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Eine Liebe, entstanden aus Rache – die düstere, romantische Liebesgeschichte zweier grundverschiedener Menschen »Wie hatte ich mich dazu hinreißen lassen können, Harper zu küssen? Ein Kuss zeugt im Gegensatz zu Sex von Emotionen. Von Gefühlen. Im schlimmsten Fall von Liebe.« Harper führt ein behütetes Leben in der Upper East Side Manhattans, Shaun muss nach dem frühen Tod seiner Eltern für sich und seinen kleinen Bruder sorgen. Als ihre vollkommen unterschiedlichen Welten miteinander kollidieren, wird beiden schnell klar, dass hinter dem jeweils anderen weit mehr steckt, als der erste Eindruck erkennen lässt. Doch was Harper nicht weiß: Dunkle Schatten und eine schwere Schuld lasten auf Shauns Schultern, und ihr erstes Treffen war kein Zufall … Triggerwarnung: Diese Geschichte behandelt die Themen Rassismus und Konsum von Drogen. Wattpad verbindet eine Gemeinschaft von rund 90 Millionen Leser:innen und Autor:innen durch die Macht der Geschichte und ist damit weltweit die größte Social Reading-Plattform. Bei Wattpad@Piper erscheinen nun die größten Erfolge in überarbeiteter Version als Buch und als E-Book: Stoffe, die bereits hunderttausende von Leser:innen begeistert haben, durch ihren besonderen Stil beeindrucken und sich mit den Themen beschäftigen, die junge Leser:innen wirklich bewegen! »Eine Liebe, die so düster, anziehend und vertraut wirkt. Zwei Charaktere und zwei so verschiedene Herzen, die einen mitziehen, mitreißen. Eine Geschichte, die spannend, aufladend und so faszinierend ist.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Was für eine traumhaft schöne unfassbar spannende Geschichte.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Dieses Buch! Ich habe es innerhalb weniger Tage durchgesuchtet.« ((Leserstimme auf Netgalley))
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Veröffentlichungsjahr: 2022
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Bei »The Shadows on your Soul« handelt es sich um eine bearbeitete Version des auf Wattpad.com von Dumai94 ab 2019 unter dem Titel »Primed for Sin« veröffentlichten Textes.
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »The Shadows on your Soul« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
© Piper Verlag GmbH, München 2022
Redaktion: Mira Manger
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
Triggerwarnung
Widmung
Playlist
– Prolog: Shaun –
– 1. Kapitel: Harper –
– 2. Kapitel: Harper –
– 3. Kapitel: Shaun –
– 4. Kapitel: Shaun –
– 5. Kapitel: Harper –
– 6. Kapitel: Harper –
– 7. Kapitel: Shaun –
– 8. Kapitel: Shaun –
– 9. Kapitel: Harper –
– 10. Kapitel: Harper –
– 11. Kapitel: Shaun & Harper –
– 12. Kapitel: Shaun & Harper –
– 13. Kapitel: Harper –
– 14. Kapitel: Shaun –
– 15. Kapitel: Harper –
– 16. Kapitel: Harper –
– 17. Kapitel: Harper –
– 18. Kapitel: Harper –
– 19. Kapitel: Shaun –
– 20. Kapitel: Harper –
– 21. Kapitel: Shaun –
– 22. Kapitel: Shaun –
– 23. Kapitel: Harper –
– Epilog: Harper & Shaun –
Danksagung
Triggerwarnung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Warnung: Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Eine Auflistung ist am Ende des Textes zu finden; sie kann den Inhalt leicht spoilern.
Für Philipp
Sieben Jahre mit dir sind noch lange nicht genug. Danke, dass du für mich den Mond auf die Erde geholt hast.
Top Down – Swizz Beatz
Milk & Honey (Alt Version) – Billie Marten
Party Monster – The Weeknd
Faking It – Sasha Alex Sloan
Ashes – Tony K
Sweet Home – SYML
Afraid – The Neighbourhood
High by the Beach – Lana Del Rey
Stronger – The Score
Nothing Breaks Like a Heart – Brimsley
Let You Go – RY X
Back to You – Tony K
Wummernde Beats. Ein hektisches Stroboskop, das den sonst trüben und verrauchten Raum ganz besonders in Szene setzte. Das waren meine beiden ständigen Begleiter, wenn ich meine Schicht im Dreams antrat. Die Frauen, meist mittleren Alters, die am Tresen herumlungerten und mich lüstern musterten, während sie ihre künstliche Oberweite zielstrebig zur Schau stellten, machten das Bild vollkommen. Ein alltäglicher Anblick.
Die Frau, die mir heute gegenübersaß und mich, schon seit ich arbeitete, unentwegt mit ihren Blicken auszog, konnte kaum älter sein als ich. Ihre knallroten Augen ließen leicht erkennen, dass an diesem Abend nicht nur Alkohol durch ihren Körper strömte. Es dauerte nicht lange, da beugte sie sich über den Tresen, um etwas bei mir zu bestellen. Ich kannte Frauen wie sie. Es war kein Versehen, dass ihre Silikonbrüste wie zwei überreife Orangen aus ihrem mindestens zwei Nummern zu kleinen BH quollen, der deutlich unter ihrem durchsichtigen Top hervorlugte.
Schwungvoll schmiss ich mir das Geschirrtuch, das ich gerade benutzt hatte, um ein Scotch-Glas abzutrocknen, über die Schulter und beugte mich ihr charmant lächelnd entgegen. Ein Schwall von Alkohol und Schweiß stieg mir entgegen, doch schreckte mich das nicht ab.
»Hey, einen Sex on the Beach für mich.«
Ich nickte und wandte ihr dann den Rücken zu, um Gläser und Flaschen aus dem hohen beleuchteten Regal hinter mir zu holen. Ich spürte, wie sich ihr Blick in meinen Rücken bohrte und sie vermutlich in just diesem Augenblick auf meinen Hintern glotzte.
Es war schon lachhaft, wie deutlich sie ihren eigentlichen Wunsch zeigte. Was dachte sie wohl in diesem Moment? Dass ich, wie die meisten anderen meiner männlichen Artverwandten, nichts bemerkt hatte? Dass sie üblicherweise mehr tun musste, um ihren Fang zu überzeugen? Oh, ich wusste sehr gut, was sie wollte. Was sie begehrte. Ob es daran lag, dass ich mir bereits einen gewissen Ruf in der Frauenwelt aufgebaut hatte, oder daran, dass ihr schlichtweg meine Ausstrahlung gefiel, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen.
Für mich spielte das keine Rolle.
Als ich mir eine vorgeschnittene Zitronenscheibe aus einem vereisten, metallisch glänzenden Behälter aus dem Kühlschrank geangelt und an den Rand des orangeroten Hurricane-Glases gesteckt hatte, wandte ich mich wieder meiner wartenden Kundin mit dem wallenden blonden Haar zu. Sie dachte anscheinend, dass ich ihr Starren nicht bemerkt hatte. Und wieder setzte ich meinen perfekt einstudierten desinteressierten Gesichtsausdruck auf. Den, der beinahe jede Frau in die Knie zwingen würde. Ich musste es mir wirklich verkneifen, mit den Augen zu rollen, als ich sah, dass mein Kalkül wieder mal Früchte trug. Es war schon fast zu einfach. Zu nervig. Dennoch: Meine körperliche Reaktion auf eine nette Bekanntschaft ließ sich nicht von der Hand weisen. Vielleicht nicht jetzt gleich, dachte ich, doch möglicherweise würde ich mich später noch zu etwas hinreißen lassen. Ach, was machte ich mir vor? Eine weitere, vollkommen bedeutungslose Nacht.
Nachher, wenn ich die Bar geschlossen und aufgeräumt hatte, würde ich sie vermutlich in den schummrigen Mitarbeiterraum entführen, ehe ich nach Hause zu Caleb fahren und den vorbildlichen Bruder mimen würde, den er nun so dringend brauchte. Es gelang mir nicht immer, auch wenn ich mir Mühe gab – für ihn.
Jeden Abend der gleiche Ablauf. Eine Frau kam zu mir an die Bar, tat so, als ob es ihr nur um den nächsten eiskalten Drink ging, den sie ihre Kehle hinabkippen konnte. Nie erwähnte eine von ihnen ihre eigentlichen Motive. Es war ein großes Spiel, von Beginn an falsch. Alle Spieler würden gewinnen – vorausgesetzt, sie hatten den Mumm dazu. Sie bekam ihren Drink und ein wenig mehr, und ich bekam … na ja. Alle stammten aus reichen Kreisen, nicht anders zu erwarten in einem Club in Upper Manhattan.
Auch in der hochgewachsenen Frau vor mir, die weiterhin mit tiefem Ausschnitt vor mir stand, sah ich Unsicherheit, als sie begriff, dass ich der Eine unter vielen war, der die Spielregeln beherrschte. Vermutlich nahmen all diese Frauen schlichtweg an, dass ich ein harmloser junger Kerl war. Förmlich gekleidet in Anzug und Fliege, dem Dresscode des Clubs im teuersten Viertel der Stadt entsprechend. Die Oberflächlichkeit der Partymenge spielte mir nur in die Hände. Hätte auch nur eine von ihnen zu weit hinter die Fassade aus schicken Schuhen und adrett getrimmten Bartstoppeln geblickt, hätten sie den Wolf im Schafspelz schon längst erkannt.
Ich hatte mein Unschuldslamm zwar kurzzeitig aus dem Konzept gebracht, allerdings hielt sie das nicht davon ab, lasziv an ihrem Strohhalm zu saugen und mich weiterhin anzustarren, während ich meiner Arbeit nachging und die anderen Gäste bediente. Dachte sie, ich bemerkte das nicht?
Ich knurrte leise, als ich aus den Augenwinkeln sah, wie drei Frauen, die etwas jünger wirkten als ich, durch den Raum schwebten und sogleich die Aufmerksamkeit meines Umfelds auf sich zogen. Ich hatte sie nicht reinkommen sehen, nicht dieses Mal, doch das Mädchen mit dem makellosen Gesicht, den kastanienbraunen Haaren, die ihr weit über die Schulter reichten, den Augen, die im blitzenden Lampenlicht wie Diamanten strahlten, war mir wie eine Vertraute. Ihr einziges Problem war, dass sie keine Ahnung hatte, wer ich war. Ihre Art zu gehen, jede Bewegung ihrer schlanken Beine sah so unschuldig aus, doch ich kannte die Wahrheit. Dieses Mädchen war kein Engel.
Sie warf den Kopf in den Nacken, hielt sich den Bauch und lachte herzlich über irgendetwas. Ich hörte nur den drängenden Beat der Musik, immer weiter, immer schneller. Die Gruppe setzte sich an ihren Stammplatz auf die roten Ledersofas, deren Bezug bereits bessere Abende erlebt hatte. Manche würden es wegschmeißen, doch die Gesellschaftsschicht, die hier verkehrte, hielt abgenutzte Einrichtung für den letzten Schrei. Die Entfernung zu ihr gefiel mir nicht, doch das würde sich früher oder später ändern, so, wie es immer ablief. Dafür würde ich schon sorgen.
Ich fragte mich, welche Rolle das Mädchen in diesem Dreiergespann wohl spielte. Sie war unschwer erkennbar schüchterner als ihre Freundinnen, und doch bewegte sie sich mit selbstbewusster Anmut. Ihre Freundinnen schienen dem Spiel deutlich zugeneigter. Sie gab sich größte Mühe dazuzugehören. Aufgehübscht und aufgedreht, bereit für eine wilde Nacht. Ein Teil ihres Lifestyles, aber tief im Innern wussten wir wohl beide, dass sie anders war. Sie gehörte nicht in diese perfekte Welt aus Plastik und Make-up, die wahre Leidenschaft oft vermissen ließ. Sie war anders, versteckte sich hinter einer perfekten Fassade, die ich schon längst durchschaut hatte.
Das Mädchen links neben ihr war die Draufgängerin der Clique, die in weiblicher Begleitung anreiste und den Abend in männlicher Begleitung ausklingen ließ. Mädchen Nummer drei mimte die Schnapsdrossel. Traute sich ohne die flüssige Lebenshilfe das ausgelassene Feiern nicht zu. Sie war genau die Freundin, die man gern mitnahm, um neben ihr gut auszusehen.
»Hallo? Sag mal, bist du noch anwesend?«, brüllte mir eine schrille Stimme entgegen.
Mein Blick wanderte zurück zu meiner Kundin, die sichtlich empört mit der Hand vor meinem Gesicht herumfuchtelte.
»Klar, darf es noch was sein?«, erwiderte ich kalt und ließ sie unmissverständlich spüren, dass ihre Zeit abgelaufen war.
»Echt jetzt? Wie du meinst. Du hast eben dein Ticket hierauf verspielt.« Sie deutete mit großen Gesten ihren makellosen Körper herab und ließ mich mit einer unangebrachten Fingergeste stehen.
Doch das störte mich nicht. Meine Aufmerksamkeit galt dem Engel auf der anderen Seite des Clubs.
Zerstreut saß ich an meinem Schreibtisch und starrte unentwegt auf die immer noch leeren Zeilen auf dem Bildschirm, die ich zwischenzeitlich längst mit Inhalt hätte füllen sollen. Seit ich hier saß – exakt eine Stunde, wie die kleine Uhr am Bildschirmrand mir unmissverständlich mitteilte –, hatte ich kein einziges Wort geschrieben, obwohl die Deadline für dieses Essay immer näher rückte. Normalerweise fiel es mir leicht, mich auf meine vier Buchstaben zu setzen und mich bis zum Hals in dicken Fachbüchern aus der Bibliothek zu verkriechen, aber heute blieb mir das Mysterium verschlossen. Wie ein in sich zusammenfallendes Kartenhaus sank ich schlapp auf meinem Stuhl zusammen, und mit einem Schlag resignierte mein Geist ob der unüberwindbaren Herausforderung.
Ich klappte mein Notebook zu und lehnte mich so weit auf meinem Schreibtisch nach vorne, dass ich die verschlungenen Seile der Manhattan Bridge unweit meines Zimmers erkennen konnte. Für ein Studentenwohnheim der Columbia war die Aussicht fabelhaft.
Und während die Fahrzeuge wie Spielzeugautos über die Brücke fuhren, schrie wie so oft die Stimme meines Vaters durch meinen Kopf. Natürlich wusste ich, wohin meine Motivation verschwunden war. In einen erneuten Streit mit meinen Eltern über meine fragwürdige Entscheidung, selbstständig leben zu wollen. Warum schlug sich Mom bloß immer auf seine Seite? Wo blieb denn dabei ihr sonst omnipräsentes Rückgrat?
Wieso begreift ihr es einfach nicht?
Dass ich kein Kind mehr war, das um jeden Preis behütet werden musste. Dass ich mein Studium der Medizin bereits bis ins vierte Semester überlebt hatte, musste doch Beweis genug für mein Erwachsenwerden sein.
Du hast es so gut hier, fernab von dem Dreck und dem Abschaum, der die Stadt seit Jahren überflutet.
Aber genau darum ging es mir.
Ich will ein eigenständiges Leben führen. Dazu gehört eben auch, mit vierundzwanzig Jahren endlich auszuziehen und meine eigenen Wege zu gehen.
Einen Teufel würde ich tun, mich wieder davon abbringen zu lassen. Abgesehen davon hätte es mich umgebracht, auch nur einen weiteren Tag in ihrem protzigen Haus zu verbringen. Dem Haus, in dem ich mit jedem Atemzug die Fassade einer perfekten Tochter aufrechterhalten musste. Auszuziehen war die beste Entscheidung meines Lebens gewesen. Auch wenn ich mich zu meinem großen Missfallen trotz allem ab und an bei irgendwelchen albernen Familienfesten blicken lassen musste – sofern ich mich nicht erfolgreich drücken konnte.
Menschen, die mich nicht kannten, hätten wohl gesagt, dass diese Vorstellung ziemlich versnobt war, zumal mir der Studienplatz in der Ivy League allein durch meinen Familiennamen bereits sicher gewesen war. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich um meinen Platz dort gekämpft, wie alle anderen auch. Jemand Außenstehendes hätte garantiert mit dem Kopf geschüttelt, wenn ich das erzählt hätte, dennoch änderte es nichts an der Wahrheit. Klischeehaft oder nicht, manchmal beneidete ich die Leute, die aus ärmeren Verhältnissen stammten als ich.
Der Gedanke, anders und normaler zu sein, begleitete mich an manchen Tagen durchgehend. Ich wollte mich nicht durch meine Eltern definieren, meine eigenen Erfolge schaffen, ganz ohne Nachhilfe. Doch leider war das nicht immer leicht. Zähneknirschend musste ich akzeptieren, dass meine Eltern meine Unkosten für die Universität beisteuerten. Der Job in einem Café, den ich mir damals gesucht hatte, hätte die Kosten nie allein decken können. Also musste ich vorerst mein Schicksal akzeptieren. Irgendwann, wenn ich selbst erfolgreich war, würde ich meinen Eltern jeden einzelnen Dollar zurückzahlen, den sie für mich ausgegeben hatten.
Sie konnten froh sein, dass ich überhaupt ihrem Wunsch entsprochen hatte, entweder Jura zu studieren, was mein Vater getan hatte, oder ebenfalls Medizinerin zu werden wie meine Mutter. Es war nicht so, dass ich mich nur wegen meiner Eltern für dieses Studienfach entschieden hatte, denn ich hatte mich aus freien Stücken dafür eingeschrieben. Schon seit ich denken konnte, war es mein Traum gewesen, anderen Menschen zu helfen. Und obwohl sich Mom demselben Beruf verschrieben hatte, wollte sie als Schönheitschirurgin viel lieber ihrer Brieftasche dabei helfen, noch fetter zu werden.
Bisher hatte ich es nicht geschafft, ihr davon zu erzählen, dass ich mit meinem Abschluss in der Tasche am liebsten erst einmal eine Zeit lang für Ärzte ohne Grenzen arbeiten wollte. Menschen wirklich helfen, doch das war eine Diskussion für einen anderen Zeitpunkt, den ich, so weit es nur ging, nach hinten schob.
Fasziniert beobachtete ich, wie die Golden Hour immer näher rückte und die Sonne New York in nur wenigen Minuten in ein atemberaubendes strahlendes Lichtermeer tauchte. Obwohl ich dieses Spektakel schon Hunderte Male mitverfolgt hatte, konnte ich nie genug davon bekommen. Auch heute noch zog mich das Lichtspiel tagtäglich in seinen Bann, und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, jemals woanders zu leben.
»Harp!«
Als die Tür zu meinem Zimmer ohne jegliche Vorwarnung aufgerissen wurde, zuckte ich so heftig zusammen, dass ich fast von meinem Stuhl gekippt wäre. Mein Herz machte einen Sprung, und ich brauchte einen Moment, um tief Luft zu holen und mich wieder zu beruhigen, ehe ich aufstand und mich dem Eindringling widmen konnte.
»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du anklopfen sollst, wenn du nicht willst, dass ich irgendwann wegen dir noch einen Herzinfarkt bekomme, Amy?«, grummelte ich, musste aber unweigerlich lächeln, als ich eine meiner beiden besten Freundinnen sah.
»Gib doch einfach zu, dass du Angst davor hast, dass ich dich irgendwann mal mit einem heißen Typen erwische«, entgegnete Amy gelassen, ehe sie sich auf mein Bett fallen ließ, so als ob sie auch hier wohnte. »Ach, warte. Dazu müsstest du ja erst einmal einen finden.«
Ich rollte mit den Augen, während ich beobachtete, wie sie sich auf den Rücken drehte und eins meiner Bücher auf meinem Nachttisch begutachtete. Das war typisch Amanda. Schon seit ich sie kannte – seit unseren jüngsten Kindertagen –, war sie eine aufgedrehte Person, die ihr Herz stets auf der Zunge trug. Wir hätten nicht unterschiedlicher sein können, aber vielleicht war es genau das, was die Freundschaft zwischen uns so perfekt machte. Ich liebte sie über alles und wollte sie nicht in meinem Leben missen. Manchmal dachte ich heimlich daran, wie es wäre, wenn ich rebellischer wäre. Gleichzeitig war ich mir auch sicher, dass sie mit ihrer quirligen Art oftmals darüber hinwegtäuschte, dass sie sehr wohl unter ihrem familiären Umfeld litt, auch wenn sie das so niemals zugegeben hätte. Im Gegensatz zu meiner heilen Welt waren Amandas Eltern schon seit Jahren getrennt, hüteten sich allerdings davor, die Öffentlichkeit daran teilhaben zu lassen.
»Wo hast du denn Leah gelassen?«, fragte ich Amanda mit nach oben gezogener Augenbraue und sah in froher Erwartung durch die offen gelassene Tür auf den Gang. Denn wo Amanda war, war Leah in der Regel nie weit.
Im gleichen Moment bemerkte ich, wie Amanda betont unauffällig nach meinem Zeichenbuch Ausschau hielt, das ich ihr nicht zum ersten Mal aus den Fingern reißen müsste. Doch so leicht würde ich es ihr dieses Mal nicht machen. Das Buch war gut versteckt, denn auch besten Freundinnen war der Zugang zu meinem Allerheiligsten verwehrt. Das ging niemanden etwas an außer mich selbst.
»Redet ihr hier von mir?« Eine gut gelaunte Stimme ertönte im Gang, ehe meine zweite beste Freundin auch schon im Türrahmen stand und mich angrinste.
»Da bist du ja endlich. Wieder Treppe gelaufen und den Aufzug außer Acht gelassen?«, kommentierte Amanda den Fitnesstick unserer Freundin.
»Ich bewege mich sowieso zu wenig, das Fitnessstudio ist mir mittlerweile zu fremd geworden«, erklärte Leah.
»Du meinst wohl, weil dein Derian Probleme mit deinem heißen Fitnesscoach hat?«
Kaum eine Sekunde später landete eines meiner Dekokissen, das sich Leah geschnappt hatte, auf Amandas Gesicht. Beide fingen an zu lachen und zankten sich wie zwei kleine Kinder auf meinem Bett. Ich musste grinsen und schüttelte den Kopf, unheimlich dankbar dafür, dass die beiden ein Teil meines Lebens waren.
Leah hatte sich mit Derian passenderweise in einen Mann verliebt, der aus den gleichen Kreisen stammte. Ich freute mich sehr für sie und war ganz aus dem Häuschen gewesen, als sie uns die Neuigkeiten ihrer Verlobung in Form eines leuchtenden Diamantrings überbracht hatte. Insgeheim hoffte ich, irgendwann auch mal jemanden wie Derian zu finden. Nicht einen elternzufriedenstellenden Speichellecker, sondern jemanden, der mich auf die Art ansah, mit der Derian meine Freundin Leah bedachte.
»Mädels«, sagte ich lachend. »Ich bin euch echt dankbar, dass ihr mich ablenkt, aber wieso seid ihr überhaupt hier?«
Meine Freundinnen hielten inne und sahen mich mit offenen Mündern an. Intuitiv rollte ich zum wiederholten Male mit den Augen, ehe Amanda von meinem Bett aufsprang und tadelnd die Arme vor der Brust verschränkte. »Ist das dein Ernst? Du hast unseren Mädelsabend vergessen?«, meinte Amanda und überlegte vermutlich, mir auf der Stelle die Freundschaft zu kündigen – also alles wie immer. »Der Sushi-Laden beim Dreams, den Leah so toll findet? Und danach mal wieder richtig die Sau rauslassen.«
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich unsere Verabredung tatsächlich komplett vergessen hatte. Mein Gedächtnis war in letzter Zeit zugegebenermaßen nicht das beste. Na ja, wem machte ich etwas vor? Irgendwie hatte ich es schon immer geschafft, mich in solche Situationen hineinzumanövrieren. Weil ich mit den Gedanken vollkommen woanders war.
Normalerweise ging ich gern mit den Mädels aus, angesichts der Berge an Aufgaben, die sich weiterhin vor mir auftürmten, hielt sich meine Begeisterung allerdings in Grenzen.
Amanda folgte meinem Blick auf die dicken Wälzer auf meinem Tisch und zog die Nase kraus. Um ihre Meinung zum heutigen Abend nochmals zu unterstreichen, stellte sie sich zwischen mich und meinen Arbeitsplatz.
»Nein. Auf keinen Fall, Harp!«
»Es tut mir leid, ich habe es vergessen. Ich muss diese Projektarbeit nächste Woche abgeben und …«
»Wieso wehrst du dich überhaupt noch? Wie lange kennen wir uns jetzt schon?«
»Seit zwanzig Jahren, Amy …«
»Was habe ich gerade gesagt? Vergiss es!«, stellte sie entschieden klar.
Es war zwecklos. Ich machte mir keine Mühe und ergab mich meinem Schicksal. Amanda hatte immer recht, sie besaß den größten Dickkopf, der mir jemals untergekommen war. Manchmal, wenn es mich packte, versuchte ich, sie von einem ihrer Vorhaben abzubringen – bislang ohne Erfolg. Ich seufzte theatralisch – ein Schmunzeln stahl sich nichtsdestotrotz auf meine Lippen.
»Na komm, Harp. Wir waren seit Ewigkeiten nicht mehr aus«, stimmte Leah mit ein und warf mir einen vorwurfsvollen Hundeblick zu.
»Danke, Leah, für deine Mühen, mich immer auf den rechten Pfad zu führen«, erwiderte ich sarkastisch. »Hast du nicht selbst bald Prüfungen? Müsstest du nicht ebenfalls lernen, anstatt die Nächte durchzumachen? Und was heißt hier überhaupt seit Ewigkeiten?«
Das letzte Mal war vor genau vier Tagen gewesen. Sie wussten ganz genau, wie sie bei mir mit Leichtigkeit ein schlechtes Gewissen erzeugen konnten. Bravo.
Leah studierte nach dem Vorbild ihrer Eltern Modemanagement. Meiner Freundin sah man das allerdings nicht so deutlich an wie ihren Eltern, deren extravaganter Kleidungsstil immer für einen unfreiwilligen Lacher sorgte. Leahs Kleidung hingegen war selbst verglichen mit Amy und mir eher unauffällig. Im Gegensatz zu meinen hatten ihre Eltern kein Problem mit ihrem Zimmer auf dem Campus gehabt. Leider war Leah an einer anderen Uni eingeschrieben, weshalb wir in unterschiedlichen Wohnheimen lebten.
»Okay!« Amanda ging direkt dazwischen, ehe Leah mir antworten konnte. Dabei nahm sie mich an den Schultern und schob mich vor meinen Kleiderschrank. »Bevor Miss Miesepeter das Ruder übernimmt, zieht sie sich besser ganz fix um, und dann kann es losgehen«, verkündete sie und ließ keine Widerworte mehr zu.
Ein letztes Mal gab ich mich still geschlagen – zumindest redete ich mir das felsenfest ein.
Wie sich herausstellte, war etwas Ablenkung genau das gewesen, wonach ich heute gesucht hatte. Während draußen ein sommerlicher Regenschauer die Straßen leerte und von den Gullideckeln Wasserdampf emporstieg, präsentierten sich vor uns kunstvolle Stapel von Sashimi und Maki-Rollen und bereiteten unsere Bäuche auf den Abend vor. Dabei verzichteten wir auch nicht auf unser allabendliches Ritual – Cosmopolitans wie Wasser zu trinken. Wir besuchten keinen Laden, der diesen Cocktail nicht auf der Karte hatte. Zwar gab es in meiner Vorstellung weitaus wohlschmeckendere Getränke, doch half es ungemein, etwas lockerer zu werden und die Medizinbücher, die in meinem Zimmer geduldig auf mich warteten, weiter zu verdrängen.
Als wir uns nach dem Essen wieder in der feuchtwarmen Luft der Stadt wiederfanden und das leichte Nieseln angenehm auf unsere Haut prasselte, konnten wir nicht anders, als angetrunken über jede Kleinigkeit schallend zu lachen. Der blumige Duft von Geosmin, der sich dank des feuchten Asphalts blitzschnell ausbreitete, verbreitete angenehme Sommer-Vibes. Ich war schon länger nicht mehr richtig betrunken gewesen. Manchmal musste man einfach loslassen und der Vernunft entsagen. Es wäre so viel einfacher, wenn ich mehr wie Amy wäre – abzüglich ihrer ganzen Männergeschichten natürlich.
Arm in Arm schlenderten wir die in den letzten Strahlen der Abendsonne glänzende Straße entlang, bogen in ein Dickicht aus Gassen und schmalen Wegen zwischen Feuerleitern und Mülltonnen ein und bahnten uns langsam unseren Weg zum Dreams.
Bereits vor der letzten Kreuzung war eine lange Schlange an feierwütigen Menschen zu sehen, die das gleiche Ziel wie wir hatten. Das Dreams gehörte zu den renommiertesten Clubs in Manhattan. Während viele Örtlichkeiten mit großen Buchstaben in Neonschrift und bulligen Türstehern aufwarteten, erinnerte der Eingang zum Dreams eher an eine verlassene Lagerhalle. Doch darauf fielen nur die Unwissenden herein. Hinter der großen Stahltür und den so gar nicht nach Ärger aussehenden Männern, die den Eintritt durch die Pforten bewachten, erschien jenseits eines dichten Nebelkleids eine Welt aus Lichtern und Stroboskopflackern, wie sie in der ganzen Stadt einmalig war.
Die Türsteher kannten uns inzwischen gut und winkten uns mit einem Nicken herein, sobald wir uns unter missbilligenden Blicken und einigen Buhrufen an der Menschentraube vorbeigedrückt hatten. Amanda nahm mich an der Hand und zog mich vorwärts durch den dichten Nebel hin zu den wummernden Bässen, während Leah Mühe hatte, uns zu folgen. Der einzige Raum des Clubs war stickig und vollgepackt mit Feiernden. Wie konnten hier überhaupt so viele Menschen hineinpassen?
Vor dem DJ-Pult war trotz der frühen Stunde bereits einiges los. Dicht an dicht schmiegten Tanzende ihre schwitzenden und teils spärlich bekleideten Körper aneinander, doch Amanda zog mich weiter auf die andere Seite des Clubs, in deren Nischen große Couches und Kissen zum Kräfteschöpfen zwischen ausgedehnten heißen Stunden auf der Tanzfläche dienten. Ich tat es meinen Freundinnen gleich, und wir sanken in eines der unendlich tiefen Sofas wie Kartoffelsäcke ein. Eine förmlich gekleidete Kellnerin, die mit ihrem jugendlichen Gesicht nicht viel älter als wir sein konnte, erblickte uns sofort und erfüllte uns den Wunsch nach dem nächsten Cosmo. Wie man eine Bestellung durch solch laute Musik überhaupt vernehmen konnte, war mir schleierhaft, doch die bestellten Drinks kamen ohne Probleme an unserem Tisch an.
Es war unheimlich schwer, nur mit Beinen und Händen den Takt zu trommeln und nicht gleich aufzuspringen und dem Drang nach hemmungslosem Tanz nachzugeben.
Ich sah dem Lichtspektakel, das sich vor mir ausbreitete, genüsslich zu und musste die Zeit vergessen haben, denn als Leah mir auf die Schulter tippte, erwachte ich aus meiner Trance und blinzelte verwirrt, geblendet von den noch helleren Scheinwerfern und Lasern. Ich dachte, ich hätte sie nicht verstanden, doch anstatt zu sprechen, zeigte sie bloß auf einen Punkt abseits des Geschehens. Mein Blick landete bei der Bar, die sich über die gesamte Wand erstreckte. Unzählige Flaschen sammelten sich dort eng und auf gefährliche Weise aneinandergeschmiegt in bunt beleuchteten gläsernen Regalen. Über den Tresen gebeugt teilten Kellnerinnen dem Barkeeper unendlich lange Bestellungen mit, während dieser ohne Pause Shaker und Gläser mit geschickten Händen jonglierte. Ich wusste, wen Leah mir zeigen wollte.
»Er ist wieder da«, dröhnte es zu laut in meinem Ohr, und Leah deutete zum zweiten Mal aufgeregt zur Bar. Autsch, mein armes Trommelfell.
»Ich sehs ja«, gab ich mit Händen und Füßen gestikulierend zurück.
»Komm schon, Harp«, rief Leah. »Gib doch endlich zu, dass er genau dein Typ ist!«
»Schmachten wir etwa schon wieder den heißen Barkeeper an?«, mischte sich nun auch Amanda ein und verzog ihre Lippen zu einem frechen Grinsen. »Ich schwöre dir, dass er eben schon wieder zu dir geschaut hat.«
»Der Typ starrt doch jedes weibliche Wesen völlig schamlos an. Siehst du nicht, wie ihm dieses blonde Topmodel gefällt, das förmlich an seinen Lippen und er an ihrem Ausschnitt klebt? Die Inkarnation eines Frauenhelden«, entgegnete ich und nickte zu der hochgewachsenen Frau mit den spitzen künstlichen Brüsten, die beinahe drohten aus ihrem Dekolleté zu rutschen.
»Na, wenn diese Dinger nicht das Werk deiner Mutter waren«, rief Leah mir spöttisch zu. Ganz unrecht hatte sie nicht. Die Werke meiner Mutter waren unverkennbar.
»Ich habe auch nicht gesagt, dass du ihn gleich heiraten sollst, oder?«, kommentierte Amanda trocken, aber auch auf ihrem Gesicht breitete sich ein schelmischer Ausdruck aus.
»O nein, auf keinen Fall!« Ich schüttelte energisch den Kopf.
»Auf jeden Fall! Sprich ihn doch einfach mal an, Harp. Was soll denn schon passieren? Ein bisschen Action würde dir echt mal wieder guttun. Das mit David ist schon ewig her. Außerdem … sieh ihn dir doch an! Dieser Typ hat bestimmt einen mordsmäßigen …« Ich beobachtete entsetzt, wie sie mit ihren Händen und ihrer Zunge eine mehr als eindeutige Geste machte.
»Amy!«, unterbrach ich sie schleunigst, spürte aber, wie bereits das Blut in meine Wangen schoss.
»Ich wusste es! Auch du hast schon darüber nachgedacht«, rief Amanda triumphierend aus, und ich senkte ertappt den Blick.
»Nur du schaffst es, in einem Aufwasch meinen bescheuerten Ex-Freund zu erwähnen, die Tatsache, dass ich tatsächlich für deine Verhältnisse seit einer Ewigkeit keinen Sex mehr hatte, schamlos auszunutzen und jemanden wegen seiner Herkunft zu diskriminieren.«
»Du weißt ganz genau, was ich dir damit sagen will und dass ich es nicht auf diese Weise meine.«
»Ja, ja, ist gut. Ich will es gar nicht wissen. Du kennst dich bestimmt sehr gut damit aus«, unterbrach ich sie zum wiederholten Male. Das plötzliche Leuchten in Amandas Augen deutete von ausreichender Erfahrung in Dingen, die ich so nie über meine Freundin erfahren wollte.
»Mach schnell, sonst kommt dir sein Fan da vorne noch zuvor«, rief Amanda. »Wie kannst du bei so einem Prachtkerl so entspannt bleiben?«
»Und wie kannst du jeden Mann nur als ein Stück Fleisch betrachten?«
»Harp«, unterbrach Leah unser verbales Duell und beugte sich noch etwas näher zu mir. »Findest du ihn heiß oder nicht?«
Unwillkürlich sah ich zurück zu ihm, wild jonglierend mit einem Shaker in der Hand. Ich kam nicht umhin, seinen muskulösen Bizeps zu bemerken, der sich deutlich unter dem weißen Hemd anspannte.
»Ansprechend, das muss man zugeben«, sagte ich und ließ den Widerwillen langsam von mir abfallen.
»Ansprechend?«, zog mich Leah schockiert dreinschauend auf. »Wow, es wird echt Zeit.«
»Du hast deinen Derian, wieso siehst du dann andere Männer überhaupt noch an?«, fragte ich sie provokant, auch wenn ich wusste, dass sie bis über beide Ohren in ihren Verlobten verliebt war.
»Nur weil ich bald heirate, heißt das nicht, dass ich andere Männer nicht zumindest ansehen darf, oder?«, gab sie grinsend zurück.
In diesem Moment kam die Kellnerin mit unser nächsten Runde Shots zurück, die wir in einem Zug leerten, und der Geist des Alkohols vernebelte weiter unsere Köpfe. Amanda bestellte gleich eine dritte Runde, während der Schnaps noch in meiner Kehle brannte. Mein Blick verfolgte die Kellnerin, die sich geschickt ihren Weg durch die Menschenmassen bahnte. Nach Ankündigung unserer nächsten Bestellung sah mich der Barkeeper dann aber ohne Vorwarnung an. Für einen unerträglich langen Moment fanden sich unsere Blicke durch die tanzenden Menschen und brannten sich tief ineinander, ehe er sich abwandte, um sich wieder mit unseren Gläsern zu befassen.
»Der steht so was von auf dich, ich sags dir«, beteuerte mir Amanda. »Du musst zu ihm! Wenn du nicht sofort zu ihm rübergehst, spielen wir ein Trinkspiel, und wenn du verlierst – wie so oft –, ist das dein Wetteinsatz. Komm schon, Harp! Tus für uns!«
»Ich kann mich heute nicht völlig abschießen, ich muss morgen wieder an mein Essay.«
»Ein Grund mehr, ihn sofort zu besuchen. Du weißt, wie hart Amy spielt«, meldete Leah sich zu Wort.
Ich seufzte. Es war nicht so, dass ich einen One-Night-Stand kategorisch ablehnte, nur stand mir gerade einfach nicht der Sinn danach, schon gar nicht mit einem Casanova wie ihm. Außerdem war ich auf der Hut vor etwaigen Krankheiten. In der heutigen Zeit konnte man nicht vorsichtig genug sein.
»Wieso verdammt nochmal seid ihr beide meine besten Freundinnen?«, fragte ich, stand dann widerwillig auf und bahnte mir, ohne weiter darüber nachzudenken, einen immer länger erscheinenden Weg zur Bar.
Ich hörte, wie meine Freundinnen hinter mir freudig in die Hände klatschten und pfiffen. Ich zeigte ihnen lediglich den Stinkefinger über meine Schulter und grinste dabei.
Meinetwegen würde ich zu diesem Typen gehen und ein wenig mit ihm reden. Davon, dass ich ihn anbaggern würde, war niemals die Rede gewesen – zumindest nicht für mich.
Als ich mich etwas wacklig auf den Beinen aufgerafft hatte, wusste ich, dass es kein Zurück mehr gab. Die Kellnerin warf mir einen irritierten Blick zu, sobald sie mich in der Nähe der Bar entdeckte. Ich gab ihr ein Zeichen, um ihr zu signalisieren, dass ich die Shots selbst holen würde. Eine Antwort konnte sie sich sparen. Vermutlich passierte das öfter, wenn ebenjener Typ hinter dem Tresen stand und munter Cocktails mischte. Hatte ich mich ernsthaft dazu breitschlagen lassen, ihn anzusprechen?
Ich schlängelte mich durch die dicke Nebelwand, vorbei an Gestalten in bunten Aufzügen, die zu dieser Zeit wie Motten im Licht den Club bevölkerten. Ich wusste ja nicht einmal, was ich zu ihm sagen sollte, sobald ich vor ihm stand. Als ich näher über den klebrigen Boden an die Bar herantrat, musterte ich die Frau mit den künstlichen Brüsten, die den Mann mit dem schwarzen kurz geschorenen Haar immer auffälliger anstarrte. Ich seufzte leise, suchte mir einen Platz etwas weiter von ihr entfernt und fragte mich, was Frauen bloß dazu verleitete, sich derart zu verhalten.
Der Barkeeper war gerade dabei, den nächsten Drink zuzubereiten, und bemerkte mich nicht direkt, als ich mich auf den noch freien Barhocker an der mittlerweile gut gefüllten Bar setzte und die Unterarme auf die Theke legte. Wirklich jeder Zentimeter dieser Bar war verklebt von Zucker und Alkohol. Ein furchtbares Gefühl machte sich an meinem Hintern breit, das mir sagte, dass mich dieser Hocker nicht ohne Kampf wieder freigeben würde.
Unsere Shots standen bereits fertig und ordentlich aufgereiht auf einem kleinen Tablett neben ihm. Gespannt verfolgte ich, wie er den Inhalt seines Shakers in ein Martini-Glas einschenkte, das mit einem Zuckerrand versehen war. Er wusste, was er tat und wie er damit auf Frauen wirkte, das musste man ihm lassen. Während er noch in seine Arbeit vertieft war, ließ ich meinen Blick aus nächster Nähe über ihn wandern.
Ich musste Amanda und Leah recht geben. Er war mehr als nur nett anzuschauen, das hieß allerdings noch lange nicht, dass ich mich wie diese hartnäckige Kandidatin neben mir an ihn ranschmeißen musste. Ich hatte zwar seit etwas mehr als zwei Monaten keinen Sex mehr gehabt und sehnte mich bei seinem Anblick unerwartet stark nach seiner Nähe, aber so schnell würde ich mich nicht auf dieses Niveau begeben. Ich wusste nicht genau, was es war, doch dieser Typ schrie förmlich nach keiner guten Partie. Und sei es nur für eine Nacht …
Dennoch strahlte der Mann vor mir eine Anziehungskraft auf mich aus, die mich verwunderte. Sein dunkler umbrafarbener Teint und die dazu passenden braunen Augen glichen niemandem, den ich bisher bewusst wahrgenommen hatte. Der durchtrainierte Körper, seine breiten Schultern und die stämmigen Oberarme brachten das weiße Hemd, das wohl jeder Angestellte hier tragen musste, besonders zur Geltung. Schwarze schmale Hosenträger spannten über seinem Hemd, und die dazu passende Fliege am Kragen rundete das optische Gesamtbild ab. Ob ich ihn vielleicht doch schon einmal auf dem Campus gesehen hatte? Ich konnte nicht mit dem Finger darauf deuten, aber irgendetwas an dem Barkeeper wirkte vertraut auf mich.
Ich liebte es, Menschen zu lesen. Etwas, das meiner Meinung nach für meinen Berufswunsch nur von Vorteil sein konnte, doch bei dem Barkeeper gab es nicht vieles, was ich nur anhand seines Äußeren sah. Dass er offensichtlich ein Frauenheld war, stand außer Frage, aber dieser harte Ausdruck in seinen Augen machte mich stutzig. Er konnte nicht gern hier arbeiten, was den meisten Beobachtern vermutlich entgangen wäre. Die Frage war also, wieso. Wieso er doch hier war, denn auf den ersten, oberflächlichen Blick wirkte er so, als liebte er es, Drinks zu mischen, und als ob es keine schönere Tätigkeit für ihn gäbe.
Plötzlich schien er zu bemerken, dass er von mir gemustert wurde, und sah auf – direkt in meine Augen. Der Ausdruck der Gleichgültigkeit verschwand nicht, doch bekam ich die Gelegenheit, sein Gesicht näher zu betrachten. Ich lächelte und deutete auf die Shots, die zu seiner Rechten auf mich und meine Freundinnen warteten. Sofort löste er unseren Blickkontakt, griff nach dem kleinen Tablett und stellte es vor mich, ehe er sich daran machte, die nächste Bestellung abzuarbeiten.
Gesprächig war er nicht. Musste er als Barkeeper nicht zumindest ein Mindestmaß an Interesse für zwischenmenschliche Kommunikation besitzen? Eine gewisse Kontaktfreudigkeit? Seine Kühle machte mich trotzdem neugierig. Meine Freundinnen beobachteten mich mit erwartungsvollen Blicken, und auch meine vermeintliche Konkurrentin sah bereits missbilligend in meine Richtung, aber das war es nicht, was mich schlussendlich dazu bewegte, ihn anzusprechen. Dieser Impuls ging ganz allein von meiner Seite aus.
»Hi«, rief ich ihm entgegen und beugte mich dabei etwas weiter nach vorne, damit er mich nicht nur hörte, sondern auch sehen konnte. »Ich bin Harper.«
Er sah mich für den Bruchteil einer Sekunde an, sein Blick durchbohrte mich förmlich, doch mehr war aus ihm nicht herauszubekommen, ehe er sich wieder vollständig auf sein Tun fokussierte. Ich musterte ihn nachdenklich, doch als er mich auch weiterhin gekonnt ignorierte, signalisierte er mir deutlich, dass es Zeit wurde, wieder zu gehen.
»Hör mal, ich will dich überhaupt nicht lange von deiner Arbeit abhalten, ich brauche nur kurz deine Hilfe«, meinte ich dann in einem letzten Versuch, doch er tat weiterhin so, als ob er mich nicht einmal gehört hatte. »Normalerweise wäre das jetzt der Teil des Gesprächs, in dem du dich vorstellst und sagst: Klar, was kann ich für dich tun?«
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich unsere Kellnerin neben mir über den Tresen beugte. Er bemerkte sie sofort und stellte, ohne mich noch einmal anzusehen, zwei Scotch-Gläser und einen undefinierbaren Cocktail auf das runde Tablett. Ehe die Kellnerin wieder verschwand, warf sie mir einen missbilligenden Seitenblick zu, um mich wohl dazu aufzufordern, wieder zurück an meinen Tisch zu gehen, doch ich ließ noch nicht locker.
Das Gesicht eines schlaksigen Mannes mit verstrubbeltem blondem Haar lugte aus einer Seitentür hinter der Theke heraus.
»Shaun, kann ich kurz Pause machen, oder brauchst du mich vorne?«, rief er ihm zu.
Der Mann vor mir wandte sich zu seinem Kollegen um und nickte lediglich, woraufhin dieser wieder durch die Tür zwischen den leuchtenden Flaschenregalen verschwand, durch die er eben auch aufgetaucht war.
»Shaun also. Nett, dich kennenzulernen …«
Manchmal kamen einem andere Menschen sehr gelegen.
Wenn es ihn störte, dass ich nun seinen Namen kannte, dann zeigte er mir das nicht. Um genau zu sein, zeigte er mir überhaupt nichts, denn seine Haltung blieb unverändert. Ich seufzte und entschied mich dafür, nicht weiter darauf herumzureiten.
»Wenn meine Freundinnen nicht wären, wäre ich gar nicht erst hier und würde dich nerven«, erzählte ich ihm die Wahrheit und zuckte dabei unschlüssig mit den Schultern. »Sie ließen nicht locker, und du kennst Amanda und Leah nicht. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben, ist es unmöglich, sie davon abzubringen.«
Keine Erwiderung, keine Veränderung in seiner Mimik oder Gestik – nichts. Man könnte geradezu meinen, dass ich hier mit einem Roboter redete. Ich machte mich lächerlich. Glücklicherweise war mir das dank meiner fortgeschrittenen Trunkenheit völlig gleichgültig. Ich hielt noch einmal kurz inne, dann begann das Spiel.
»Sie denken, dass ich mich schon viel zu lange von Männern ferngehalten habe. Dabei habe ich momentan einfach keine Lust auf einen Kerl. Ich bin nicht hier, um mit dir zu flirten. Ich will nur, dass sie mich in Ruhe lassen. Und siehe da, jetzt kann ich sagen, dass du sowieso gelangweilt von mir bist.«
Er antwortete weiterhin nicht, aber ich sah, wie sich seine Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln formten. Ein Fortschritt.
Ging dieser Kerl immer so mit Frauen um? Klar, niemand wurde zum Gespräch gezwungen, doch irritierte mich seine kalte Schulter mehr, als mir recht war. Seine Finger hantierten gekonnt mit den bunten Flaschen und zauberten in Windeseile unzählige weitere Getränke. Alles in einer flüssigen Bewegung, als hätte er noch nie etwas anderes gemacht.
»Sag mal, dein Fan da drüben ist dir aber schon aufgefallen, oder? Wie sie dich anschmachtet. Sie ist ganz eifersüchtig geworden, als ich hier ankam«, sprach ich ihn ein aller letztes Mal an und war bereit, den Versuch endgültig aufzugeben.
Doch nun sah er auf. Sein Blick landete auf besagter Frau, die völlig überrumpelt davon, dass er sie nicht länger ignorierte, fast das Gleichgewicht auf dem kleinen Hocker verlor und drohte in ihrem Sturz das halbe Inventar der Theke mit sich zu ziehen. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich fangen und einer großen Szene entgehen. Genauso schnell hatte er sich jedoch wieder von ihr abgewandt, denn nun war ich an der Reihe. Und hatte sofort Mitgefühl für sie. Denn es lag etwas Magisches in seinen tiefen Augen, was auch mich für einen Moment ins Wanken brachte. Plötzlich stand die Zeit still, und ich erwiderte seinen Blick. So lange, bis sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, ehe er unsere Verbindung wieder löste.
»Und was willst du nun bestellen?«, wollte er von mir mit brummender unterkühlter Stimme wissen, die in keiner Weise mehr an den fast schon freundlichen Ausdruck in seinem Gesicht von gerade eben erinnerte.
»Ich brauche sonst nichts, danke«, sagte ich schnell und war verwirrt von seinem ruppigen Verhalten.
Ich konnte ihn einfach nicht durchschauen. Er zeigte keine Regung mehr und gab nichts weiter von sich, weshalb ich mir die Gläser vom Tablett nahm und mich ohne ein weiteres Wort auf den Rückweg machte. Als ich mich umdrehte und die Shots zurück zu unserem Platz balancierte, bemerkte ich, dass Amanda und Leah mich tatsächlich die ganze Zeit über beobachtet hatten. Genauso beobachtet fühlte ich mich jedoch von der Bar hinter mir. Ob das nun sein Fan war, erleichtert darüber, dass ich ihn nun doch in Ruhe ließ, oder Shaun, der mir nachsah, war schwer zu sagen. Ich drehte mich nicht mehr um.
»Und?«, platzte es aus einer strahlenden Leah heraus, noch bevor ich die Gelegenheit hatte, mich hinzusetzen. Als Ausgleich für dieses seltsame Gespräch musste erst einmal mein Shot her. Für Leah blieb mir nur ein Schulterzucken übrig.
»Was soll das denn jetzt wieder heißen?«, entgegnete Amanda ungeduldig. »Du warst immerhin eine ganze Weile weg. Man konnte euch von hier aus kaum sehen, nun erzähl schon!«
»Da gibt es nicht viel zu sagen. Er ist wohl kein Freund von Small Talk«, erklärte ich, griff nach einem weiteren Shot, legte meinen Kopf in den Nacken und ließ die klare Flüssigkeit meinen Hals entflammen. Angewidert verzog ich das Gesicht. Amanda musste irgendetwas anderes als zuvor bestellt haben. Das schmeckte ja widerlich nach Minze!
»Wow, so schlimm also?«, fragte Leah lachend, doch erkannte ich die Enttäuschung in ihrer Stimme. »Hast du wenigstens erfahren, wie er heißt?«
»Shaun.«