The German Daughter - Marius Gabriel - E-Book

The German Daughter E-Book

Marius Gabriel

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Beschreibung

Ein gestohlenes Kind. Ein verborgenes Kriegsgeheimnis. Eine Wahrheit, die alles verändert. Norwegen, 1940. Verführt von der Nazi-Propaganda bietet sich Liv, als der Krieg das ländliche Norwegen erreicht, dem deutschen Oberkommando an. Sie besitzt etwas, das in Berlin heiß begehrt ist – doch der Preis, den sie dafür zahlt, wird schrecklich sein. England, 1968. Agnes, eine Kriegswaise, wächst behütet bei ihrem liebevollen Großvater in der idyllischen englischen Landschaft auf. Doch als er plötzlich stirbt, stößt sie auf ein Geheimnis, das ihr Leben aus den Angeln hebt. Nichts ist, wie es schien – und sie selbst ist nicht die, für die sie sich hielt. Wird Agnes den Schatten der Vergangenheit folgen und sich damit in tödliche Gefahr bringen? Wird die Wahrheit sie befreien – oder alles zerstören? Ein mitreißender und zutiefst bewegender Roman über Liebe, Verrat und den Mut, sich der eigenen Geschichte zu stellen– der neue Bestsellervon Marius Gabriel

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Seitenzahl: 478

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Prolog

Kapitel 1: Agnes

Kapitel 2: Karolina

Kapitel 3: Agnes

Kapitel 4: Karolina

Kapitel 5: Agnes

Kapitel 6: Liv

Kapitel 7: Agnes

Kapitel 8: Birgit

Kapitel 9: Agnes

Kapitel 10: Agnes

Kapitel 11: Karolina

Kapitel 12: Agnes

Kapitel 13: Karolina

Kapitel 14: Ulrich

Kapitel 15: Karolina

Kapitel 16: Ulrich

Kapitel 17: Agnes

Kapitel 18: Karolina

Kapitel 19: Die Schwestern

Kapitel 20: Die Mauer

Epilog

Über den Autor

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Spandau Phoenix-Reihe von Greg Iles

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Impressum

Cover

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Inhaltsbeginn

Impressum

The German Daughter

Marius Gabriel

Aus dem Englischen von Björn Sülter

Für Emma und Sabrina.

Prolog

Oslo, Norwegen, 1945

Nach Ende des Krieges lebte sie ein zurückgezogenes, einsames Leben. Sie hatte sogar alleine ein Kind zur Welt gebracht – oder es zumindest versucht. Ihre Schreie hatten die alte Frau aus dem Obergeschoss heruntergelockt. Ungebeten war sie heruntergehumpelt gekommen und hatte ihr mürrisch bei der Geburt geholfen. Und auch wenn sie dabei wirkte, als müsse sie eine widerwärtige Aufgabe erledigen, hatte die alte Frau die Nabelschnur durchtrennt, ihr das klebrige Baby in die Arme gedrückt und war wieder verschwunden. Kein Wort war während des gesamten Vorgangs zwischen ihnen gesprochen worden. Auch in den folgenden Tagen hatte sich die alte Frau nicht mehr blicken lassen.

Sie war alleine mit dem Baby. Nie hätte sie gedacht, dass sie sich selbst darum würde kümmern müssen. Doch nun blieb ihr keine Wahl mehr. Sie saß in der Patsche.

Sie zog es vor, das Baby als »es« zu betrachten. Aber es war ein Mädchen. Sie hatte sich zwar einen Jungen gewünscht, doch wie so vieles in letzter Zeit hatte sie damit kein Glück gehabt.

Nach der Geburt schliefen sie und das Baby einige Stunden lang in dem blutverschmierten Chaos ihres Bettes. Sie waren beide erschöpft. Dann wachte das Baby auf. Es zappelte und wimmerte, was Liv aus ihrem tiefen, dunklen Schlaf weckte. Eine ganze Weile starrte sie auf das sonderbare, rot verschmierte, schrumpelige Wesen, das sie zur Welt gebracht hatte. Sie wollte es nicht. Sie wollte nichts davon. Das Baby begann zu weinen. Die Wirkung auf ihren Körper trat sofort ein. Ihr Uterus zog sich krampfhaft zusammen. Sie hatte sich davor gefürchtet, aber ihr blieb keine andere Möglichkeit. Sie hob das Baby hoch und legte es an ihre Brust.

Ärgerlicherweise schien es nicht zu wissen, was zu tun war. Es weinte weiter. Die qualvollen Laute machten sie wütend. »Komm schon«, zischte sie das zappelnde, orientierungslose Wesen an. »Du dummes Ding! Komm schon! Du dummes, dummes Ding!«

Wütend drückte sie ein wenig Milch in den schreienden, zahnlosen Mund. Die trüben Augen des Babys öffneten sich überrascht. Es setzte ein ulkiges Gesicht auf, erkundete den Geschmack mit seiner Zunge und vergaß zu weinen. Es schmatzte mit den Lippen. Endlich begann es, heftig und ungeschickt an dem weichen Fleisch zu saugen.

Die ersten Minuten waren eine Qual. Sie ertrug sie mit zusammengebissenen Zähnen, Schweißperlen standen ihr auf der Stirn und liefen ihren Nacken hinunter. Am liebsten hätte sie um das Leben geweint, das sie verloren hatte, und wegen des Elends, das ihr nun bevorstand.

Zumindest verschaffte ihr das langsame Abfließen der Milch etwas Erleichterung. Das unerträgliche, geschwollene Gefühl ließ nach. Sie war entsetzt über die Unersättlichkeit des Babys. Es trank so gierig, dass es sich an der Milch verschluckte, spuckte und hustete. Liv nutzte die Pause, um es an die andere Brust zu legen. Es machte sich wieder an die Arbeit und verschaffte ihr zur Belohnung auch auf dieser Seite etwas Entlastung.

Sie war noch immer ziemlich erschöpft von der Geburt, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ein traumwandlerisches Gefühl von Freiheit breitete sich in ihrem Körper aus. Auf eine sonderbare Weise verschaffte ihr das Stillen des Säuglings eine Art Frieden ... und schließlich sogar Schlaf.

Um drei Uhr morgens wachte das Baby wieder auf. Erschöpft zwang sie sich, mit dem Campingkocher etwas Wasser zu erhitzen, und wusch das Kind und das, was von ihr selbst übrig war, so gut es ging. Sie zog dem Baby einen winzigen Body an, den jemand gestrickt hatte. Damit sah es schon etwas menschlicher aus. Dennoch saß sie fest mit dieser kleinen Plage. Sie hatte keine andere Wahl, als das Beste daraus zu machen. Also legte sie sich auf die Kissen, um zu stillen.

Diesmal verlief es schon viel besser. Beide wussten, was zu tun war. Die damit verbundene Erleichterung brachte neue Empfindungen mit sich – angenehmere. Es war fast eine Art von Zufriedenheit. Eine Art der Akzeptanz ihres Opfers, das sie für diesen anspruchsvollen kleinen Fremden aufbrachte, der aus ihrem Körper gekommen war.

Im sanften Licht betrachtete sie die Rundung der Wange des Babys. Irgendwie war sein Gesicht in den letzten Stunden voller geworden. Es sah nun mehr wie das eines Babys aus. Weniger beängstigend fremdartig.

Ihr Blick wanderte zu den winzigen Händen, die sich auf ihrer Brust öffneten und schlossen. Sie bemerkte die perfekten kleinen Fingernägel. Zeichneten sich darauf Halbmonde ab, wie auf ihren eigenen Nägeln? Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Auch die Ohren des Babys waren perfekt. Sie wirkten wie Muscheln, die gerade aus dem großen, weiten Ozean an Land gespült worden waren. Ihr Haar war fein und golden. Und die Haut, die zunächst fast reptilienartig gewirkt hatte, war nun weich und von einem feinen Flaum bedeckt.

Liv verspürte einen Anflug von Stolz. Wie schrecklich ihre Fehler auch gewesen sein mochten, sie hatte zumindest ein hübsches Kind zur Welt gebracht.

Die nächsten Male wurde das Stillen mehr und mehr zu einem Vergnügen. Und dann zu etwas Komplexerem. Es war immer noch schmerzhaft, doch inzwischen machte Liv der Schmerz nichts mehr aus. Sie hatte gelernt, ihn auszublenden. Es war ein fairer Tausch gegen die anderen Gefühle, die in ihr aufkamen. Gefühle, die sie noch nie zuvor erlebt hatte. Eine Art Glückseligkeit, die sie von allen Schmerzen in ihrem Leben abschirmte. Ein Reichtum, der über den materiellen Wohlstand hinausging, den sie verloren hatte.

Das Baby veränderte sich fast stündlich. Sie wurde wunderschön. Mit jedem Tag lernte Liv mehr und mehr, sich an ihrer Tochter zu erfreuen. Etwas Neues war entstanden. Eine Beziehung. Sie zu füttern, zu waschen oder sie einfach nur anzustarren, erfüllte jeden Zentimeter von Livs Welt. Sie hatte sogar damit begonnen, das Baby bei dem Namen zu nennen, den sie für sie ausgewählt hatte. Sie flüsterte ihn ihr zu, während sie sie verträumt stillte. Liv verstand, dass die Milch, die aus ihr floss, ein schmerzhaftes Wunder darstellte. Es war etwas Magisches. Nein, nicht magisch. Es war göttlich.

Das war ein seltsames Wort für eine Frau, die seit ihrer Kindheit weltlich geprägt war. Allerdings hatte sich alles um Liv herum und in Liv verändert. Sie war nicht mehr dieselbe wie früher.

Es gab nun jedoch ein neues Problem.

Denn auch wenn das Baby ihre Milch hatte, ging Liv selbst die Nahrung aus.

Zu Beginn hatte es noch etwas zu essen in ihrem Zimmer gegeben, Vorräte, die Liv mitgebracht hatte, als sie in Oslo angekommen war. Diese waren nun jedoch aufgebraucht, und sie wusste, dass sie ihr Zimmer bald verlassen musste. Dort draußen lauerte die Gefahr überall. Sie konnte aber auch nicht in diesem kahlen Zimmer verhungern, zumal sie jetzt das Baby hatte.

Sie musste sich der Welt da draußen stellen.

Als sie ihr Haar mit einem Schal zusammenband, bemerkte sie, dass ihre Hände zitterten. Die Glücksgefühle des Mutterseins waren einer undefinierbaren Übelkeit gewichen.

Sie wickelte das Baby in eine Decke und wiegte es in ihrem linken Arm. Das Mädchen war müde, die Augenlider schwer und die rundlichen Wangen gerötet. Liv verließ das Zimmer und schlich leise das dunkle Treppenhaus hinunter. Fast hätte sie im letzten Moment den Mut verloren. Doch dann spähte sie durch das schmutzige Glas der Haustür und erkannte draußen die verschwommenen Umrisse von umhereilenden Passanten. Ihr Herz schlug immer heftiger. Es fiel ihr schwer, ihre Angst zu überwinden. Nur der Hunger konnte sie auf die Straße treiben.

Dann, wie so oft in ihrem Leben, entflammte ihr Stolz. Warum sollte sie sich vor diesen Menschen, die sie so sehr verachtete, verstecken? Sie waren ihrer Verachtung nicht würdig. Die Angst löste sich auf. Liz richtete sich auf, zog den Schal aus den Haaren und ließ die goldenen Wellen frei. Sollten sie sie doch ansehen, sollten sie sie hassen. Sie war bereit für ihren Hass.

Sie trat mutig auf die Straße, ihr Kind fest an sich gedrückt, ohne einen Blick nach oben oder unten zu werfen. Dies war ein raues Viertel von Oslo. Es befand sich in der Nähe des Hafens und trug noch die Narben des Krieges. Auch davor war es nie eine gute Gegend gewesen, nicht einmal in besseren Zeiten. Nun jedoch war es hier nur noch trostlos und abweisend.

Die Geschäfte waren nur einen zehnminütigen Fußmarsch entfernt. Sie machte sich mit hoch erhobenem Kopf und geradem Rücken auf den Weg. Ihr Geld reichte für ein paar Wochen. Danach würde sie sich irgendwie durchschlagen müssen. Die Zeiten ihrer besonderen Vorteile waren vorüber. Aber sie würde überleben, so wie sie immer überlebt hatte. Sie würde für ihr Baby überleben.

Sie hatte gehört, dass es in den Geschäften in Oslo kein Fleisch mehr gab. Daher würde sie kaufen, was es eben gab – notfalls getrockneten Fisch, obwohl sie den schon ihr ganzes Leben verabscheute. Auch etwas Gemüse, wenn es welches gab. Wenn es kein Brot gab, würde sie Mehl und Kartoffeln kaufen und auf der kleinen Kochplatte in ihrem Zimmer Lomper backen. Sie war so hungrig, dass ihr selbst beim Gedanken an heiße Kartoffelpuffer das Wasser im Mund zusammenlief. Das Stillen des Babys hatte ihr einen Bärenhunger beschert.

Sie beschleunigte ihren Schritt, vorbei an den Pfützen aus öligem Wasser, das von den Docks herüberschwappte, vorbei an Lagerhäusern, wo schmutzige Kinder nach Resten suchten, die sie essen oder verkaufen konnten. Der Krieg hatte viel zu viel Hunger hinterlassen.

Zuerst ignorierte sie die Schritte hinter sich. Als sie jedoch nicht aufhörten, drehte sie sich um. Hinter ihr war eine schäbige kleine Frau aufgetaucht, die unvermittelt stehen blieb und erschrocken aussah, weil sie bemerkt worden war. Das eingefallene Gesicht der Frau kam Liv irgendwie bekannt vor, sie konnte es jedoch nicht zuordnen. Liv starrte die kleine Frau so lange an, bis diese sich abwandte und wie eine verängstigte Maus davonhuschte.

Liv wusste, dass die Leute sie anstarrten. Das machte ihr aber keine Angst mehr. Ihre Figur, ihre Schönheit, ihre Kleidung, ihr Auftreten – all das zeichnete sie aus. Natürlich verabscheute der Pöbel Menschen wie sie – diejenigen, die geboren waren, um zu herrschen.

Zu herrschen war nicht leicht. Es bedeutete, sich über engstirnige Moralvorstellungen erheben zu müssen. Es erforderte, nach Edlem und Schönem zu streben, selbst wenn schmutzige Priester und heruntergekommene Beamte es verboten. Es bedeutete, mutig zu sein und trotzig, wenn alles verloren schien.

Sie konnte die Geschäfte am Ende der Straße bereits sehen – und vor ihnen die vielen Menschen, die Schlange standen. Sie fluchte innerlich. Sie hasste es, für irgendetwas anzustehen. Es war erniedrigend. Sie wäre umgekehrt, wenn sie nicht so dringend Essen gebraucht hätte. Hinter ihr vernahm sie ein Murmeln und drehte sich um. Zu ihrem Ärger war die schäbige kleine Frau wieder aufgetaucht. Und diesmal war sie nicht allein gekommen. Zwei andere Frauen standen neben ihr. Sie sahen genauso schäbig aus, mit denselben eingefallenen Gesichtern und den hungrigen Augen. Liv starrte sie an. Aber diesmal wich die schäbige kleine Frau nicht vor Livs scharfem Blick zurück. Sie starrte trotzig zurück.

»Sie ist es«, sagte sie zu ihren Begleiterinnen. »Ich wusste es. Sie ist es!«

Und nun erkannte Liv, wer sie war – eine der Putzfrauen aus Jorundarholt. Eine Hausangestellte, die ihre Böden geschrubbt hatte. An den Namen der Frau konnte Liv sich nicht erinnern, aber sie wusste, was für eine weinerliche Kreatur sie gewesen war, deren Unterwürfigkeit ihr mürrisches Wesen verborgen hatte.

»Verschwinde«, zischte Liv. Sie drückte das Baby fest an ihre Brust und stampfte mit dem Fuß auf.

Die Frau zuckte zusammen, machte aber keine Anstalten zu gehen.

»Wie kannst du es wagen, mir zu folgen?«, fragte Liv.

»Wie kannst du es wagen, dich auf der Straße zu zeigen?«, erwiderte die schäbige Frau.

»Du solltest an einem dieser Laternenpfähle baumeln!«, sagte eine der anderen mit heiserer Stimme. Ihre roten Augen blitzen vor Hass. »Zusammen mit dem Balg in deinen Armen!« Die drei kamen näher, übermütig durch ihre Überzahl.

Es war unter Livs Würde, sich auf offener Straße mit derartigem Gesindel zu streiten. Aber sie steckte auch in einer Zwickmühle. Unmöglich konnte sie sich mit diesen drei Furien im Schlepptau bei den Geschäften blicken lassen. Sie würden einen Aufstand verursachen. Also musste sie ihnen entkommen. Sie würde so hungrig wie sie war nach Hause gehen und es später noch einmal versuchen müssen – vielleicht in der Dämmerung, wenn sie nicht so leicht zu erkennen war.

Daher überquerte sie die Straße und ging rasch denselben Weg zurück, den sie gekommen war.

Doch die drei Frauen folgten ihr. Sie glaubten offenbar, sie in die Flucht geschlagen zu haben, was ihren Mut nur noch mehr anfachte. Liv hörte, wie sie sie verspotteten, Anschuldigungen und Beleidigungen riefen. Und zu Livs Entsetzen zogen sie weitere Passanten an. Zwei andere Frauen hatten sich ihnen angeschlossen und wollten wissen, was los sei. Sie hörte, wie die schäbige Frau ihnen aufgeregt erzählte, wer Liv war und was sie getan hatte. Schreie der Wut und Empörung hallten durch die Gassen.

Was jedoch noch schlimmer war: Arbeitslose Männer, die an den Straßenecken herumlungerten, nahmen ihre Hände aus den Taschen und schlossen sich der Menge an, wobei ihre tieferen Stimmen den Chor noch bedrohlicher klingen ließen.

Mit den Frauen konnte Liv fertig werden. Die Männer waren jedoch ein anderes Kaliber. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie in Gefahr schwebte.

Wenn sie zu ihrer Unterkunft zurückkehrte, würden sie sehen, wo sie wohnte. Ihr Versteck würde entdeckt werden. Sie hätte keinen Zufluchtsort mehr.

Die einzige Hoffnung bestand darin, ihnen irgendwie zu entkommen und sich dann im Schutz der Dunkelheit nach Hause zu schleichen.

Ihr Herz begann zu rasen. Sie presste ihr Baby an die Schulter, stützte den schweren, flaumigen Kopf mit der anderen Hand und rannte los.

Damit hatte sie ihre Verfolger überrascht und bog um die nächste Ecke, bevor sie ihr nachsetzten. Doch dann liefen auch sie los.

Die Erschütterungen weckten das schläfrige Baby, das zu schreien begann. Liz stolperte, fiel fast hin und war bereits völlig außer Atem. Die dumpfen Schritte ihrer Verfolger kamen immer näher.

Sie hörte ihre Stimmen – mittlerweile waren es unzählige Stimmen –, die wie Hunde heulten. Ihr Tonfall war wild. Sie holten sie problemlos ein. Eine Männerhand packte sie an den Haaren, riss ihren Kopf nach hinten und stoppte auf schmerzhafte Weise ihre Flucht. Frauenhände rissen ihr das Baby aus den Armen.

»Wir haben dich!«

»Was sollen wir mit ihr machen?«, fragte eine raue Männerstimme.

»Bringt sie in die Gasse!« Liv erkannte die aufgeregte Stimme der schäbigen kleinen Frau, mit der alles angefangen hatte. »Dorthin!«

»Gebt mir mein Baby zurück«, sagte Liv. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihr Kind liebte. Das hatte sie bis zu diesem Moment nicht gewusst. Sie war erstaunt, wie ruhig ihre eigene Stimme klang, trotz ihrer Verzweiflung. »Bitte!«

»Dein Baby kommt ins Wasser«, brüllte ein Mann, »und du auch, wenn wir mit dir fertig sind.«

Liv schwieg. Sie hatte bereits beschlossen, nichts zu sagen, egal, was sie ihr antaten. Solange sie ihr nur ihr Baby zurückgaben. Nichts anderes zählte. Sie würde alles ertragen.

Sie zerrten sie in die Gasse, bis ganz zum Ende, wo Unkraut aus rissigen Pflastersteinen wuchs und mit Brettern vernagelte Fenster die Augen im Innern der Häuser vor der Welt abschotteten.

»Seht euch ihre Kleider an«, kreischte die schäbige Frau. »Habt ihr sowas schon mal gesehen?«

»Ich wollte schon immer so eine Jacke haben«, rief eine andere Frau. »Zieht sie ihr aus.«

»Ich will ihren Rock.«

»Ich will ihre Schuhe.«

»Schaut euch den Schmuck an! Den können wir verkaufen!«

»Zieht sie nackt aus. Lasst uns sehen, was sie alles dabeihat.«

»Lasst alles heil! Ich will ihre Unterwäsche.«

Die Sorgfalt, mit der sie darauf achteten, ihre Kleidung nicht zu beschädigen, stand in einem grotesken Kontrast zu der Brutalität, mit der sie sie vor den grinsenden Männern nackt auszogen. Gierige Finger öffneten ihre Knöpfe, zogen die Reißverschlüsse herunter und griffen nach ihrer Unterwäsche. Sie konnte ihr Baby nicht mehr sehen. Eine Frau hatte es durch die Menge getragen, die mittlerweile aus etwa zwei Dutzend Menschen bestand. Aber sie konnte das Schreien des Säuglings hören. Der Klang ließ die Milch aus ihren Brüsten fließen. Ihre Entschlossenheit, ruhig zu bleiben, zerbarst.

»Gebt sie mir zurück!«, flehte sie und streckte die Arme aus. »Bitte gebt mir mein Baby!«

Sie ignorierten ihr Flehen. Als Liz völlig nackt war, drängten sich alle um sie herum. Die Männer pfiffen und die Frauen stritten sich um ihre Kleidung und den Schmuck.

Jemand bot der schäbigen kleinen Frau Livs goldenen Armreif an, der ihr vom Handgelenk gerissen worden war. »Ich will nichts, was sie angefasst hat«, entgegnete die jedoch. »Ich will etwas anderes.« Damit trat sie vor und schlug Liv ins Gesicht. Der Schlag war hart und präzise. Liv verlor das Gleichgewicht und krachte vor der wütenden Menge auf die nackten Pflastersteine. Ihre Knie bluteten.

Dann wandte sich die schäbige kleine Frau an die Männer, die aufgehört hatten zu lachen. »Na?«, fragte sie. »Worauf wartet ihr noch? Besorgt es ihr!«

Kapitel 1: Agnes

England, 1968

»Du bist so verdammt perfekt«, sagte Bill Dawlish und ließ es eher wie einen Vorwurf und nicht wie ein Kompliment klingen.

»Ich glaube nicht, dass ich perfekt bin«, erwiderte Agnes. »Ich bin mir meiner Unvollkommenheit sogar sehr bewusst.«

»Von hier aus ist davon nichts zu erkennen.« Bill wischte sich den Bierschaum aus seinem Schnurrbart und starrte sie mit festem Blick an. Zwei gegensätzliche Gefühle für sie bauten sich in ihm auf: Lust und Abneigung.

Er nippte an seinem ersten Mittagsbier und war entschlossen, noch ein zweites und möglicherweise drittes folgen zu lassen, bevor sie ins Büro zurückkehren mussten. Die Kneipe war mit Journalisten verschiedener Zeitungen aus der Fleet Street überfüllt, die lautstark der gleichen Beschäftigung nachgingen. Der starke Alkoholkonsum in der Mittagspause (vor allem freitags) war etwas, an das sich Agnes auch nach drei Jahren auf der »Straße« nie gewöhnt hatte. Sie war die einzige hier anwesende Person ohne Bier in der einen und Zigarette in der anderen Hand. Das kleine Glas Ginger Ale, das vor ihr stand, diente eher der Show und würde immer noch halb voll sein, wenn sie gingen.

Agnes war dankbar, dass Bill Dawlish endlich aufgehört hatte, sie ins Bett kriegen zu wollen. Er war ein gutaussehender Mann. Die Tatsache (auf die er regelmäßig hinwies), dass sie keinen Freund hatte, machte sie in seinen Augen zu einer vergeudeten Ressource – und schlimmer noch: zu einer Jungfrau. In der Fleet Street gab es keine Jungfrauen. Auch darauf wies er sie regelmäßig hin. Und natürlich war er bereit, sie von der Last ihrer Jungfräulichkeit zu befreien. Das Ergebnis ihrer vielen entschlossenen, wenn auch höflich formulierten Zurückweisungen hatte bei ihm zu einem anhaltenden Gefühl der Verletzung geführt. »Niemand sollte so perfekt sein wie du«, fuhr er fort. »Das ist peinlich für den Rest von uns.«

Agnes sah sich in der verrauchten Kneipe um. Die Stammgäste waren überwiegend männlich, mittleren Alters und zugegebenermaßen in vielerlei Hinsicht fehlerhaft. Bei einigen von ihnen handelte es sich aber dennoch um die angesehensten Journalisten dieser Zeit, und sie wünschte sich, sie hätte einen von ihnen als Mittagsbegleiter anstelle von Bill Dawlish. Doch Bill klammerte sich an sie wie eine Klette. Er schien dem Prinzip zu folgen, dass, wenn er sie nicht haben konnte, er immerhin dafür sorgen würde, dass auch kein anderer sie bekam. Es war sehr schwer, ihn loszuwerden. Aber als sie bei den Evening News angefangen hatte, war Bill einer der wenigen gewesen, der sich bemüht hatte, ihr alles beizubringen – auch wenn seine einzige Motivation darin bestand, sie ins Bett zu kriegen. Für diese Starthilfe war sie ihm wirklich dankbar.

»Schau mal«, sagte sie, »da drüben sitzt Jill Tweedie.«

Bill grunzte. »Noch eine Frauenrechtlerin, die auf den Zug aufspringen will.«

»Oh, sie ist viel mehr als das. Sie ist klug und witzig.«

»Nicht für mich. Komm schon, heute ist Freitag. Ich hole dir ein Glas Wein.«

»Nein, danke. Ich möchte keinen Wein.« Natürlich ignorierte er ihren Einwand.

Während Bill zur Bar schlenderte, nippte sie an ihrem Ginger Ale und beobachtete Jill Tweedie, die sich angeregt mit zwei Kollegen unterhielt. Ihr widerspenstiger Haarschopf und das intelligente Gesicht ließen sie wie die freieste Person an diesem Ort wirken. Sie verkörperte viele Dinge, nach denen Agnes strebte: Sie war kultiviert, ironisch, witzig, klug – und eine Feministin. Agnes hingegen war noch weit davon entfernt, irgendetwas von diesen Dingen zu sein. In der Nähe von Jill Tweedie fühlte sie sich sehr jung und unerfahren. Sie überlegte, ob sie wohl den Mut aufbringen könnte, zu ihr hinüberzugehen und sich vorzustellen. Doch sie beschloss, dass sie dafür zu schüchtern war. Bill kam mit einem weiteren Bier und einem Glas Weißwein für sie zurück und stellte das Getränk angriffslustig vor ihr ab.

»Fährst du heute Abend wieder zu deinem Herrenhaus?«, fragte er.

»Es ist kein Herrenhaus.«

»Es ist herrschaftlicher als mein Haus. Ich meine, du müsstest doch eigentlich gar nicht arbeiten, oder?«

Das war ein weiteres Thema, das – wenn man es ungeprüft ließ – zu dem Vorwurf führen konnte, dass sie gar keine echte Journalistin war, oder? Und warum spielte sie in einem Job herum, während andere arbeitslos waren?

»Natürlich muss ich arbeiten«, sagte sie knapp. »Ich bin keine reiche Frau.«

»Aber das wirst du sein, wenn dein Großvater stirbt.«

»Es ist nicht nett, so etwas zu sagen. Außerdem sollte jeder arbeiten, egal ob arm oder reich.«

»Ist dir Arbeiten nicht furchtbar unangenehm?« Er lächelte spöttisch. »Oh, warte, du glaubst daran, dass Arbeiten etwas Vornehmes ist, oder? Du gehörst zur neuen Klasse der wohlhabenden, adligen Sozialisten.«

»Du weißt genau, dass ich keinen Titel habe, und ich bin keine Sozialistin. Warum bist du so schlecht gelaunt?«

Er leerte die Hälfte seines Bieres in einem Zug und wischte sich den Mund ab. »Wegen der Tatsache, dass du eine so offensiv blonde, enthaltsame, blauäugige, rühr-mich-nicht-an-Jungfrau bist.«

»Sind wir schon wieder bei diesem Thema?«

»Ich bin schon fünf Jahre länger dabei als du. Und ich habe noch nie einen Klaps auf den Kopf bekommen. Mir hat auch noch keiner gesagt, was für ein kluger Junge ich bin. Das ist nicht fair.«

Darum ging es also. Bill hatte gehört, wie ihr Redakteur Kennard Coleridge sie an diesem Morgen für einen von ihr geschriebenen Artikel gelobt hatte. Ein wenig tat er ihr leid. »Nun, wie du richtig gesagt hast, bin ich die Neue. Ich brauche Ermutigung. Du hast schon viel mehr Erfahrung, also kannst du darauf verzichten. Du hast es doch längst geschafft, Bill.«

Seine Miene hellte sich ein wenig auf. »Nun, ich weiß schon das eine oder andere, nehme ich an.«

»Sag ich doch!«

Das brachte Bill dazu, mit seinen Erfolgen zu prahlen. Sie kannte die Geschichten jedoch schon und hörte nur mit einem halben Ohr zu. An den richtigen Stellen nickte und lächelte sie bewundernd und versuchte, nicht zu abwesend zu wirken.

Schließlich war Bill mit allen Anekdoten fertig, spülte noch ein drittes Bier die Kehle hinunter, und sah auf die Uhr. »Komm schon. Wir müssen zurück in die Salzminen. Noch vier Stunden und es ist Wochenende.«

Sie drängten sich durch die Menge zur Tür. Bill ging voran, Agnes folgte ihm. Unerwartet stand sie dabei plötzlich Jill Tweedie gegenüber, die gerade mit einigen Getränken von der Bar zurückkam. Ihre Blicke trafen sich.

»Sie sind Agnes Tolliver, nicht wahr?«, fragte Jill.

Agnes spürte, wie sie errötete. »Ja.«

»Ihr Artikel über Bernadette Devlin hat mir gut gefallen.«

»Oh! Danke sehr!«

»Das musste mal gesagt werden.« Jill warf einen Blick über die Schulter zu Bill, der an der Tür stehen geblieben war und sie angrinste. »Du hast es nicht nötig, sein Ego zu streicheln, weißt du. Du hast viel mehr drauf als er.« Sie lächelte und ging weiter. Die Unterhaltung war beendet. Agnes trat auf die Straße hinaus. Ihr Gesicht war immer noch gerötet.

»Was hat sie zu dir gesagt?«, fragte Bill.

Keines der Themen, die so kurz besprochen worden waren, hätte Bill gefallen. Also hielt Agnes sich zurück. »Sie hat nur Hallo gesagt.«

»Etwas über mich?«, bohrte er misstrauisch nach. »Ich weiß, dass sie mich nicht mag. Hat sie etwas Gemeines über mich gesagt?«

»Sie hat nur Hallo gesagt«, wiederholte Agnes mit fester Stimme. Wenn sie ohnehin aufhören wollte, Bill Dawlishs Ego zu streicheln, konnte sie auch jetzt sofort damit anfangen. Ohne ein weiteres Wort machte sie sich zügig auf den Weg zurück zum Büro.

Es war Hochsommer, so dass die Sonne sie auch am späten Nachmittag noch wärmte. Sie schloss die kleine Wohnung in Victoria ab, in der sie die Woche verbracht hatte, und machte sich auf den Weg raus aufs Land.

Auf der Fahrt nach Gloucestershire dachte Agnes über die Vorhaltungen von Bill Dawlish nach. Er wusste nur sehr wenig über sie und hatte daher eine Menge Vermutungen angestellt. Diese waren alle falsch gewesen – und lagen doch keine Million Meilen von der Wahrheit entfernt. Sie hatte in ihrem Leben viel Glück gehabt. Die Dinge hätten für sie auch ganz anders ausgehen können.

Sie war gegen Ende des Krieges geboren worden. Als Hitler einen der letzten Vorstöße gegen seinen verhassten Feind unternommen hatte, war sie erst wenige Monate alt gewesen. Damals starben ihre Eltern durch den Einsatz einer deutschen V2-Rakete. Sie hätte mit ihnen in den Trümmern ihres Hauses sterben können. Sie hätte in einer Reihe von Waisenhäusern und Pflegefamilien aufwachsen können, mit einer mehr als ungewissen Aussicht auf Glück. Stattdessen hatte sie überlebt und war von ihrem Großvater aufgenommen worden. Er hatte ihr all die Liebe gegeben, die sie brauchte.

Und obwohl es nicht stimmte, dass ihr Großvater einen offiziellen Titel führte, war er doch ungemein stolz darauf, einer Familie anzugehören, die auf Wilhelm den Eroberer zurückging und zu den ältesten Familien Englands gehörte. Mit Vergnügen erklärte er, dass der Name »Tolliver« vom normannisch-französischen »Taillefer« abstamme, was »Eisenschneider« bedeute. Der Name war einem von Wilhelms Rittern verliehen worden, der in der Schlacht von Hastings einen schwer gepanzerten englischen König in zwei Hälften geschnitten hatte.

Auch Bills Behauptung, ihr Großvater sei reich, stimmte nur zur Hälfte. Die Tollivers waren einst wohlhabend gewesen. Steuern und Inflation hatten das Vermögen seit dem Krieg jedoch aufgezehrt. Egal wie es nach Außen auch immer wirken mochte, Barbar war nicht reich, und sie selbst war weit davon entfernt, bei seinem Tod einen Haufen Geld zu erben. Eher dürfte sie sich glücklich schätzen, wenn nicht nur Schulden übrigblieben. Die Aussicht auf seinen Tod stellte für sie außerdem eine Quelle ständiger Angst dar – gerade jetzt, wo er immer älter und gebrechlicher wurde. Sie hatte sonst niemanden. Sein Tod würde ihr das Herz brechen, und sie wusste nicht, wie sie damit klarkommen sollte.

Was die Vermutung betraf, sie sei eine Jungfrau, die man nicht anfassen dürfe – das stimmte insofern, als dass sie im späten September geboren worden war, also vom Sternzeichen her Jungfrau. Ihr Sozialleben (und damit auch ein mögliches Sexleben) köchelte derweilen auf Sparflamme – wie sollte es auch anders sein? Schließlich verbrachte sie jedes Wochenende mit ihrem Großvater auf dem Land. Aber sie genoss die Zeit mit Barbar und zog die gemeinsamen Wochenenden mit ihm jeder Art des Fummeln und Betatschens am Samstagabend vor. Vom Bedauern am Sonntagmorgen ganz zu schweigen. Das waren zumindest ihre bisherigen Erfahrungen gewesen.

Sie war über die von sattem Grün gesäumten Landstraßen gefahren und hatte die Abzweigung nach Dowdeswell Hall erreicht. Bill hatte sie gesagt, dass es kein Herrenhaus sei, und das war es wirklich nicht; es war weder groß genug noch historisch oder stattlich genug, um als solches durchzugehen. Aber es war sehr hübsch. Es war sogar eines der schönsten Häuser in diesem Teil von Gloucestershire, und als sie durch die Tore fuhr, schlug ihr Herz, wie immer, höher.

Dowdeswell war ein Queen-Anne-Haus aus Cotswold-Sandstein, der im Laufe von zweihundertfünfzig Jahren die Farbe von Altgold angenommen hatte. Es stand nicht weit von der Pfarrkirche St. Michaels entfernt, auf deren Kirchhof Generationen von Tollivers ruhten. Darunter befanden sich auch ihre eigenen Eltern, die sich einen Grabstein teilten, wie sie auch den Tod geteilt hatten. Der Weg zum Haus führte durch eine Allee aus prächtigen Ulmen, von denen man annahm, dass sie so alt waren wie das Haus selbst. Sie waren so groß, dass sich ihre Kronen über der Straße trafen und einen grünen Tunnel bildeten, der sich erst in letzter Sekunde öffnete, um das in Sonnenlicht getauchte Dowdeswell Hall zu enthüllen.

In ihrer Vorstellung war das Haus immer in Sonnenlicht getaucht. Es musste in ihren dreiundzwanzig Lebensjahren zwar auch graue Tage gegeben haben, aber ihre Erinnerung blendete diese aus. Für sie war hier stets Hochsommer.

Agnes parkte ihren wolkenblauen Mini neben Barbars altehrwürdigem Rolls Royce. Es war ein 1930er Phantom von der Größe eines Schlachtschiffs, das vor ihm schon seinem Vater gehört hatte. Ihr kleiner Mini sah aus, als würde er problemlos in den riesigen Kofferraum passen.

Sie schleppte ihre Tasche vorbei an den freundlich nickenden Rosen zur gewölbten Eichentür, die sich öffnete, noch bevor sie sie erreichte. Dowdeswell war einst von einem Dutzend Angestellten bewirtschaftet worden. Jetzt kümmerte sich aber nur noch Mrs Cawthorne um Barbar, während ihr Mann den Garten versorgte. Beide waren gebrechlich und weißhaarig, aber mit Barbar stets durch dick und dünn gegangen. Mrs Cawthorne griff nach Agnes’ Tasche. »Er ist nicht er selbst«, sagte die Frau zur Begrüßung.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Agnes erschrocken. »Heißt das, es geht ihm nicht gut?«

»Er ist nicht er selbst«, wiederholte die Haushälterin mit fester Stimme. »Er ist mürrisch und übellaunig.«

»Das klingt aber gar nicht nach ihm.«

»Nein, das meine ich ja. Er hat mir nicht erlaubt, sein Arbeitszimmer aufzuräumen. Da drin herrscht furchtbares Chaos. Überall liegen Papiere und Staub.«

»Warum haben Sie mich nicht angerufen?«

»Ich wollte Sie nicht beunruhigen. Der Arzt sagt, es liegt nur am Alter.«

»Arzt? War er beim Arzt?«

»Ich habe Dr. Dobbie angerufen. Er ist vorbeigekommen. Ihr Großvater war nicht sehr erfreut darüber. Aber der Doktor sagt, Herz und Lunge sind in Ordnung. Es liegt nur am Alter.« Sie deutete in Richtung des Wintergartens. »Er ist da drin bei seinen Geranien. Ich werde jetzt fahren, Miss Tolliver. Bis Montagmorgen gehört er ganz Ihnen.«

Agnes durchquerte eilig das Haus und erreichte den Wintergarten. Ihr Großvater war dabei, Geranien einzutopfen, und trug wie immer die schäbige alte Strickjacke und seinen Panamahut. Er drehte sich um, als Agnes hereinkam. Einen Moment lang erschreckte sie der leere Blick in seinen Augen. Es war, als würde er sie nicht erkennen.

»Barbar?« So hatte sie ihn von klein auf genannt. Als Baby war das ihr Versuch gewesen, das Wort »Grandpa« auszusprechen.

Endlich lächelte er. »Hallo, mein Schatz«, begrüßte er sie und klopfte sich den Lehm von den Händen. »Willkommen zu Hause.«

Sie küsste seine kühle, trockene Wange. »Warst du krank, Barbar?«

»Es ging mir nie besser. Komm, trink eine Tasse Tee und erzähl mir alles über London.« Schlurfend führte er sie in seinen geliebten Pantoffeln in die Küche.

Agnes beobachtete ihren Großvater, während sie den Tee trank. Er sah aus wie immer – zumindest oberflächlich betrachtet. Die Übellaunigkeit, von der Mrs Cawthorne gesprochen hatte, war nicht zu erkennen.

»Lass uns nicht über meine Woche sprechen«, sagte sie. »Verrat mir lieber, warum Mrs Cawthorne so besorgt um dich ist.«

»Was meinst du, meine Liebe?«

»Sie sagte, dass sie den Arzt rufen musste.«

Er runzelte die Stirn. »Ich habe wirklich keine Ahnung, warum sie es für nötig gehalten hat, den armen Mann von seinen eigentlichen Aufgaben wegzuholen. Alberner Blödsinn. Sie vergeudet die Zeit von allen.«

»Aber was hat er gesagt?«, bohrte sie nach.

»Dass ich noch Energie für weitere fünfzig Jahre im Tank habe.« Er fuchtelte mit seiner gebräunten, geäderten Hand herum und damit beendete er das Thema. »Eine Partie Schach?«

»Wenn du möchtest.« Normalerweise spielten sie an jedem Wochenende zwei oder drei Partien. Doch dieses Mal hatte Agnes das Gefühl, dass er sie nur von einem unangenehmen Thema ablenken wollte.

Sie gingen in den Garten und stellten das Brett unter dem Sonnenschirm auf dem Rasen auf. Eine Weile spielten sie schweigend. Beide kannten die Strategien des jeweils anderen gut. Seit ihrer Kindheit spielten sie Schach. Es war ein Ritual, das freundschaftlich, aber dennoch ernsthaft betrieben wurde. Barbar war früher Bezirksmeister im Schach gewesen, und sie hatte unter seiner Anleitung gelernt, ähnlich gut zu spielen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er eine Dame oder zwei Türme geopfert hatte, um die Partien ausgeglichener zu gestalten, aber das war schon seit Jahren nicht mehr nötig. Agnes konnte ihm ein gutes Spiel liefern, und manchmal schaffte sie es sogar, ein Unentschieden zu erreichen oder zu gewinnen.

Sie bemerkte, dass Barbar die handgeschnitzten Schachfiguren, die durch den Gebrauch ganz glatt geworden waren, ungewohnt langsam und vorsichtig bewegte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Mrs Cawthorne hatte recht. Man konnte es nicht genau beschreiben, aber die Formulierung »nicht er selbst« war zutreffend. Es wirkte, als würde Barbar sich gewissermaßen selbst nachahmen und eine tapfere Show als Oberstleutnant Louis Tolliver, DFC, abliefern.

Obwohl die Situation gar nicht so kompliziert war, starrte er nun bereits seit zehn langen Minuten auf das Brett, ohne seinen König zu bewegen, den sie mit einem Bauern bedrohte. Daher forderte Agnes ihn auf. »Du bist am Zug, Barbar.«

Er blinzelte. »Oh? Wirklich?« Doch er bewegte den König immer noch nicht.

»Vielleicht bist du einfach zu müde zum Schachspielen?«, schlug sie sanft vor.

»Ich nehme an, ich bin wirklich ein wenig müde.«

»Was hat dich denn so erschöpft?«, fragte sie.

»Um die Wahrheit zu sagen, habe ich ein wenig geschrieben.«

»Du hast geschrieben? Etwa deine Memoiren?«

»Es war nur ein Brief.« Ein Lächeln, das wie ein Zucken aussah, huschte über sein hageres Gesicht. »Ich nehme an, es ist der Versuch eines Geständnisses. Es fällt mir sehr schwer, es zu schreiben.«

»Ein Geständnis! Was hast du denn zu beichten, ehrwürdiger Vorfahre?«, fragte sie gestelzt. »Etwa irgendwelche Jugendsünden?«

»So etwas in der Art.« Schließlich hob er den König vorsichtig an und brachte ihn in Sicherheit. »Vielleicht ist es auch eine Bitte um Vergebung.«

»Wessen Vergebung?«

»Einer Person, der gegenüber ich mich fürchterlich schäme.«

»Du machst mir Angst.« Sie schob einen Läufer nach vorne und nahm ihren Angriff damit wieder auf. »Ich kenne dich schon mein ganzes Leben und habe nie erlebt, dass du etwas tust, für das du dich schämen müsstest.«

»Du kennst mich seit dreiundzwanzig Jahren, meine Liebe. Aber ich war vierundfünfzig, als du geboren wurdest. Zeit genug, um schändliche Dinge zu tun.«

Sie sah lächelnd zu ihm auf und dachte, er mache einen Scherz. Aber sein Gesicht war grau, und er sah krank aus. »Genug Schach für heute«, sagte sie erschrocken. »Du brauchst ein Nickerchen.«

Sie erkannte die Erleichterung in seinen Augen. »Na gut. Akzeptierst du ein Unentschieden?«

»Auf keinen Fall. Du hast keine Chance mehr.«

»Das werden wir noch sehen, junge Dame.« Er lächelte ein wenig schief, als sie das Brett beiseiteschoben. Dann lehnte er sich in seinem Liegestuhl zurück und zog den Panamahut tief ins Gesicht.

Während Barbar im Garten döste, ging Agnes in das Arbeitszimmer ihres Großvaters, um zu sehen, ob sie etwas gegen die Unordnung unternehmen konnte, über die sich Mrs Cawthorne beschwert hatte. Die Jalousien waren zugezogen und tauchten alles in einen düsteren Gelbton. Sie zog sie hoch und ließ die Abendsonne herein. Staubflusen wirbelten in der Luft herum. Es stimmte: Bücher und Papiere stapelten sich auf allen verfügbaren Flächen. Seufzend stellte Agnes fest, dass weder sie noch Mrs Cawthorne viel dagegen unternehmen konnten. Barbar war ständig damit beschäftigt, irgendeinen Aspekt des Krieges zu erforschen, in dem er eine so bedeutende Rolle gespielt hatte. Er hatte ein System, so chaotisch es auch schien, und nur er wusste, wo alles hingehörte. Es wäre ihm gar nicht recht, wenn jemand etwas durcheinanderbringen würde.

Beim Hereinkommen hatte sie den scharfen Geruch von verbranntem Papier im Zimmer wahrgenommen. Nun bemerkte sie, dass einige verkohlte Seiten im Kamin lagen. Wenn er einen Brief geschrieben hatte, dann war er offensichtlich zu der Entscheidung gelangt, ihn zu verbrennen, anstatt ihn abzuschicken.

Der Teil eines einzelnen Blattes war noch erhalten und mit Barbars stilvoller edwardianischer Handschrift versehen. Er benutzte stets einen Füllfederhalter mit dunkelblauer Tinte. Neugierig kniete sie sich hin, um das Stück Papier aus der Asche zu nehmen. Das musste das »Geständnis« sein, von dem er gesprochen hatte. Als sie die Zeilen überflog, fiel ihr Blick auf ihren eigenen Namen. Verblüfft nahm sie das verkohlte Fragment mit zum Fenster, um die Schrift besser erkennen zu können.

Was sie dann las, schockierte sie so sehr, dass sie lange Zeit unbeweglich dastand und mit leeren Augen vor sich hinstarrte.

Agnes fühlte sich wie betäubt, als sie zurück in den Garten ging, um mit Barbar zu sprechen und ihn, wenn nötig, zu wecken. Er saß noch immer in seinem Liegestuhl, aber sie erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte. Sein Hut war heruntergefallen und lag neben ihm im Gras. Ein Arm hing schlaff herab.

Mit klopfendem Herzen rannte Agnes zu ihrem Großvater. »Barbar!«

Sein Gesichtsausdruck erschreckte sie. Seine Augen waren halb geöffnet und die Pupillen zurückgerollt. Sein Kiefer hing schlaff herunter und ließ sie erkennen, dass Lippen und Zunge blau waren, als hätte er seine eigene Tinte getrunken. Agnes wusste sofort, dass er tot war. Sie legte ihre Arme um seine schlanken Schultern und den Kopf auf seine noch warme Brust und schluchzte, als würde ihr Herz brechen.

Dr. Dobbie war fertig mit seinen Notizen und steckte den Stift ein. Dann tupfte er das Papier sorgfältig ab. »Ich habe ›natürliche Todesursache‹ eingetragen«, sagte er und reichte ihr den Totenschein. »Das wird den Gerichtsmediziner zufriedenstellen. Aber um ehrlich zu sein, war es ein Herzinfarkt. Sein dritter.«

»Sein dritter! Ich dachte, es würde ihm gut gehen!«

»Er war ein alter Mann, Agnes.«

Sie nickte. Barbar war zwar alt gewesen, aber er hatte ihr das Gefühl gegeben, beschützt zu werden. Diesen Trost gab es für sie nun nicht mehr. »Warum hat mir niemand etwas gesagt?«

»Er wollte keine Aufmerksamkeit, egal welcher Art. Er hasste Aufsehen.« Dr. Dobbie klappte seine Gladstone-Tasche zu. »Er hat auch jede Art von Behandlung abgelehnt, die ich ihm anbot«, entgegnete er traurig. Dobbie war ein altmodischer Arzt, der einen Geruch von Jod, Tweed und Karbolseife verströmte, mit der er sich stets die Hände wusch. Er war sofort gekommen, als Agnes ihn angerufen hatte. Mitfühlend schaute er sie an. »Ihr Großvater war ein ruhiger Mann, aber er hatte einen eisernen Willen. Ich habe seine Wünsche respektiert. Möchten Sie, dass ich bleibe, bis der Leichenwagen kommt?«

»Nein, es ist alles in Ordnung. Mrs Cawthorne wird bald hier sein.«

Dobbie legte ihr die Hand auf die Schulter, als er ging. »Mir ist bewusst, wie schwer das für Sie sein muss. Ihr Großvater war ein wunderbarer Mann, Agnes.«

»Er war nicht mein Großvater.«

Der Arzt zog eine Augenbraue hoch. »Aber Sie sind doch die Tochter von Giles und Elspeth.«

»Nein. Ich habe heute einen Brief gefunden, den er geschrieben hat. Oder zumindest einen Teil davon. Darin steht ganz eindeutig, dass ich woanders herkomme.«

Er sah sie neugierig an, als wolle er etwas sagen, konnte aber nicht die passenden Worte finden. »Nun«, begann er langsam, »ich nehme an, es macht keinen Unterschied mehr, oder? Sie beide standen einander sehr nahe.«

»Ja«, antwortete sie, »das taten wir.«

Aber Barbers Brief hatte nichts von einer Adoption erwähnt. Er hatte etwas viel Schlimmeres angedeutet.

»Sie stehen unter Schock. Ich kann Ihnen etwas geben, das Sie einnehmen können.«

Agnes schüttelte den Kopf. »Ich komme schon zurecht.«

Nachdem er gegangen war, zog sie sich in ihre Gedanken zurück. Ihre Welt war zerbrochen – alles stand Kopf. Wenn sie nicht Barbaras Enkelin war, wer war sie dann? Sie hatte sich noch nie so gefühlt – fassungslos, wütend und zutiefst einsam. Barbar war mit seinem Geheimnis gestorben.

Vielleicht hatte es ihn auch umgebracht.

Als die Schatten des nahenden Abends immer länger wurden, kam Mrs Cawthorne aus dem Dorf zurück. Agnes’ erschütterter Zustand veranlasste sie, zunächst eine Kanne starken Tee zu kochen. Sie tranken ihn zusammen in der Küche.

»Er war erst siebenundsiebzig«, sagte sie. »Das ist doch kein Alter, oder?« Dann schwieg sie, bis sie ihren Tee getrunken hatten. Als sie zurückgingen, um Barbars Körper zu sehen, kamen ihr Tränen. »Schauen Sie ihn sich an«, sagte sie und trocknete sich die Augen mit ihrer Schürze. »Er sah immer wie ein Landstreicher aus.«

Auch Agnes weinte. Durch ihren verschwommenen Blick betrachtete sie Barbars gestopfte Strickjacke, die zerschlissenen Knie seiner Cordhose und seine schäbigen Pantoffeln. »So können sie ihn doch nicht abholen«, sagte sie und riss sich zusammen. »Sie werden seinen besten Anzug wollen. Hemd, Krawatte, Schuhe, all das.«

»Ich werde alles zusammensuchen. Sie bleiben bei ihm.« Mit roten Augen stieg sie die Treppe hinauf in Barbars Schlafzimmer und ließ Agnes bei der Leiche zurück.

Sie hatten ihn auf die abgewetzte Ledercouch in seinem Arbeitszimmer gelegt. Die Arme waren vor der Brust verschränkt. Dr. Dobbie hatte Augen und Mund geschlossen, doch seine Wangen und die Augen waren bereits eingefallen. Agnes strich ihm eine silbrige Haarsträhne aus der Stirn. Seine Haut kühlte bereits ab. Der Verlust dieses alten Mannes, den sie so sehr geliebt und dem sie so bedingungslos vertraut hatte, riss eine große Lücke in ihr Leben. Dennoch war er ihr nun fremd – und das nicht nur, weil der Tod sein Gesicht verändert hatte.

Dreiundzwanzig Jahre lang war er ihr Beschützer, ihr Anker gewesen. Die Worte auf dem Blatt Papier hätten – wie auch Dr. Dobbie gesagt hatte – eigentlich keinen Unterschied machen dürfen. Aber das machten sie. Weil alles, was er ihr immer erzählt hatte, eine Lüge gewesen war.

Er hatte sie ihr ganzes Leben lang belogen. Und jetzt hatte er sie im Stich gelassen. Er war unerreichbar geworden. Sie konnte ihn nicht mehr fragen, warum er all das getan hatte. Sie konnte ihm keine Vorwürfe machen, und er konnte sich nicht erklären. Auf Barbar wütend zu sein, war keine logische Reaktion auf seinen Tod. Aber sie fühlte sich wütend. Wütend, weil er sie angelogen hatte. Wütend, weil er gestorben war und sie erneut zur Waise gemacht hatte. Wütend, weil sie ihre letzte Schachpartie nie beenden konnten. Wütend, weil er ihr nicht gesagt hatte, wie krank er war, und ihr damit die Chance geraubt hatte, sich auf diesen Verlust vorzubereiten.

Wütend, weil er ihr nie gesagt hatte, wer sie wirklich war.

In ihrem letzten Gespräch hatte er von einem Versuch eines Geständnisses gesprochen. Von einer Bitte um Vergebung. Es war keine Bitte um ihre Vergebung gewesen, das war klar. Er hatte von jemandem gesprochen, der ihn zutiefst beschämt hatte. Nichts davon ergab einen Sinn, beunruhigte sie aber zutiefst. Sie musste der Sache auf den Grund gehen, denn was auch immer Barbar belastet hatte, betraf sie ganz offensichtlich ebenfalls.

Mrs Cawthorne kam mit Barbars ordentlich gefaltetem dunklen Anzug die Treppe herunter. Auf ihm ruhten mehrere Medaillen. »Soll er mit diesen Medaillen begraben werden?«

Agnes berührte die farbenfrohen Bänder von Barbars Tapferkeitsauszeichnungen, die er nie, nicht einmal am Volkstrauertag, getragen hatte. Er machte sich nichts aus ihnen. Wann immer sie ihn danach gefragt hatte, war die Antwort gewesen, dass andere sie mehr verdient hätten. »Er hat sie nie getragen, als er noch gelebt hat. Also glaube ich nicht, dass er sie für die Ewigkeit auf seiner Brust haben wollen würde.«

»Wir können sie für den Gottesdienst auf ein schönes Samtkissen stecken.« Mrs Cawthorne sah sich die angelaufenen Anstecker an. »Ich werde sie vor der Beerdigung ein wenig aufpolieren. Sie können sie eines Tages Ihren Kindern zeigen. Erzählen Sie ihnen, was für ein Mann ihr Großvater war.«

Agnes zuckte bei diesem Gedanken zusammen. »Ich habe etwas Merkwürdiges in seinem Kamin gefunden«, begann sie zögernd.

»Ich habe doch gesagt, dass er mich in seinem Arbeitszimmer nicht putzen lassen wollte.«

»Ich rede nicht von Staub. Ich meine den Teil eines Briefes, den er verbrannt hat.«

»Davon weiß ich nichts«, sagte Mrs Cawthorne. Agnes fand, dass ihr Tonfall abwehrend klang. Die Haushälterin putzte sich die Nase und wich Agnes’ Blick aus. »Ich laufe nicht herum und lese die Briefe anderer Leute.«

»Natürlich tun Sie so etwas nicht. Aber er hat etwas sehr Merkwürdiges geschrieben. Ich wollte Sie dazu etwas fragen ...«

»Es hat keinen Sinn, mich zu fragen«, unterbrach sie Agnes barsch. »Ich mische mich nicht in Ihre persönlichen Angelegenheiten ein. Das habe ich nie getan und werde es auch jetzt nicht tun.« Ihr Tonfall hatte sich von abwehrend zu wütend gewandelt und ihre Augen wirkten nun noch verweinter als zuvor. Ihre Wangen glühten. »Also fragen Sie nicht mich.«

Agnes war verblüfft über die Heftigkeit dieser Reaktion. Sie wusste, dass Mr und Mrs Cawthorne schon vor ihrer Geburt bei Barbar gewesen und ihm gegenüber absolut loyal waren. Durch die Art und Weise ihrer Antwort fühlte Agnes sich nun jedoch wie eine Außenseiterin, so als hätte sie mit ihrer Frage nach dem Brief ein schweres Unrecht begangen.

Ein Klopfen an der Tür kündigte das Eintreffen der Bestattungsunternehmer von Fletcher und Marshall an. Alle waren schwarz gekleidet und trugen Homburger Hüte. Sie sprachen salbungsvolle Beileidsbekundungen aus. Mit schwermütiger Professionalität kümmerten sie sich um Barbar, luden den Verstorbenen, wie sie ihn nannten, in einen Sarg und rollten ihn zu ihrem glänzenden Leichenwagen, der neben Agnes’ Mini und Barbars Rolls vorgefahren war.

»Wenn Sie morgen bei uns vorbeikommen könnten, Miss Tolliver«, murmelte Fletcher mit gedämpfter Stimme, »können wir alles Weitere besprechen.«

Agnes nickte. Der Klang ihres Namens hörte sich in ihren Ohren zum ersten Mal in ihrem Leben merkwürdig an. War sie wirklich Agnes Tolliver?

Und wenn sie nicht Agnes Tolliver war ... wer war sie dann?

Kapitel 2: Karolina

Ost-Berlin, 1968

Karolina musste jeden Tag den langen Weg von der Fabrik nach Hause auf sich nehmen. Der kurze Weg führte an einer Stelle nahe an der Mauer vorbei. Sie würden es merken – die Geheimpolizei, die Stasi –, denn sie beobachteten sie. Man hatte sie gewarnt, dass sie sofort wieder ins Gefängnis käme, wenn man sie noch einmal im Umkreis von zweihundert Metern um die Mauer erwischen würde. Und sie würde lieber sterben, als zurück nach Stauberg zu gehen, dem Frauengefängnis in Hoheneck, wohin sie mit neunzehn Jahren gebracht worden war.

Die Narben aus den drei Jahren in Stauberg waren noch gut sichtbar. Körperliche Narben und seelische Narben, die sie nachts schweißgebadet aufwachen ließen.

Am schlimmsten war jedoch die gezackte, unsichtbare Narbe, die sich quer durch ihr Leben zog.

Die Narbe, die sie daran gehindert hatte, ihren Universitätsabschluss zu machen, obwohl sie seit ihrem fünften Lebensjahr die besten Noten ihres Jahrgangs vorweisen konnte. Sie hatte sie daran gehindert, irgendeine Arbeit zu finden, außer des stumpfsinnigsten Fabrikjobs in der Nachtschicht. (Sie hatte es aufgegeben, sich für etwas Besseres zu bewerben, denn die Stasi verfolgte sie überall hin. Nach jedem noch so vielversprechenden Vorstellungsgespräch schauten sie bei ihrem neuen potenziellen Arbeitgeber vorbei, um genau zu erklären, warum Karolina Schmidt nicht beschäftigungsfähig war.)

Sie hinderte sie daran, in einem der schöneren Teile Ost-Berlins zu wohnen, einen Fernseher zu besitzen, ins Ferienlager zu fahren, mit anderen jungen Erwachsenen zusammenzukommen; einfach an allem, was das Leben erträglicher machte. In Wirklichkeit war alles nur darauf ausgerichtet, ihr Leben unerträglich zu machen.

Und all das nur, weil sie im Alter von neunzehn Jahren den äußerst dummen Versuch unternommen hatte, über die Mauer in den Westen zu gelangen.

Es war aus einer Laune heraus geschehen. Ein dummer Streich. Aber was sie wirklich in den Wahnsinn getrieben hatte, war, wie weit sie bei ihrer Flucht gekommen war. Man hatte sie direkt am Rande des Todesstreifens erwischt. Noch ein paar Schritte weiter und sie wäre von einer Mine in die Luft gesprengt oder von Maschinengewehrfeuer zerfetzt worden. Keiner wollte ihr glauben, dass sie ganz allein die Betonbarrikade erklommen hatte, unter den Elektrozäunen hindurchgekrochen und den Hunden aus dem Weg gegangen war, die Stachelmatten überquert hatte und von den Wachen in den Wachtürmen unentdeckt geblieben war. Alle waren vielmehr überzeugt davon, dass sie zu einer geheimen kapitalistischen Fluchtorganisation gehörte. Und die Tatsache, dass dem nicht so war – und sie ihnen die Informationen, die sie aus ihr herauszupressen versuchten, nicht geben konnte –, war der Grund, warum die Dinge seitdem so schlecht für sie liefen.

Natürlich wandelte sie bereits seit ihrer Geburt auf einem schmalen Grat.

Der Mauer-Zwischenfall hatte ihnen nur die Wahrheit geliefert, die sie schon die ganze Zeit zu kennen glaubten: Sie war verdorben und böse geboren. Die Deutsche Demokratische Republik hatte trotz ihrer schändlichen Herkunft ihr Bestes für sie getan. Man hatte ihr einen Platz in einem Waisenhaus verschafft, der von ihren hart arbeitenden Mitbürgern bezahlt wurde. Sie hatten sie nach den reinsten kommunistischen Grundsätzen erzogen und sie zu einem fleißigen, autoritätshörigen Teil des Proletariats geformt, das von der Ideologie von Marx und Lenin genährt wurde. Der Staat hatte versucht, ihr das sozialistische Bewusstsein einzuprägen, das so wichtig war, um zum wertvollen Mitglied einer gesunden Gesellschaft zu werden. Der Staat hatte alles für sie getan. Er war Mutter, Vater, Mentor und Schutzpatron.

Und sie hatte sich im Gegenzug sehr darum bemüht, perfekt zu sein.

Doch hatte der Staat ihr natürlich nie erlaubt, ihre schändliche Herkunft zu vergessen.

Man erinnerte sie täglich daran, wie dankbar ein unwürdiges Waisenkind sein sollte, an den Brüsten des Staates saugen zu dürfen.

Das war vielleicht auch der Grund, warum der lange und strenge Prozess der sozialistischen Erziehung irgendwann ins Stocken geraten war und erst zu kleinen rebellischen Taten und schließlich zu ernsthafteren Verstößen gegen die Regeln geführt hatte. Dazu gehörte das Hören von abartiger westlicher Musik, das Tragen abweichender Kleidung, das Äußern aufrührerischer Meinungen oder das absichtliche Missachten von Autoritäten, wenn Strafen ausgesprochen wurden. Am Ende dieser Liste stand das unverzeihlichste Vergehen überhaupt: der Versuch, aus dem Arbeiterparadies in die korrupte Kloake des Westens zu fliehen.

Damit war sie endgültig ein gescheitertes Experiment.

Es war Sommer, und draußen bereits hell. Die Morgensonne mühte sich redlich, den endlosen Reihen der düsteren Wohnblocks, die von den Sowjets in den Ruinen eines 1945 von den Alliierten in Schutt und Asche gelegten Industrieviertels errichtet worden waren, einen gewissen Glanz zu verleihen. Das goldene Licht ließ die Gebäude jedoch nur noch hässlicher, dunkler und bedrückender wirken. Man hatte ihr eine winzige Wohnung in diesem Viertel zugewiesen, in dem auf verlassenen Bombenabwurfstellen noch immer hochgiftige Weidenröschen wuchsen. Zweifellos ein einschneidendes Beispiel für die Gewalt, die dem kapitalistischen System innewohnte. Die Stasi war nicht zimperlich im Verteilen von Denkzetteln.

Als sie sich ihrem Häuserblock näherte, stapfte Herr Möller, der alte Hausmeister, in die andere Richtung. Offenbar wollte er zu seinem Schrebergarten. Er trug seinen sonderbar geformten Spaten über der Schulter. Nicht einmal den Kopf drehte er in ihre Richtung, als die beiden aneinander vorbeigingen. Er wusste, öffentlich zu zeigen, dass er sie kannte, würde beobachtet und notiert werden. Dennoch murmelte er aus dem Mundwinkel: »Man wartet auf Sie.«

Karolina rutschte das Herz in die Hose. Es bestand kein Zweifel, von wem er sprach. Einen Moment hielt sie inne und war kurz davor, umzudrehen und zurückzugehen. Aber es gab keinen Ausweg. Und der Stasi aus dem Weg zu gehen, würde verraten, dass Herr Möller sie gewarnt hatte. Und er war ihr einziger Freund. Also schulterte sie ihren Rucksack, holte tief Luft und ging weiter.

Sie warteten in ihrer Wohnung auf sie. Selbstverständlich hatten sie sich selbst hereingelassen. Es gab keine Privatsphäre, wenn es um die Stasi ging. Vor ihr standen wie üblich zwei Männer mittleren Alters, die abgesehen von ihrem unschlagbaren Selbstbewusstsein anonym bleiben würden.

Der dickere der beiden übernahm das Reden. »J.O. 832, schließen Sie die Tür und leeren Sie Ihren Rucksack.«

Karolina gehorchte. Der Inhalt war nicht sehr umfangreich: ein ordentlich gefalteter Regenmantel aus Kunstfaser, der mit Eselsohren versehene Thomas-Mann-Roman, den sie gerade las, und ein Apfel.

Der dicke Stasi-Mann nahm die Ausgabe der Buddenbrooks in die Hand. »Warum lesen Sie bürgerliche Literatur?«

»Thomas Mann ist nicht verboten.«

»Das habe ich nicht gefragt.«

»Thomas Mann hat den Nobelpreis bekommen«, antwortete sie leise, »und seine Werke wurden von den Nazis verbrannt. Das sollte Sie beruhigen.«

»Auf dem Titelbild ist eine bürgerliche Familie abgebildet«, sagte der Mann.

»Das liegt daran, dass er von einer bürgerlichen Familie handelt. Aber es ist kein bürgerlicher Roman.«

»Nur ein Bürgerlicher würde über die Bürgerlichen schreiben«, erwiderte er. »Oder über sie lesen wollen.«

Sie war zu schlau, als sich mit einem Stasi-Schergen über Literatur zu streiten. Also schwieg sie.

Er wandte sich dem Apfel zu. »Woher haben Sie diese Frucht?«

»Aus der Werkskantine.«

»Und Sie haben sie mit nach Hause genommen?«

»Ja.«

Seine feisten Finger deuteten auf die Schale mit all den identisch aussehenden Äpfeln auf der Küchenablage. »Und was ist mit denen – sind die auch aus der Kantine?«

»Ja.«

Seine Augen funkelten triumphierend. »Sie geben also zu, dass Sie systematisch Obst gestohlen haben!«

»Uns ist ein Apfel pro Tag erlaubt«, antwortete sie. »Also nehme ich mir einen Apfel pro Tag. Das ist kein Diebstahl.«

»Das Kantinenessen muss in der Kantine verzehrt werden«, bellte er zurück. »Es mitzunehmen, ist Diebstahl!«

»Das ist nicht logisch.«

Der andere Mann, der sich bisher in ihrem einzigen Sessel gelümmelt hatte, rollte sich träge heraus. »Nur aus Interesse ... warum bringen Sie eigentlich das ganze Obst mit nach Hause?«

»Weil es für eine schönere Atmosphäre sorgt.«

Er entblößte scharfe Zähne hinter seinem spöttischen Grinsen. »Sie sind voller bürgerlicher Ideen, J.O. 832. Essen ist keine Dekoration.«

Es machte ihnen Spaß, sie so zu nennen. Die Bezeichnung stand für Jugendlicher Ordnungssünder Nummer 832. Es war die Nummer, die man ihr im Gefängnis zugeteilt hatte – auch wenn sie jetzt bereits siebenundzwanzig war. Sie hofften, sie damit zu verärgern. Aber es wäre nicht klug, in Gegenwart dieser Kerle die Beherrschung zu verlieren. »Ich vergeude sie nicht. Ich esse sie, wenn sie richtig reif sind.«

»Was bringen Sie denn noch so aus der Fabrik mit nach Hause? Werkzeuge? Materialien, die Sie verkaufen können?«

Karolina hatte die geöffneten Schränke bemerkt. Ihr Hab und Gut lag verstreut auf dem Boden. »Sie haben meine Wohnung doch schon durchsucht«, sagte sie leise. »Und Sie haben nichts dergleichen gefunden. Das beantwortet die Frage.«

»Nur wir werden entscheiden, wann unsere Fragen beantwortet sind«, schnauzte der Dicke sie an. »Niemand wird Ihnen je wieder vertrauen.«

»Vertraut man Ihnen denn?«, fragte sie.

Die beiden Männer starrten sie grimmig an. »Was soll die Frage?«

»Naja, sie schicken Sie immer zu zweit. Nie allein. Das machen sie, damit jeder von Ihnen den anderen im Auge behalten kann. Also nehme ich an, dass sie Ihnen auch nicht trauen.«

Einen Moment schwiegen alle. Dann sprach der dünne Mann. »Haben Sie noch Kontakt zu der Geheimorganisation, die Ihnen zur Flucht verholfen hat?«

»Ich bin nicht geflohen. Sie haben mich erwischt. Wenn es eine Geheimorganisation gegeben hätte, würde ich jetzt im Westen Champagner trinken.«

»Sie ändern sich wohl nie«, sagte der Mann verächtlich. »Sie sind eine Verbrecherin durch und durch. Die Gesellschaft sollte sich von Krebsgeschwüren wie Ihnen befreien. Eines Tages wird sie das tun. Und ich werde hier sein, um es zu erleben.«

»Ich habe nichts mehr zu verlieren«, antwortete sie.

»Ach, wirklich? Das zeugt von mangelnder Vorstellungskraft, jugendlicher Ordnungssünder 832.«

Dann rafften die beiden alle Äpfel zusammen.

Sie nahmen auch die Kartoffeln und Zwiebeln, die Herr Möller in seinem Schrebergarten angebaut und ihr gegeben hatte.

Und ihr Exemplar der Buddenbrooks. All das machte sie traurig, doch der Verlust des Buches brachte sie den Tränen gefährlich nahe. Ein weiteres Exemplar zu finden, würde schwierig werden.

Sie hatten all ihre Konfiszierungen peinlich genau auf dünnem Regierungspapier notiert und überreichten ihr nun im Gehen die Seiten: fünf Stück gestohlenes Obst, sechs Kartoffeln, acht Zwiebeln, ein bürgerlicher Roman. Es war lächerlich. Der ganze Besuch war nichts als eine absurde Farce. Allerdings nicht die Art von Farce, die einen zum Lachen bringt. Diese Besuche dienten nur einem Zweck: sie zu zermürben, bis sie lernte, zu gehorchen. Oder vielleicht auch, bis sie sich mit Taschen voller Pflastersteinen in einen Kanal stürzte.

Nachdem die Männer gegangen waren, kümmerte sie sich um das Chaos, das sie angerichtet hatten, und versuchte, den Geruch der Kerle aus ihrer Wohnung zu vertreiben. Doch leider öffnete sich ihr einziges Fenster zum Treppenhaus. Anstatt den Geruch nach draußen zu lassen, drang der Gestank von gekochtem Kohl und Abwässern ein.

Sie nahm die Papiere mit zur Toilette, die nur durch einen von ihr angebrachten Vorhang vom Rest der Wohnung abgetrennt war. Als sie sie gerade wegspülen wollte, bemerkte sie, dass ihr das Toilettenpapier ausging. Also behielt sie sie. Es würde sich schon eine geeignete Verwendung für sie ergeben.

Das war am Wochenende. Jeden Samstag fand im öffentlichen Schwimmbad vier Straßen von ihrer Wohnung entfernt ein Familientag statt. Es würde bestimmt sehr voll sein, aber sie verpasste diesen Termin nie. Nicht zuletzt, weil am Familientag Seife und Shampoo in den Duschen bereitgestellt wurden. Die sowjetischen Architekten, die ihren Wohnblock geplant hatten, waren der Meinung gewesen, dass ein Badezimmer für jede Etage mit sechs Wohnungen ausreichend war. Sie vermied es jedoch, die Gemeinschaftstoilette auf ihrer Etage zu benutzen. Dort war es nicht einfach nur schmutzig. Die Männer, die sich dort aufhielten, konnten auch gefährlich sein. Sie hatte schon zwei unangenehme Erfahrungen gemacht und sich gegen unerwünschte Annäherungsversuche wehren müssen.