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Nach seinem plötzlichen Tod findet sich Shen Yuan in dem Haremsroman wieder, den er gerade noch mit seinem letzten Atemzug verflucht hat. Doch damit nicht genug – er ist auch noch der große Schurke der Geschichte, der auf brutale Weise vom Protagonisten getötet wird! Mit seinem Wissen setzt er alles daran, sein grausiges Schicksal abzuwenden. Doch irgendwie beginnt der Protagonist, sich seinem doch eigentlich so verhassten Meister gegenüber so ganz anders zu verhalten als erwartet … Nach der Hitserie The Grandmaster of Demonic Cultivation die neue Light-Novel-Reihe von Mo Xiang Tong Xiu! Mit Farbseiten!
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Seitenzahl: 538
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhalt
Kapitel 1: Abschaum
Kapitel 2: Der Auftrag
Kapitel 3: Gefälligkeitspunkte
Kapitel 4: Die Konferenz
Kapitel 5: Bailu
Kapitel 6: Jinlan
Kapitel 7: Das Wassergefängnis
Kapitel 1: Abschaum
Der dämonische Weg des stolzen Unsterblichen war einer jener Haremsromane ohne wirkliche Handlung. Genauer gesagt war es ein unglaublich langer Roman, dessen Protagonist, ein Dämonen bekämpfender, selbsternannter Kultivierer, die natürliche Ordnung aushebelte. Die Anzahl der Frauen in seinem Harem war dreistellig, denn jede Figur weiblichen Geschlechts war ihm rettungslos verfallen. In diesem Jahr war es der beliebteste Roman dieser Art, kein anderer reichte an seine Popularität heran.
Der Protagonist, Luo Binghe, trat nicht bereits zu Beginn heroisch und unbesiegbar wie ein stolzer Drache auf, aber er war auch kein talentloser Niemand ohne Verdienste. Und er erreichte Zehntausende Leser und inspirierte zahllose weitere Haremsromane.
Er war eine jener Hauptfiguren, die auf einem dunklen Pfad wandelten. Doch zuvor hatte er den Weg des Elends beschritten.
Aber lassen wir den treuen Leser des Romans, Shen Yuan, zu Wort kommen. Unter Auslassung unzähliger nebensächlicher Details wird er das Hunderttausende Schriftzeichen lange Mammutwerk für uns zusammenfassen.
Unmittelbar nach seiner Geburt wurde Luo Binghe von seinen Eltern verlassen. Sie wickelten ihn in weiße Tücher und legten ihn in eine hölzerne Wanne, die sie den Wellen des Luo-Flusses übergaben. Es war einer der kältesten Tage des Jahres, und hätten nicht Fischer ihn aus dem Wasser gezogen, wäre er an jenem Tag erfroren. Und eben weil er in dieser kalten Jahreszeit, in der eine dünne Eisschicht den Fluss bedeckte, gefunden wurde, erhielt er seinen Namen Luo Binghe 1.
Seine Kindheit verbrachte er auf der Straße, immer hungrig, immer frierend, es war ein trostloses Leben. Eine Waschfrau, die für eine reiche Familie arbeitete, hatte Mitleid mit ihm und da sie keine eigenen Kinder hatte, nahm sie ihn bei sich auf und zog ihn auf wie ihren eigenen Sohn. Sie waren arm und mussten vom reichen Herrn der Frau alle erdenklichen Erniedrigungen erdulden.
In dieser wenig förderlichen Umgebung aufzuwachsen war bereits der erste Schritt, der Luo Binghes späteren Weg in die Finsternis bereitete. Aus dieser Zeit stammte seine Bereitschaft, um den kleinsten Krümel zu kämpfen, für das kleinste Vergehen Rache zu üben und seine Mordlust hinter einem Lächeln zu verbergen.
Einmal erduldete er die Schläge eines jungen Herrn für eine Schüssel lauwarmen Reisbrei mit Fleisch. Am Ende kam er jedoch zu spät und konnte seiner Ziehmutter nichts mehr davon bringen, bevor sie starb.
Es war reiner Zufall, dass Luo Binghe von einer der vier größten Kultivierungsschulen der Welt, der Cangqiong-Bergsekte, als Schüler auserwählt wurde. Dort lernte er unter dem Meister Shen Qingqiu, auch bekannt als »Xiuya-Schwert«.
Luo Binghe dachte, dass er nun endlich seinen Weg auf dem rechten Pfad beschreiten könne. Er konnte ja nicht ahnen, dass Shen Qingqiu nach außen hin rechtschaffen, innerlich aber verdorben und echter Abschaum war. Shen Qingqiu war neidisch auf das außerordentliche, nie zuvor dagewesene Talent Luo Binghes, und im Geheimen fürchtete er seinen Schüler, der jeden Tag so unfassbare Fortschritte machte. Er erdachte stets neue Wege, Luo Binghe kleinzuhalten und zu erniedrigen. Er scheute nicht einmal davor zurück, seine Mitschüler anzustiften, ihn zu demütigen.
In diesen Jahren der Schülerschaft war Luo Binghe den grausamsten Demütigungen ausgesetzt. Auch diese Phase seines Lebens war schrecklich und erfüllt von Blut und Tränen.
Unter großen Schwierigkeiten hielt Luo Binghe bis zu seinem siebzehnten Geburtstag durch. Zu dieser Zeit nahm er endlich an einer Zusammenkunft teil, die nur alle vier Jahre abgehalten wurde: die Konferenz der Allianz der Unsterblichen. Doch im Rahmen dieser Konferenz fiel er einem bösen Plan Shen Qingqius zum Opfer und stürzte in eine Kluft an der Grenze zwischen dem Reich der Menschen und dem der Dämonen – den Endlosen Abgrund.
Ganz recht, und da erst begann seine eigentliche Geschichte.
Luo Binghe überlebte nicht nur den Sturz in den Endlosen Abgrund, er fand dort auch sein persönliches Schwert – eine unvergleichliche und geheimnisvolle Waffe mit dem Namen Xinmo. Zudem erfuhr er die Wahrheit über seine Herkunft.
Luo Binghe war der Verbindung des Heiligen Herrschers der Dämonen und einer Frau aus der Welt der Menschen entsprungen. In seinen Adern floss das Blut der Dämonen, die vor Urzeiten aus dem Himmel vertrieben worden waren, sowie das des Menschengeschlechts. Sein leiblicher Vater, Tianlang-jun 2, lag auf alle Ewigkeit versiegelt unter einem riesigen Berg. Seine Mutter war Schülerin einer rechtschaffenen Kultivierungsschule gewesen, aber nach der Versiegelung Tianlang-juns war sie aufgrund des Verdachts, dass sie eine enge Bindung zu Dämonen pflegte, verstoßen worden. Nachdem sie Luo Binghe zur Welt gebracht hatte, war sie an den Folgen der Geburt gestorben, doch zuvor war es ihr noch gelungen, ihn von dem kleinen Boot, auf dem sie ihn geboren hatte, auf die Reise zu schicken. Es war die einzige Möglichkeit, das Überleben ihres Sohnes zu sichern.
Mit dem Schwert Xinmo löste Luo Binghe die Siegel, die den dämonischen Anteil seines Blutes unter Verschluss gehalten hatten, und in der einsamen Finsternis des Abgrunds konzentrierte er sich voll und ganz auf seine Kultivierung, bis er übermenschliche Fähigkeiten erlangt hatte. Dann kehrte er zur Cangqiong-Bergsekte zurück. Von dort ausgehend schritt er immer weiter voran auf seinem düsteren Pfad, ohne jemals zurückzublicken.
Jeder seiner alten Feinde erlitt durch seine Hand große Qualen und einen schrecklichen Tod. Er perfektionierte über die Zeit seine Fertigkeiten und wurde ein Meister der Lügen, der finsteren Pläne und des Betrugs. So gelang es ihm, das Vertrauen vieler Menschen zu gewinnen, denen er seine Freundschaft vortäuschte, während er in Wirklichkeit gegen sie intrigierte. Er wurde immer mächtiger und begann eine Herrschaft des Terrors.
Je mehr Zeit verstrich, desto böser und schwärzer wurde sein Herz. Er kehrte ins Reich der Dämonen zurück und erbte den Titel des Heiligen Herrschers. Doch damit gab er sich nicht zufrieden und begann, alle rechtschaffenen Kultivierungsschulen der Menschenwelt zu vernichten, über jede brachte er ein Blutbad und löschte alle aus, die sich ihm entgegenstellten.
Schließlich wurde Luo Binghe zu einer legendären Gestalt, von der noch viele Generationen von Unsterblichen und Dämonen erzählten. Für die Einigung der drei Sphären verehrten sie ihn, für die Größe seines Harems bewunderten sie ihn und um die unglaubliche Anzahl an Nachfahren beneideten sie ihn.
»Scheiß Autor, scheiß Roman!«
Das war der Fluch, den Shen Yuan auf dem Sterbebett mit seinem letzten Atemzug aussprach.
Wer hätte sich vorstellen können, dass ein herausragender junger Mann wie er – der ganz regulär die VIP-Währung der Webseite gekauft und die offizielle Version des Romans gelesen hatte – vor seinem frühzeitigen Tod seine Kraft damit vergeuden würde, einen Roman fertigzulesen, der so unfassbar oberflächlich, überteuert und stumpfsinnig war, dass es ihm schier die Sprache verschlug vor Zorn. Wenn das kein Grund zum Schimpfen war!
Der dämonische Weg des stolzen Unsterblichen vom Autor DieSchlangeWürgen. Allein den Namen des Titels und des Autors zu lesen war schon wie ein Schlag ins Gesicht und hinterließ einen widerlichen Beigeschmack. Der Schreibstil entsprach dem eines Grundschülers. Der Text wimmelte von Unstimmigkeiten. Shen Yuan würde dieses Durcheinander, das der Autor da kreiert hatte, wohl kaum eine Welt der Kultivierer nennen.
In welchem Kultivierungssetting benutzten die Menschen den ganzen Tag Pferde und Kutschen? Wo gab es Kultivierer, die trotz daoistischen Fastens noch essen und schlafen mussten? Was war das für ein Autor, der sogar die Stadien der »grundlegenden Methoden« mit dem Stadium des »kosmischen Embryo« 3 verwechselte?
Jede einzelne Figur des Romans wirkte in der Interaktion mit dem Protagonisten, als würde dessen Zuhälterausstrahlung dazu führen, dass sie ihre gesamte Intelligenz verlor – allen voran Luo Binghes Meister Shen Qingqiu, dieser größte aller Idioten und mieseste Abschaum überhaupt. Sein einziger Lebenszweck war, sich sein eigenes Grab zu schaufeln, und nicht einmal das brachte er fertig, bevor er vom Protagonisten ermordet wurde.
Warum hatte Shen Yuan dann überhaupt angefangen, diese Geschichte zu lesen, und warum hatte er sie sogar zu Ende gelesen? Versteht das nicht falsch, Shen Yuan hatte keine masochistischen Neigungen. Der Grund für seine Beharrlichkeit war gleichzeitig die größte Ursache seines Frusts.
In diesem Roman wimmelte es von Andeutungen, ungelüfteten Geheimnissen und massenweise irreführenden Handlungssträngen. Und am Ende wurde nichts davon zusammengeführt, nichts aufgelöst! Es war so grausig, dass er am liebsten im Strahl gekotzt hätte.
Warum kamen in der Erzählung unbezahlbare Kräuter, Geistelixiere und unbeschreibliche Schönheiten vor, als gäbe es sie im Dutzend billiger? Warum waren die Worte und Taten der Verbrecher, während sie sich ihr eigenes Grab schaufelten, stets dieselben? Was geschah mit den Dutzenden Jungfrauen, die nach nur einem kurzen Blick bereit waren, sich dem Harem anzuschließen?
Selbst wenn wir den letzten Punkt einmal außen vor lassen – wer waren eigentlich all die Bösewichte hinter diesen Gräueltaten? Warum war die Liste der Figuren so lang und warum tauchten viele von ihnen bis zum Ende nicht in der Erzählung auf?
He, du, Schlangenwürger, »großer Meister«, können wir mal darüber sprechen? Füll! Die! Lücken! In! Der! Handlung! Aus! Okay?!
Shen Yuan fühlte sich, als würde allein die Energie seiner Wut ausreichen, ihn ins Leben zurückzuholen.
In der endlosen Dunkelheit hörte er, wie eine mechanische Stimme sprach: [Aktivierungscode: ›Scheiß Autor, scheiß Roman.‹ System erfolgreich aktiviert.]
»Wer ist da?« Der Tonfall erinnerte ihn an Google Translate. Shen Yuan sah sich um. Er schien in einem virtuellen Raum zu schweben, und es war so stockdunkel, dass er die Hand vor Augen nicht sehen konnte.
Die Stimme drang aus allen Richtungen zugleich zu ihm. [Willkommen im System. Es arbeitet nach dem Designkonzept ›Du glaubst also, du kannst’s besser? Beweis es‹. Wir hoffen, dir die bestmögliche Erfahrung zu bieten. Es ist unser Ziel, dir innerhalb deiner Zeit die Erfüllung deiner Wünsche zu ermöglichen und deinem Verlangen entsprechend ein dummes Werk in ein großartiges, hochwertiges und anspruchsvolles Meisterwerk zu verwandeln. Wir wünschen viel Vergnügen.]
In der darauffolgenden Benommenheit hörte er, wie jemand dicht neben ihm mit leiser Stimme fragte: »… Shidi 4? Shidi, kannst du mich hören?«
Shen Yuan erschauderte und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Zunächst sah er nur einen weißen Nebel vor sich. Es dauerte eine Zeit lang, bis sich seine Sicht klärte und er Konturen ausmachen konnte.
Er lag auf einem Bett und sah sich nach allen Richtungen um. Über sich erblickte er einen weißen Baldachin aus dünnem Stoff, an dessen vier Ecken jeweils ein sorgfältig gearbeitetes Duftsäckchen hing.
Als er an sich herabblickte, stellte er fest, dass er ein traditionelles weißes Gewand trug. Neben seinem Kissen lag ein Fächer aus Papier. Zu seiner Linken saß ein hübscher junger Mann in eleganten Gewändern, der ihn voller Sorge ansah.
Shen Yuan schloss die Augen, dann griff er nach dem Fächer und öffnete ihn mit einem schnappenden Geräusch. Er fächelte sich Luft zu, um den kalten Schweiß zu vertreiben.
Die Augen des Jugendlichen leuchteten erfreut auf. »Shidi, du bist endlich aufgewacht. Hast du Schmerzen?«
»Nicht wirklich«, sagte Shen Yuan zurückhaltend.
Die Situation überforderte ihn. Benommen versuchte er, sich aufzusetzen. Sofort streckte der junge Mann die Hände aus, um ihn zu stützen, und half ihm, sich ans Kopfende des Bettes zu lehnen.
Shen Yuan hatte zahllose Bücher gelesen, in denen Seelenwanderungen vorkamen. Vor langer Zeit schon hatte er einen Beschluss gefasst: Sollte er jemals aufwachen und sich an einem unbekannten Ort wiederfinden, wäre das Erste, was aus seinem Mund kam, bevor er noch verstand, was geschehen war, sicherlich kein dümmliches Kichern und die Worte: »Dreht ihr einen Film? Die Kulissen sehen toll aus – da hat sich das Team aber wirklich ins Zeug gelegt!« oder Ähnliches, das jemand Begriffsstutziges von sich geben würde, der nicht begriff, wo er sich befand.
Stattdessen gab sich Shen Yuan alle Mühe, so zu tun, als sei er gerade aufgewacht. Mit abwesender Miene sah er sich um. »Wo … wo bin ich hier?«
Der Jugendliche sah ihn erstaunt an. »Bist du noch schlaftrunken? Das ist der Qingjing-Gipfel.«
Innerlich erschrak Shen Yuan, er bemühte sich jedoch, verwirrt zu tun. »Warum … warum habe ich so lange geschlafen?«
»Das wollte ich dich auch fragen. Es war doch alles in Ordnung, wie kam es, dass du plötzlich so hohes Fieber hattest? Ich weiß, die Konferenz der Allianz der Unsterblichen steht vor der Tür und du hast deine Schüler hart trainiert und bist nervös. Aber die Cangqiong-Bergsekte ist eine so anerkannte Schule, selbst wenn dieses Mal keiner von uns mitmachen würde, würde niemand es wagen, an uns zu zweifeln. Warum sollten wir uns wegen ungelegter Eier Sorgen machen?«
Je länger Shen Yuan ihm zuhörte, desto seltsamer kam ihm alles vor. Warum hörten sich diese Sätze so bekannt an?
Nein, warum kam ihm dieses ganze Setting so bekannt vor?
Was sein Gegenüber als Nächstes sagte, bestätigte seine Vermutung. »Qingqiu-shidi, hörst du mir überhaupt zu?«
In diesem Moment hörte er ein Ding! und die mechanische, Google-Translate-artige Stimme aus seinem Traumzustand sprach wieder: [Das System wurde erfolgreich aktiviert. Festgelegte Rolle: Luo Binghes Meister, Herr des Qingjing-Gipfels der Cangqiong-Bergsekte, ›Shen Qingqiu‹. Waffe: das Schwert Xiuya. Startguthaben: 100 B-Punkte.]
»Scheiße, scheiße, scheiße, was soll denn dieser Quatsch? Wie kannst du direkt in meinem Kopf sprechen? Weiß DieSchlangeWürgen, dass du Der dämonische Weg des stolzen Unsterblichen kopierst?«
Natürlich sprach er das nicht laut aus, dennoch antwortete ihm die Stimme: [Du hast den Ausführbefehl des Systems ausgelöst und bist nun an das Nutzerkonto ›Shen Qingqiu‹ gebunden. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr Punktearten werden freigeschaltet. Bitte stelle sicher, dass kein Punktestand je unter null fällt, sonst wird das System automatisch Bestrafungen auslösen.]
Halt, stopp! Shen Yuan war sich jetzt ganz sicher. Er hatte den Jackpot geknackt – seine Seele war wiedergeboren worden!
Wiedergeboren in einer Geschichte, die er gerade zu Ende gelesen hatte, selbst wenn es ein düsterer Haremsroman war, den er gehasst hatte, und selbst wenn irgendein dämliches »System« damit verbunden war. Als erfahrener VIP-Leser der Plattform Zhongdian Literature hatte Shen Yuan über die Jahre schon so manche Haremsgeschichten über seelische Wiederkehr und Wiedergeburt gelesen, sodass es ihm eigentlich keine größeren Probleme breiten sollte, die Tatsachen zu akzeptieren und sie sogar freudig anzunehmen. Aber musste ausgerechnet der Körper des verabscheuungswürdigen Meisters der Hauptfigur, Shen Qingqiu, seiner Seele Zuflucht bieten? Das … ähm, machte alles komplizierter.
Der liebenswert dreinblickende, kumpelhafte junge Mann an seiner Seite war das derzeitige Oberhaupt der Cangqiong-Bergsekte und Shen Qingqius Shixiong 5, Yue Qingyuan, auch bekannt als »Xuansu-Schwert«. Scheiße.
Es gab einen ganz bestimmten Grund, warum »Scheiße« der Gedanke war, der Shen Yuan in den Sinn kam, als er Yue Qingyuan sah. Im Originalwerk war dessen guter Shidi Shen Qingqiu schließlich für dessen Tod verantwortlich.
Und was für ein fürchterlicher Tod das war. Zehntausende Pfeile durchbohrten ihn, sodass am Ende nicht einmal seine Knochen übrig blieben!
Und jetzt, in diesem Moment, saß das Opfer an der Seite seines »Mörders« und machte sich Sorgen um dessen Befinden. Das setzte ihn ganz schön unter Druck.
Auf den zweiten Blick war die Geschichte jedoch noch nicht bis zu diesem Punkt fortgeschritten. Yue Qingxuan war bei bester Gesundheit, was bedeutete, dass Shen Qingqiu sich noch nicht als Heuchler entpuppt hatte und sein Ruf noch makellos war. Yue Qingyuan war ein Mensch, der niemandem etwas Böses wollte, von ihm war nichts zu befürchten. Ja, er hatte ein hartes Los, aber Shen Yuan hatte ihn beim Lesen lieb gewonnen. Gerade entspannte er wieder etwas, da stiegen auf unheimliche Weise Worte in seinem Bewusstsein auf:
In dem düsteren Raum hing eine metallene Kette von einem Dachbalken. Am unteren Ende war ein Ring befestigt. Dieser wand sich um die Hüfte eines Menschen – soweit man das noch als »Mensch« bezeichnen konnte. Dieser »Mensch« sah schmutzig und verlottert aus, mit dem Ausdruck eines Wahnsinnigen im Gesicht. Das Grausigste aber an ihm war, dass seine vier Gliedmaßen abgetrennt worden waren. Seine Schultern und Oberschenkel endeten in nackten Stümpfen. Berührte man ihn, gab er ein heiseres Stöhnen von sich. Seine Zunge war ebenfalls herausgerissen worden, sodass er nicht mehr in der Lage war, auch nur ein einziges Wort zu sprechen.
Der dämonische Weg des stolzen Unsterblichen, Auszug über das Schicksal Shen Qingqius
Shen Yuan – ähm, nein, Shen Qingqiu – stützte die Stirn in die Hand. Er sollte nicht in Gedanken den schweren Tod anderer beklagen – der grausigste Tod war schließlich sein eigener.
Er durfte es sich auf keinen Fall erlauben, Fehler zu begehen!
Er musste jeden Fehler erkennen und verhindern, bevor er passierte. Von nun an musste er sich wie ein Verrückter an die Oberschenkel des Protagonisten klammern. Er musste ein guter Lehrer und ein treuer Freund sein, der den Protagonisten gewissenhaft und freundlich unterwies und sich aufopfernd um sein Wohlergehen sorgte.
Sobald ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, schrillte ein Alarm nach dem anderen los. Es war, als würden einhundert Streifenwagen mit Sirene und einhundert kreischenden göttlichen Bestien an Bord an ihm vorbeifahren. Es war ein solcher Lärm, dass er erschauderte und sich vor Schmerz den Kopf hielt.
»Shidi, tut dein Kopf noch weh?«, fragte Yue Qingyuan besorgt.
Shen Qingqiu biss die Zähne zusammen und gab keine Antwort.
Da erklang die schrille Stimme des Systems: [Warnung! Das geplante Vorgehen ist extrem gefährlich und gilt als Verstoß. Bitte versuche es nicht, ansonsten wird das System automatisch eine Bestrafung generieren.]
»Was war daran ein Verstoß?«
[Du bist momentan im Anfängerlevel. Die OOC-Funktion ist gesperrt. Du musst eine Anfängerquest beenden, um sie freizuschalten. Bis dahin wird jede Abweichung vom ursprünglichen Charakter Shen Qingqius als Verstoß angesehen und hat den Abzug einer festgelegten Anzahl an B-Punkten zur Folge.]
Als zumindest halber Nerd war Shen Qingqiu schon der eine oder andere Begriff unterkommen, der mit Fandom zu tun hatte, und so wusste er, was OOC bedeutete: Es war ein Akronym für »out of character« und bedeutete, sich auf eine Weise zu verhalten, die nicht mit der kanonischen Persönlichkeit einer Figur übereinstimmte.
»Mit anderen Worten … bevor die Funktion freigeschaltet ist, darf mein Verhalten nicht von dem abweichen, was ›Shen Qingqiu‹ tun würde?«
[Korrekt.]
Das System hatte ihn in Shen Qingqius Körper gesteckt, diesen durch ihn ersetzt, und kümmerte sich noch um Kleinigkeiten wie OOC?
»Du hast irgendwas darüber gesagt, dass die Punktzahl nicht unter null sinken darf. Was, wenn das doch passiert?«
[Dann wirst du automatisch in deine ursprüngliche Welt zurückversetzt.]
Ursprüngliche Welt? Aber in Shen Yuans ursprünglicher Welt war sein Körper gestorben. Mit anderen Worten: Wenn er alle seine B-oder-was-auch-immer-Punkte verlor, erwartete ihn der Tod.
Und wenn er den Protagonisten einfach ignorierte und es vermied, irgendetwas zu tun – dann wäre doch alles gut, oder?
Er hob den Kopf und sah sich im Zimmer um. Unter den Schülern, die an seinem Bett saßen, war jedoch keiner, auf den die Beschreibung Luo Binghes passte. Er versuchte, seine Worte beiläufig klingen zu lassen. »Wo ist Luo Binghe?«
Yue Qingyuan schwieg und sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck an.
Shen Qingqiu hielt seinem Blick stand, doch insgeheim rasten seine Gedanken. War er zu früh? Musste der Protagonist erst noch der Cangqiong-Bergsekte beitreten?
»Shidi, bitte sei nicht sauer«, sagte Yue Qingyuan.
Eine dunkle Vorahnung regte sich in Shen Qingqiu.
Yue Qingyuan seufzte. »Ich weiß, dass du ihn nicht magst, aber der Junge hat wirklich hart gearbeitet und keinen nennenswerten Fehler gemacht. Bestraf ihn nicht mehr, in Ordnung?«
Shen Qingqius Lippen fühlten sich plötzlich trocken an. Er benetzte sie und fuhr fort: »Was du nicht sagst. Und wo ist er?«
Yue Qingyuan schwieg einen Moment lang. »Hast du ihn nicht im Holzschuppen eingesperrt, nachdem du ihn gefesselt und geschlagen hast?«
Shen Qingqiu wurde schwarz vor Augen.
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In seinem vorherigen Leben war Shen Yuan im Wohlstand aufgewachsen, er war so etwas wie ein gemäßigtes Beispiel für ein Kind reicher Eltern. Er hatte zwei ältere Brüder, die sicherlich einst den Familienbetrieb weiterführen würden, und eine jüngere Schwester, die er innig liebte. Die ganze Familie hatte sich sehr nahegestanden.
Von klein auf war er in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass er, auch wenn er nichts im Leben zustande brachte, niemals würde hungern müssen. Dieses Aufwachsen ohne Sorgen, ohne Konkurrenz oder Druck hatte wohl dazu beigetragen, dass es ihm genug war, in einem Wettbewerb unter den besten Zehn zu sein – vorausgesetzt, es gab mehr als zehn Teilnehmer. Er hatte nie nachvollziehen können, was in Drecksäcken wie Shen Qingqiu vorging, während sie sich ihr eigenes Grab schaufelten.
Der eigentliche Shen Qingqiu war ein erfahrener Kultivierer, der über die nötige Selbstbeherrschung verfügte, um eine Fassade aufrechtzuerhalten. Er strebte nicht nach Ruhm oder gutem Ruf, und mit der weltweit größten Schule im Rücken würde es ihm auch nie an Geld mangeln. Wie kam es also, dass er nicht einmal ein Fünkchen der würdevollen Haltung an den Tag legte, die man von einem Unsterblichen erwarten würde? Wieso benahm er sich wie eine Konkubine, die am Hof eingesperrt war und zu viel Zeit hatte? Warum nur konnte er den Protagonisten nicht dulden, so harmlos dieser sich auch verhielt? Warum fiel ihm tagein, tagaus nichts Besseres ein, als neue Pläne zu schmieden, um ihm das Leben schwer zu machen und ihn zu quälen, und sogar andere dazu anzustiften?
Luo Binghe mochte mit göttlichem Talent gesegnet sein, seine Fähigkeiten mochten so überragend sein, dass es beinahe schon an Hohn grenzte … aber das war doch kein Grund für ein solches Übermaß an Neid!
Letzten Endes konnte man Shen Qingqiu allerdings nichts vorwerfen – der Autor war schuld. Die Erzählung wimmelte von dieser Art von Schurken. Das Einzige, wodurch Shen Qingqiu hervorstach, war, dass sein Charakter besonders detailliert und niederträchtig beschrieben war.
Aber es ließ sich nicht ändern. Der Mittelpunkt des Romans war nun einmal der Protagonist selbst. Natürlich konnte ein Glühwürmchen nicht heller leuchten als die Sonne und der Mond.
In der Kultivierungswelt hatte Shen Qingqiu den Beinamen »Xiuya-Schwert« erhalten, und sein Äußeres und sein Gebaren entsprachen diesem Titel. Auch nun, da er sich vor einem trüben Bronzespiegel nach links und rechts drehte, war er sehr zufrieden mit dem, was er sah.
Ein Gesicht mit feinen Zügen, tiefschwarzen Augen und Augenbrauen, einer schmalen Nase, dünnen Lippen und einer gelehrten Ausstrahlung blickte ihm entgegen. Er hatte einen schlanken Körper, lange Beine und konnte als Gesamterscheinung durchaus als attraktiv gelten. Sein genaues Alter war unklar, aber dies war schließlich ein Kultivierungsroman. Shen Qingqiu hatte einen goldenen Kern 6 ausgebildet, was bedeutete, dass er sein jugendliches Aussehen bewahrt hatte. Er sah sehr viel besser aus als das Bild, das beim Lesen des Romans in Shen Yuans Kopf entstanden war. Aber er war kein Vergleich zu Luo Binghe.
Kaum dachte er an ihn, bekam Shen Qingqiu starke Kopfschmerzen. Er wollte gehen, um Luo Binghe zu sehen, der in einem Holzschuppen eingesperrt war, doch als er auch nur einen Schritt tat, hörte er wieder die schrille Stimme in seinem Kopf: [Warnung! OOC-Warnung! Shen Qingqiu würde nicht auf die Idee kommen, Luo Binghe aufzusuchen.]
»Gut, dann werde ich jemanden losschicken, um ihn zu mir zu bringen. So gibt es kein Problem, oder?«, brauste Shen Qingqiu auf. Er dachte kurz nach, dann rief er: »Ming Fan!«
Augenblicklich trat ein großer, schlaksiger Jugendlicher von etwa sechzehn Jahren ein. »Hier bin ich. Welche Anweisung habt Ihr, Meister?«
Shen Qingqiu kam nicht umhin, ihm noch einige Blicke zuzuwerfen. Ming Fans Erscheinungsbild war nicht schlecht, nur sein Gesicht tat dem etwas Abbruch, der Zug um seinen Mund war hart und seine Wangen eingefallen. Tss, typische Opferfigur eben, dachte Shen Qingqiu bei sich.
Dies war also sein ältester Schüler, Luo Binghes Shixiong Ming Fan. Und zugleich nichts weiter als eine niedere Opferfigur.
Es muss wohl kaum erwähnt werden, dass Ming Fan stets der Drahtzieher war, wenn Luo Binghe nachts aus dem Schlafsaal ausgesperrt wurde oder ihm absichtlich falsche Techniken untergejubelt wurden. Wann immer Shen Qingqiu die Lust packte, Luo Binghe zu quälen, war Ming Fan sein eifrigster Unterstützer und emsigster Gehilfe.
In dem Wissen, dass das Schicksal dieses Jungen im Originalwerk nicht viel besser war als sein eigenes, bedachte Shen Qingqiu ihn mit einem mitleidigen Blick von einem Opfer zum anderen. »Geh und bring mir Binghe.«
Ming Fan war sichtlich verunsichert. Wenn Shen Qingqiu in der Vergangenheit verlangt hatte, Luo Binghe zu sehen, hatte er ihn stets als »das kleine Biest«, »den undankbaren Bengel«, als »Schuft« oder »Flegel« bezeichnet. Die Male, die er seinen vollständigen Namen ausgesprochen hatte, ließen sich an einer Hand abzählen. Wie war es zu diesem plötzlichen Sinneswandel gekommen?
Aber Ming Fan wagte es nicht, den Befehl seines Meisters zu hinterfragen. Er lief eilig zum Holzschuppen und trat zweimal gegen die Tür. »Komm raus! Der Meister ruft dich!«
Shen Qingqiu ging derweil in seinem Zimmer auf und ab und erforschte dabei das System in seinem Kopf.
[B-Punkte, auch bekannt als Punkte, die man erhält, wenn man knallhart ist, ein ›Badass‹. Je mehr B-Punkte man anhäuft, desto großartiger, hochwertiger und erstklassiger wird die Figur sich entwickeln.]
»Und wie kann ich meine B-Punkte steigern?«
[Erstens, ändere den schwachsinnigen Plot und erhöhe den durchschnittlichen IQ der Schurken und Nebenfiguren. Zweitens, umgehe die Logikfehler, die den Spannungsbogen zerstören. Drittens, stelle sicher, dass die Hauptfigur zufrieden und wohlauf ist. Viertens, entdecke verborgene Handlungsstränge und führe sie zu Ende.]
Shen Qingqiu dachte über jede dieser Optionen sorgfältig nach. Vereinfacht gesagt sollte er nicht nur das Chaos in Ordnung bringen, das der eigentliche Shen Qingqiu angerichtet hatte – der, dem eine beträchtliche Anzahl Feinde nach dem Leben trachtete –, nein, er sollte auch dafür sorgen, dass andere Figuren nicht für noch größeres Chaos sorgten.
Ihm war nicht einmal klar, wie er es schaffen sollte, sein eigenes Überleben zu sichern, und dann sollte er auch noch dafür sorgen, dass der Protagonist stets zufrieden war, ausreichend im Rampenlicht stand und sein Harem nicht schrumpfte?
All diese ungeklärten Geheimnisse, die Lücken in der Handlung, die der Autor nicht ausgefüllt hatte – und jetzt sollte Shen Qingqiu sie im Schweiße seines Angesichts ausfüllen? Ha ha!
Der große Schriftsteller DieSchlangeWürgen hatte selbst betont, dass Der dämonische Weg des stolzen Unsterblichen nur einen einzigen Zweck verfolgte: die Leser zufriedenzustellen.
Das zeigte sich besonders darin, wie sich der Protagonist später, nachdem er böse geworden war, unschuldig gab wie ein Wolf im Schafspelz, während er auf andere Wölfe Jagd machte, und Rache an jenen übte, die ihm unterlegen waren. Dadurch hatte er genug Leserzufriedenheit erzeugt, um den Himmel zu erobern. So war sein Roman immer populärer geworden, während es eine epische Länge erreicht hatte.
Mit der Handlung mitzuhalten war beim Lesen keine leichte Aufgabe gewesen. Der Plot wimmelte nur so von Logikfehlern – wie sollte es ihm gelingen, ihnen allen auszuweichen?
»Was für ein Plot würde denn als ›nicht schwachsinnig‹ zählen?«, fragte Shen Qingqiu.
[Das liegt im Auge des Betrachters. Es gibt kein festgelegtes Regelwerk, die Reaktionen der Leser entscheiden darüber.]
»Und wie viele Punkte muss ich sammeln, um eine Anfängerquest starten zu können?«
[Das entscheidet sich je nach Situation. Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, wird das System dich automatisch benachrichtigen.]
Im Auge des Betrachters, je nach Situation … wie nichtssagend. Shen Qingqiu schnaubte verächtlich, dann hörte er, wie die Tür sich öffnete, und wandte sich um.
Ein Jugendlicher trat langsam ein. »Meister.« Obwohl seine Bewegungen unsicher waren, sprach der Junge voller Respekt und es gelang ihm, vollkommen gerade dazustehen.
Das Lächeln, das sich gerade auf Shen Qingqius Gesicht ausbreiten wollte, erstarrte augenblicklich.
Er war so tot! Vor sich sah er das Gesicht, das in der Zukunft jeden betören würde, der es nur ansah, egal ob eine achtzigjährige Frau oder ein Kleinkind, das Gesicht des Protagonisten – und er hatte ihn so zugerichtet? Er war so was von tot!
Und obwohl er deutliche Spuren von Misshandlung aufwies und von Verletzungen übersät war, war der Protagonist eben doch der Protagonist. Luo Binghes Augen waren hell und klar wie Morgensterne – er war ein außerordentlich gut aussehender junger Mann.
Die aufrechte und doch demütige Haltung war ein Beweis für seinen edlen und unbeugsamen Geist. Sein Rücken, so gerade wie mit dem Lineal gezogen, seine Ausstrahlung, seine ganze Erscheinung deuteten darauf hin, dass er eher zugrunde gehen als sich jemandem unterwerfen würde.
In diesem Moment schoss eine Flut von Erinnerungen an Parallelismen und andere Stilmittel durch Shen Qingqius Kopf, Satz für Satz entstanden endlose Passagen vor seinem geistigen Auge, die alle nichts als Lob auf Luo Binghe zum Inhalt hatten und ihn so übermannten, dass er sie beinahe laut ausgesprochen hätte.
Zum Glück gelang es ihm, sich zusammenzureißen, obwohl er innerlich aufschrie, weil es haarscharf gewesen war. Das Grundgerüst, auf dem der Glorienschein des Protagonisten aufgebaut war, war einfach zu viel – er hätte sich beinahe nicht zurückhalten können.
Shen Qingqius Lippen bebten, während er zusah, wie Luo Binghe durch die Tür humpelte und sich dann mühsam hinkniete. Ich kann mir deine Unterwürfigkeit nicht leisten – wenn du mir heute Respekt zollst, wirst du mir in der Zukunft ganz bestimmt in den Rücken fallen.
»Nicht doch«, hielt Shen Qingqiu Luo Binghe auf und streckte ihm ein Fläschchen hin. »Hier ist Medizin.« Er zögerte kurz, bevor er in einem spottenden Tonfall hinzufügte: »Lass es nur niemanden sehen, sonst könnte man noch denken, dass auf dem Qingjing-Gipfel die Schüler geschlagen werden.«
Shen Qingqiu hatte sich schnell an seine Rolle gewöhnt. Zwar hatte er etwas höchst Unerlaubtes getan, indem er Luo Binghe die Medizin gegeben hatte – aber er hatte es auf so niederträchtige Art getan, dass es mit der heuchlerischen Natur Shen Qingqius und seiner Tendenz, Böses zu tun und gleichzeitig zu befürchten, dass andere es bemerkten, in Einklang stand.
Und tatsächlich schickte das System keine OOC-Warnung. Shen Qingqiu seufzte erleichtert auf.
Luo Binghe hatte mit weiterführenden »Unterweisungen« gerechnet, als sein Meister ihn gerufen hatte. Dass er ihm Medizin geben würde, hätte er nicht für möglich gehalten. Er erstarrte zunächst, dann nahm er das kleine Fläschchen mit beiden Händen entgegen und sagte mit aufrichtiger Dankbarkeit: »Danke für die Medizin, Meister.«
Zu diesem Zeitpunkt war Luo Binghes Gesicht noch voller Unschuld. Sein Lächeln war aufrichtig und sanft wie die aufgehende Sonne. Shen Qingqiu starrte ihn einen Moment lang an, dann wandte er sich ab.
Bevor er böse wurde, war dieser Protagonist ein Musterbeispiel eines aufrechten Jugendlichen gewesen. Ein wenig Sonnenschein reichte, um ihn erstrahlen zu lassen, brachte man ihm nur etwas guten Willen entgegen, würde er ihn zehnfach zurückzahlen. Ganz ohne zu übertreiben, konnte man ihn getrost als kleines Lamm bezeichnen.
»Ich werde von nun an meine Anstrengungen verdoppeln und Euch nicht enttäuschen, Meister«, sagte Luo Binghe munter.
Oh nein, wenn du deine Bemühungen verdoppelst, wäre dein wahrer Meister erst recht enttäuscht …
Hätte Shen Qingqiu Der dämonische Weg des stolzen Unsterblichen nicht gelesen, hätte der Anblick dieser Szene ihn bewegt und er hätte wohl ein paar Tränen der Rührung für das Leid Luo Binghes vergossen.
Doch er kannte die ganze Geschichte von Anfang bis Ende, sein Blickwinkel war der eines allwissenden Erzählers und er war vertraut mit den zahlreichen umtriebigen Gedanken und Regungen Luo Binghes nach seiner Wandlung. Tatsächlich stand seine gegenwärtige Erbärmlichkeit in diametralem Gegensatz zu der Grausamkeit seines befriedigten Gelächters, wenn er später jemandem mit dem Fuß den Schädel eintrat.
Zwar trug er stets die Maske des gütigen und bescheidenen Kavaliers, doch innerlich drehten sich all seine Gedanken darum, wie er seinem Gegenüber die Sehnen herausreißen und die Haut von den Knochen schälen würde, um dann alles zum Trocknen aufzuhängen.
Luo Binghe lächelte. »Heute wird die Demütigung, die ich erdulden musste, hundertfach abgegolten. Weil du meine Hände und Füße verletzt hast, werde ich dir die Gliedmaßen ausreißen und sie zu Staub zermahlen.«
Der dämonische Weg des stolzen Unsterblichen, zweiter Auszug
Und dann hatte er tatsächlich einen menschlichen Stock aus Shen Qingqiu gemacht.
»Binghe, wie geht es mit deiner Kultivierung voran?«, fragte Shen Qingqiu in einem absichtlich distanzierten Tonfall, während er zu einem Stuhl aus Sandelholz ging. Und dieses »Binghe« aus seinem eigenen Mund ängstigte ihn so sehr, dass ihm ein Schaudern über den Rücken lief.
Auch an Luo Binghes Rücken war deutlich zu erkennen, dass er erbebte. Dennoch brachte er ein schüchternes Lächeln zustande. »Ich bin dumm … Ich verstehe es immer noch nicht.«
Das war nicht weiter verwunderlich. Mit einem gefälschten Kultivierungshandbuch war es nur seiner unfassbaren Zähigkeit zu verdanken, dass er noch keine ernsthafte Qi-Fehlleitung erlitten hatte. Es wäre ein Wunder, wenn er irgendetwas verstanden hätte, was in diesem Handbuch geschrieben stand.
Komm her, Junge. Ich werde dir die richtigen Techniken zeigen, schrie alles in Shen Qingqius Innerem.
Sofort begann der Warnton des Systems unablässig zu schrillen.
»Ich habe doch nur darüber nachgedacht«, beschwichtigte Shen Qingqiu das System. »Ich weiß doch, dass das ein Verstoß wäre.«
Laut sprach er in ungezwungenem Ton: »Heute habe ich dich aus meiner eigenen Ungeduld heraus bestraft. Schließlich haben wir nicht ewig Zeit. Wenn ich so darüber nachdenke, unterrichte ich dich schon eine ganze Weile – wie alt bist du jetzt?«
»Vierzehn«, antwortete Luo Binghe gehorsam.
Vierzehn also?
Das bedeutete, Meister und Schüler, Shen Qingqiu und Luo Binghe, hatten den Vorfall am Eingang ins Gebirge bereits durchlebt. Dort hatte Luo Binghe als Bestrafung niederknien müssen.
Auch dass Luo Binghes Mitschüler am Qingjing-Gipfel auf ihn eingeschlagen hatten, lag in der Vergangenheit, ebenso das eine Mal, als er dem Meister »widersprochen« hatte und dafür gefesselt und geschlagen worden war. Ebenso hatte er bereits die Talismane des Gipfels zerstört und war dafür mit harter Arbeit bestraft worden … was für eine glorreiche Laufbahn.
Da ging sie hin, Shen Qingqius Chance zu überleben, und ihm blieb nichts, als ihr zum Abschied zuzuwinken.
Shen Qingqiu stützte die Stirn in die Hand und bedeutete Luo Binghe mit der anderen zu gehen. »Ich brauche Ruhe.«
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Shen Qingqiu war ein unbekümmerter Mensch. Nun, da er Der dämonische Weg des stolzen Unsterblichen sein Zuhause nannte und er in seiner eigentlichen Welt den Löffel abgegeben hatte, dachte er sich, könnte er genauso gut versuchen, hier zurechtzukommen.
Er war in einem Kultivierungssetting gelandet, hatte einen Körper mit herausragenden Fähigkeiten in der Kampfkunst und im Schwertkampf erhalten, ohne etwas dafür tun zu müssen, und war außerdem noch Anhänger einer berühmten, rechtschaffenen Schule. Wenn er sich hervortun wollte, konnte er das tun, und wenn nicht, konnte er sich ebenso gut auf dem Qingjing-Gipfel verkriechen und das Leben eines Eremiten führen. Worüber sollte er sich also beschweren?
Das Einzige, was schwierig werden würde, war, eine Freundin zu finden. In dieser Art Haremserzählung gehörte jede Frau automatisch der Hauptfigur, wenn sie nicht hässlich war. Das wusste jeder.
Aber Shen Qingqiu war bescheiden und genügsam. Er wäre auch damit zufrieden, bis ins hohe Alter faul seine Zeit zu vertun. So würde sich sein jetziges Leben nicht allzu sehr vom vorangegangenen unterscheiden.
Solange Luo Binghe da war, war ohnehin nicht daran zu denken, dass er berühmt werden könnte. Wenn er sich auch nur ansatzweise an die Handlung des Originalwerks hielt, würde er, selbst wenn er ein nicht existentes Paradies fände, in dem er in Abgeschiedenheit leben könnte, am Ende, wenn Luo Binghe Macht erlangte, doch von ihm zu einem menschlichen Stock zurechtgestutzt.
»Es ist ja nicht so, dass ich mich nicht an seine Oberschenkel klammern will, aber warum muss er so unfassbar böse sein? Er ist die Art Mensch, die tausendfache Vergeltung sucht.«
Nachdem er wie jeden Tag auf den »großen Meister« Schlange geschimpft hatte, steckte sich Shen Qingqiu rasch einige Ziele. Kurz zusammengefasst nahm er sich Folgendes vor: sich so gut es ging mit seiner Umgebung vertraut zu machen, so viel wie möglich mit dem System zu kommunizieren, Erfolge zu erlangen und B-Punkte zu sammeln, um so schnell wie möglich die OOC-Funktion freizuschalten. Würden sich die Dinge ungünstig entwickeln, müsste er sich eine andere Strategie überlegen.
Die zwölf Gipfel der Cangqiong-Berge waren wie zwölf von der Natur gestaltete gigantische Schwerter, die steil und beeindruckend in den Himmel aufragten.
Shen Qingqius Qingjing-Gipfel war nicht der höchste, aber es war der ruhigste. Er war von einem dichten Bambuswald bewachsen. All seine Schüler mussten die vier gelehrten Künste erlernen: das Guqin 7-Spielen, Go, Kalligrafie und Malerei. So trug der Wind manchmal das Gemurmel leisen Lesens oder die Klänge der Guqin mit sich. Es war ein ausgezeichneter Ort für junge Schüler, die sich für klassische Kunst und Literatur interessierten, und er passte ganz hervorragend zu den Bedürfnissen des echten Shen Qingqiu, dieses Angebers.
Shen Qingqiu ging an einer Gruppe von Schülern vorbei, die sich höflich nach seinem Befinden erkundigten. Er bemühte sich, die Kälte und den distanzierten Blick der Originalfigur anzunehmen, und nickte nur leicht, während er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen an ihnen vorüberging. Dabei fragte er sich nur, wie er eine Verbindung zwischen den Namen aus der Geschichte und diesen Gesichtern herstellen sollte.
Doch das war nicht seine größte Sorge. Diese galt noch immer dem Selbstschutz, und aus diesem Grund musste er unbedingt herausfinden, wie er seine Fähigkeiten im Faust- und Schwertkampf einsetzen konnte.
Wenn er sich recht erinnerte, ereigneten sich vor Luo Binghes Wandlung einige bedeutende Vorfälle in der Cangqiong-Bergsekte – Dinge wie Dämoneneinfälle und auch die Konferenz der Allianz der Unsterblichen. Shen Qingqiu würde irgendwie damit fertigwerden müssen. Wenn er mit nichts als einer leeren Hülle ohne Kultivierungsfähigkeiten arbeiten musste, spielte es ohnehin keine Rolle mehr, ob er dem Plot folgte oder nicht. Auf den kleinsten Wink der Hauptfigur hin würde irgendein niederer Dämon ihn töten.
Shen Qingqiu ging allein immer weiter in den Wald hinein. Er sah sich nach allen Seiten um, um sicher zu sein, dass niemand ihn sehen konnte. Dann zog er das Schwert, das er an seiner Hüfte trug. Er hielt die Scheide in seiner linken und den Griff in seiner rechten Hand und zog es langsam heraus.
Xiuya hatte Shen Qingqiu begleitet, seit er jung und unbekannt gewesen war, es war selbst eine kleine Berühmtheit. Die Klinge blitzte in einem hellen, aber nicht blendenden Weiß, ein Meisterwerk der Schmiedekunst. Lenkte man spirituelle Energie in die Waffe, glühte die Klinge schwach. Während Shen Qingqiu noch darüber grübelte, wie genau dieses Lenken von spiritueller Energie wohl vonstattenging, zeigte sich ein weißer Schimmer auf dem Schwert in seiner Hand.
Wie es aussah, verfügte er über die Kultivierungs- und Kampfkunstfähigkeiten der Originalfigur. Sein Geist hatte die Lücken aufgefüllt, ohne dass er bewusst etwas tun musste.
Shen Qingqiu wollte sehen, wie viel Macht Xiuya hatte, und schlug einmal zu. Wie hätte er ahnen können, dass ein einzelner Schlag solche Folgen haben würde? Die Schwungbahn des Schwerts erstrahlte wie ein Blitz, der aus seiner Handfläche zu kommen schien, so hell, dass selbst eine Sonnenbrille mit UV-Filter 400 ihn nicht geschützt hätte, wenn er nicht die Augen geschlossen hätte. Als er sie vorsichtig wieder aufschlug, erblickte er einen tiefen Graben, der in den Boden gerissen worden war, als wäre ein Blitz hineingefahren.
»Heilige Scheiße!«
Shen Qingqiu blieb wie versteinert stehen, aber sein Herz hämmerte wild in seiner Brust.
Das war ja unfassbar! Das war Macht, wie sie dem Herrn des Gipfels gebührte. Wenn er jetzt schon über solche Fähigkeiten verfügte und die nächsten zwanzig Jahre beharrlich kultivierte – wer weiß, vielleicht könnte ihm dann als letzter Ausweg, wenn er dem übermächtigen Luo Binghe in der Zukunft gegenübertreten müsste, eine schändliche Flucht gelingen.
Ja. Das war alles, was er wollte. Eine schändliche Flucht.
Gern hätte er noch weiter mit dem Schwert geübt, aber er hörte Zweige, die unter Stiefeln zerbrachen.
Das Geräusch war noch weit entfernt, aber seine Sinne waren so empfindlich, dass er es nicht überhören konnte. Shen Qingqiu musterte den tiefen Graben im Erdboden, dann steckte er das Schwert mit einem Sirren ein, bevor er sich zwischen den Büschen versteckte.
Die Schritte kamen immer näher, es waren mehrere Personen. Wie erwartet, erschien bald schon Luo Binghes Gesicht. Es strahlte, als wohne ihm ein eigenes Licht inne. Das erste Geräusch jedoch war die klare, sanfte Stimme eines jungen Mädchens.
»A-Luo 8, A-Luo, sieh mal, hier ist ein riesiger Graben!«
Als er diesen Spitznamen hörte, wäre Shen Qingqiu vor Schreck beinahe aus seinem Versteck gestolpert.
[Die jüngste Schülerin Shen Qingqius, Ning Yingying], erklärte das System.
»Was soll denn diese sinnlose Erklärung?«, zischte Shen Qingqiu. »Jeder weiß, dass es nur eine gibt, die Luo Binghe so anredet.«
Das Mädchen, das hinter Luo Binghe herlief, kam in Shen Qingqius Blickfeld. Sie sah aus, als sei sie etwas jünger als Luo Binghe, und war umwerfend hübsch. Ihr Haar war zu Zöpfen geflochten und wurde von orangen Schleifen zusammengehalten, zudem strahlte sie eine kindliche Unschuld aus, wie sie so durch den Wald rannte und hüpfte. Kein ordentlicher Kultivierungsroman kam ohne eine solche charmante Shimei 9-Figur aus.
Diese junge Shimei löste komplizierte Gefühle in Shen Qingqiu aus. Der Grund dafür war, dass er ein Auge auf Ning Yingying geworfen hatte – nein, vielmehr hatte die Originalfigur ein Auge auf sie geworfen.
Shen Qingqius Charakter war als »zwielichtiger Heuchler« festgelegt. Nach außen hin wirkte er unschuldig, frei von Verlangen und über jede Versuchung erhaben, unter der Oberfläche jedoch war er unmoralisch, schamlos, widerlich und niederträchtig. Er war die Art Lehrer, die einer gehorsamen und fröhlichen Schülerin gegenüber unlautere Absichten hegte. Mehrere Male hatte er in der Geschichte versucht, seine Gelüste auszuleben, und beinahe wäre es ihm gelungen.
Doch man kann sich wohl vorstellen, was dabei herauskam, wenn man Hand an die Frau der Hauptfigur legte.
Während er den Roman gelesen hatte, hatte Shen Qingqiu sich darüber gewundert, dass Luo Binghe nicht versucht hatte, den Widerling zu kastrieren. Das passte gar nicht zu Binghes dunklem Charme. Also hatte er sich denen angeschlossen, die die Kommentarspalte mit Posts geflutet hatten, die ungefähr so lauteten: »Bitte entmanne Shen Qingqiu! Ohne Kastration kündigen wir unser Abo!«
Wenn er jetzt daran zurückdachte, packte Shen Qingqiu das kalte Grauen. Wäre der Wunsch damals erfüllt worden, hätte er sich glatt die Hand abhacken müssen, mit der er diese Kommentare geschrieben hatte.
Luo Binghe warf dem Mädchen einen Blick zu und lächelte es halbherzig an.
Aber Ning Yingying sehnte sich nach seiner Aufmerksamkeit und rang sichtlich mit sich. »Sag mal, A-Luo, was glaubst du, welcher Shixiong sich hier im Schwertkampf geübt hat?«
»Hier auf dem Qingjing-Gipfel verfügt niemand außer dem Meister über solche Kräfte«, antwortete Luo Binghe. Dabei hob er eine Axt an und begann, auf einen Stamm einzuhacken.
Er sprach nur diesen einen Satz, dann beachtete er sie nicht mehr. Er konzentrierte sich nur auf sich selbst, während er die Axt hob und niederfahren ließ, völlig vertieft in die Tätigkeit des Holzhackens.
Die Stämme waren weder dünn noch schwach und die Axt zudem ziemlich rostig. Luo Binghe war erst vierzehn Jahre alt, Holz zu schlagen war keine leichte Aufgabe für ihn. Bald schon strömte ihm der Schweiß übers Gesicht.
Ning Yingying setzte sich auf einen alten Stamm, stützte das Gesicht in die Hände und sah ihm zu. Nach einer Weile wurde es ihr zu langweilig. »A-Luo, A-Luo, spiel mit mir!«
»Ich kann nicht.« Luo Binghe hatte nicht einmal Zeit, sich den Schweiß abzuwischen. Ohne in seiner Arbeit innezuhalten, sprach er weiter: »Unsere Shixiong haben gesagt, wenn ich das Holz für heute gehackt habe, muss ich noch Wasser holen. Wenn ich mit dem Holz schnell fertig bin, kann ich mir noch etwas Zeit zum Meditieren nehmen.«
»Unsere Shixiong sind wirklich schlimm. Ständig befehlen sie dir, dies oder jenes zu tun. Es sieht fast so aus, als wollten sie dich absichtlich ärgern«, empörte sich Ning Yingying. »Pah, ich werde gehen und es dem Meister sagen. Dann wird es niemand mehr wagen, dich so herumzuscheuchen.«
Bis zu diesem Punkt hatte Shen Qingqiu die Szene beobachtet, als sähe er beiläufig den Dreharbeiten der Verfilmung von Der dämonische Weg des stolzen Unsterblichen zu und erfreue sich an der Geschichte einer Jugendliebe. Doch als er diese Worte hörte, wurde er bleich vor Schreck.
Nein, nein, nein, du kannst auf keinen Fall zu mir kommen und mir davon erzählen! Was soll ich denn tun? Ich darf nicht OOC reagieren, es ist richtig, ihn zu bestrafen!
Doch obwohl Luo Binghe die Beschwerlichkeiten des Lebens gerade in ihrem vollen Ausmaß erfuhr, war sein Herz so rein wie ein weißer Lotus. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Tu das bloß nicht. Ich möchte den Meister nicht mit diesen Kleinigkeiten belasten. Unsere Shixiong meinen es nicht böse. Sie wollen mir nur Gelegenheit geben, mich zu verbessern, weil ich noch jung bin.«
In diesem Augenblick kam es Shen Qingqiu vor, als sähe er Zehntausende Lichtstrahlen hinter Luo Binghe aufleuchten. Er trat drei Schritte zurück, unfähig, den Anblick einer Hauptfigur länger zu ertragen, die ein solches Maß an Transzendenz und Erleuchtung erlangt hatte.
Während Ning Yingying weiter auf ihn einredete, beendete Luo Binghe seine Aufgabe. Er packte die Axt weg, suchte sich ein Fleckchen möglichst sauberen Bodens, setzte sich im Schneidersitz hin und schloss die Augen.
In seinem Inneren entfuhr Shen Qingqiu ein langer Seufzer.
Selbst in dieser frühen, von Elend und Not geprägten Phase der Erzählung zeigte sich bereits die übermenschliche Macht des Protagonisten. Das Kultivierungshandbuch, das Ming Fan ihm gegeben hatte, war eine Fälschung. Je mehr er sich danach richtete, desto mehr hätte seine Technik sich verschlechtern müssen, bis sie am Ende völlig unbrauchbar gewesen wäre. Aber mit seiner unerreichten Begabung und dem halb dämonischen Blut in seinen Adern war es Luo Binghe gelungen, dennoch seinen eigenen bisher unbekannten und vollkommen unwissenschaftlichen Weg zu entwickeln.
Während Shen Qingqiu noch seufzte, hörte er erneut das Geräusch von Schritten. Und sofort wusste er, was auch immer da auf ihn zukam, konnte nichts Gutes sein.
Einige Schüler niedrigen Ranges im Schlepptau, trat Ming Fan auf die Lichtung. Als er Ning Yingying erblickte, trat er freudig auf sie zu und ergriff ihre Hand. »Shimei! Shimei! Endlich habe ich dich gefunden. Was führt dich an diesen Ort, noch dazu ohne auch nur einen Ton zu sagen? Die Rückseite des Berges ist so groß – was, wenn ein gefährliches Tier oder eine Giftschlange aufgetaucht wäre? Komm mit, ich werde dir etwas Lustiges zeigen.«
Natürlich hatte Ming Fan Luo Binghe schweigend dasitzen sehen, aber er ignorierte seine Anwesenheit und tat so, als sei er Luft.
Luo Binghe dagegen wusste, wie er sich zu benehmen hatte. Er schlug die Augen auf. »Shixiong.«
»Ich habe keine Angst vor wilden Tieren und Giftschlangen«, kicherte Ning Yingying. »Außerdem ist A-Luo doch bei mir.«
Ming Fans Blick fiel auf Luo Binghe. Er verengte die Augen und schnaubte.
Shen Qingqiu konnte genau erkennen, was in ihm vorging. Ming Fan war nicht entgangen, dass Ning Yingying voller Zuneigung von Luo Binghe gesprochen hatte, und gerade war der Shidi, der ihm ohnehin schon ein Dorn im Auge war, ihm noch lästiger geworden.
Ning Yingying war ihrem Naturell nach noch immer ein kleines Mädchen. Sie war zu naiv, um böse Hintergedanken zu erkennen. »Was möchtest du mir denn zeigen?«, fragte sie mit schief gelegtem Kopf. »Mach schon, zeig es mir.«
Ming Fan strahlte übers ganze Gesicht. Er löste ein tiefgrünes Jadeamulett von seiner Hüfte und hielt es ihr vors Gesicht. »Shimei, meine Familie war gerade zu Besuch und hat mir unzählige hochwertige und interessante Dinge mitgebracht. Dieses hier gefällt mir besonders gut. Ich möchte es dir schenken.«
Ning Yingying nahm es entgegen und besah es sich im Sonnenlicht, das durch das Blätterdach fiel.
»Und? Gefällt es dir?«, wollte Ming Fan wissen.
In seinem Versteck erinnerte sich Shen Qingqiu plötzlich – das war diese Szene!
Oh nein! Er hätte nicht herkommen sollen. Hier drohte Gefahr!
Dass er sich nicht gleich erinnert hatte, konnte man ihm kaum zum Vorwurf machen. Schließlich konnte niemand erwarten, dass einer, der »Scheiß Autor, scheiß Roman!« geschimpft hatte, sich an eine uralte Passage aus der Frühzeit eines seriellen Romans erinnern konnte, der schon seit vier Jahren lief und eine Zeitspanne von über zweihundert Jahren umfasste. Er hatte ihn innerhalb von zwanzig Tagen vom Anfang bis zum Ende verschlungen, und den Quatsch aus Luo Binghes Anfangszeit in der Schule, all das geistlose Mobbing, hatte er schlicht und ergreifend vergessen.
Ning Yingying hatte keinen blassen Schimmer, was hochwertig war und was nicht. Sie betrachtete den Jadeschmuck eine Weile, dann gab sie ihn unbeeindruckt zurück.
Ming Fans Lächeln erstarrte.
Ning Yingying rümpfte die Nase. »Was denn? Die Farbe ist so hässlich. Das von A-Luo ist viel schöner.«
Ming Fan blickte ungläubig drein und Luo Binghe, der die ganze Zeit so getan hatte, als existiere er nicht, erbebte leicht und riss die Augen auf.
»Shidi, du trägst auch so ein Schmuckstück?«, fragte Ming Fan durch zusammengebissene Zähne.
Luo Binghe zögerte.
Er hatte sich noch nicht zu einer Antwort durchringen können, da kam ihm Ning Yingying zuvor. »Natürlich. Jeden Tag trägt er es um seinen Hals. Es ist sein Schatz. Nicht einmal ich darf es ansehen.«
Luo Binghe war stets ruhig und gefasst, aber in diesem Moment veränderte sich seine Miene. Unbewusst umschloss er den Guanyin 10-Anhänger, der verborgen unter seiner Kleidung um seinen Hals hing.
Schon mal was von IQ und EQ gehört, Kleine? Das muss alles die Hauptfigur ausbaden!
Ning Yingying hatte keinen Gedanken an die Konsequenzen verschwendet, als sie die Worte ausgesprochen hatte. Sie hatte nur daran gedacht, dass Luo Binghe stets eine Guanyin aus Jade auf seiner Haut trug und sie niemals ablegte.
Mädchen interessierten sich oft für die Dinge, die Jungen besonders wertschätzten, und hegten dabei den Wunsch, ihnen würde dadurch eine »besondere Rolle« eingeräumt. Aber Luo Binghe versagte ihr die Erfüllung dieser Hoffnung. Darüber war sie wenig erfreut und hatte in halb süßem, halb provokantem Tonfall gesprochen.
Natürlich hatte er sie ihr versagt. Luo Binghes Ziehmutter, die Waschfrau, hatte beinahe ihre gesamten Ersparnisse ausgegeben, um ihrem Sohn den heiligen Schutzanhänger zu schenken, um ihn zu beschützen. Er war das einzige bisschen Wärme in Luo Binghes kaltem Leben, er war sein stetiger Begleiter und auch in seinen dunkelsten Stunden konnte er das letzte bisschen Menschlichkeit, das noch in ihm schlummerte, mit seiner Hilfe heraufbeschwören – niemals würde er ihn einfach an jemanden herausgeben.
Ming Fan war zornig und eifersüchtig zugleich. »Luo-shidi, was soll das, warum zeigst du Ning Yingying-shimei nicht deinen Anhänger?«, spottete er. »Wenn das so weitergeht, wie wird es dann sein, wenn wir künftig mächtigen Feinden gegenüberstehen? Wirst du uns deine Hilfe dann ebenso verweigern?«
Junge! Denkst du nicht, dass zwischen deinem ersten Satz und der Schlussfolgerung ein Denkfehler besteht?
»Er muss ja nicht, wenn er nicht will. Shixiong, ärgere ihn nicht.« Ning Yingying hatte nicht vorhergesehen, dass sich die Dinge so entwickeln würden, und trat nervös von einem Fuß auf den anderen.
Was hatte Luo Binghe Ming Fan in dieser Situation entgegenzusetzen? Zumal Ming Fan eine ganze Gruppe Schüler bei sich hatte, die alle auf seiner Seite standen.
Es dauerte nicht lange und Luo Binghes Anhänger lag in Ming Fans Hand. Er hielt ihn hoch, um ihn zu betrachten, dann lachte er plötzlich lauthals.
»W… Warum lachst du?«, fragte Ning Yingying verwirrt.
»So verbissen, wie er ihn verteidigt hat, dachte ich, es sei eine seltene Kostbarkeit. Shimei, rate mal, was es in Wirklichkeit ist.« Ming Fan warf Ning Yingying den Jadeanhänger in die Hände. »Es ist eine Fälschung!«, feixte er.
»Eine Fälschung? Wie das?«, stutzte Ning Yingying.
»Gib ihn mir zurück.« Luo Binghe betonte jedes einzelne Wort. Er ballte die Hände langsam zu Fäusten und in der Tiefe seiner Augen flackerte ein bösartiges Glühen auf.
Shen Qingqius Finger zuckten unwillkürlich, erst einmal, dann noch einmal und noch einmal. Selbstverständlich erinnerte er sich daran, dass die Jade-Guanyin eine Fälschung war – und er erinnerte sich genauso gut daran, dass es einer der wunden Punkte Luo Binghes war.
Ein ganzes Jahr lang hatte die Waschfrau an Lebensmitteln und anderen Ausgaben gespart, aber weil sie unerfahren war, hatte ein Betrüger ihr viel Geld für einen gefälschten Anhänger aus der Tasche gezogen. Es hatte ihr das Herz gebrochen und mit ihrer Gesundheit war es daraufhin bergab gegangen.
Luo Binghe würde diesen Schmerz, solange er lebte, nie vergessen. Daher war dies die eine Beleidigung, die er keinesfalls hinnehmen konnte.
Shen Qingqiu, der zum Zuschauen verdammt war, wäre am liebsten aus seinem Versteck gestürmt, hätte Ming Fan verprügelt, ihm den Anhänger abgenommen und ihn Luo Binghe zurückgegeben.
Und wenn er das täte, würde Ming Fan Luo Binghe später in Ruhe lassen? Könnte er so sein armseliges Leben retten?
Sofort schaltete das System sich ein: [OOC.]
»Danke. Halt’s Maul.«
»Du willst ihn zurück? Ich gebe ihn dir. Wer weiß, an welchem Straßenstand dieser billige Ramsch gekauft wurde.« Ming Fan nahm den Anhänger aus Ning Yingyings Händen. Abscheu schwang in seiner Stimme mit: »Damit beschmutzt du dir nur deine Hände, Shimei.«
So sprach er, aber in Wirklichkeit hatte er nicht die geringste Absicht, den Anhänger zurückzugeben.
Luo Binghes Gesicht war angespannt. Mit einem Mal schlug er mit beiden Fäusten um sich und auf die beiden Schüler ein, die ihn festhielten.
Er war jedoch viel zu wütend, um zielgerichtet und überlegt zuzuschlagen, es war die blanke Wut, die ihn lenkte. Zunächst sah es so aus, als könne er die beiden niederringen, aber sie bemerkten schnell, dass er eigentlich schwach war und nur sein Gebaren beeindruckend wirkte.
Ming Fan zischte sie an: »Was steht ihr da herum? Er hat es gewagt, seine Shixiong zu schlagen – bringt ihm bei, was es bedeutet, Älteren gegenüber Respekt zu zeigen!«
Da fassten die anderen wieder Mut, umringten Luo Binghe und schlugen auf ihn ein.
Ning Yingying war starr vor Schreck, in ihrer Einfalt konnte sie einfach nicht begreifen, wie es dazu hatte kommen können. »Shixiong!«, rief sie. »Warum machst du das? Sag ihnen, dass sie aufhören sollen, sonst … sonst rede ich nie wieder ein Wort mit dir!«
»Sei nicht böse, Shimei. Ich sage ihnen, dass sie es lassen sollen, ja?«
Der Schreck hatte Ming Fan kurz abgelenkt. Luo Binghe hatte sich von den Armen und Beinen, die auf ihn einschlugen, befreit – und traf nun mit der Faust mitten auf Ming Fans Nase.
Dieser stieß ein wildes Heulen aus. Zwei Ströme frischen Blutes rannen aus seinen Nasenlöchern.
Sie war kurz davor gewesen, in Tränen auszubrechen, aber bei diesem Anblick konnte Ning Yingying sich nicht beherrschen und musste lachen.
Shen Qingqiu dachte bei sich: Schwester, magst du Luo Binghe eigentlich wirklich oder willst du ihm schaden?
Zuvor hätte Ming Fan Luo Binghe noch ohne Gesichtsverlust laufen lassen können. Nun allerdings, da er vor den Augen des Mädchens erniedrigt worden war, gab es kein Zurück mehr.
Die beiden Jungen gingen aufeinander los. Luo Binghes Begabung war zwar außergewöhnlich, aber er war noch jung und hatte keine richtige Anleitung erhalten. So wurde es ein einseitiger Kampf. Luo Binghe blieb jedoch ruhig und biss die Zähne zusammen.
Shen Qingqiu wünschte sich verzweifelt, in das Geschehen einzugreifen – aber das System überschüttete ihn mit Warnmeldungen.
[Schwerwiegender OOC! Schwerwiegender OOC! Schwerwiegender OOC! Wichtige Meldungen werden dreimal wiederholt. In dieser Situation würde sich Shen Qingqiu entscheiden zu lächeln. Er würde mit den Händen in den Ärmeln zusehen. Oder er würde Luo Binghe selbst schlagen.]
Wollte das System ihn allen Ernstes dazu zwingen, tatenlos zuzusehen, wie ein Kind verprügelt wurde? Das war zu viel … Aber Shen Qingqiu konnte es sich auch nicht leisten, ein Risiko einzugehen.
Während er noch ängstlich zauderte, kam ihm ein Kompromiss in den Sinn.
In der Cangqiong-Bergsekte gab es eine Anfängertechnik, »Das Blatt pflücken, die Blüte fliegen lassen«. Auf den ersten Blick war diese Technik nicht besonders nützlich, sie sah nur hübsch aus. Der Roman erzählte davon, wie Luo Binghe sie anwandte, um die Zuneigung von x Frauen zu gewinnen.
Seit seiner Ankunft hatte Shen Qingqiu die verschiedensten Handbücher studiert und dabei kürzlich eine Beschreibung gefunden. Er pflückte ein Blatt ab und lenkte ein wenig von seiner spirituellen Energie hinein. Beim ersten Mal übertrieb er es, das Blatt konnte die Energie nicht halten und wurde in Stücke gerissen. Beim zweiten Versuch glückte es ihm. Er hielt das Blatt zwischen seinen Fingerspitzen, blies sachte und ließ los.
Wie ein Messer schoss das Blatt auf Ming Fan zu.
Shen Qingqiu wischte sich eine Schweißperle von der Stirn, als Ming Fans lang gezogener, schrecklicher Schrei durch die Luft hallte.
Kein Wunder, dass man sagte, einem wahren Krieger könne selbst eine Blume oder ein Baum als Waffe dienen. Aber er hatte Ming Fan doch nicht getötet, oder?
Luo Binghe hatte einiges an Schlägen und Tritten eingesteckt, aber es war Ming Fan, der nun rückwärtsstolperte. Luo Binghe blickte auf. Frisches Blut tropfte von seiner Stirn und lief ihm in die Augen, doch als Ming Fan die Hand ausstreckte, rechnete er nicht damit, zu sehen, dass er selbst ebenfalls blutete. Er starrte ihn ungläubig an. »Du wagst es, ein Messer zu benutzen?«
Während der heftigen Schlägerei hatte Ning Yingying sich nicht getraut, näher heranzutreten, nun jedoch stürmte sie vor und stellte sich zwischen die beiden. »Nein, nein, A-Luo hat kein Messer. Er war es nicht!«
Luo Binghe wusste selbst nicht, was gerade geschehen war. Er presste die Lippen zusammen und versuchte, sich das Blut vom Gesicht zu wischen.
»Habt ihr etwas gesehen? Hatte er ein Messer in der Hand?«, befragte Ming Fan die anderen Schüler, während ihm Blut den Rücken hinunterrann – als wäre er von der Schneide eines Schwerts getroffen worden.
Die Schüler blickten einander verstört an, einige nickten, andere schüttelten den Kopf.
Ming Fan war ein verwöhntes und verdorbenes reiches Söhnchen, nie zuvor hatte er ein solches Maß an körperlichen Schmerzen erlitten. Der Anblick seiner von seinem eigenen Blut befleckten Hand ließ Panik in ihm aufwallen. Das Verwirrende daran war, dass weder auf dem Boden noch an Luo Binghes schlanker Gestalt Spuren einer Waffe zu erkennen waren. Sie konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben …
Shen Qingqiu hielt den Atem an. Plötzlich wurde es rot vor seinen Augen und eine riesige Textzeile blitzte in blutroten Lettern vor ihm auf, unübersehbar und erschütternd.
[Verstoß: OOC – B-Punkte -10. Aktueller B-Punktestand: 90.]
Shen Qingqiu atmete erleichtert auf. Er hatte schon damit gerechnet, dass ihm fünfzig oder mehr Punkte abgezogen würden, sogar damit, dass er alles verlieren könnte. Zehn Punkte konnte er vorerst verschmerzen. Es würde sicherlich Gelegenheiten geben, die verlorenen Punkte zurückzuverdienen.
Kaum hatte er aufgeatmet, da zeigte Ming Fan mit dem Finger auf Luo Binghe. »Auf ihn!«
Beinahe wäre Shen Qingqiu das Herz stehen geblieben.
Die Schüler hörten auf Ming Fan und umzingelten Luo Binghe.
Ohne darüber nachzudenken, riss Shen Qingqiu eine Handvoll Blätter ab und schoss sie ab.
Er bereute es, sobald sie seine Hand verlassen hatten.
Was zur Hölle mache ich denn? Was auch passiert, Luo Binghe ist die siegreiche Hauptfigur. Es ist nicht das erste Mal, dass er verprügelt wird. Als ob sie ihn totprügeln könnten. Als ob das ein Grund zur Besorgnis wäre.
Sein erster Eingriff wäre vielleicht noch unbemerkt geblieben, aber jetzt – selbst ein Trottel würde merken, dass etwas nicht stimmen konnte.
Viele der Schüler waren plötzlich von Blut befleckt. Erschrocken scharten sie sich um Ming Fan und wagten es nicht mehr, auf Luo Binghe einzuschlagen.
»Shixiong! Was ist los?«
»Shixiong, ich wurde auch geschnitten!«
Ming Fans Gesicht war vor Schreck bleich geworden. Nach einem Moment schrie er: »Lauft!«
Mit seinen Schergen im Schlepptau, die sich den Rücken und die Arme hielten, trat er hastig den Rückzug an. Wie ein plötzlicher Wind waren sie gekommen, und genauso verschwanden sie auch wieder.
Nur Ning Yingying stand noch immer wie angewurzelt da. »A-Luo, hast du sie verjagt?«, rief sie dann.
Luo Binghe schüttelte den Kopf, seine Miene war düster. Er richtete sich unter Schwierigkeiten auf. Dann bückte er sich und suchte mit angespannter Miene den Boden ab. Er wühlte angestrengt zwischen Blättern, Zweigen und Erde herum.
Shen Qingqiu wusste genau, wonach er suchte. Natürlich war es der Jadeanhänger, der in dem Durcheinander verloren gegangen war.
Für ihn war alles ganz klar: Vor dem Kampf hatte Ming Fan mit dem Arm ausgeholt und dabei hatte sich der Anhänger mit seinem roten Band hoch oben über ihren Köpfen in einem Zweig verfangen. Aber darauf konnte er sie ja schlecht hinweisen.
Außerdem war, sobald er die Blätter losgelassen hatte, in seinem Kopf die kreischende Stimme des Systems erklungen: [Verstoß: OOC – B-Punkte: -10x6. Aktueller B-Punktestand: 30.]
Mit einem Mal war sein Punktestand ins Bodenlose gesunken.
Ein Blatt entspricht also zehn Punkten? Ist das nicht etwas sehr simpel gerechnet?
Ning Yingying wagte es nicht, etwas zu sagen. Immerhin war sie der Auslöser des Ganzen gewesen. Wäre ihre große Klappe nicht gewesen, wäre Luo Binghe nicht verprügelt worden – und zu allem Überfluss hatte er auch noch seinen Anhänger verloren. Kleinlaut half sie ihm bei der Suche.
Aber als es dunkel wurde, hatten sie noch immer nichts gefunden.
Luo Binghe stand wortlos da und starrte auf den Boden. Sie hatten alles abgesucht, jeden Krümel Dreck umgedreht, aber nichts gefunden.
»A-Luo, wenn wir ihn nicht finden können, lass uns aufgeben«, sagte Ning Yingying, bestürzt darüber, ihn so enttäuscht zu sehen. Sie nahm ihn bei der Hand. »Es tut mir leid. Ich kaufe dir einen neuen, in Ordnung?«
Luo Binghe schenkte ihr keine Beachtung. Langsam zog er seine Hand zurück und lief mit gesenktem Kopf bis an den Waldrand. Ning Yingying eilte ihm hinterher.