The Representative - Ole Jakob - E-Book

The Representative E-Book

Ole Jakob

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Beschreibung

Das war sie nun. Lukas hatte sie sich nicht so gewaltig und prächtig vorgestellt. Die Galileo Elite Oberschule. 2042 wurde sie als Aushängeschild der Europäischen Föderation gegründet. Sie sollte ihm Schutz und Tarnung bieten und den Raum, in dem er recherchieren und seine Pläne schmieden wollte. Das sollte seine Zentrale werden. Von hier wollte er die Fäden ziehen. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass ganz andere Drahtzieher die Puppen bereits nach ihren Regeln tanzen ließen. Ein gefährliches Spiel hatte begonnen. Und es reichte weit in die Vergangenheit hinein, die enger mit Lukas verbunden war, als er ahnen konnte.

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Inhaltsverzeichnis

CHARAKTERE

PROLOG

KAPITEL 1: 22.01.2046

KAPITEL 2: ANKUNFT

KAPITEL 3: FREUNDE

KAPITEL 4: ENTSCHEIDUNG

KAPITEL 5: ERSTER MORGEN

KAPITEL 6: HINWEISE

KAPITEL 7: EINSATZ

KAPITEL 8: IM ZENTRUM DER AUFMERKSAMKEIT

KAPITEL 9: ZWEIFEL

KAPITEL 10: DIE WAHL

VORSCHAU: ES BEGINNT

CHARAKTERE

Lukas Havel, 15 Jahre, Klasse 1-1

Ein scheinbar durchschnittlicher Junge mit einer geheimnisvollen Vergangenheit. Er besucht seit Mitte September die Galileo Elite Oberschule zusammen mit seiner Schwester Lisa.

Lisa Abany, 15 Jahre, Klasse 1-1

Genau wie ihr Bruder ist sie erst seit kurzem auf der Schule, findet sich allerdings durch ihre zugewandte Art sehr schnell zurecht. Mit Geld umzugehen zählt nicht zu ihren Stärken.

Victoria Sonderhoelt, 14 Jahre, Klasse 1-1

Als Klassensprecherin der 1-1 steckt Victoria (Spitzname Vicki) voller Energie. Sie versteht sich mit vielen ihrer Klassenkameraden gut und freundet sich sofort mit den beiden Neuankömmlingen an.

Alice Sonderhoelt, 15 Jahre, Klasse 1-2

Obwohl sie älter als Vicki ist, verhält sie sich deutlich zurückhaltender und leiser als ihre jüngere Schwester. Sie geht in die Parallelklasse von Lukas und Lisa.

Felix Bilmer, 15 Jahre, Klasse 1-1

Ein Klassenkamerad aus einfachen Verhältnissen, der außerdem Mitglied des Schülerrates der Galileo Elite Oberschule ist.

Askan August, 15 Jahre, Klasse 1-1

Er ist mit Felix befreundet und ist sehr an Naturwissenschaften Interessiert.

PROLOG

Lass mich dir eine ernst gemeinte Frage stellen:

Was ist Menschlichkeit?

Die Definition ist schnell recherchiert. Weniger als eine Minute, wenn man das Internet benutzt.

Macipedia definiert die Menschlichkeit folgendermaßen:

„Der Begriff menschliches Verhalten geht von Vorstellungen darüber aus, wie der Mensch sein soll (insbesondere das, was den Menschen von Tieren unterscheidet). Unter dieser Voraussetzung bezeichnet das Wort Menschlichkeit Züge des Menschen, die objektiv als richtig oder gut gelten. Zum Beispiel Mitleid, Nächstenliebe, Güte, Milde, Toleranz, Wohlwollen, Hilfsbereitschaft.“

In unserer Gesellschaft werden der Begriff Menschlichkeit und das Verhalten, das damit einhergeht, als etwas grundsätzlich Positives empfunden.

Wenn man sich jedoch die Taten der Menschen in ihrer Jahrtausende alten Geschichte anschaut, dann sieht man, dass viele der Taten genau dieser Menschen keinesfalls menschlich sind.

Wir versuchen, uns krampfhaft von den Tieren zu unterscheiden, uns von dem Animalischen zu distanzieren. Dabei sind wir letztendlich nur weiter entwickelte Affen.

Wir reden uns ein, rational und objektiv zu handeln. Dabei lassen wir uns in Wirklichkeit von den sogenannten „niederen Instinkten“ leiten. Von Gier, Angst und Hass, die dazu führen, dass durch Hunderte von Genoziden der Menschheitsgeschichte ganze Völker vernichtet wurden.

Das größte Problem daran ist unsere Lernresistenz. Anders kann ich es nicht beschreiben.

Denn ein „Nie wieder“ bedeutet in unserer heutigen Gesellschaft vielleicht zwanzig, fünfzig oder fünfundsiebzig Jahre. Oder anders ausgedrückt: ein bis drei Generationen. Dann wieder. Und der Kreislauf beginnt von Neuem.

Einzelne Individuen streben nach Macht, arbeiten sich nach oben, hetzen die Massen, bis sie schließlich an der Spitze der Gesellschaft stehen und durch ihre egoistischen Motive und ihren Größenwahn erneut für Chaos sorgen.

Ich frage dich also noch einmal: Was bedeutet Menschlichkeit?

Sollte Menschlichkeit wirklich für etwas Gutes stehen? Oder sollte es nicht viel mehr das parasitäre, egoistische und destruktive Verhalten einer von der Evolution begünstigten Spezies beschreiben, die irgendwann ihr eigener Untergang sein wird?

Vielleicht gibt es aber auch Gegenbeispiele. Geschichten, die von Menschen erzählen, die tatsächlich menschlich waren.

Es gibt solche Geschichten.

Man muss nur nach ihnen suchen.

~ Lukas

KAPITEL 1

22.01.2046

„Guten Tag, mein Name ist Dr. Braun. Ich habe einen Termin bei Herrn von Wolff. Es geht um meine Bewerbung als Arzt auf der Krankenetage.“

Der Android an der Rezeption blickte wortlos auf die Visitenkarte, die Harry auf seinem Handy vorzeigte.

„Ich habe einen Eintrag registriert. Sie hatten den Termin um achtzehn Uhr und sind zehn Minuten zu spät.“

Harry fuhr sich durch die Haare. „Ähh, ja, die Bahn hatte leider Verspätung…“

„Die letzten zwanzig Fahrten der Bahnen von Ihrem Wohnort waren alle pünktlich.“, antwortete der Android prompt.

Bevor Harry überhaupt etwas entgegnen konnte, deutete der Roboter auf einen Fahrstuhl auf der anderen Seite des großen Eingangsbereiches, in dem sie sich gerade befanden.

„Fahren Sie damit ins Untergeschoss. Sie werden dort erwartet.“

„Ins Untergeschoss?“, wiederholte Harry. „Sollte ich nicht nach oben?“

Der Android reagierte erst nicht. Dann sagte er erneut: „Bitte nehmen Sie den Aufzug und fahren Sie damit ins Untergeschoss. Sie werden dort erwartet.“

„Alles klar, Blechbüchse.“ Harry wandte sich ab und ging zum Aufzug.

Das war also die große Eingangshalle der Hauptzentrale der VDJ, der größten unabhängigen, politisch anerkannten Jugendorganisation Europas. Angeblich von einigen Parteien und Investoren finanziert, so war sie dennoch eine für sich allein stehende Macht.

Und für diese Organisation würde Harry fortan arbeiten.

„Tür öffnen!“, befahl er.

Die Aufzugstüren öffneten sich, und Harry ging hinein.

„Untergeschoss.“

Der Aufzug setzte sich nach unten in Bewegung.

Es dauerte nicht lange, und die Türen öffneten sich wieder. Ein weißer, fensterloser Gang erschien vor Harry. Klar, war ja das Untergeschoss. Er wurde erwartet. Eine junge Frau in grauem Anzug und streng nach hinten gebundenem Haar blickte Harry entgegen. Ihr Gesichtsausdruck war neutral.

„Oh, hallo. Ich bin Dr. Harry…“

„Ich weiß, wer Sie sind. Ich bin Dr. Peters. Wenn Sie mir nun folgen würden, Herr von Wolff wartet nicht gerne.“

Sie drehte sich um und ging den Korridor hinunter. Harry folgte ihr wie ein bedröppelter Hund. Es herrschte Schweigen zwischen ihnen, bis Dr. Peters plötzlich vor einer Tür stehen blieb. Sie klopfte und sagte deutlich:

„Herr Direktor, der Neue ist hier.“

„Herein.“, ertönte es von innen.

Dr. Peters öffnete die Tür und gab den Blick frei zu einem großzügigen Büro. Hinter dem Schreibtisch saß ein älterer Mann, vielleicht Mitte sechzig, der den Neuankömmling erwartungsvoll ansah.

„Kommen Sie rein, setzen Sie sich doch bitte!“ Er wies auf zwei bequeme Sessel. Harry und Dr. Peters setzten sich.

„Kann ich Ihnen etwas anbieten? Vielleicht Tee?“

„Äh, sehr gerne.“

Der Mann wandte sich um und holte aus einem kleinen Schrank drei Tassen und eine Kanne hervor.

„Tee soll ja beruhigen.“, sagte er lachend. „Gerade in solch aufwühlenden Zeiten.“

Er goss heißen Tee in Harrys Tasse.

„Mir bitte nicht.“ Dr. Peters machte eine abwehrende Handbewegung, als der Mann auch ihr eingießen wollte.

„Aber Rika! Jetzt seien Sie doch nicht so! Entspannen Sie sich mal für eine Minute.“

„Na schön. Eine Tasse.“

„Geht doch!“

Der Mann lachte erneut und schenkte sich nun selbst ein. „Jetzt kommen wir zu unserem Neuling. Dr. Harry Braun. Ich habe mich bisher gar nicht vorgestellt. Ich bin Alexander von Wolff. Ich leite diese Abteilung.“

„Freut mich sehr.“, sagte Harry. „Was für eine Abteilung leiten Sie denn hier?“

Herr von Wolff nahm einen Schluck Tee, ohne den Blick von Harry abzuwenden.

„Dazu kommen wir gleich. Zunächst möchte ich etwas mehr über Sie erfahren. Sie sind gebürtiger Hamburger, richtig? Was halten Sie von den Ausschreitungen jenseits des neuen Deiches?“

„Ähh, ich interessiere mich nicht wirklich für Politik.“

Herr von Wolff lehnte sich vor. „Nun, Sie werden aber in einem Gebäude einer sehr politischen Institution arbeiten. Ein bisschen Interesse an Politik, vor allem bei Krisen wie dieser, sollte schon bei Ihnen vorhanden sein.“

„Naja, also…“ Harry nahm nervös einen Schluck. „Dieses Thema ist ja gerade sehr heikel und wird heiß diskutiert. Deswegen möchte ich mich da eigentlich heraushalten. Aber wenn Sie mich so direkt fragen… also, ich finde es natürlich unfair für die Menschen im Norden. Sie verlieren ihre Heimat, weil die Regierung den Klimawandel nicht in den Griff bekommen hat und nun den gesamten Norden dem Meer überlässt.

Der Direktor lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte Harry.

„War das jetzt… richtig?“ Harry blickte Herrn von Wolff unsicher an.

„Richtig?“ Herr von Wolff lachte kurz. „Hier gibt es kein Richtig und kein Falsch. Der eine hat diese Meinung und jener eine andere. Dennoch, ein interessanter Standpunkt, den Sie da vertreten.“

„Herr Direktor, wir haben nicht viel Zeit.“

„Natürlich, Rika.“ Herr von Wolff stand auf. „Kommen wir jetzt zum Grund Ihres Hierseins. Sie sind Psychologe, richtig?“

„Richtig…“, sagte Harry unsicher, „erst seit letztem Jahr.“

Der Direktor umrundete den Schreibtisch und kam auf Harry zu. Er lehnte sich an die Tischkante und war nun direkt vor ihm.

„Wir haben Sie für ein sehr spezielles Projekt rekrutiert, das hoch vertraulich ist. Wir haben eine Patientin für Sie.“

„Eine Patientin?“

„Ganz recht. Sie hat sich freiwillig bereiterklärt, bei unserem Projekt als Probandin zu fungieren. Leider geht es ihr psychisch nicht so gut. Sie sollen sie behandeln.“

Harry stand jetzt auch auf. „Darf man fragen, wie die Patientin heißt?“

„Darf man nicht.“, sagt Dr. Peters knapp. „Sie sprechen sie bitte nur mit EM-02 an.“

„Was ist das denn für ein Schwachsinn?“ Harry blickte verwirrt zu Herrn von Wolff. Dieser zuckte nur gelassen die Schultern. „Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Sowohl für Sie als auch für die Probandin.“ Er machte eine kurze Pause. „Möchten Sie sie sehen?“

„Natürlich.“

„Dann folgen Sie mir bitte.“

Sie befand sich hinter einer dicken Glasscheibe. In einem schneeweißen, gepolsterten Raum saß sie auf einem ebenso weißen Bett. Sie trug einen weißen Patientenkittel. Dadurch hoben sich ihre Haut und ihr dunkelblondes Haar umso stärker ab. Sie hatte stechend blaue Augen, die starr geradeaus blickten. Das Mädchen, das sich dort hinter der Scheibe befand, war keine zehn Jahre alt.

Mit einem verstörten Blick drehte sich Harry langsam zu Dr. Peters und Herrn von Wolff um. Diese standen direkt hinter ihm. Ihre Mienen waren ausdruckslos.

„Was treiben Sie hier für ein Spiel?“

„Spiel?“ Herr von Wolff blickte Harry mit einem amüsierten Blick an. „Sie scheinen hier etwas vollkommen falsch zu verstehen, Dr. Braun. Wir machen hier in keiner Weise etwas Illegales. Das Mädchen, das Sie hier sehen, hat sich freiwillig dazu bereit erklärt.“

„Wozu bereit erklärt?“

„Das muss Sie nicht interessieren. Nennen wir es einfach eine ‚Modifikation‘ ihres Körpers.“

„Und ihre Eltern sind mit einer solchen ‚Modifikation‘ einverstanden? Wirklich? Ich könnte Sie jetzt und hier anzeigen!“, sagte Harry aufgebracht.

„Ruhig Blut, mein Junge.“ Herr von Wolff legte seine Hand auf Harrys Schulter. „Es würde niemandem hier gut tun, wenn Sie so etwas täten, zumal unser Auftraggeber für dieses Experiment der Staat selber ist.“

„Der Staat?“, fragte Harry ungläubig.

Als Antwort schnalzte der Direktor mit der Zunge.

„Ich muss gestehen, ich bin überrascht, wieviel Mitgefühl Sie diesem Mädchen entgegenbringen. Sie kennen es doch noch nicht einmal. Oder kann es sein, dass es Sie an jemanden erinnert?“

Harry blickte Herrn von Wolff starr an.

„Wie bitte?“

„Vor zwei Jahren war es, oder? Sie wollten beide heiraten, und Ihre Verlobte war schwanger. Ein Mädchen, wenn ich mich nicht irre, oder?“

Harry wurde kreideweiß.

Aber der Direktor fuhr unbeeindruckt fort.

„Doch dann gab es bei der Geburt leider Komplikationen. Schon traurig, das Ganze… Dass ein Mensch dabei stirbt, ob Mutter oder Kind, das ist schon schlimm genug. Aber gleich beide…“

Seine Stimme war affektiert berührt, doch Herr von Wolffs Blick zeigte nicht den Hauch von Mitgefühl.

„Das muss sicher eine sehr schwere Zeit für Sie gewesen sein.“

Harry wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

Wie konnte dieser Mann so viel über Harry wissen? Katharina und er waren zu diesem Zeitpunkt nur verlobt gewesen. Sie hatten also keinen gemeinsamen Nachnamen. Es stand in keiner Akte von ihm. Zumindest nahm er das an.

„Woher wissen Sie das?“, fragte er schließlich und versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen.

„Von den selben Leuten, die dafür verantwortlich sind, dass die Nordsee-Rebellion momentan so gut in Schach gehalten wird, Doktor. Von den selben Leuten, die dieses Projekt hier unten auch in Auftrag gegeben haben.“

Der Direktor lächelte dünn.

„Ich hoffe, dass ich so Ihre Fragen beantworten konnte. Außerdem muss ich sicher nicht erwähnen, dass Sie sich also nur selbst schaden, wenn Sie sich als unkooperativ erweisen.“

Der Griff an Harrys Schulter wurde fester. „Kann ich also auf Ihre Solidarität zählen?“

„Und was spiele ich für eine Rolle bei dieser ganzen Sache?“ Harry versuchte, weiterhin nicht eingeschüchtert zu wirken. Das war nach alldem gar nicht so leicht.

„Aber das habe ich Ihnen doch schon gesagt, Dr. Braun.“ Der Direktor lächelte. „Sie haben die Aufgabe, sich um dieses Mädchen zu kümmern. Ihr Seelenklempner zu sein, wie man so schön sagt. Sie sollen sich lediglich um ihre Gesundheit kümmern mit Fokus auf ihre Psyche.“

Harry schüttelte die Hand von Herrn von Wolff ab. „Und wie soll ich ihr Vertrauen gewinnen, wenn ich nicht einmal ihren Namen kenne?“

„Sie können sie jederzeit nach ihrem Namen fragen.“, sagte Dr. Peters kühl. „Sie spricht allerdings nicht.“

„Sie spricht nicht?“

„Kein Wort. Das geht schon seit einer Woche so.“

Harry wechselte schockiert den Blick zwischen Dr. Peters und Herrn von Wolff.

„Was haben Sie diesem Kind angetan?“

„Nichts, wozu sie sich nicht auch bereit erklärt hätte.“, erwiderte der Direktor. „Ich wiederhole mich nur ungern, Dr. Braun. Kann ich auf Ihre Solidarität zählen?“

Harry blickte für einen kurzen Moment das Mädchen an. Vielleicht hatte der Direktor recht. Vielleicht, nein, wahrscheinlich erinnerte ihn dieses Mädchen hinter der Scheibe wirklich an seine verstorbene Tochter. Und selbst wenn es nicht so wäre, er musste ihr irgendwie helfen. Und der beste Weg dazu wäre…

„Ja. Sie können auf mich zählen.“, sagte Harry fest. „Ich kann Ihnen garantieren, dass ich sie gut überprüfen werde. Und wenn mir irgendetwas Verdächtiges auffällt, dann…“

Harry blickte dem Direktor tief in die Augen. „Denken Sie ja nicht, Sie könnten mich nur benutzen. Da irren Sie sich gewaltig.“

„Natürlich nicht, Dr. Braun.“ Herr von Wolff erwiderte Harrys Blick amüsiert.

„Rika zeigt Ihnen Ihr Arbeitszimmer. Ihre Schicht beginnt morgen um sechs Uhr. Bitte seien Sie dieses Mal pünktlich.“

KAPITEL 2

ANKUNFT

„Nächster Halt: Sehnde. Ausstieg in Fahrtrichtung links.“

Bäume… noch mehr Bäume zogen mit hoher Geschwindigkeit an Lukas vorbei, deren Lücken zwischendurch den Blick auf große weite Felder freigaben.

Die gleißende Sonne schien schon seit Wochen unerbittlich auf das Land herab. Ihr von den Bäumen gefiltertes Licht reichte immer noch, um ihn zu blenden.

„ ‚Die Galileo Elite Oberschule ist die erste Schule europaweit, die die sogenannte ‚erweiterte Hochschulreife‘ anbietet - eine Aufnahmegarantie für die besten Universitäten weltweit, da unsere Schule international anerkannt ist.‘ “

Lukas wandte seinen Blick von der Fensterscheibe ab und blickte das Mädchen an, das ihm gegenüber saß und gerade aus einer Broschüre vorlas.

„ ‚… dazu gibt es einige Regeln, die ihr auf unserer Schule beachten solltet.‘ “

Lisa senkte ihr Tablet und blickte Lukas genervt an.

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Der Zug wurde merklich langsamer.

„Äh… Ja, tue ich.“

„Was habe ich gesagt?“

„Unsere Schule bietet die erweiterte Hochschulreife an, das den Zugang zu den besten internationalen Universitäten garantiert.“

Lisas Augen verengten sich.

„Na gut… Irgendwann kriege ich dich noch.“

Sie blickte an sich herunter.

„Nur warum muss ich diese blöde Uniform für die Schule anziehen? Wenn die schon Pflicht ist, dann kann man sie doch wenigstens etwas liebevoller gestalten.“

Lukas musterte seine Schwester.

„So schlimm sieht sie jetzt auch nicht aus.“, log er. „Außerdem fällst du unter den anderen ja kaum auf.“

Mit einem sanften Ruck kam der Zug zum Stehen.

„European Magnet Express 9, nach GEO.“

Wieder stiegen einige Schüler in grauen Uniformen zu. Das obere Abteil war allerdings nicht allzu voll.

Lukas fiel auf, dass die Krawatten der Schüler unterschiedliche Farben hatten. Er und Lisa trugen weinrote. Doch andere Schüler hatten grüne, blaue und sogar schwarze Krawatten.

Was hatte das zu bedeuten?

„Zurückbleiben, bitte.“

Mit einem eindringlichen Piepen schlossen die Türen, und der Zug nahm geräuschlos an Geschwindigkeit auf.

Mit einem nervösen Blick schaute Lisa auf ihre SmartWatch.

„Wir haben jetzt schon eine Verspätung von zehn Minuten. Ich hoffe, wir schaffen unsere Anmeldung noch rechtzeitig.“

„Entspann dich. Wir sind heute so ziemlich die einzigen, die sich anmelden müssen.“

Lisa atmete tief aus.

„Ich hoffe, du hast recht.“

Lukas nahm seine Brille ab, um sie kurz an seinem Hemd aufzupolieren, während Lisa ihm argwöhnisch dabei zuschaute.

„Denkst du, dass das da funktioniert?“, fragte sie schließlich.

„Ich denke schon.“

Lukas setzte seine Brille wieder auf.

„Yep, sie erkennt dich.“

„Du siehst komisch damit aus. Irgendwie nerdig.“

„Solange es seinen Zweck erfüllt… trotzdem verletzend.“

„So mein’ ich das nicht.“ Lisa überlegte. „Die Brille macht dich nerdig, aber irgendwie… gut nerdig. Weißt du?“

„Nein.“

„Es sollte ein Kompliment sein!“

Lukas lachte.

„Also, so ganz rüber kommt’s nicht.“

„Arsch.“

„Selber.“

Wieder wurde der Zug langsamer, und eine weitere Durchsage kündigte an: „Nächster Halt: GEO Gelände. Ausstieg rechts. Dieser Zug endet hier. Alle Fahrgäste bitte aussteigen.“

Lukas stand auf.

„Alles klar. Bist du bereit?“

Lisa nahm ihre Tasche und erhob sich.

„Bereit wie nie.“

Als die beiden mit dem Strom von Schülern den Zug verließen, wurden sie von unerbittlicher, flimmernder Hitze und dem eindringlichen Zirpen von Zikaden und Grillen empfangen.

Der Zug war wenigstens klimatisiert gewesen. Aber in der brütenden Morgenhitze des September schützte nicht einmal das Dach des Bahnsteigs vor unvermeidlichem Schwitzen.

Während die meisten Schüler in Scharen die Treppen nach unten liefen, mussten Lukas und Lisa den Bahnsteig entlanglaufen, bis sie auf eine Abzweigung für Besucher trafen, die sie zum Hauptgebäude führte.

„Wenn man sich schon digital registrieren kann, warum muss man für die Anmeldung immer noch persönlich diesen Aufwand betreiben? Das kostet so viel Zeit!“, beschwerte sich Lisa. Sie fächelte sich mit ihren Händen Luft zu.

„Ich nehme mal an, dass sie einfach nur auf Nummer sicher gehen wollen.“

„Aber das ist der Grund, warum wir noch zu spät zum Unterricht kommen werden! Deswegen beeil dich mal ein bisschen und lauf nicht so langsam!“

„Es ist erst viertel nach acht. Und ich will nicht gleich nass geschwitzt vor die Klasse treten.“

Sowas ruiniert den ersten Eindruck.

„Erst? Erst viertel nach acht?“ Lisa schüttelte den Kopf. „So eine Anmeldung kann auch länger dauern.“

„Selbst wenn…“, murmelte Lukas mit einem Blick auf seine Brille. „In fünfzehn Minuten schaffen wird das schon.“

„Deinen Optimismus hätte ich manchmal zu gern. Außerdem sind es jetzt nur noch vierzehn.“

Lisa klappte ihr Smartphone zu. „Vierzehn Minuten, Lukas!“

„Ja, und gleich sind es dreizehn, wenn ich mich nicht irre...“

„Du willst einfach zu spät kommen, kann das sein?“

„Hör auf, du!“ Lukas zwickte ihr in den Arm. „Ich kann schließlich nichts dafür, dass der Zug Verspätung hatte.“

„Darum sollten wir uns umso mehr beeilen!“

Jetzt lief Lisa vor, ohne auf ihn zu warten. Lukas blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterher zu rennen. Zu spät kommen am ersten Schultag würde auch keinen besseren ersten Eindruck hinterlassen.

Die beiden gingen durch das große eiserne Gittertor, quetschten sich durch die Massen an Schülern, die sich noch auf dem Vorhof aufhielten, und überquerten den sonnendurchfluteten Hof in Richtung Hauptgebäude. Dieses war etwa dreißig Meter hoch und hatte zwischen weißen Säulen große Fensterfronten. Die Wände waren aus sandfarbenem Stein. Für eine Schule, die erst vor knapp zehn Jahren gebaut und eröffnet worden war, wirkte sie recht alt.

Fast wie eine Art Kaserne oder eher wie ein Schloss?

Als Lukas und Lisa die Eingangstür erreichten, glitten die Türflügel automatisch zur Seite und gaben den Blick frei auf ein gewaltiges, von Schülern überfülltes Atrium. Eine riesige Säule befand sich in der Mitte und stützte das große Konstrukt bis nach oben in seine vierte Etage. Allgemein wirkte das Atrium wirklich wie eine Kombination aus Palast und moderner Technik.

Lukas stieß ein gehauchtes „Wow“ hervor, bevor er sich wieder zusammenriss und weiterlief. Am Fuß der großen Säule war ein großer Tresen mit der Aufschrift „Information“. Dort standen zwei Bedienstete, die gestresst wirkten, da etwa ein Dutzend Schüler sich um sie drängten.

Bei diesem Anblick fragte sich Lukas, was ihn und Lisa wohl erwartet hätte, wenn sie direkt am ersten Schultag gekommen wären.

Er stellte sich mit Lisa ans Ende der langen Schlange. Je länger sie warteten, desto nervöser wurde Lisa. Sie wechselte immer schneller den Blick zwischen ihrer SmartWatch und der Schlange, die nur langsam kürzer wurde. Lukas blickte sich um, und wieder fielen ihm die verschiedenen Farben der Krawatten auf, die die Schüler trugen.

Kurz bevor sie an der Reihe waren, diskutierte gerade eine Angestellte mit einem Schüler mit grüner Krawatte. Es ging um irgendeine Genehmigung, die der Schüler forderte.

„Abgelehnt.“, sagte die Angestellte müde und genervt zugleich. „So, wie die letzten zwei Male auch.“

„Warum denn, verdammt nochmal?“, fragte der Junge empört. “Mit welcher Begründung?“

„Kondition fünf… wie immer.“

„Ich scheiß’ auf diese Konditionen. Haben Sie gehört?!“

„Dann hättest du vielleicht nicht für den Posten kandidieren sollen.“, erwiderte die Frau gereizt.

„Außerdem ist es ja nur noch einen Monat hin bis zu den Wahlen. Die Zeit wirst du ja wohl noch überleben, oder?“

Darauf schwieg der Schüler. Dann sagte er tonlos:

„Sie machen da einen großen Fehler. Ich würde zu gerne jemanden sehen, der das ein Jahr lang durchhält.“

„Da sind wir schon zu zweit.“

Die Frau blickte zum ersten Mal von ihrem Monitor auf.

„Kann ich dir sonst noch irgendwie behilflich sein?“

Der Schüler stand einen Moment lang einfach nur da. Dann drehte er sich um und verließ den Tresen ohne ein weiteres Wort.

Lukas fiel auf, dass der Schüler im Gegensatz zu allen anderen Schülern ein kleines blaues Abzeichen an seiner Brust getragen hatte.

Lukas hatte zu weit weg gestanden, um den Anstecker genauer betrachten zu können.

„Dir auch noch einen schönen Tag.“, murmelte die junge Frau mehr zu sich selbst und schob sich mit einem tiefen Seufzer eine Haarsträhne zur Seite. Lukas und Lisa traten vor. Doch sie bemerkte die beiden erst, als Lisa sich mit einem leisen „Entschuldigen Sie?“ bemerkbar machte.

Lukas verwunderte es, dass die Sekretärin Laurence Mallory, wie er auf dem Namensschild auf ihrer roten Uniform lesen konnte, anscheinend nur an Schüler gewöhnt war, die sie laut forderten und bedrängten.

Erster Name: Laurence Mallory. Position: Angestellte.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Laurence irritiert ihre Stimme hob: „Oh, tut mir leid, was kann ich denn für euch tun?“

„Wir würden uns gerne anmelden.“, sagte Lisa mit ihrer für sie üblichen, leicht höflich affektierten Stimme. „Unsere Namen sind Lisa Abany und Lukas Havel.“

„Einen Moment…“ Laurence tippte etwas auf ihrem Computer ein und blickte angestrengt auf den Monitor. „Wie ich sehe, seid ihr schon registriert. Eure Uniformen habt ihr auch schon an?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, linste sie über den Monitor und musterte die beiden.

„Yep, habt ihr.“

„Sie wurden uns zugeschickt.“, erklärte Lisa. „Ähm, dürfte ich fragen, ob unser Gepäck schon da ist.“

„Ist es.“, sagte Laurence knapp.

„Es wurde in eure Zimmer gebracht. Die Schlüssel erhaltet ihr nach dem Unterricht. Vorher müsst ihr aber noch etwas unterschreiben.“

Laurence reichte ein Tablet über den Tresen, das Lisa entgegennahm.

„Wir haben doch online schon alles abgeklärt…“, murmelte sie.

„Doppelt hält besser. Ist eigentlich der gleiche Krimskrams. Auf der Galileo Elite Oberschule haltet ihr euch an die folgenden Schulregeln. Ansonsten Suspendierung und so weiter…“

Laurence strich sich wieder eine Strähne aus dem Gesicht, während Lisa und Lukas kurzerhand auf dem Tablet unterschrieben und es ihr zurückgaben.

„Gut, danke. Ihr bekommt jetzt noch GEO-Phones, mit denen ihr Zugang zu den anderen Gebäuden, der Cafeteria und anderen Bereichen der Schule erhaltet. Außerdem laufen alle Zahlungsvorgänge auf dem Gelände über diese Handys ab. Ihr habt ein Startkapital von zweihundertfünfzig Euro. Das könnt ihr an Schulautomaten auf dem gesamten Schulgelände aufladen oder direkt von eurem Konto.“

„Alles klar.“, sagte Lukas zögerlich.

Laurence lächelte.

„Das ist sicher ein bisschen viel auf einmal. Aber wenn ihr dazu Fragen habt, wendet euch gerne an eure Mitschüler. Die helfen euch sicher. Als Gemeinschaft.“

Irgendwie schien bei diesem Wort Sarkasmus in ihrer Stimme mitzuschwingen.

Nachdem die Handys eingerichtet waren, fragte Lisa mit einem weiteren Blick auf die Uhr, welcher Klasse sie eigentlich zugeteilt seien.

Als Antwort betätigte Laurence einen Schalter am Monitor, worauf dieser nun ein Bild auf das matte Glas projizierte, das eine Karte des großen Schulgeländes zeigte. Eines der vielen Gebäude leuchtete Grün auf.

„Ihr seid der Klasse 1-1 zugeteilt. Trakt T, Stockwerk zwei, Raum T 212. Vorher geht ihr aber bitte noch zur Krankenstation für ein paar kleine Gesundheitstests.“

Laurence deutete auf einen Eingang am rechten Flügel des Hauptgebäudes.

„Hier entlang, wenn ich bitten darf.“

„Das wird jetzt kurz wehtun.“

Lukas verspürte einen stechenden Schmerz an seiner rechten Schläfe.

Eine Spritzengerät, befüllt mit einer geleeartigen weißen Flüssigkeit, hatte tackernd einen Chip unter Lukas’ Kopfhaut gestanzt.

„So, das war’s schon!“, sagte die Frau im weißen Kittel.

Kurz bevor Lukas in einem Operationssessel Platz genommen hatte, hatte sie sich als Dr. Mara Balewa vorgestellt und ihm mitgeteilt, dass zu den Gesundheitschecks auch das Implantieren eines besonderen Chips gehöre. Dieser zeichne die Vitalzeichen sowie die Hirnwellen auf, um den Lernprozess zu beobachten.

Jetzt strich Dr. Balewa etwas Salbe auf die Punktionsstelle. „So wird die Wunde bis morgen verheilt sein!“

Lukas setzte sich auf.

„Meines Wissens stand weder im Anmeldungsschreiben noch in irgendeiner Broschüre der Schule etwas über einen Chip, den alle Schüler tragen müssen.“

Dr. Balewa hatte ihm den Rücken zugewandt und räumte gerade ein paar Instrumente in den Schrank.

„Als ich hier anfing, habe ich davon auch nichts gewusst, bis ich in dem selben Sessel saß wie du jetzt.“

„Was meinen Sie?“, fragte Lukas verwirrt. „Sie tragen auch einen Chip?“

Sie drehte sich zu ihm um.

„Jeder Schüler, jeder Lehrer und jeder Mitarbeiter, der auf dem Gelände der GEO arbeitet, hat so einen Chip in der Schläfe. Und wenn man hier graduiert oder aufhört zu arbeiten, wird der Chip wieder entfernt.“

„Aber wozu? Sie sind keine Schülerin? Was bringt Ihnen der Chip dann?“

Dr. Balewa wandte sich ab, hielt kurz inne und schloss dann die Schranktür.

„Tut mir leid, das weiß ich leider nicht. Solange bin ich auch noch nicht hier, weißt du?“ Sie lächelte ihn warm an. Lukas war inzwischen aufgestanden.

„Ein kleiner Rat von mir. Du wirst am besten hier durchkommen, wenn du so wenig wie möglich hinterfragst und dich aus Dingen heraus hältst, die du nicht verstehst, okay?“

„Ach so. Ok. Dann vielen Dank.“

Zweiter Name: Dr. Mara Balewa. Funktion: ärztliche Fachkraft.

Als Lukas aus dem Behandlungsraum trat, stand Lisa bereits vor ihm mit verschränkten Armen und einem ungeduldig tappenden Fuß.

„Wie wäre es, wenn du zwischendurch auch mal auf die Uhr guckst?! Wir haben noch fünf Minuten!“

„Oh, Scheisse!“, rutschte es Lukas heraus. Zum ersten Mal rannten sie.

Das Schulgelände der GEO war riesig.

Mit dem Transmagnet-Train brauchte man nur eine Viertelstunde von der nahen Großstadt Hannover bis hierher. Und doch lag das Schulgelände überraschend abgelegen in einer ländlichen Gegend.

Das einzig Sichtbare an Zivilisation war, abgesehen von den vielen Gebäuden der Schule, nur ein Kraftwerk, das einige Kilometer von der Schule entfernt stand.

Um von dem Hauptgebäude zu dem Gebäude zu gelangen, in dem Lukas und Lisa Unterricht hatten, mussten sie einen kleinen Park durchqueren.

Während sie im Schatten der Bäume durch den Park hetzten, ertönte ein Gong von den Lautsprechern über den Hof.

„Noch drei Minuten bis zum Unterricht. Alle Schüler bitte in die Klassen.“

„Das… könnte ziemlich… knapp werden.“, stieß Lukas atemlos hervor, als sie endlich den Gebäudekomplex erreichten.

„Was habe ich dir gesagt?“, erwiderte Lisa nicht weniger atemlos. Sie erreichten die Eingangstür und hasteten in das Treppenhaus.

Die letzten Stufen der Treppe zum zweiten Stock übersprangen sie in der Eile und standen nun vor der geschlossenen Tür des Raumes T 212.

Sie holten tief Luft, bevor Lisa die Tür öffnete mit einer bereitgestellten Ausrede für die Verspätung von eineinhalb Minuten.

Zu ihrer und Lukas’ Überraschung waren die Schüler in dem Raum, der an eine kleine Version eines Lesesaals einer Uni erinnerte, noch gar nicht alle auf ihren Plätzen. Der Lehrer schien auch noch nicht da zu sein. Es herrschte ein angenehmes Geplapper im Raum.

Das verstummte, als Lukas und Lisa den Raum betraten. Alle Schüler trugen wie sie rote Krawatten. Viele schauten auf und beäugten die Neuankömmlinge neugierig. Ein Junge mit dunklen, lockigen und zurückgegelten Haaren, der sich gerade noch mit einem anderen Schüler vor dem Lehrerpult unterhalten hatte, kam jetzt auf die beiden zu. Er trug außerdem noch ein quadratisches, blaues Abzeichen auf seiner Jacke.

So ein ähnliches, wie Lukas es an dem Jungen im Atrium gesehen hatte.

„Keine Sorge, die Lehrer kommen hier gelegentlich etwas später.“, war seine grinsende Antwort auf ihren verwirrten und fragenden Blick.

„Ihr habt Glück, dass wir jetzt Herrn Lissof haben. Der ist immer zu spät.“

„Ah, ach so! Danke für die Info!“ Lisa atmete erleichtert aus und schob sich ihr langes Haar hinter’s Ohr. Das machte sie immer, wenn sie nervös war.

Lisa musterte den Jungen mit einem Blick, der Lukas gar nicht gefiel.

„Und ihr?“

Lukas blickte auf.

„Was?“

Der Typ mit der Gelfrisur wirkte verunsichert.

„Ähm, Ich bin Felix, und wie heißt ihr beiden denn?“

„Oh! Sorry, ich war gerade kurz abgelenkt! Haha… Ich bin Lukas, und das ist meine Schwester Lisa. Freut mich!“, sagte Lukas jetzt mit freundlichem Tonfall.