The Stake – Die Strohpuppe - David Hewson - E-Book
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The Stake – Die Strohpuppe E-Book

David Hewson

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Beschreibung

Ist dieses Dorf das Paradies oder die Hölle auf Erden? Der abgründige Thriller »The Stake – Die Strohpuppe« von David Hewson als eBook bei dotbooks. Ein kleiner Ort im Süden Englands, in dem jeder jeden kennt – und eine Hand die andere wäscht ... Nach dem schmerzlichen Verlust ihres Babys zieht die junge Alison mit ihrem Mann nach Beulah, um fernab der hektischen Großstadt ein neues Leben anzufangen. Doch was ihr zunächst wie die perfekte Idylle erscheint, entpuppt sich schon bald als Albtraum: Beim Erntedankfest muss sie mitansehen, wie eine Strohpuppe auf einem Scheiterhaufen verbrannt wird ... Und für einen Moment scheint es ihr, als würde ein Mensch in der brennenden Puppe stecken! Kann sie ihren eigenen Augen nicht mehr trauen – oder deckt die eingeschworene Dorfgemeinschaft ein Monster, das ungestraft mordet? »David Hewson lässt den Leser staunen und bangen.« Die Welt Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Thriller »The Stake – Die Strohpuppe« von David Hewson wird Fans von Stephen King und des Filmklassikers »Wicker Man« begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 689

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Über dieses Buch:

Ein kleiner Ort im Süden Englands, in dem jeder jeden kennt – und eine Hand die andere wäscht ... Nach dem schmerzlichen Verlust ihres Babys zieht die junge Alison mit ihrem Mann nach Beulah, um fernab der hektischen Großstadt ein neues Leben anzufangen. Doch was ihr zunächst wie die perfekte Idylle erscheint, entpuppt sich schon bald als Albtraum: Beim Erntedankfest muss sie mitansehen, wie eine Strohpuppe auf einem Scheiterhaufen verbrannt wird ... Und für einen Moment scheint es ihr, als würde ein Mensch in der brennenden Puppe stecken! Kann sie ihren eigenen Augen nicht mehr trauen – oder deckt die eingeschworene Dorfgemeinschaft ein Monster, das ungestraft mordet?

»David Hewson lässt den Leser staunen und bangen.« Die Welt

Über den Autor:

David Hewson wurde 1953 geboren und begann bereits im Alter von 17 Jahren für eine Lokalzeitung im Norden Englands zu arbeiten. Später war er Nachrichten-, Wirtschafts- und Auslandsreporter bei der »Times« und Feuilletonredakteur bei »The Independent«. Heute ist er ein international bekannter Bestsellerautor. Sein Thriller »Todesritual«, auch bekannt unter dem Titel »Semana Santa«, wurde mit dem W. H. Smith Fresh Talent Preis für einen der besten Erstlingsromane ausgezeichnet und verfilmt. Er schrieb die Bücher zur dänischen Fernsehserie »The Killing« und seine Nic-Costa-Kriminalromane wurden weltweit zum großen Erfolg.

Die Website des Autors: davidhewson.com

David Hewson veröffentlichte bei dotbooks bereits die Nic-Costa-Kriminalromane »Das Blut der Märtyrer« und »Der Kult des Todes«, außerdem die Thriller »Todesritual«, »Burning Earth – Der Countdown läuft«, »The Cabin – Mörderischer Rausch« und den Spannungsroman »Die dunklen Schatten von Venedig«.

***

eBook-Neuausgabe Januar 2023

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2000 unter dem Originaltitel »Native Rites« bei Harper Collins Publishers, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Die Strohpuppe« bei Ullstein.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2000 by David Hewson

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2001 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/brickvena; AdobeStock/JulietPhotography

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-469-2

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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David Hewson

The Stake – Die Strohpuppe

Thriller

Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle

dotbooks.

Michaelistag

Es war die dritte Septemberwoche, und die Ernte war noch nicht eingebracht. Die Luft war erfüllt mit dem scharfen, süßen Duft von frisch geschnittenem Weizen und Hafer. Spreu und Strohstückchen tanzten in der schwachen Brise, glitzerten im weichen Spätnachmittagslicht. Alison Fenway saß nackt auf der Kante des großen Doppelbettes und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

Miles lag wie ein träges Apostroph auf dem Laken, ein katzenartiges Grinsen im Gesicht. Sein Haar wurde an den Schläfen schon leicht grau. Viel zu früh für einen Fünfunddreißigjährigen, dachte sie. An seinem schlanken, muskulösen Körper war kein Gramm Fett.

»Sind es wirklich erst zwei Monate?« fragte sie, immer noch ein bißchen unsicher, ob ihr amerikanischer Akzent in die georgianische Pracht des Hauses paßte, ob die Wände nicht insgeheim mißbilligend miteinander tuschelten.

Er sah zur Decke hinauf und überlegte. »Guter Gott, ja. Die Zeit ist wie im Nu vergangen, nicht?«

Nur schwach erinnerte sie sich an den Tag, an dem sie das Sanatorium in den Catskills verlassen hatte, den Kopf immer noch voll wirbelnder, bitterer Gedanken. Eine Autofahrt, ein Flug, quälender Schlaf, dann England, Heimat für Miles, aber ihr stets ein wenig fremd. Das Wetter war für die Jahreszeit ungewöhnlich freundlich gewesen. Am Anfang waren die Straßen noch genauso verstopft, wie sie das von zu Hause kannte, bis sie nach Süden abbogen, nach Kent, wo die Landschaft plötzlich weiter wurde: flaches, offenes Ackerland und in der Ferne die hohe Hügelkette der Downs. Dann schließlich schmale, gewundene Landstraßen, kaum breit genug für zwei Autos. Sie waren fast da.

Sie hatte Beulah zuerst von einem Tal aus erblickt, das in der Nähe von Wye lag. Das Dorf wurde überragt von einem riesigen weißen Pferd, das oben auf dem Vipers Hill in den Kalkstein der Downs gemeißelt worden war. Schweigend hatte sie auf dem Beifahrersitz gesessen und versucht, sich mit der Idee vertraut zu machen, daß das Stadtleben hinter ihr lag. Als Miles zum ersten Mal davon gesprochen hatte, war es ihr durchaus sinnvoll vorgekommen. Aber das war danach gewesen. Alles wäre ihr sinnvoll vorgekommen, jeder Fluchtplan aus der Stadt; weg von den ruhelosen, quälenden Erinnerungen. Er hatte das Haus geerbt, kurz nachdem sie »krank« geworden war. Im Sanatorium hatte er ihr Fotos vom Haus gezeigt, und sie hatte genickt. Ihr Leben bewegte sich wieder. Die Stimme ihres toten Vaters verfolgte sie, sein harter, kalter Bostoner Akzent: Wir brauchen alle ein Ziel, Alison. Wird Zeit, daß du dich daran erinnerst.

Der Wagen hatte die Hügelkuppe überwunden, war in scharfen Zickzackkurven hinuntergefahren und hatte schließlich eine schnurgerade Pappelallee erreicht, deren Blätter sich in der Morgenbrise sanft bewegten.

Auf dem Dorfplatz war es lebhaft zugegangen: Farben und Menschen, Spiele und Rituale. Sie hatten vor dem zweistöckigen georgianischen Herrenhaus angehalten, das Alison wegen seiner Größe zuerst für ein Hotel gehalten hatte. Und, ganz der edle Ritter, der er war, hatte Miles Fenway sie grinsend über die Schwelle von Priory House, der alten Priorei, getragen und ihr alle Ecken und Winkel gezeigt, die riesige Küche und die luftigen Zimmer mit den hohen Decken. Später waren sie durch den Garten hinter dem Haus gegangen, über die große Wiese, an den Rabatten und den vernachlässigten Gemüsebeeten entlang, Hand in Hand wie Kinder, die ein verborgenes Paradies betraten.

In jedem Leben gab es, wie sie wußte, einen wichtigen Punkt, an dem eine einzige, kleine Entscheidung die Richtung all dessen bestimmte, was danach geschah. Nach Beulah und ins Priory House zu kommen war ein solcher Punkt. Es wäre leicht gewesen, das alles abzulehnen. Zu erkennen, daß man auf diese Weise kein neues Zuhause fand, keinen neuen Anfang machte, nur auf der Basis ferner Blutsverwandtschaft, auf der Basis eines Besitztitels, der von einer Generation auf die nächste vererbt wurde. Da war ein Moment, in dem sie den Kopf hätte schütteln und sagen können: Nein. Ich will mein eigenes Leben führen. Ich suche mir selbst aus, wo ich wohnen will.

Die Worte waren ihr durch den Kopf gegangen ... und wieder verflogen. Vor dem alten, hitzegeschwärzten Aga in der großen Küche hatte sie Miles geküßt, dankbar, daß er wußte, wann er die Führung übernehmen und wann er sich zurückhalten mußte. Ihre Akzeptanz und das damit verbundene Gefühl der Erleichterung waren nach wie vor in ihre Erinnerung eingebrannt. Es würde funktionieren! Sie hatten es wirklich verdient!

Alison nahm einen letzten Zug aus ihrer Zigarette und drückte sie, nur halb geraucht, im Aschenbecher auf dem Fensterbrett aus. Es gab keinen Grund, nach dem Sex zu rauchen. Nur eine Gewohnheit, und eine schlechte dazu. Die Zigarette schmeckte ihr nicht einmal mehr. Sie mußten miteinander schlafen, zum richtigen Zeitpunkt, das war wichtig. Tabak hatte dabei nichts zu suchen. Er schmeckte widerlich. Manchmal konnte sie sich riechen. Und wenn sie das verdammte Ding anzündete, wenn das Feuerzeug kurz aufflammte, fing auch ihr Kopf gelegentlich Feuer, und die Erinnerungen stürmten auf sie ein. Es war Zeit, das Rauchen aufzugeben. Nein. Morgen würde sie es aufgeben.

Ein leises Miauen an der Tür, dann stolzierte der hellrot getigerte Kater herein. Miles hatte ihr Thomas in der Woche nach dem Einzug gekauft. Das Tier hatte einen hinreißend hochnäsigen Charakter und verbrachte die meiste Zeit in seinem Korb neben dem Aga, von wo aus es die Welt träge betrachtete. Alison hatte ihm einmal einladend die Hintertür geöffnet, damit er den Garten mit dem dort lebenden Getier erforschen konnte. Thomas hatte sie angestarrt und mit beleidigter, katzenhafter Ungläubigkeit geblinzelt.

Mit einem Satz sprang der Kater aufs Bett, setzte sich zwischen sie, verlangte ihrer beider Aufmerksamkeit. Alison streichelte seinen Hals, beugte sich dann über das Tier hinweg und gab Miles einen Kuß auf die Wange, die schon wieder kratzig war. Miles schien so voller Leben, seit sie umgezogen waren, als ob alles in ihm mit doppelter Geschwindigkeit liefe. »Danke«, sagte sie.

»Wofür?«

»Für die Katze. Weil du mich verwöhnst.«

Er setzte sich auf. »Das tu ich doch für uns beide.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du sitzt vier Stunden am Tag im Auto. Du bist ein Stadtmensch, Miles. Wir wissen beide, daß du nur eine verrückte Frau verwöhnst.«

Mit schmerzlich verzogenem Gesicht schloß er die Augen. »Du bist nicht verrückt. Das warst du nie. Nur ...«

Sie legte ihm den Finger auf die Lippen. »Pst. Ich weiß. ›Ein bißchen Regen in jedem Leben ...‹«

»Genau«, murmelte er zuversichtlich, stand dann auf und ging ins Badezimmer. Gleich darauf hörte sie die Dusche rauschen. Thomas stellte bei dem Geräusch die Ohren auf. Der Kater dachte offensichtlich an die Möglichkeit, naß zu werden, und flitzte durch die Tür in die Sicherheit seines Korbs am Aga.

Alison lachte leise und ging ans Fenster, begierig darauf, das Dorf zu betrachten. Erschreckt schnappte sie nach Luft. Die Blamire-Zwillinge sahen nicht mehr dem Cricketmatch auf dem Dorfanger zu. Sie hatten sich umgedreht und glotzten jetzt zum Haus herüber. Ins Schlafzimmer, wo sie nackt hinter der Fensterscheibe stand.

»Schaut gut hin, Jungs«, sagte sie leise mit breitestem New Yorker Akzent, beugte sich vor, drückte ihre Brüste an die kalte Scheibe, setzte ein leeres, unschuldiges Grinsen auf, nahm dann lässig den seidenen Morgenrock vom Bett und legte ihn sich um die Schultern. Er fühlte sich organisch an, wie die raschelnde, abgestreifte Haut eines mythischen Reptils. Sie setzte sich aufs Bett, zündete sich eine weitere Zigarette an und schaute erneut aus dem Fenster. Die Blamires beobachteten wieder das Match, hatten ihr den Rücken zugekehrt. Schade, dachte Alison. Sie hätte gern gesehen, ob sich ihre runden, wettergegerbten Gesichter gerötet hatten. Einer der Zwillinge – Harry, oder war es Mitch? Sie konnte sie noch immer kaum auseinanderhalten – ging zur anderen Seite des Dorfangers und half einigen Dorfbewohnern beim Aufschichten eines Holzstapels. Das Rauschen der Dusche verstummte.

»Miles«, rief sie. »Was ist da los? Was ist das nun wieder für ein britischer Unsinn?«

Er kam aus dem Badezimmer, rubbelte sich den Kopf mit dem Handtuch ab. »Is ’n großer Tach heut«, ahmte er die ländliche Sprechweise nach.

»Himmel. Das hört sich ja furchtbar an. Da sprech ja ich als Amerikanerin besseres Englisch.«

»Ach ja?« Er schien ein bißchen beleidigt.

»Du arbeitest in einer Handelsbank. Dir fällt es von Natur aus schwer, anderen Menschen zuzuhören. Ich hingegen kann als normales menschliches Wesen durchgehen. Und ich höre zu.«

»Na prima. Und was hörst du?«

»Ach, das übliche Cockney, was man heutzutage von der BBC serviert bekommt. Verschluckte Konsonanten. Paw statt Paul. Goh statt got, solche Sachen halt.«

Sie dachte darüber nach. Damals, vor einem Jahrzehnt, als sie noch meinte, Schauspielerin werden zu wollen, hatte sie Sprechunterricht genommen. Sie konnte noch immer Gweyneth Paltrows britisches Englisch nachahmen, wenn sie wollte. Nicht schlecht für jemanden, der seine ersten fünfzehn Jahre in einer privilegierten Bostoner Umgebung verbracht hatte. Alison dachte an die zwei am nächsten gelegenen Städte, jede zwanzig Minuten mit dem Auto von Beulah entfernt, das einsam auf den Downs lag. »Ashfurrd. Caturrbury.«

Er rubbelte noch immer, war beeindruckt. »Sehr gut. Die Blamire-Zwillinge werden dich ins Herz schließen.«

Sie schaute zum Dorfanger und dachte: Wir sind hier nicht am Ende der Welt. Hier leben Menschen. Du solltest nicht nackt am Fenster stehen und erwarten, daß sie wegschauen. Mehr noch, du solltest dich nicht über sie lustig machen. »Ich glaube, das haben sie bereits. Also, noch mal. Was ist da draußen los?«

Er zog ein Hemd über, schlüpfte in seine Jeans. »Wie ich schon sagte. Der große Tag. Erntefest. Eine uralte Tradition.«

Die Leute um den Holzstapel machten Fortschritte. Und jetzt war auch zu erkennen, was sie da aufbauten. Nur beim bloßen Gedanken daran wurden Alisons Füße eiskalt. »Du meinst, so was wie Erntedank? Ich dachte, da geht’s um Kinder in der Kirche, die Äpfel verteilen, langweilige Pfaffen und ›Wir ernten und wir säen‹.«

Miles legte seine Hand auf ihren Kopf, und sie wäre fast zurückgezuckt. Manchmal war er wirklich so gönnerhaft, daß es sie rasend machte. »Uralt«, wiederholte er. »Sei doch nicht so neuzeitlich engstirnig. Das ist alles heidnisch. Weihnachten. Ostern. Alles.«

»Ein Scheiterhaufen? Wir haben den 21. September. Nicht dieser Blödsinn, den ihr Jungs am fünften November veranstaltet.«

»Guy Fawkes ist nur ein Überbleibsel, meine Liebe. Ich wette, vor mehreren hundert Jahren hat in jedem englischen Dorf so was wie das hier stattgefunden. Geburt, Wiedergeburt. Solche Sachen. Du solltest mal John Tyler fragen. Der weiß alles darüber.«

Sie schreckte vor dem Namen Tyler zurück und wußte nicht, weshalb. Vor einer Woche war sie bei ihm zur Untersuchung gewesen. Beim Gedanken daran bekam sie noch immer Gänsehaut. »Ach, dieser schleimige Kerl. Wie schön, daß der auch hier im Dorf wohnt.«

Miles seufzte und strich ihr über das Haar. Diesmal entzog sie sich ihm. »Wir werden vielleicht eines Tages dankbar dafür sein«, sagte er. »Du weißt, daß ich bereit bin, jeden Londoner Arzt zu bezahlen, den du aufsuchen willst. Aber Tyler scheint ein guter Mann zu sein. Die Dorfbewohner verehren ihn und seine Frau.«

Ein guter Mann. Sie hatte eine Stunde in seinem Sprechzimmer in Wye verbracht, fünf Kilometer den Hügel hinunter. Eine Stunde, in der sie auf jede erdenkliche Weise befühlt und abgetastet worden war. »Du weißt, daß mit dir und mir alles in Ordnung ist, Miles. Das wissen wir beide. Es ist nur eine Frage der Zeit.«

Ich werde schwanger werden, ich werde schwanger werden. Warum kannst du das nicht verstehen?

»Trotzdem, ein zahmer, begabter Arzt vor der eigenen Tür ist nicht zu verachten.«

Vielleicht verfügt dieser Landarzt über ein Heilmittel, dachte sie. Zauberformeln, Beschwörungen. Geburt, Wiedergeburt. Sollte er es doch versuchen. Er oder ein anderer. Ihr war es egal, wie es passierte. Sie wollte einfach nur schwanger werden, wollte pulsierendes Leben in sich spüren und Kinderstimmen auf den langen, leeren Fluren von Priory House hören.

Alison beobachtete, was sich auf dem Dorfanger tat. Nein, dem Minnis. Sie waren hier so stolz auf ihre örtlichen Traditionen, auf die seltsamen, nur hier gebräuchlichen Bezeichnungen. Das, dachte sie, ist der wahre Unterschied zwischen dem Dorf und der Stadt. Es wollte anders sein, wollte sich eine eigene Identität bewahren. Hieß das, sie lehnten Außenstehende ab? Nein. Nicht einmal eine Amerikanerin mit ihrem merkwürdigen Akzent und fragwürdigen Gründen, hier zu sein. Man war ihr stets mit Wärme und Freundlichkeit begegnet, nicht selten gepaart mit einer gewissen Exzentrik. Granny Jukes, das alte Muttchen, das in der schmucken weißen Windmühle mit dem Kiespfad auf der anderen Seite vom Minnis wohnte, war das beste Beispiel. Sie mußte an die neunzig sein, aber die Ankunft einer Fremden in ihrer Mitte ließ ihr zahnlosen Grinsen nur noch breiter werden. Die leicht bedrohlich wirkenden Blamire-Zwillinge waren ebenfalls stets freundlich, nur klebten sie für Alisons Geschmack ein bißchen zu sehr am Dorf.

Sie sah, daß der Scheiterhaufen auf dem sattgrünen Rasen allmählich Form annahm. Und dahinter war noch etwas, umringt von schnatternden Dorfbewohnerinnen, Granny Jukes mitten unter ihnen. Eine Art große Strohpuppe lag neben dem Holzstoß im Gras, goldgelb wie die Nachmittagssonne. Sie hatte Menschengröße.

Geräusche drangen durchs Fenster. Der Aufprall des Balls auf einen Cricketschläger. Jemand, der »Aus« rief. Das metallisch klingende Sirren der Insekten. Und Jubelrufe. Die auf dem Bauch liegende Strohpuppe bewegte sich, wurde aufgerichtet.

Miles sah ebenfalls vom Fenster aus zu, war vollkommen gefesselt von dem, was sich da tat.

»Du solltest dich anziehen. Sonst verpassen wir noch den ganzen Spaß.«

Mit zitternder Hand zog Alison eine weitere Zigarette aus der Packung, schloß die Augen und versuchte, die Feuerzeugflamme vorsichtig zu ihrem Gesicht zu lenken.

Die Natur hatte die Blamire-Jungs identisch gemacht, doch ihr Temperament war völlig verschieden. Vor neunundvierzig Jahren waren sie geboren, zwei schreiende Bündel, die im Vorderzimmer von Nummer 3 Arden Cottages zur Welt kamen, etwa hundert Meter entfernt vom Green Man. Harry Blamire senior lehnte sich dort um die gleiche Zeit an den Tresen. Nach der Arbeit auf dem Marley-Gut war er nach Hause gekommen und hatte sofort kehrtgemacht, als er drinnen die Aufregung hörte.

»Du bist früh dran«, sagte der Wirt.

»Sie wirft noch«, grunzte Harry senior und steckte die Nase in das erste von mehreren Pints Bishop’s Finger. Der Satz war einer der längsten, die er in seinem relativ kurzen Leben von sich geben sollte. Als die Zwillinge sechs Jahre alt waren und nur allzu vertraut mit dem Blamireschen Stiefel, dem Gürtel und der Faust, lief Harry senior, schon reichlich mitgenommen, in eine Mähmaschine auf dem langen Marley-Feld, nahe beim Kalkstein-Pferd. Die plastische, anschauliche Beschreibung seines Abgangs gehörte jetzt zur Dorfgeschichte, wurde gern an langen Abenden im Pub erzählt, wenn nicht viel los war und einem zu aufgedrehten Neuankömmling ein Dämpfer aufgesetzt werden mußte.

Bis die Zwillinge fünfzehn wurden, hatte sogar Agnes Blamire Schwierigkeiten, sie auseinanderzuhalten. Dann kam Burning Man und löste das Problem. Die Jungs tranken da schon recht gern, und Agnes fragte nie, woher sie das Geld dafür hatten. Der alte Marley hatte ihnen Arbeit auf dem Gut versprochen, im nächsten Frühjahr, wenn die Aussaat begann. Das hieß, sie konnten in ihrem Cottage, einem ehemaligen Gesindehaus, bleiben, und es würde auch Geld ins Haus bringen. Die Zukunft sah freundlicher aus, was Agnes stets mißtrauisch machte.

Ausgelöst wurde alles durch die Jungs aus Ashford, die zum Michaeli-Feuer gekommen waren und hier nichts zu suchen hatten. Sie spotteten. Brüllten. Warfen den Zwillingen Schimpfworte an den Kopf. Schlappschwänze. Schafsficker. Holzköpfe. Die Zwillinge waren nicht sehr groß. Sie hatten massige, runde Köpfe mit schmalen, leicht schielenden Augen. Wenn man nicht genau hinsah, konnte man sie leicht für Dorftrottel halten, die nicht imstande waren, einen einzigen vollständigen Satz zu äußern. Aber Agnes kannte ihre Söhne besser. Sie waren gewitzt. Sie konnten sehr schlau sein. Zwischen ihnen bestand diese rätselhafte Verbindung, die Zwillinge haben und die sie manchmal wie eine einzige Person mit zwei getrennten Körpern wirken ließ. Agnes bekam hin und wieder richtig Angst vor den Jungs. Wenn sie schon so empfand, dann hätte es Fremden erst recht so gehen sollen.

Natürlich kapierte die Ashford-Bande nichts davon. Sie hatten sich im Pub ordentlich mit warmem, starkem Spitfire Bitter vollaufen lassen. Der angetrunkene Mut brannte wie Feuer in ihnen. Außerdem waren sie in der Überzahl. Die Blamires waren nur zu zweit. Die Ashford-Bande bestand aus sechs Jungen und zwei unappetitlich aussehenden Mädchen. Keiner wußte, was die Prügelei ausgelöst hatte. Man konnte sich hinterher nur noch an die plötzliche Wildheit der Zwillinge erinnern. Mit fuchtelnden Armen und unverständlichem Gebrüll hatten sie sich auf ihre Peiniger gestürzt, sie zu Boden geschlagen und hätten sie vielleicht sogar umgebracht, wenn nicht ein paar Männer aus dem Dorf vorsichtig dazwischengegangen wären.

Dann zückte einer der Ashford-Jungs ein Messer, Metall blitzte in der hellen Nachmittagssonne auf, und Agnes Blamires Zwillinge waren nicht mehr identisch. Die Messerklinge versetzte Harry das, was er später gern seinen Blitzstrahl nannte. Die zickzackförmige Wunde auf seiner linken Wange mußte im William-Harvey-Krankenhaus mit 52 Stichen genäht werden. Die Narbe war so tief, daß darauf nie wieder Bartstoppeln wuchsen, und fiel durch ihre Bleichheit in Harrys rötlichem Bartwuchs besonders auf.

Der Junge, der das Messer geschwungen hatte, machte sich danach schnellstens aus dem Staub, bezog in Gravesend, fünfzig Kilometer entfernt, ein möbliertes Zimmer, fand Arbeit auf den Docks und wollte Ashford so rasch wie möglich vergessen. Zwei Jahre nach der Messerstecherei fuhr er eines Abends mit seinem Moped los und kam nie zurück. Agnes war inzwischen tot, im Schlaf gestorben. Die Jungs wohnten immer noch im Gesindehaus in fast totaler Verkommenheit, lebten von gebackenen Bohnen und Fertiggerichten, hatten überall Pornohefte rumliegen, dazu Trophäen, die sie als Treiber bei Jagden aufgelesen hatten: ein Geweih, einen Fuchsschwanz. Mit der Zeit wurden sie abgeklärter. Der alte Marley verkaufte ihnen das Gesindehaus sogar für billig Geld, bevor er starb. Aber nach wie vor glühte das Feuer in den Blamires. Harrys Blitzstrahl verdunkelte sich nie.

Alison und Miles Fenway, die nur wenig von dieser Geschichte kannten, gingen langsam über den Minnis auf den Scheiterhaufen zu. Miles hatte ihre Hand gehalten, als sie durch das große Doppeltor in der Blutbuchenhecke vor ihrem Haus getreten waren. Ohne zu wissen, warum, ließ Alison beim Anblick der Zwillinge seine Hand los. Die Cricketspieler hatten die Pitch verlassen und tranken Tee in dem kleinen weißen Pavillon am Rande des Spielfeldes. Hinter dem perfekt gepflegten Rasen, den die Blamires täglich mähten – eine ihrer örtlichen Einnahmequellen –, dehnte sich der Rest des Minnis über die Downs nach Folkstone aus, ein Gewirr aus niedrigen Büschen und Farnkraut, in dem man sich für Stunden verlaufen konnte. Ein Dickicht aus Schwarzdorn zog sich über das Gemeindeland bis hin zu Sterning Wood. Die Schlehen waren jetzt fast reif. Am Tag zuvor hatte Alison ein paar gepflückt. Sie sahen so hübsch aus: winzige blaue Wildpflaumen mit einem pudrigen Überzug. Sie hatte eine probiert und sofort wieder ausgespuckt, weil sie so bitter schmeckte. Sara Harrison, die mit ihrem kleinen, bellenden Hund in der Nähe spazierenging, hatte es bemerkt und Alison versprochen, ihr zu zeigen, wie man Schlehenschnaps machte. »Schmeckt viel besser als Gin.« Alison mochte Sara, obwohl sie bisher kaum miteinander gesprochen hatten. Demnächst würde sie auf das Angebot zurückkommen.

Miles wurde durch ein Gespräch mit dem guten Doktor Tyler abgelenkt. Harry Blamire betrachtete Alison ganz offen mit lüsternem Blick und sog ihren Duft ein. »Sie riechen gut, Mrs. Fenway. Wie wenn Sie aus Blumen wärn.«

»Chanel, Harry. Was soll ein Mädchen sonst tragen?«

»Ihre Titten sind auch nicht schlecht«, sagte er und zwinkerte ihr zu.

Alison strahlte ihn herausfordernd an. »Und – wie nennt ihr Jungs das noch – die Dose?«

Harrys Schweinsaugen wurden schmal. »Oh, nettes Döschen. Ja. Viel gesehen haben wir zwar nicht, oder, Mitch?«

Der andere Zwilling lächelte nicht oft. Sprach auch kaum. »Dose ist Dose«, sagte er schließlich. »Hast du eine gesehen, kennst du sie alle. Titten sind was anderes. Titten sind unterschiedlich.«

Harry zuckte seine breiten, massigen Schultern. Die Zwillinge waren wie Bullterrier gebaut. »Da haben Sie’s. Mitch, der Philosoph. Was ich bin, ich glotz alles an, was mir über den Weg läuft.«

»Liebling?« Miles legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. Er sah verwirrt aus. Hatte er zugehört? Oder war Doktor Tyler so fesselnd?

»Mitch behauptet, meine Titten wären in Ordnung, aber meine Dose, nein, alle Dosen sähen gleich aus. Harry wiederum gefällt beides. Was meinst du, Miles?«

Miles Fenway sah aus, als hätte er einen Fisch verschluckt. »Ich, äh, ich ...«

Er war gute fünfzehn Zentimeter größer als die beiden Brüder. Alison hatte ihn schon bei einer Prügelei erlebt, vor langer Zeit, in einer verräucherten Kneipe in New York. Miles war zu einem dunklen, muskulösen Rammbock geworden, erfüllt von einem plötzlichen wilden Zornausbruch. Miles konnte sich bestens wehren, wenn es darauf ankam. »Ich glaube, Liebste, wir müssen in Zukunft öfter die Vorhänge zuziehen.«

»Diese Amis«, sagte Harry gutgelaunt. »Das sind doch alles Hippies, wenn Sie mich fragen. Kann man keinem verdenken, wenn er mal ’nen Blick riskiert.« Er war ganz von sich eingenommen, boxte seinen Bruder gegen die Schulter, ziemlich hart, wie sie fand, und beide wandten sich wieder dem Holzstapel zu.

Die Strohpuppe lag jetzt neben dem Scheiterhaufen. Alison mußte einfach hinsehen. Granny Jukes und zwei Frauen aus den Sozialwohnungen am Rande des Dorfes mühten sich damit ab. Sara Harrison half ihnen halbherzig. So kam es Alison jedenfalls vor. Das Gebilde hatte ein dünnes Holzskelett, wahrscheinlich aus Weidenzweigen. Das Äußere bestand aus dem trockenen, spröden Stroh, das in den letzten Wochen all die schmalen, zum Gemeindeland führenden Wege verschmutzt hatte. Innen war die Strohpuppe hohl. Im Kopf waren zwei große Öffnungen freigelassen worden. Wenn der Scheiterhaufen loderte, sollten sie wohl wie brennende Augen aussehen, die einen anstarrten.

»Nur ein harmloses Opfer.« John Tylers Stimme ließ Alison zusammenzucken. Der Doktor war hinter sie getreten, ohne daß sie es bemerkt hatte. »Tut mir leid. Hab ich Sie erschreckt?«

»Nein, ich ...« Miles beobachtete sie wie ein Habicht. Ihm schien es sehr wichtig zu sein, diese Leute zu beeindrucken. »Ich hab an was anderes gedacht. Ein Opfer?«

John Tyler erinnerte sie an einen alten, wißbegierigen, kahlköpfigen Adler. Sein Gesicht war spitz und fast blutleer. Auf der langen, knochigen Nase saß eine Goldrandbrille. Zwei bleiche graue Augen schienen sie ständig zu beobachten. Die meisten Ärzte, die Alison kannte, wollten in ihrer Freizeit nicht gern an ihren Beruf erinnert werden. Tyler, nahm sie an, war eine der wenigen Ausnahmen. Vermutlich ging er bei Partys auf Wildfremde zu und riet ihnen, ihre Schilddrüse untersuchen zu lassen. Er mußte Ende Fünfzig sein, ziemlich fit auf seine leichenhafte Art. Wie gewöhnlich trug er einen dünnen Wollpullover, diesmal in Rot mit dem aufgestickten Schriftzug »Pringle«. Seine Frau Marjorie stand neben ihm, lächelte still auf eine besitzergreifende Weise. Marjorie war eine Frau von beträchtlicher Körperfülle mit einem schwammigen, roten Gesicht und einer dröhnenden, herrischen Stimme. Es war nicht schwer zu erraten, wer bei den Tylers das Sagen hatte.

»Rein symbolisch. Nichts als Stroh«, fuhr Tyler fort. »Ein Zeichen dafür, daß der Sommer zu Ende und die Ernte eingebracht ist. Das rituelle Opfer des Korns aus diesem Jahr garantiert die reiche Ernte im nächsten. Die christliche Kirche konnte damit natürlich nicht umgehen, also haben sie daraus den Michaelistag gemacht, das Fest des Erzengels Michael. Der selbst ein ziemlich furchterregender Bursche war, aber das ist eine andere Geschichte.«

Alison sah, daß Marjorie geduldig zuhörte. Sie hatte das bestimmt schon einemillionmal gehört, nach ihrem gelangweilten Gesicht zu urteilen. »Ich verstehe nichts von Anthropologie, Dr. Tyler. Warum braucht man ein Opfer, um irgendwas zu garantieren?«

Er zuckte die Schultern. »Sie sind aus Neuengland, Mrs. Fenway. Aus einer alten Familie?«

»Auf der mütterlichen Seite. Meine Mutter war eine echte, alteingesessene Bostonerin, aber die Familie reicht noch weiter zurück.«

Marjorie war plötzlich interessiert. »Sehr viel weiter, meine Liebe?«

»Bis zu den Pilgervätern. Die Parkers kamen mit der Mayflower nach Amerika. Eine war sogar in Salem, als da dieser ganze Hexenzirkus losging. Rosalind Parker. Rosalind wurde ...«

Alison starrte auf die große Figur, die auf dem Rasen Gestalt annahm, und verstummte.

»Verbrannt, nehme ich an?« meinte Tyler.

»Ja«, erwiderte sie leise. Die Tylers wechselten einen unergründbaren Blick.

»Primitive Menschen haben einen primitiven Glauben«, fuhr John Tyler fort. »Wozu brauchen wir Weihnachten? Warum trinken wir das Blut Christi? Menschen brauchen Rituale. Auch heute noch. Allerdings waren unsere fernen, vorchristlichen Ahnen nicht so primitiv, wie manche denken. Der Zeitpunkt ist bewußt gewählt. Das Herbstäquinoktikum, von dem an der Tag nicht mehr länger ist als die Nacht, wenn der Gott der Finsternis die Herrschaft über den Gott des Lichtes gewinnt. Dazu gibt es jede Menge Geschichten – die walisische Blodeuwedd, John Barleycorn –, aber sie führen alle auf dasselbe zurück. Erneuerung durch ein symbolisches Opfer garantiert die Rückkehr des Lichts. Und mit ihm das Gedeihen, die Fruchtbarkeit des Bodens. Auf Ihrer Seite des großen Teichs gibt’s so was kaum, nur den Zyklus des Maisgottes der Indianer. Dafür haben die Puritaner gesorgt. Ich glaube, Amerika wäre viel interessanter geworden, wenn der rote Mann gesiegt hätte, finden Sie nicht auch?«

»Das wird wohl heutzutage in den Schulen gelehrt.«

Tyler sah sie durchdringend an. »O ja. Und man braucht ein Feuer. Ein reinigendes Feuer. Das scheint für alle zu gelten.«

Verdammt noch mal, Miles. Du hast es ihm gesagt. Wahrscheinlich hast du es ihnen allen erzählt.

Was, wie sie wußte, ziemlich lächerlich war. Sie drehte dem Burning Man den Rücken zu. »Und Sie feiern das damit? Mit diesen merkwürdigen Cricketspielen? Einem Scheiterhaufen?«

Marjorie Tyler kicherte. »Nicht ganz, meine Liebe«, sagte sie mit breitem, bäuerlichem Akzent. Dann tanzte sie um die drei herum und sang mit zitternder, hoher Stimme:

»Little Sir John of the nut brown bowl

And the Brandy in his glass

Aye, litte Sir John of the nut brown bowl

Proved the strongest man at last

For the huntsman he can’t hunt the fox

Not loudly blow his horn

And the tinker can’t mend either kettle or pots

Wi’out little John Barleycorn.«

John Tyler betrachtete sie mit eisigem Blick. »Traditionsgemäß säuft man sich am Burning Man-Tag die Hucke voll. Und meine Frau ist, wie Sie wohl schon gemerkt haben, sehr traditionsverbunden.«

Um acht Uhr abends, als die Sonne hinter der Romney Marsh versank, hatte sich offenbar der größte Teil von Beulah Marjorie Tylers Interpretation des Rituals angeschlossen. In der Bar des Green Man drängten sich die Dorfbewohner und eine buntgemischte Gruppe Auswärtiger, die per Anhalter gekommen waren.

Im wesentlichen, schloß Alison, handelte es sich hier also um ein Dorffest. Aber Beulah mußte natürlich etwas Besonderes daraus machen. Ein Farmer aus dem Ort, ein grimmig schauender Mann mit einem buschigen grauen Bart, trieb mit zwei hungrig wirkenden Schäferhunden eine Entenherde über den Minnis. Die weißen Vögel, die mit ihren gereckten Hälsen wie verzauberte, aus Afrika entführte Massaifrauen aussahen, watschelten durch kleine Tore und über eine Miniaturholzbrücke, von ein paar stummen Zuschauern beobachtet. Alison nahm an, daß sie sich diese Vorführung Jahr für Jahr ansehen mußten, seit dem Jahr Null. Vielleicht hatte John Tyler recht, und Burning Man existierte schon seit Ewigkeiten. Die Entenherde auch. Wer weiß, vielleicht hatten bereits vor tausend Jahren Leute an derselben Stelle gestanden und sich gähnend in angetrunkener Bewunderung dieselbe sinnlose Zeremonie angesehen.

Dann wurden die Stände abgebaut, und alles strömte zum Pub. Die Luft roch köstlich nach Herbst, überlagert von schärferen Gerüchen nach Holzkohle und gebratenem Fleisch. Miles war drinnen im Pub. »Sich unter die Leute mischen«, nannte er es. Das konnte er gut. Während der Woche sah Alison ihn nur selten. Am Wochenende konnte er es kaum erwarten, in den Pub zu gehen und mit den Dorfbewohnern zu trinken.

Sie nahm es ihm nicht übel. Am Nachmittag miteinander zu schlafen war inzwischen zu einem Ritual geworden, und eines Tages würde der Zauber wirken. Miles hatte seine eigenen Zaubermittel gekauft, eine Sammlung von »Sexhilfen«, die er in einer Schachtel im Schrank versteckt hielt. Samtschärpen, eine Augenbinde, Fesseln und solche Sachen. Nächstes Mal, nahm sie sich vor, blieben die Vorhänge geschlossen.

Alison verzieh ihm die Zeit, die er im Pub verbrachte. Während der Woche, in London, arbeitete Miles schwer, schwerer, als sie es sich beide vorgestellt hatten. Am Wochenende fiel der Mantel der Stadt von ihm ab. Er kleidete sich wie ein Landmann und hatte ungeheuren Spaß daran, in seinem neuen Minitraktor durch den Garten zu flitzen. Miles sah wieder so jung aus, wenn er den Landedelmann spielte, und sie liebte diesen Teil von ihm. Auch Priory House liebte sie mehr und mehr. Das zweistöckige Gebäude war beeindruckend, ohne grandios zu sein. Es wollte mit Leben gefüllt werden. Manchmal hatte sie das Gefühl, das Haus würde sie heimlich verfluchen, weil immer noch keine Kinder über die Flure rannten und es mit dem Lärm einer richtigen Familie erfüllten.

Selbst der Pub hatte eine positive Wirkung. Ärzte und Farmarbeiter, Anwälte und Postboten, Wildhüter und der ein oder andere Steuerberater trafen sich im Green Man, eine außerordentliche Mischung, die sich um den langen Tresen scharte. Stundenlang standen sie da, unter den vertrockneten Hopfengirlanden, eingehüllt in Rauch, und redeten über alles, absolut alles, nur nicht über den Beruf. Miles kam immer strahlend und aufgekratzt zurück, nur ein bißchen angetrunken. Er brauchte diese Pause von seiner Arbeit in der Bank. Sie brauchten sie beide.

Alison sah die Sonne hinter dem Kamm der Downs versinken und trank ihr drittes Glas Beaujolais aus. Gleich darauf tauchte ein neues vor ihrem Gesicht auf, gehalten von einem langen, schlanken Arm in den losen Falten eines schon recht fadenscheinigen Hemdes aus indischer Baumwolle.

»Auf ex«, sagte Sara Harrison und stieß mit ihr an. »Wenn die Kerle sich sinnlos besaufen können, dann können wir das schon lange.«

»Danke.«

»Danken Sie mir nicht. Der geht auf Granny.«

Die alte Krähe saß zwei Tische entfernt, schaute durch das Gewoge der Menge zu ihnen herüber, ein Glas Bitter in der erhobenen Hand. »Cheers!« rief sie mit krächzender Stimme über den Lärm hinweg.

Die beiden prosteten ihr zu. »Himmel«, keuchte Alison. »Ich hoffe bei Gott, daß ich in ihrem Alter noch so feiern kann.«

»Granny ist hier eine Galionsfigur. Hat sie Sie schon in ihre Windmühle eingeladen?«

»Nein.«

Sara zuckte die Schultern. »Ist wohl noch zu früh. Wenn Sie bei ihr zu einer Tasse Tee eingeladen werden, gehören Sie wirklich zu Beulah.«

»Kann’s kaum erwarten.« Alison trank einen Schluck Wein. Er schmeckte bitter.

»Von dem anständigen Zeug war nichts mehr da. Alles ausgetrunken«, sagte Sara, die sie beobachtet hatte. »Jetzt müssen wir uns wohl leider mit dem Kochwein begnügen. Soll ich Ihnen einen Gin holen?«

Alison schüttelte rasch den Kopf, fürchtete, daß auch nur eine Sekunde des Zögerns Sara wieder an den überfüllten Tresen zurückschicken würde, um sich einen Doppelten zu erkämpfen. »Ich fürchte, das Zeug kommt mir gleich zu den Ohren raus.«

»Mäßigung«, stimmte Sara zu. »Eine hervorragende Idee. Sie versuchen, schwanger zu werden, nehme ich an? Alkohol und Tabak vermindern die Chancen ungeheuer, sagt man. Und wenn Miles’ kleine Würmchen den richtigen Punkt erreichen, setzen sie sich vielleicht nicht fest. Das klappt nur, wenn Sie das Zeug aufgeben.«

Alison versuchte, trotz des Alkoholnebels, der sich in ihrem Kopf zu bilden begann, noch einigermaßen klar zu denken. »Hat er Ihnen das erzählt?«

»Wer?« Sara war verwirrt. »Ach, Sie meinen Miles. Guter Gott, nein. Das war nicht nötig. Man muß nicht Sherlock Holmes sein, um das herauszufinden. Entweder ist was unterwegs, oder Sie arbeiten daran. Haben Sie Lust auf einen Hamburger? Ich auf jeden Fall.«

Alison murmelte etwas, das wie ein Ja klang. Sara packte den gerade vorbeilaufenden Mitch Blamire an der Schulter und brüllte: »Sei ein Schatz und hol uns zwei Burger vom Grill, Mitch. Ich spendier dir auch ein Bier.«

»Ich wußte nicht, daß es so offensichtlich ist«, sagte Alison. Harry Blamire kam mit zwei verkohlten Klumpen undefinierbaren Fleisches in einem Milchbrötchen an und schlurfte zurück zur Bar. Der Hamburger schmeckte nicht übel. Alison hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig sie war.

»Es kommt auf den richtigen Zeitpunkt an. Wie alles im Leben. Haben Sie’s schon lange versucht?«

Irgend jemandem mußte sie es erzählen. Das Geheimnis würde nicht für immer in Manhattan verborgen bleiben. »Zu lange. Ich hatte letztes Jahr eine Fehlgeburt. In der zwölften Woche.«

Sara sah sie bestürzt an, legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Himmel! Was bin ich nur für ein Ekel.«

Sara war groß, fast ein Meter achtzig, und gertenschlank. Sie trug stets lockere, formlose Kleider, diesmal einen langen, fließenden lila Rock, der ihr bis an die Knöchel reichte, dazu das bauschige indische Baumwollhemd. Ihr Haar war ein einziges Durcheinander, ein Gewirr aus hellen, orangefarbenen Lokken, die nach allen Seiten abstanden. Was seltsam war, denn unter alldem, glaubte Alison, war Sara vermutlich ungeheuer attraktiv. Sie hatte ein offenes, ehrliches Gesicht, ein paar Sommersprossen und hohe Wangenknochen. Dazu strahlend blaue Augen, die immer erstaunt schauten, nie aufhörten, nach dem nächsten Wunder Ausschau zu halten.

Sie beide wirkten so unterschiedlich. Alison war das Produkt einer typischen, pleite gegangenen Neuengland-Familie. Dünn, gescheit und schusselig war sie durch ihr Leben getaumelt, von einer schlechten Schauspielschule in die schwarze Kunst des Marketings, war in Betten getaumelt, in die Ehe, und hatte sich stets darauf verlassen, daß ihre nervöse, bleiche Schönheit sie aus jedem Schlamassel herausholen würde. Sara war vermutlich in ihrem Alter, höchstens vier- oder fünfunddreißig, aber so exotisch. Alison hatte nicht die geringste Ahnung, woran das genau lag. Sie wußte nur, daß sie Sara mochte, sie sogar bewunderte. Da war nichts von dieser typisch englischen Zurückhaltung, nichts von der üblichen Heuchelei der englischen Mittelklasse. Man bekam genau das, was man sah – wie verwirrend es auch sein mochte.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, sagte Alison lächelnd. »Warum meinen die Leute nur, sie müßten das tun? So was passiert doch dauernd.«

»Trotzdem, ich war wieder viel zu forsch. Wie immer.« Sara stopfte sich den Rest des Hamburgers in den Mund und murmelte etwas Unverständliches.

»Wie bitte?«

»Ich sagte...« Sie trank einen großen Schluck Wein. »Ich sitze im selben Boot. Auch ich will schwanger werden. Sie sind mir allerdings einen Schritt voraus. Zumindest wissen Sie, wessen kleine Würmchen ihr Ziel erreichen sollen.«

Alison fragte sich, wieviel sie schon getrunken hatte. Bestimmt noch nicht zuviel. Sie trank den Wein aus, huschte durch die Tür in den Pub, tippte Miles auf die Schulter und bat ihn, ihr zwei doppelte Gin Tonic zu bestellen. Er stand mit einer lärmenden Männergruppe zusammen, von der sie kaum einen kannte, und sah glücklich aus.

»Holt ihr euch jetzt die scharfen Sachen?« fragte Miles, ein leichtes Nuscheln in der Stimme. Er schaute über Alisons Schulter. Sara war auch hereingekommen, betrachtete ihn durch den Zigarettenqualm. »Hoffe, Sie verführen mein kleines Mädchen nicht, Miss Harrison.«

Sara lächelte eisig. »Ich glaube, Ihr ›kleines Mädchen‹ kann durchaus für sich selbst entscheiden, Miles.«

»O verdammt«, rief er seinen grinsenden Kumpanen am Tresen zu. »Schon wieder ins Fettnäpfchen getreten.«

Harry Blamire sah sie an. »Hier haben eigentlich nur Männer Zutritt«, sagte er. »Zumindest an Burning Man.«

»Oh«, meinte Sara übertrieben reumütig. »Es tut mir ja so leid. Wir wollen euren Diskurs auch gewiß nicht länger stören. Worum geht es denn heute abend? Wittgenstein? Kant?«

»Paß auf, was du sagst, Mädel«, warnte Harry. Mehr denn je erinnerte er an einen auf den Hinterfüßen stehenden Bullterrier. Seine glasigen Augen starrten sie finster und verständnislos an.

Sie verzogen sich aus der Bar, brachen vor Lachen fast zusammen.

»Paß auf, was du sagst, Mädel!« prustete Sara.

Inzwischen war es dunkel, die Nacht schien ganz plötzlich hereingebrochen zu sein. Granny Jukes schlief fest auf einer der Pub-Bänke, den Rücken an die Wand gelehnt. Sie schnarchte wie ein altes Walroß. Alison fröstelte. Jemand machte sich am Scheiterhaufen zu schaffen, kippte Benzin auf das Holz. Der scharfe Geruch drang ihr in die Nase. Die Strohpuppe war nirgends zu sehen.

»Wenigstens sind Sie vor dessen kleinen Würmchen sicher.«

»Harrys?« fragte Sara, plötzlich ernst geworden. »Ach, ich weiß nicht. Er ist fit. Und stark. Und die beiden Jungs – Gott, warum sagen wir das immer noch, sie sind fast fünfzig – haben viel mehr Grips, als sie nach außen zeigen.«

»Sie können doch wohl nicht im Ernst auch nur eine Sekunde lang ...?« Alison fehlten die Worte.

»Ich bin vierunddreißig. Noch nicht ganz der Hammelbraten, den man als Lamm ausgibt, aber auch nicht weit davon entfernt. Mein Dilemma liegt unter anderem daran, daß ich zu wählerisch war. Vielleicht sollte ich die Schwelle niedriger setzen.«

»Aber doch nicht so niedrig.«

Sara verstummte. War Alison zu weit gegangen?

»Wir sind verschieden«, sagte Sara schließlich. »Sie wollen Miles’ Baby bekommen, weil es für Sie beide ist. Ich will einfach nur eins für mich. Mir ist egal, was danach passiert. Er kann nach Australien abhauen, wenn er will. Oder auch nur von der Stange fallen.«

Alison gefiel der plötzliche Ernst dieser Unterhaltung nicht. »Sie könnten es machen lassen. Künstliche Befruchtung oder so.«

»Ha!« Sara lachte, ihre wilde Mähne schob sich einen Moment vor den aufgehenden Mond. »Natürlich könnte ich Harry Blamire einen Joghurtbecher und eine Ausgabe des Playboy geben.«

Warum nicht, dachte Alison, wenn du so verzweifelt bist?

»Weil«, sagte Sara, als hätte sie Alisons Gedanken gelesen, »es nicht richtig wäre. Ich möchte empfangen. Wie es sich gehört. Mit einem Mann, der auf mir stöhnt und schwitzt. Ich will spüren, wenn es passiert. Ich hab keine Lust, irgend so einen langweiligen Arzt wie John Tyler an mir rumfummeln zu lassen, mit Gummihandschuhen an den Pfoten und einer Spritze oder was auch immer, als würde er Blattläuse an seinen Tomaten besprühen.«

»Wenn es medizinische Gründe gäbe, könnten Sie das anders sehen.«

»Das mag sein«, sagte Sara und beruhigte sich. »Aber es gibt keine. Ich habe nur noch nicht die richtige Gelegenheit gefunden. Noch nicht. Aber die kommt. Genau wie für Sie. Dafür sorgt das Schicksal, meine Liebe. Sie haben Priory House gefunden. Oder es hat Sie gefunden. Wie war das eigentlich?«

Die Frage hallte dumpf in Alisons Kopf nach. Miles hatte das Haus geerbt, von einer verstorbenen, entfernten Tante, die Alison nie kennengelernt hatte. Zu der Zeit hatte Alison im Sanatorium gelegen und versucht, ihr bißchen Gleichgewicht wiederzufinden. Wie sie von ihrer Wohnung in Manhattan zu diesem leicht verwitterten Herrenhaus in einer der abgelegensten Gegenden Englands gekommen waren, war für sie immer noch reichlich verschwommen. Die Einzelheiten waren ihr inzwischen egal. Es war richtig so. Nur darauf kam es an.

»Ich hab keine Ahnung«, erwiderte sie. »Und ehrlich gesagt, ist mir das auch völlig gleichgültig.«

Sara knuffte sie leicht gegen die Schulter. »So ist es richtig. Wir machen noch eine echte Engländerin aus Ihnen. Herrin des Hauses. Maikönigin.«

Alison trank einen Schluck von ihrem Gin Tonic. Er schmeckte warm und schal. Sie hatte zuviel getrunken. Ihr Kopf war schwer. Sie hatte keine Lust mehr, sich den Burning Man anzuschauen. Es war ja nur ein Freudenfeuer.

»Vielleicht heute nacht«, sagte Sara leise, wechselte das Thema. »Irgendwas liegt in der Luft.«

Alison versuchte zu begreifen, worum es ging. Dann kapierte sie. »Sie meinen, mit jemandem hier? Aus dem Pub? Irgend jemanden?«

Die strahlend blauen Augen waren jetzt auf sie gerichtet, ließen sie nicht los. »Warum nicht? Miles und Sie sollten sich das auch überlegen. Darum geht es ja schließlich bei Burning Man. Ich bin keine Expertin für all diese Volksbräuche – dafür ist John Tyler da. Aber ich wette, es gibt irgendwo eine Legende, die besagt, daß dies der ideale Moment ist, schwanger zu werden. Findet man den richtigen Mann, wird er in dieser Nacht seinen Samen in einen pflanzen, und man wird spüren, wie er wächst, den ganzen Winter über, während der langen kalten Nächte. Und dann, im nächsten – ja, was, Juni? – bringt man ein neues Leben zur Welt. Wenn wir heute nacht unsere kleinen Würmchen empfangen, Alison, werden wir gemeinsam so rund wie Nilpferde und sind um die Mittsommernacht bereit, zu werfen. Was halten Sie davon?«

Alison schaute in den Pub und konnte sich eine Antwort nicht verkneifen. Das Bier floß in Strömen. Die Männer sahen aus, als würden sie die Bar nie verlassen. »Wenn ich Miles’ Verfassung betrachte, hab ich heute nacht wohl kaum eine Chance. Und Sie erst recht nicht.«

Sara Harrison drehte sich um und starrte zum Minnis hinüber. Der Benzingeruch wurde immer stärker. Nach wie vor war nichts von der Strohpuppe zu sehen.

»Entschuldigung«, murmelte Alison. »Das ist der Alkohol. Manchmal macht er mich depressiv.«

»Ist schon gut«, erwiderte Sara und lächelte wieder, ein warmes, freundliches Lächeln.

»Ich muß mal.« Alison kam schwankend auf die Füße und torkelte auf den erleuchteten Weg zu, der zur Hintertür des Pub führte. Hoffentlich war die Tür nicht verschlossen. Sie wollte sich nicht durch die rauchenden, brüllenden Männer zwischen der Vordertür und den Klos drängen müssen. Selbst wenn Miles sich heute nacht fit genug fühlte, würde sie sich nicht darauf einlassen, nicht bei all diesen Augenbinden, all dem Aufziehzeugs in seiner Spielzeugschachtel. Sie hatten heute nachmittag ihre Chance gehabt.

Sie dachte über Sara nach, wollte sie gern besser kennenlernen. Sara war wie fast alle im Dorf. Nicht ganz das, was sie nach außen hin zu sein schien. Unter ihrer altmodischen Hippiekleidung war sie gescheit, engagiert und herausfordernd. Sie würde ihre Freundin werden. Vielleicht würden sie eines Tages gemeinsam dick werden, fröhlich Seite an Seite auf einer der Bänke um den Minnis sitzen und auf die Geburt ihrer Kinder warten.

Alison bog um die Ecke, blinzelte, fühlte sich plötzlich betrunken. Der beleuchtete Weg hatte sie ins Nichts geführt, in die absolute Dunkelheit hinter dem Pub. Sie konnte überhaupt nichts sehen, aber da war jemand. Nein. Mehr als einer. Keuchend wälzten sie sich auf der Erde. Alison hörte, wie sich Körper bewegten, schmerzhaft zu Boden fielen. Und dann schrie ein Mann, ein grausiger Schrei, laut und hoch und furchterregend.

»Miles!«

Das ist ja wie in den schlimmsten Zeiten, dachte sie.

»Miles! MILES!«

Ein Arm auf ihrer Schulter. Ein Geruch, den sie erkannte.

»Herr im Himmel«, brüllte Sara in die Dunkelheit. »Was ist denn hier los?«

Ein einsames Sicherheitslicht schaltete sich ein, als jemand an ihnen vorbeirannte. In dem kurzen Moment, bis es wieder erlosch, sah Alison ... was? Männer, auf dem Boden. Ein Kampf. Sie versuchten, etwas, jemanden niederzudrücken, zu fesseln. Beide Blamire-Brüder waren dabei, zu erkennen an ihren massigen, muskulösen Körpern. Aber die anderen waren nicht zu identifizieren. Das Licht flammte nur ganz kurz auf, dann ging es wieder aus. Miles konnte nicht dabeisein. Unmöglich. Unmöglich auch, daß die Strohpuppe dort lag. Das Licht war trügerisch. Es war zu kurz aufgeblitzt.

»Verdammte Tiere«, brüllte Sara, packte Alison fest am Arm, drehte sie herum und führte sie zur Vorderseite des Pub zurück.

»Trink das«, befahl Sara, drückte ihr ein Glas Whisky in die Hand. »Runter damit.«

Der Whisky brannte wie Feuer in ihrem Mund.

»Wahrscheinlich mal wieder die verdammten Antis.«

»Was?«

Sara schüttelte den Kopf. »Ach, ich vergeß immer, daß du neu hier bist. Die Antis. Heute war eine Fuchsjagd in Wye, und das bringt sie immer auf den Plan. Sie kommen her, weil sie wissen, daß Beulah die Jagd nicht durchläßt. Aber deswegen wollen wir noch längst keine schmuddeligen Protestler auf unserer Türschwelle haben. Besonders nicht heute nacht.«

Alison schaute in den Pub hinein. Die Männer standen immer noch am Tresen, Miles unter ihnen. Sie wirkten angespannt. Keiner sagte etwas. Die Blamires waren nirgends zu sehen. Alison spürte ein kleines Wutflämmchen in sich aufflackern. Sie stapfte in die Bar, packte Miles an der Schulter. »Was zum Teufel war da los?«

Er hatte einen Kratzer an der Schläfe und einen wilden Ausdruck in den Augen. Die anderen Männer am Tresen beobachteten sie mürrisch.

»Eine Prügelei«, murmelte Miles. »Okay?«

»Eine Prügelei?« Sie war wütend und wußte nicht, warum. »Meine Güte! Du hast dich geprügelt? Was denkst du dir eigentlich? Daß du wieder achtzehn bist?«

Er seufzte, wandte sich bewußt ab und nahm einen langen, tiefen Schluck aus seinem Glas.

»Ich glaube«, sagte sie, »das reicht.«

»Du machst eine Szene«, sagte er ruhig.

»Ich mache eine Szene? Du wälzt dich am Boden wie ein besoffenes Tier, prügelst dich, und ich mache eine Szene?«

»Es gab eine Prügelei«, wiederholte er. »Wir mußten dazwischengehen.«

Die Menge grinste einfältig, als würde sie nur auf den Ausgang dieses Dramas warten.

»Dazwischengehen?« wiederholte sie lahm.

»Genau.«

Norman, der Wirt, beugte sich über den Tresen. »An Burning Man geht es hier manchmal etwas wild zu, Mrs. Fenway. Nichts Ernstes. Tut mir ja leid, aber deswegen ist es uns lieber, wenn die Damen von draußen zusehen. Nur an diesem einen Abend.«

»Gottverdammte Idioten«, murmelte sie und verabscheute das Lachen in den Augen der Männer.

Miles bestellte eine dreifachen Scotch. Er schaute etwas versöhnlicher. »Trink das, Liebes. Beruhige dich. Such dir draußen einen guten Platz. Es geht gleich los. Und wenn es anfängt, komme ich raus zu dir. Versprochen.«

Alison schaute aus den Bogenfenstern des Pubs. Die Blamires schleppten die Strohpuppe zum Scheiterhaufen und schienen sich dabei mächtig anzustrengen. Flammen züngelten am Holzstoß auf dem Minnis empor. Der Mond war strahlend und voll, ein goldgelber Erntemond. Er sah wie der kleinere Vetter der Sonne aus, ein träger, gelber Riese, der seinen Glanz kaum über dem Horizont halten konnte.

Sie nahm einen tiefen Schluck von ihrem Scotch, ließ sich von Miles zur Sicherheit noch einen bestellen und tappte schwankend nach draußen.

Die Nacht im Dorf war eine Offenbarung. Demnächst würde sie sich nachts in den Garten setzen und einfach nur die Juwelenpracht der Sterne bestaunen. Beulah lag an die zweihundert Meter über dem Meeresspiegel, einer der höchsten Punkte in Südostengland. Hier brauchte man sich keine Gedanken über Luftverschmutzung zu machen, die von künstlichem Licht oder Verbrennungsmotoren herrührte. Um den Minnis standen nur ein paar Natriumlampen. Auch wenn alle dreißig Häuser das Dorfes voll erleuchtet waren, dominierte der Himmel nach wie vor. Die Luft war so rein, daß man das Gefühl hatte, die Lunge würde beim Atmen geputzt. Zwischen dem Universum und einem selbst gab es nichts, absolut nichts.

Alison wandte dem Scheiterhaufen den Rücken zu, versuchte, die betrunkenen Juchzer und Schreie zu ignorieren, wollte, daß der Himmel ihren Kopf füllte. In der Schule hatten sie Witze darüber gemacht, daß man erkennen konnte, wer wirklich betrunken oder bekifft war. Diejenigen standen dann nur draußen, staunten mit offenem Mund den Himmel an, versuchten sich zu erinnern, wie der Große Wagen aussah, wie man den Unterschied zwischen einem Stern und einem Planeten erkannte und wo man Andromeda fand. Sie konnte sich nie daran erinnern. Aber das verminderte das Wunder nicht, nein, nicht im geringsten.

Alison konzentrierte sich auf die unendliche Tiefe des Raumes über ihr, die dunklen, samtigen Falten der Nacht. Dann begann das Feuerwerk, und Beulah kehrte wieder in ihre Gedanken zurück.

»Was zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen?« Marjorie Tyler tauchte neben ihr auf, hielt in der einen Hand einen dampfenden Krug, erstaunlich ruhig, und in der anderen einen Teller mit Kuchen. Sie wirkte fast nüchtern. Vielleicht, sagte Alison sich, hat sie einfach so lange getrunken, bis sie wieder nüchtern wurde. Sie wünschte, sie würde diesen Trick auch beherrschen.

»Was ist das?« Sie hatte viel zuviel durcheinander getrunken, von billigem Beaujolais, einem unglaublich starken Bier namens Bishop’s Finger, Gin Tonic bis hin zu einem Glenmorangie oder auch vier. Wenn Sara recht hatte und Alkohol wirklich die Empfängnisfähigkeit verminderte, würde sie vor Weihnachten 2030 bestimmt kein Kind kriegen.

»Apfelpunsch aus Kent. Guter, hausgemachter Cider. Gewürze. Und ein Schuß von unserem selbstgebrannten Apfelschnaps. Wovon Sie unserem netten neuen Polizisten doch wohl nichts erzählen werden, oder? Dörfer müssen ihre Geheimnisse haben. Und ein Kuchen. Sie brauchen auch eine gute Grundlage.«

Alison nahm einen Schluck aus dem Krug. Das Aroma frischer Äpfel und Zimt stieg ihr in die Nase, der scharfe Schnaps brannte ihr in der Kehle. Ein herrliches Gefühl. Dann verschlang sie rasch zwei Kuchenstücke. Sie schmeckten wie Apfelmuffins mit einem seltsamen Gewürz.

»Gut, was?« Marjorie strahlte. »Ich weiß, wie man gute Cocktails macht. Sie sollten mal meinen Whisky Sour probieren.«

»Aber nicht vor dem Frühstück, vielen Dank.« Hinter sich hörte Alison das Feuer knistern. Noch einen Moment, dann würde sie sich umdrehen. »Sind die Antis weg?«

Marjorie sah sie verblüfft an. »Waren die hier?«

»Offenbar. Es hat eine Prügelei gegeben.«

»Oje. Na ja, wenn es die nicht gewesen wären, dann jemand anderes. Männer und Alkohol, das ist keine gute Kombination. Im einen Moment in die ganze Welt verliebt, und im nächsten wollen sie unbedingt jemanden zusammenschlagen. Sie schieben es auf das Testosteron, wo wir doch alle wissen, daß es nichts anderes ist als Johnnie Walker und jede Menge Pints Shepard Neame. Heuchler. Alle miteinander.«

»Genau.« Die belebende Wirkung des Apfelpunsches hielt nicht lange an. Ihr wurde schon wieder schwindelig.

Marjorie sah ihr ins Gesicht. Alison war das unangenehm.

»Sie werden doch zuschauen, nicht?«

»Scheiterhaufen sind wirklich nicht meine Sache.«

»Hier wird ja nicht Rosalind Parker noch mal als Hexe verbrannt.«

Alison wünschte sich, die Frau würde verschwinden. Ihr dröhnte der Kopf. Der Kuchen hatte einen merkwürdigen, erdigen Nachgeschmack. »Was meinen Sie damit?«

»Es geht um uns. Die Zeremonie. Burning Man reicht Jahrhunderte zurück.«

»Bis in eisgraue Vorzeit, wie man so sagt.«

Marjorie Tyler warf ihr einen verwirrten Blick zu und verschwand dann ohne ein weiteres Wort in der Nacht. Alison holte tief Luft, hoffte auf ein Wunder und drehte sich um. Oder versuchte es zumindest. Es gab offenbar irgendeine Unterbrechung, als ihr Gehirn den Befehl »bewegen« an ihre Füße weitergab. Der Befehl kam viel zu spät an, mit dem Ergebnis, daß sich der Rest ihres Körpers drehte, während ihre Zehen genau da blieben, wo sie waren. Das war, merkte sie, als die Nacht Purzelbaum zu schlagen schien und der Horizont vor ihren Augen senkrecht wurde, der klassische Sturz einer Betrunkenen. Einer, der hätte gefilmt werden sollen, um immer wieder gezeigt zu werden. Hauptdarstellerin Alison Fenway, geborene Parker, vierunddreißig Jahre alt, zweiundfünfzig Kilo, ein Meter fünfundsechzig, bekleidet mit Guess-Jeans, etwas eng am Hintern, einer Baumwollbluse von Armani und einem dicken LL-Bean-Pullover.

Nach Luft schnappen, als sie den Tango mit dem großen Gott Schwerkraft beginnt. Verwunderung, als sie beim Vortanzen versagt, in extremer Zeitlupe, Bild für Bild, auf das feuchte, weiche Gras kippt und nicht weiß, ob sie weinen oder lachen soll. Erstaunen, als die Erde ihr entgegenkommt und sie ganz schmerzlos fällt, auf der Wange den warmen, würzigen Spritzer Apfelpunsch spürt. Das war eine meisterhafte Vorstellung, und es ärgerte sie maßlos, daß niemand – niemand – zugeschaut hatte. Alison hatte das dringende Gefühl, etwas sagen zu müssen.

Du hast mich vergiftet du Hexe du hast mich vergiftet.

Hatte sie das laut gesagt? Oder taumelten die Worte nur in ihrem Kopf herum, von Ohr zu Ohr, und prallten an ihrer Schädeldecke ab?

Alison wälzte sich am Boden, alles drehte sich, sie merkte, daß sie Geräusche von sich gab, wußte aber nicht was. Dann war sie auf allen vieren, und aus der Tiefe ihres umnebelten Hirns stieg der Gedanke auf: Ich hoffe bei Gott, daß ich nicht in Hundescheiße krieche. Das konnte natürlich alles ein Traum sein. Wie in dieser uralten Geschichte, die sie mal gelesen hatte, in der ein Mann gehängt werden sollte und sich zwischen dem Aufstoßen der Falltür unter dem Galgen und dem Brechen des Genicks in der Schlinge eine ganze Lebensspanne abspielte, voller Ereignisse und so real wie nur vorstellbar.

Langsam kroch sie auf den Wald von Beinen bei dem lodernden Feuer zu, lauschte dem unverständlichen Gemurmel, das aus ihrem Mund kam ... Miles, Miles, wozum Teufelbistdu?

Dann sah sie in die Flammen, und ihr Kopf war voll davon. Feuer. Sie träumte nicht. Selbst ihre besten Alpträumen besaßen nicht diese Klarheit. Alison spürte die Hitze auf ihren Wangen, roch die große, goldene Bestie, die sich selbst verzehrte, schmeckte das versengte Fleisch. Das brennende Holz sang und zischte, die Luft war voller Ruß und Funken.

Miles, Miles.

Kein Traum, viel zu unangenehm. Ihre Ellbogen schmerzten vom Kriechen durch das Gras. Der Gestank des Feuers war so stark, daß er ihr die Atemluft nahm. Und ihr war schlecht, sie war kurz davor, alles, was sie in den letzten sechs Stunden zu sich genommen hatte, auszukotzen (und beim Gedanken daran lief eine Liste ihres Mageninhalts in ihrem Kopf ab wie ein Autopsiebericht, Hamburger und Chips, Bier und Wein, Whisky, Gin, Marjorie Tylers merkwürdiger Kuchen, der Apfelpunsch, und als sie bei diesem Listenpunkt angelangt war, mußte sie ganz tief aus dem Bauch nach Zimt aufstoßen).

Alison würgte jämmerlich, sah eine Lücke in dem Wald von Beinen, hinter der keine Flammen loderten, versuchte, einen der dunklen, hohen Baumstämme in ihrer Nähe zu packen, griff daneben und stemmte sich in die Hocke. Hier war sie einigermaßen sicher; die Hitze hatte sie noch nicht erreicht. Von hier unten aus konnte sie durch das unverbrannte Holz die Nacht sehen, die noch nicht von Flammen berührt war.

Und sie sah den Burning Man.

O Mist o Mist o Mist.

Er stand auf dem Scheiterhaufen, noch völlig intakt. Die Flammen leckten am unteren Teil, erzeugten einen theatralischen Effekt. Die riesige Strohpuppe kam ihr meterhoch vor, hoch genug, um durch die wirren goldenen Haare, die wie verrückt im Aufwind tanzten, zum Mond zu klettern. Bewegung kam in die Menge, Stimmen waren zu hören (die Blamire-Jungs, die Blamire-Jungs, man kann sich immer auf die Blamire-Jungs verlassen). Jemand, eine dunkle, gedrungene Gestalt, in Rauch eingehüllt, ging zum Feuer, schwang einen Kanister, und Benzin flog durch die Luft. Eine Feuerwand schoss zum Himmel auf, verbiß sich in den Beinen von Burning Man, fraß sich in Windeseile zu seinem gewaltigen, goldenen Brustkorb hoch, schickte Flammenzungen durch seinen Kopf und sein Haar.

Zwei tiefe, leere Höhlen im Strohkopf. Alison sah Burning Man in die Augen.

Sie erwiderten ihren Blick.

In der riesigen Strohpuppe bewegte sich etwas, wand und sträubte sich. Alison schüttelte den Kopf, spürte, wie ihr ein dünner Gallefaden aus dem Mundwinkel rann, strengte sich an, etwas Verständliches von sich zu geben, auf die Füße zu kommen.

Miles!

Sie warf sich gegen die Gestalt neben ihr, wollte sich an deren Kleidung festklammern. Jemand trat zu Seite. Jemand lachte.

MILES VERDAMMT NOCHMAL!

Sah wieder zum Burning Man. Jetzt brannte er lichterloh. Die Flammen schossen durch das Strohgebilde, deuteten wie riesige Finger zum Himmel. Hinter dem rotgelben Inferno war etwas ... wieder schüttelte sie den Kopf, versuchte, ihn klar zu kriegen. Ein dunkler Schatten, der sich bewegte.

Sie wünschte, sie wäre nüchtern. »Mi ...«

Zwei Hände senkten sich herab und rissen sie grob auf die Füße. Das vertraute Gesicht ihres Mannes sah sie an. Er lächelte etwas verwirrt.

»Oje«, sagte Miles und klang ganz nüchtern. »Dich hat es aber schwer erwischt, was?«

Alison kam sich klein und dumm vor und war unendlich dankbar für seine Anwesenheit. Miles war am Ende immer zu ihrer Rettung gekommen. »Da, im Feuer ... Hast du es gesehen?«

Er lachte. »Was gesehen?«

»Einen Mann!«

Miles legte seinen großen, kräftigen Arm um sie, zog sie an sich und summte etwas Beruhigendes.

»Ich hab dich was gefragt«, murmelte sie in die Falten seines Jacketts. Er sah ihr ins Gesicht, ruhig, beherrscht. Sie kannte diesen Ausdruck, kannte ihn nur zu gut. Das war die Fenwaysche Version von Trost.

»Das jagt dir immer noch einen Schreck ein, was?«

»Miles, ich hab gesehen ...«

»Psst«, er legte ihr seinen großen, dicken Finger auf die Lippen. Der Finger schmeckte nach Rauch und Verbranntem. »Mein Fehler. Ich hätte wissen müssen, daß es nicht geht. Ich dachte ...«

»Ich hab gesehen ...«

»Ich dachte«, fuhr er fort, unterbrach sie, »daß du inzwischen soweit bist, den Dingen ins Gesicht zu sehen. Mein Gott, manchmal bin ich wirklich furchtbar blöd.«

Sie schwieg. Es war sinnlos. Er zog sie enger an sich, in sein Jackett hinein. Der Rauchgeruch war überwältigend. Sie wurde ihn nicht los. Da war auch noch ein anderer Geruch. Wie verbranntes Fleisch.

»Ich liebe dich, Alison.« Tränen standen ihm in den Augen. Sie brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, daß die Trunkenheit aus ihm sprach, daß er die dicksten Bierglubschaugen hatte, die je existiert hatten. Wieder drehte sich alles. Das Feuer schien immer größer zu werden. Der Gestank hing über allem. »Ich tue alles, um dich glücklich zu machen. Ich setze Himmel und Erde in Bewegung. Du bist so wunderschön. Es macht mich ganz krank, wenn ich dich so sehe.«

Hör auf zu quatschen du Idiot ich weiß was ich sah.

Es ging schon wieder los. Marjorie Tylers Kuchen schien in ihr anzuschwellen, wurde so groß, daß es sich wie eine Scheinschwangerschaft anfühlte (und ich weiß, wie eine echte ist, dachte Alison, ich weiß es).

Auf dem Scheiterhaufen explodierte etwas wie ein Gewehrschuß. Sie schloß die Augen, wurde das Bild aber nicht los: geschwärztes Fleisch, Flammen, die über die ledrige Haut leckten, Augen, die aus den Höhlen traten, die letzten brennenden Haarbüschel. Dann fiel sie in ein Meer von Armen, die nur darauf warteten, sie aufzufangen, sie wegzutragen aus der Hitze, aus der Nacht. Zu einem sicheren und vertrauten Ort, wo sie den Rauchgeruch aus ihren Haaren waschen konnten, von ihrer Haut, aus ihrem Leben.

Die Vorhänge waren offen. Heller Sonnenschein ergoß sich ins Zimmer. In Alison Fenways Kopf fanden größere Bauarbeiten statt. Pioniere bohrten Tunnel durch ihr Kleinhirn. Bagger beförderten eifrig Gewebeladungen von einer Seite ihres Gehirns zur anderen. Ihrer Kehle war alle Feuchtigkeit entzogen worden, während eine Armee von Straßenarbeitern ihre Zunge mit einer dicken, pelzigen Schicht überzogen und dann das geschwollene Organ sorgfältig, Geschmacksknospe für Geschmacksknospe, an ihrem Gaumen festgeklebt hatten.