. Sie alle trugen die traditionellen weißen Roben und darüber noch weiße Mäntel, deren Kapuzen tief heruntergezogen waren, sodass ihre Gesichter im Schatten verborgen blieben. Sie standen mit dem Rücken zu Red. Die Priesterinnen, die nicht als Begleiterinnen ausgewählt worden waren, trugen ebenfalls weiße Mäntel und saßen direkt vor dem Podest.

Im Gegensatz dazu war Reds Gewand ebenso rot wie das, das sie zum Ball angehabt hatte, nur diesmal nicht auf Figur geschnitten – unter anderen Umständen wäre es sogar bequem gewesen. Ihre Haare wallten lose unter einem passenden, blutroten Schleier, der so groß war, dass er ihren ganzen Körper bedeckte und noch über die Ecken des Altars hinausreichte.

Weiß für Frömmigkeit. Schwarz für Verlust. Scharlachrot für das Opfer.

In der Reihe hinter den Priesterinnen saß Neve zwischen Arick und Raffe unruhig auf der Stuhlkante. Durch Reds Schleier hindurch sahen alle blutig aus.

Die Hohepriesterin von Valleyda, die höchste geistliche Autorität auf dem Kontinent, stand direkt vor Red. Ihr Mantel hatte eine längere Schleppe als die der anderen Priesterinnen, und Red kam es so vor, als wäre sein Weiß heller. Sie war dem Altar zugewandt, den Rücken zur Hofgesellschaft, und ihre Schleppe hing über das Podest herab, als ergieße sich der weiße Stoff in eine Lache.

Was für eine überfließende Frömmigkeit! Ein hohes, schrilles Lachen steckte Red im Hals, doch sie schluckte es hinunter.

Die Hohepriesterin, deren Augen unter einer weiten Kapuze verborgen waren, trat auf sie zu. Zophia hatte diese Stellung schon länger inne, als Red sich erinnern konnte. Ihr Haar trug bereits nicht mehr seine ursprüngliche Farbe, das Gesicht war grau nach einer Lebensspanne, für die es keinen anderen Begriff als alt gab. Zophia hielt einen weißen Zweig in den Händen, so zärtlich wie eine Mutter, die ein Neugeborenes wiegt, und ebenso behutsam reichte sie ihn an die Priesterin zu ihrer Rechten weiter.

So gleichmütig sich die Priesterinnen auch gaben, konnte man auf den Gesichtern der meisten eine Emotion ablesen – vor allem Freude, zwar sehr verhalten, aber durchaus zu erkennen. Dies galt jedoch nicht für die Priesterin, die nun den Zweig hielt. Die kalten blauen Augen unter dem flammend roten Haarschopf betrachteten Red mit dem Blick eines Kindes, das ein Insekt beobachtete. Ihr Blick änderte sich auch nicht, als Zophia die Hände ausstreckte und, indem sie lange Stoffbahnen raffte, Reds Schleier hob.

Die Furcht, auf die sie sich gefasst gemacht hatte, überfiel sie, als der Schleier von ihr genommen wurde, als wäre dieser eine Art Rüstung gewesen. Reds Finger klammerten sich so fest an den Rand des Altars, dass ihre Fingernägel auf dem Stein fast brachen.

»Wir ehren dein Opfer, Zweite Tochter«, flüsterte Zophia. Sie trat zurück und erhob die Hände zur Decke. Die Ordensfrauen ringsum, sie taten es ihr gleich – eine Bewegung, die wellenförmig durch die Reihen lief, angefangen vorn am Podest und von dort nach hinten in den Saal, der zu einem Händemeer wurde.

Einen kurzen, leuchtenden Augenblick lang erwog Red wegzulaufen, den Magiesplitter zu vergessen, der in ihrem Herzen wohnte, und sich selbst statt die anderen zu retten. Wie weit würde sie kommen, wenn sie von diesem Altar aufspringen würde, eingewickelt in roten Schleierstoff? Würde man sie niederringen? Sie niederschlagen? Würde es den Wolf stören, wenn sie mit blauen Flecken bei ihm auftauchen würde?

Wieder bohrte sie ihre Nägel in den Stein. Einer brach, merkte sie.

»Kaldenore aus dem Geschlecht Andraline«, verkündete die Hohepriesterin zur Saaldecke gewandt. Es war der Anfang der Liturgie der Zweiten Tochter. »Ausgesandt im zweihundertundzehnten Jahr des Banns.«

Kaldenore war nicht mit ihr blutsverwandt, da sie aus demselben Geschlecht stammte wie Gaya. Als der Wolf Gayas Leiche zum Waldrand gebracht hatte, war Kaldenore noch ein Kind gewesen. Und auch noch ein Jahr darauf, als die Monster aus dem Wilden Wald gestürmt waren – eine Flut schattenhafter Wesen, wenn man Augenzeugen glaubte, gestaltwandelnde Fetzen aus Dunkelheit, die jede gewünschte Form annehmen konnten. Als Kaldenores Mal erschienen war, hatten die Ungeheuer die Dörfer im Norden bereits zehn Jahre lang drangsaliert. Berichten zufolge waren sie sogar bis nach Floriane und Meducia vorgedrungen.

Anfangs hatte niemand gewusst, was das Mal bedeutete. Eines Nachts jedoch entdeckte man Kaldenore, wie sie schlafwandelnd barfuß auf den Wilden Wald zulief, als würde sie dazu gezwungen.

Danach war alles verständlich geworden, die Worte auf der Borke im Schrein und die Bedeutung von Gayas Tod. Deshalb hatten sie Kaldenore in den Wilden Wald gesandt. Und die Monster waren verschwunden, waren verblasst wie Schatten.

»Sayetha aus dem Geschlecht Thoriden. Ausgesandt im zweihundertundvierzigsten Jahr des Banns.«

Ein weiterer Name, eine weitere Tragödie. Sayethas Familie war erst kürzlich an die Macht gekommen und glaubte fälschlicherweise, der Opferzoll der Zweiten Tochter wäre nur von Gayas Geschlecht zu leisten gewesen. Da irrten sie sich. Valleyda war durch den Handel verpflichtet, ganz gleich, wer auf dem Thron saß.

»Merra aus dem Geschlecht Valedren. Ausgesandt im dreihundertsten Jahr des Banns.«

Merra schließlich war eine direkte Vorfahrin von Red. Die Valedrens gelangten an die Macht, nachdem die letzte Thoridenkönigin keine Erbin hervorgebracht hatte. Merra kam, vierzig Jahre nachdem Sayetha in den Wilden Wald gesandt worden war, zur Welt, während Sayetha nur zehn Jahre nach Kaldenores Aussendung geboren wurde.

»Redarys aus dem Geschlecht Valedren. Ausgesandt im vierhundertsten Jahr des Banns.« Die Hohepriesterin schien die Hände noch weiter nach oben zu recken, und der Zweig, den sie hielt, warf zackige Schatten. Ihr Blick löste sich von ihren erhobenen Fingern und richtete sich auf Red. »Vierhundert Jahre sind vergangen, seit unsere Götter die Ungeheuer gebannt haben. Dreihundertundfünfzig Jahre, seit sie verschwunden sind, seit sie sich wegen dem Verrat des Wolfes selbst gebannt haben. Morgen, wenn das Opfer zwanzig Jahre alt geworden ist, das Alter, in dem Gaya den Bund mit dem Wolf und dem Wald einging, werden wir sie weihen und in Weiß, Schwarz und Scharlachrot gekleidet zu ihm senden. Wir beten, dass dadurch unsere Götter wieder zu uns zurückkehren werden. Wir beten, dass dadurch die Dunkelheit von unseren Türschwellen ferngehalten werden möge.«

Der Puls pochte Red wie ein Stakkato in den Ohren. Sie verharrte so unbeweglich wie der Steinaltar, so regungslos wie die Statue im Schrein. Sie war das Göttinnenbild, das sie alle sehen wollten.

»Auf dass du nicht vor deiner Pflicht zurückschrecken mögest.« Zophias klare Stimme war wie ein Fanfarenstoß und hallte wohlklingend wider. »Mögest du dich deinem Schicksal mit Würde ergeben.«

Red wollte schlucken, aber ihr Mund war zu trocken.

Zophia blickte sie kalt an. »Möge dein Opfer als würdig erachtet werden.«

In der Kammer herrschte Schweigen.

Die Hohepriesterin ließ die Arme sinken und nahm der rothaarigen Priesterin den weißen Zweig ab. Da trat eine weitere Priesterin nach vorn, die eine kleine Schale mit dunkler Asche trug. Vorsichtig tauchte Zophia eine Spitze des Zweigs in die Schale und fuhr anschließend damit über Reds Stirn, sodass sich von Schläfe zu Schläfe ein schwarzer Strich zog.

Die Rinde war warm. Trotzdem spannte Red jeden Muskel in ihrem Körper an, um nicht zu zittern.

»Als versprochen zeichnen wir dich«, sagte sie leise. »Der Wolf und der Wilde Wald werden bekommen, was ihnen zusteht.«

Kapitel drei

In lackierten Kutschen verstaut, setzte sich der Hof bei Sonnenaufgang in Bewegung und machte sich auf den kurzen Weg zum Wilden Wald. Reds Karosse fuhr voraus. Außer der Kutscherin war niemand mit ihr in dem Wagen.

Auf dem Boden stand eine zerkratzte Ledertasche, die zum Bersten mit Büchern gefüllt war. Red war sich nicht sicher, weshalb sie sie mitgenommen hatte, aber sie lehnte neben ihren Füßen wie ein Anker, der sie an ihren schmerzenden Muskeln und ihrem noch immer schlagenden Herzen festhielt. Außer den Kleidern an ihrem Leib und der Tasche nahm sie nichts mit in den Wilden Wald. Sollte sie wider Erwarten lange genug leben, um noch etwas zu lesen, wäre sie wenigstens dafür gut gerüstet.

Beim ersten Sonnenlicht war sie in die Bibliothek geschlichen, hatte ihre Lieblingsromane und Gedichtbände aus den Regalen gezogen. Dabei war der Ärmel ihres Nachthemds nach unten gerutscht.

Das Mal war klein. Eine Wurzelspur unter ihrer Haut, die sich in filigranen Verzweigungen direkt unterhalb des Ellbogens um ihren Arm wand. Als sie es berührte, färbten sich die Adern in ihren Fingern grün, und die Hecken vor dem Bibliotheksfenster reckten sich zur Scheibe hoch.

Das Ziehen war kaum wahrnehmbar und begann erst, als sie bemerkte, dass das Mal sich über ihren Arm schlängelte. Sacht, aber unerbittlich – als würde ihr von hinten ein Haken in die Brust getrieben, an dem sie sanft nach Norden gezogen wurde. Als würde sie zu den Bäumen gezerrt.

Red kniff die Augen zu und ballte die Fäuste, holte ein ums andere Mal schmerzhaft Luft. Bei jedem Atemzug schmeckte sie Graberde, und das brachte sie schließlich zum Weinen. Wie ausgewrungen lag sie auf dem Boden, die heruntergefallenen Bücher um sie herum wie eine Festung, und sie schluchzte, bis der Geschmack von Erde sich in Salz verwandelte.

Jetzt war ihr Gesicht sauber geschrubbt, das Mal unter dem Ärmel des weißen Gewandes verborgen, das sie unter dem Mantel trug.

Weißes Gewand, schwarze Bauchbinde, roter Mantel. Sie waren ihr von einem Pulk schweigender Priesterinnen am Abend zuvor an ihre Zimmertür gebracht worden. Red hatte den Kleiderstapel in eine Ecke geschmissen, doch am Morgen hatte Neve sie geweckt und die Kleidungsstücke einzeln auf dem Sessel am Fenster ausgebreitet und deren Falten mit der Hand glatt gestrichen.

Schweigend hatte Neve ihr beim Anziehen geholfen – hatte ihr das weiße Gewand so hingehalten, dass sie es sich über den Kopf stülpen konnte, und hatte ihr die schwarze Bauchbinde umgebunden. Zuletzt kam der Mantel, schwer und warm und blutfarben. Als alles richtig saß, standen sie regungslos schweigend da und starrten Red im Spiegel an.

Ohne ein Wort ging Neve hinaus.

In der Kutsche zog Red den Mantel enger um sich. Ihre Schwester konnte sie nicht bei sich behalten, aber den Mantel.

Vor dem Kutschfenster rollte die Welt vorbei. Kahle Hügel, Täler und offenes Land prägten Nordvalleyda, als gestattete der Wilde Wald keine anderen Bäume als die seinen. Als sie mit Neve in der Nacht ihres sechzehnten Geburtstags auf gestohlenen Pferden nach Norden geritten war, hatte die Leere ihr Ehrfurcht eingeflößt. Sie hatte sich wie eine Sternschnuppe am klaren Himmel gefühlt, die durch Dunkelheit und Kälte raste.

Gelegentlich standen Leute aus den Dörfern neben der Straße und sahen der Prozession zu. Wahrscheinlich erwartete man von ihr, dass sie ihnen aus der Kutsche zuwinkte, doch Red starrte einfach nur geradeaus, sodass die Welt von den Rändern ihrer scharlachroten Kapuze abgeschnitten wurde. Das Mal summte auf ihrem Arm, und von dem Ziehen fühlte sie sich unstet und zittrig.

Die Straße endete in einigem Abstand zum Wilden Wald. Niemand konnte ihn betreten, nur die Zweite Tochter, aber außer ihr würde es auch niemand versuchen wollen, und deshalb bestand kein Grund, den Zugang zu erleichtern. Als die Kutsche auf einer überfrorenen Wiese zu einem Halt rollte und in das Grenzland eindrang, das weder Red noch dem Wolf gehörte, ruckelte es kräftig.

Reds Glieder bewegten sich fast von alleine. Sie raffte ihren Rock und schulterte die Büchertasche. Vorsichtig stieg sie aus. Sie weinte nicht.

Sobald Red aus dem Wagen getreten war, ließ die Kutscherin, ohne sich noch einmal zu ihr umzuschauen, die Pferde wenden. Vom Waldrand drang ein eigentümliches Summen herüber, das abstoßend und zugleich anziehend war. Es zog sie näher heran, während es alle anderen warnte, dass sie sich fernhalten sollten.

Hinter ihr reihten sich die Kutschen an der Straße wie Perlen einer Halskette. Der Zug reichte beinahe bis zum Dorf. Sie alle waren angereist, um zu sehen, wie der Opferzoll entrichtet wurde. Schweigend warteten sie darauf, dass es vollbracht würde.

Vor ihr ragte der Wilde Wald auf und warf lange Schatten auf das gefrorene Gelände. Nackte Zweige reckten sich in den Nebel, so hoch, dass Red nicht erkennen konnte, wo sie aufhörten. Die Stämme waren gekrümmt und verdreht wie zu Eis erstarrte Tänzer, und die Himmelsflecken, die durch sie hindurchlugten, wirkten dunkler, als sie sein sollten. Es herrschte bereits schattiges Zwielicht. Die Bäume endeten, so weit das Auge in beide Richtungen reichte, entlang einer geraden Linie – eine fixe Grenze zwischen dort und hier.

Man hatte ihr keine Anweisungen gegeben, was sie nun zu tun hatte, aber vermutlich war es ganz einfach. Zwischen den Bäumen hindurch in den Wald schlüpfen. Verschwinden.

Noch ehe sie sich bewusst dazu entschloss, machte sie einen Schritt nach vorn, denn der Wald zog sie an, als wäre sie ein Blatt in einem Fluss. Bei jedem Schritt holte sie heftig Luft. In wenigen Augenblicken wäre sie in den Fängen des Wilden Waldes, aber schattenverdammt noch eins, sie wollte die Bedingungen ihrer Auslieferung selbst diktieren.

»Red!«

Neves Stimme durchbrach die Stille wie ein Donner. Die Erste Tochter stieg aus ihrer Kutsche, verhedderte sich dabei fast im Saum ihres schwarzen Gewands. Das Sonnenlicht fing sich in dem Silberreif in ihrem Haar, als sie übers Feld eilte und ihr Blick entschlossen funkelte.

Zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, betete Red. Sie betete zu Gaya oder den Fünf Königen oder zu wem auch immer, der ein offenes Ohr für sie haben mochte. »Hilf ihr«, murmelte sie mit tauben Lippen. »Hilf ihr, darüber hinwegzukommen.«

Reds Leben erwartete sie hinter diesen Bäumen, doch Neve war hier. Es war ein stechender, sonderbar geformter Gedanke, dass sie und ihre Zwillingsschwester zum ersten Mal seit ihrer Zeugung getrennt sein würden.