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Band 3 der Stories-Reihe von Jella Benks Logan ist Netflix-Liebesfilm-Material. Leider hasst Hope Netflix. Und Liebesfilme. Aber am meisten hasst sie die Liebe. Manche Entscheidungen sind mies. Andere sind die unangefochtenen Champions der schlechten Ideen. Zum Beispiel Logans Entschluss, ausgerechnet bei Hope einzuziehen. Der Frau, die ihn täglich zwingt, Beleidigungen auf Torten zu schreiben. Beide sind so gegensätzlich wie Sonnenschein und Gewitter, weshalb sie permanent aneinandergeraten. Doch selbst eine winzige Abstellkammer ist besser als die Rückbank von Logans Wagen – sogar mit Hope als Mitbewohnerin. Eigentlich dachte Logan, es könnte nicht noch komplizierter werden. Doch dann stolpert er nicht nur mitten in Hopes Familie, sondern wird auch noch in eine chaotische Fake-Beziehung mit ihr katapultiert. Zwischen Leuchtsternen und Hopes sonderbaren Regeln treffen sie eine Abmachung: Anfassen? Okay. Gefühle? Streng verboten. Denn wenn Hope eines nicht ausstehen kann, dann ist es diese irrational glorifizierte Liebe – ein chemisches Ungleichgewicht, das immer nur im Drama endet. #FakeDating #StrangerstoLovers #sozialePhobie #RoommatestoLovers #GrumpyxSunshine #HeFallsFirst #OneBed #Socialmedia
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Seitenzahl: 466
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jella Benks
Jella Benks
Ausführliche Informationen über unsere Autorinnen und Autoren und ihre Bücher www.leaf-verlag.de
1. Auflage 2025
Originalausgabe:
Copyright © 2025 by LEAF Verlag, Bücherbüchse OHG, Siebenbürger Straße 15a, 82538 Geretsried, Deutschland Copyright © 2025 by Jella Benks
Textredaktion: Cara Kolb, Sarah Di Fabio
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
unter Verwendung von Stockmaterial von Shutterstock (© loveshiba, © Vjom, © Olena Vyshynska, © Merfin, © -strizh-)
Innengestaltung: LEAF Verlag unter Verwendung von Motiven von Adobe Stock (© Vector Tradition, © brizzz, © satou koma, © LadadikArt) Gesetzt aus der Adobe Caslon Quelle Zitat: Emily Jane Brontë Sturmhöhe
Satz: LEAF Verlag
ISBN 978-3-911244-17-6
Für all diejenigen, die das Gefühl kennen, niemals dazugehören zu können.
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte, deshalb befindet sich auf der letzten Seite eine Contentwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.
Playlist
August
Kapitel 1: Hope
Kapitel 2: Logan
Kapitel 3
Kapitel 4: Hope
Kapitel 5: Logan
Kapitel 6
Kapitel 7: Hope
Kapitel 8: Logan
Kapitel 9: Hope
Kapitel 10: Logan
Kapitel 11: Hope
Kapitel 12: Logan
Kapitel 13: Hope
Kapitel 14: Logan
Kapitel 15
Kapitel 16: Hope
Kapitel 17: Logan
Kapitel 18
Kapitel 19: Hope
September
Kapitel 20
Kapitel 21: Logan
Kapitel 22
Kapitel 23: Hope
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Oktober
Kapitel 27: Logan
Kapitel 28
Kapitel 29: Hope
Kapitel 30: Logan
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34: Hope
Kapitel 35
Kapitel 36: Logan
Kapitel 37: Hope
Kapitel 38: Logan
Kapitel 39
Kapitel 40: Hope
Kapitel 41: Logan
November
Kapitel 42: Hope
Januar
Kapitel 43
Kapitel 44: Logan
Kapitel 45: Hope
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48: Logan
Kapitel 49
Mai
Kapitel 50: Epilog
Ihr Lieben
Danke
Monday Morning (Album Version) – Melanie Fiona
Interlude: I’m Not Angry Anymore – Paramore
Strangers – Kenya Grace
Pick Me – Alec Benjamin
Something In The Way You Moved – Ellie Goulding
Today Was A Fairytale – Taylor Swift
Found You First – Alec Benjamin
You And Me (Extended Wedding Song Version) – Lifehouse
Unwritten (Acoustic) – Natasha Bedingfield
Paper Crown – Alec Benjamin
Here With Me – Marshmello
To The Sky – Owl City
Let Me Down Slowly – Alec Benjamin
Have It All – Jason Mraz
Gravity – Sara Bareilles
Bright – Echosmith
Vanilla Twilight – Owl City
Fallin’ For You – Colbie Caillat
Whatever our souls are made out of, his and mine are the same.
Emily Jane Brontë
Sonntage waren wie Erdnussbutter – ranzig, zäh und schwer herunterzubekommen. Aber jeder liebte Erdnussbutter. Und Sonntage. Zumindest wenn man dieser Online-Umfrage trauen durfte, die mir Google ausgespuckt hatte.
Wie konnte ein Tag, der sich anfühlte wie ein endloser Kaugummifaden, zum beliebtesten Tag der Woche gewählt werden? Ich versuchte, das Bild des Diagramms wegzuscheuchen, das mir einmal mehr deutlich gemacht hatte, dass meine Synapsen irgendwie anders funktionierten.
Sonntage waren trotzdem scheiße.
Und dieser hier ganz besonders.
Ich bog in die Seitenstraße ein, erwartete schon fast, eine dieser exorbitant langen Warteschlangen zu sehen, die sich so oft auch noch am späten Nachmittag vor dem pastellrosafarbenen Gebäude auftaten, aber zumindest davon wurde ich verschont. Wenn er nicht da war, bekam der heutige Tag ein paar Pluspunkte gutgeschrieben. Nicht dass bei den zweitausend Minuspunkten noch ein Ausgleich möglich gewesen wäre, aber es wäre immerhin eine winzige Entschädigung.
Das Schild mit den geschwungenen Buchstaben zeigte an, dass der Laden geöffnet war. Und hinter der Glasscheibe sah ich schon die fröhlichen, gerahmten Letterings inmitten der vielen Lichterketten und die dunkel gebeizte Verkaufstheke mit der gefüllten Tortenvitrine. Wenn es in der Konditorei ein Deko-Konzept gab, hatte ich es bisher nicht gefunden und doch schien alles zueinanderzupassen. Ich drückte die Tür auf und sofort drang mir der himmlische Schokoladengeruch von frisch gebackenen Brownies entgegen. Das hungrige Zerren in meinem Magen erinnerte mich daran, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Weil ich anschließend zu beschäftigt damit gewesen war, mit Zahlen zu jonglieren, um eine Lösung zu finden, und dabei kläglich gescheitert war.
Ich würde mir Brownies mitnehmen.
Eine Menge.
»H!«, wurde ich schon begrüßt, noch bevor ich in den beinahe menschenleeren Verkaufsraum trat. Die einzige andere Person war der Verkäufer mit den hellbraunen, verstrubbelten Haaren hinter der Kuchentheke, dessen strahlendes Lächeln die Sonne draußen verblassen ließ.
Nicht er.
Gott sei Dank.
»Du willst deine Bestellung abholen?«
»Ja und ich brauche Brownies, ein halbes Dutzend oder so.«
»Oh.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Diesen Ton kenne ich, schlechten Tag gehabt?«
»Verdammt schlecht. Mein Vermieter hat mir eine Mieterhöhung angekündigt.«
»Shit.« Mit einem mitleidigen Blick legte er einen der Brownies auf eine Serviette und reichte mir beides über die Glastheke. »Geht aufs Haus.«
Dankend nahm ich den Brownie entgegen und addierte dem Tag ein paar Bonuspunkte hinzu und dann noch einige extra, weil das Gebäck hier das Beste überhaupt war. »Ich habe einen Aushang dabei – für eine spontane Mitbewohnersuche.« Schon dieses letzte Wort auszusprechen, bereitete mir fast körperliche Schmerzen. »Kann ich ihn vielleicht hier aufhängen?«
»Klar. Klingt irgendwie retro, gefällt mir. Ich muss kurz nach hinten, aber häng ihn einfach an unsere Wand.« Er deutete auf die Pinnwand mit den Kundenbildern, die unzählige Fotos von beleidigendem Gebäck zeigten. Das Bild mit dem rechteckigen himmelblauen Kuchen und der Aufschrift »Es liegt an dir, nicht an mir« rang mir beinahe ein Lächeln ab.
Aber nur beinahe.
Seufzend zog ich den Zettel aus der Hosentasche und faltete ihn auf. Ein paar handgeschriebene Worte zur Wohnung und ein Besichtigungstermin, zu mehr hatte meine Kreativität nicht gereicht – und meine Lust noch viel weniger. Aber zwischen die ganzen bunten Fotos gepinnt, wirkte er bemitleidenswert.
Ich biss in den Brownie, dessen Teig so fluffig wie eine Wolke war, und augenblicklich breitete sich der köstliche Geschmack von Schokolade in meinem Mund aus.
Gott.
Dieser Moment war der allerbeste heu…
»Oh«, stieß eine dunkle Stimme hinter mir wenig begeistert aus und beendete diesen einzig guten Augenblick heute.
Natürlich.
Statt es zu genießen, wie es das Browniestück verdient hätte, schluckte ich es herunter, drehte mich um und sah ihn. Seine schwarzen Haare besaßen genau diese leichte Zerzaustheit wie in diesen kitschigen Liebesfilmen, die mir Olive regelmäßig aufdrängen wollte. Die meiste Zeit scheiterte sie und die Male, bei denen ich unter ihrem Flehen einknickte, sahen die männlichen Figuren aus wie er. Der warme Ockerton seiner Haut harmonierte perfekt mit seinen Augen, die so dunkel waren, dass sie beinahe schwarz wirkten. Er sah aus, als wäre er gerade aus einem dieser Filme gesprungen und würde gleich zu einem schnulzigen Happy End losrennen. Die dunkelblaue Schürze lag eng an seinem weißen Shirt und der Jeans und betonte seinen gut trainierten Körper.
Ja, er war Netflix-Liebesfilm-Material.
Und ich hasste Netflix.
»Du willst deine Torte abholen?« Sein Blick spießte mich förmlich auf.
Offenbar war er immer noch wütend wegen der Tortenaufschrift, die ich bestellt hatte. Das war albern. Fairerweise wohl ähnlich albern, wie ihm diese Aufschrift aufzuzwingen.
Würde ich es wieder machen?
Auf jeden Fall!
Manchmal trafen Menschen aufeinander und wussten vom ersten Augenblick an, dass sie füreinander bestimmt waren. Und dann gab es die, bei denen genau das Gegenteil geschah.
Wir waren dieses Gegenteil.
»Ist sie fertig?«
»War sie irgendwann mal nicht rechtzeitig fertig?«, erwiderte Prince Charming finster.
»Super«, gab ich grimmig zurück.
»Super«, kam es wie ein Echo von ihm und er verschwand im Nebenraum, um kurz darauf mit einem überdimensionalen weißen Kuchenkarton zurückzukehren. Zwischen golden aufgedruckten, gebrochenen Herzen fand sich in geschwungenen Lettern die Aufschrift Heartbreak-Cakes. Schweigend schob er mir die Rechnung hin und genauso schweigend legte ich den Brownie mit der Serviette auf dem Glastresen ab, zog meine Geldbörse aus der Tasche und bezahlte.
»Was hast du damit vor?« Er zwang sich förmlich so was wie ein Lächeln auf die Lippen. »Und mit den ganzen anderen Kuchen? Bist du Fotografin oder so was?«
Ich hatte gehofft, wir könnten diese Nummer mit dem frostigen Schweigen durchziehen, aber auch dieses Mal ließ er es nicht zu.
»Oder eher Influencerin?«, setzte er erneut an, als ich mich demonstrativ ausschwieg. »Deiner finsteren Miene nach offenbar nicht. Ich dachte nur, wegen deines viralen Fotos.«
»Das war nicht mein Foto.«
»Aber deine Torte. Dann also etwas anderes. Bist du Geheimagentin auf Kuchenmission? Dein Name ist schon – speziell? H?« Seine Finger trommelten auf der Verpackung herum. Es war nur ein winziges Geräusch, doch meine gereizten Nerven schrien ihn an, er solle damit sofort stoppen. Leider hörte er sie nicht. »Wobei … Wahrscheinlich würden sich Agenten eher alltägliche Namen aussuchen, oder?«
»Kannst du damit aufhören?«
Verwirrt starrte er mich an, während seine Finger weitertrommelten. »Womit?«
»Damit.«
»Mit den Fragen?«
»Dem Geräusch.«
»Meiner Stimme?« Jetzt mischte sich Verständnislosigkeit mit ehrlicher Empörung.
Wenn sich meine Nerven nicht irgendwo am Boden zusammenkrümmen würden und sich der Zettel mit dem Mitbewohnergesuch nicht wie ein tonnenschweres Gewicht auf mir anfühlen würde, hätte ich ihm erklären können, was ich meinte. Aber für den Moment war ich ein bis zum Rand gefülltes Glas mit Wasser und sein Trommeln der Tropfen, der es zum Überlaufen brachte.
»Bye«, stieß ich mühsam aus, schnappte mir den Karton und stürzte aus dem Laden. Ich nahm mir nicht die Zeit, um durchzuatmen, ich musste nach Hause.
Erst als ich in meiner Wohnung den Deckel der Box öffnete, fiel mir auf, dass ich den Brownie vergessen hatte. Irgendwie passend für diesen Tag. Ich stieß tief die Luft aus, als ich die schwarze Zuckergussbeleidigung auf der Torte fand: Sonntag.
Der mieseste Tag der Woche.
Dieses Mal nahm ich mir die Zeit, bewusst ein- und auszuatmen, dann suchte ich mir mein längstes Messer und begann, die Zuckergussschrift feinsäuberlich vom Kuchen zu streichen.
»Wo ist H?« Bentleys Blick fuhr demonstrativ durch den leeren Verkaufsraum und blieb zielsicher an mir hängen. »Du musst aufhören, sie andauernd in die Flucht zu schlagen.«
»Du bist nicht witzig«, stieß ich aus und warf ihm meinen grimmigsten Blick zu, doch der perlte wie immer an Bentley ab.
»Bin ich wohl.« Einige seiner wirren hellbraunen Haarsträhnen lagen in seiner Stirn und auf seinen Lippen saß eines dieser strahlenden Lächeln, das sich anfühlte, als würde die Sonne geradewegs in seinem sommerlich gebräunten Gesicht aufgehen. »Aber du willst nur ablenken. Hatten wir nicht darüber gesprochen, dass du netter zu ihr sein sollst?«
»Ich war nett. Netter als nett.« Mussten wir diese alberne Diskussion ernsthaft erneut führen?
Bentleys Grinsen verlagerte sich in seine Augen, während er sein Handy aus der Hosentasche zog. »Bleib genau so.« Kurz rang ich mit mir, ob ich ihn fragen sollte, was er vorhatte, aber schon hielt er es auf mich gerichtet und tippte darauf. »Kann ich das Foto an James schicken? Er hat echt gedacht, du würdest es dieses Mal mit H. hinbekommen. Süß, wie er an dich glaubt, oder?«
»Zuckersüß.« Wenn man Worte knurren könnte, hätte ich das mit diesem hier getan.
»Okay, keine weiteren Fotos.« Bentley registrierte offenbar, dass er es übertrieben hatte, denn er schob sein Handy in die Jeanstasche. »Also, was war dieses Mal los? Habt ihr euch wieder über Wochentage gestritten?«
»Nein«, gab ich zurück und stieß genervt die Luft aus, als ich sah, dass ihr Brownie noch auf der Theke lag. H. hatte es so eilig gehabt, von mir wegzukommen, dass sie den zurückgelassen hatte. »Ich war nett, okay? Und ich habe nichts dazu gesagt, dass sie aus meinem Lieblingstag eine Beleidigung gemacht hat.« Obwohl sie es verdient hätte. »Stattdessen habe ich es mit Small Talk versucht, ihr Fragen gestellt, so was halt.«
»Was hat sie dann in diese überstürzte Flucht getrieben?«, fragte er und sein Blick blieb zielsicher am Brownie hängen.
»Meine Stimme.« Das war lächerlich. Das auszusprechen, machte es sogar doppelt lächerlich und es verschlimmerte sich unter dem prustenden Lachen, das aus Bentley herausstürzte. »Mit meiner Stimme ist alles okay«, setzte ich warnend hinzu, um all die Witze, die ihm wahrscheinlich gerade im Kopf herumspukten, noch im Ansatz zu stoppen.
»Es ist irgendwie niedlich«, stieß er schließlich grinsend aus.
Niedlich?
Ich machte mir nicht die Mühe zu fragen, was er damit meinte, weil es Bentley war. Er würde es mir ohnehin sagen, ob ich wollte oder nicht.
»So angenervt, wie du aussiehst, bist du offenbar noch nie jemandem begegnet, der immun ist.«
»Wogegen immun?«, rutschte es nun doch aus mir heraus, während Bentley dazu überging, unsere Kuchentheke zu mustern, als würde er sich gleich am Inhalt bedienen.
»Gegen deinen Charme natürlich.« Er schnappte sich einen Schokomuffin mit gebrochenem Zuckerherzen und hielt ihn mir fragend hin, aber ich schüttelte den Kopf. Wie schaffte er es nur, den ganzen Tag inmitten von Gebäck zu stehen und es dennoch andauernd zu essen? Ich hätte wenig Probleme damit gehabt, ein Jahr lang keinen Muffin mehr zu essen.
Oder zu sehen.
»Es ist doch so«, fuhr er fort und brach sich ein Stück ab. »Jeder hat irgendeine Superkraft. Ella zum Beispiel ist ein Organisationsgenie. Sie jongliert jeden Tag etliche Termine und bekommt alles irgendwie hin.«
Tat sie. Ich nickte langsam, auch wenn ich keine Ahnung hatte, in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickelte.
»Mein Bruder Darce besitzt offenbar so etwas wie einen grünen Daumen und ist gerade dabei, unseren Garten in eine Oase zu verwandeln. Und ich«, er deutete eine kleine Verbeugung an, »habe nicht nur einen messerscharfen Verstand, sondern bin auch noch unfassbar witzig.«
»Und du neigst zu ellenlangen Monologen.«
»Wahrscheinlich.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber deine Superfähigkeit ist dein Charme. Damit wickelst du die Menschen um dich herum ein – doch H. ist dein Kryptonit.«
»Ich dachte, sie ist immun?«
»Es geht um das große Ganze.« Bentley hob die Arme in die Höhe. »Du bist Charme-Man und sie dein Kryptonit. Deshalb redest du in ihrer Nähe permanent Unsinn.«
»Ich rede keinen Unsinn!«
»Von mir aus.« Er verdrehte die Augen. »Dann nehmen wir halt wieder die Sache mit der Immunität. Dein Charme prallt an ihr ab und das pisst dich so richtig an.« Das abgebrochene Stück Muffin wanderte in Richtung seines Mundes und stoppte dann doch. »Das und der Fakt, dass du auf sie stehst.«
Wow.
Von all dem Unsinn, den er in den letzten Minuten von sich gegeben hatte, war das die absolute Krönung.
»Nicht in dieser Welt«, gab ich zurück. »Und bevor du damit kommst, auch nicht in irgendwelchen abgedrehten Paralleluniversen. Es ist keine Dimension denkbar, in der ich sie auch nur mögen könnte, verstanden?«
Bentley hob die Augenbrauen, machte so wortlos deutlich, dass er das anders sah. »Von mir aus«, erwiderte er bedeutungsschwer und grinste. »Du hast recht und ich habe meinen Muffin.«
»Du arbeitest zu viel.« Obwohl ich Mom nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie gerade die Lippen zusammenpresste, weil sie ahnte, wie meine Erwiderung lauten würde.
»Von wem habe ich das bloß?« Ich klemmte mir das Handy zwischen Ohr und Schulter, während ich den Biskuitteig in den vorgesehenen Kühlschrank stellte.
»Ich bin ein mieses Vorbild, such dir ein besseres.«
»Morgen vielleicht«, erwiderte ich und schloss die Kühlschranktür.
Feierabend.
Endlich.
Mein Blick fuhr durch die Backstube und blieb an der silbernen Wanduhr über der Tür hängen. Ich musste zugeben, dass Mom recht hatte. Der Arbeitstag war wieder länger geworden als gedacht. Daran waren die zweihundert Muffins schuld, die eine Firma kurzfristig für ihre Betriebsfeier bei uns bestellt hatte. Zweihundertmal Aber es gibt Kuchen! leserlich auf Muffins schreiben, hatte viel Zeit gekostet. Bei solch einer Aufschrift wollte ich lieber nicht wissen, wie mies die restliche Party war.
»Du denkst an deine Verabredung mit Anna morgen?«
Unter dem einen Satz verpuffte dieser Hauch von Feierabendstimmung augenblicklich.
»Zwing mich nicht schon wieder dazu, Mom.«
»Ich zwing dich nicht – ich sorge mich um dich.«
»Das ist zwingen in Elternsprache. Du willst nur, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme und einknicke. Das nennt man Manipulation.«
»Das nennt man Elternfürsorge«, kam es ungerührt von ihr zurück. »Wer ist für dich da, sollte ich – Gott sei mir gnädig – morgen das Zeitliche segnen?«
»Du stirbst morgen nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil du mich das mindestens schon hundertmal gefragt hast und immer noch fit genug bist, um mich zu manipulieren?«
»Um mich um dich zu sorgen«, korrigierte sie. »Also, wer wäre für dich da?«
»Ella.« Auf meine beste Freundin war Verlass, doch leider ließ Mom das nie gelten.
»Ja, aber anschließend geht sie zu Darce und du bist allein«, erwiderte sie wie zum Beweis. »Und komm mir jetzt nicht mit Bentley. Du weißt, dass ich nicht deine Freunde meine. Freunde kommen und gehen, Familie bleibt.«
Ich liebte meine Mom, aber manchmal lebte sie in ihrer eigenen Welt. Ein Satz würde ausreichen, um ihre Argumentation in sich zusammenfallen zu lassen, doch ich schwieg. Weil sie nicht aus ihrer Traumwelt aufgeweckt werden wollte.
»Zwei Stunden«, sagte ich stattdessen. »Sag Anna, dass wir uns im Diner treffen.« Abendessen brauchte ich ohnehin, dann war das nicht ganz so eine Verschwendung meiner Zeit. »Wer war sie noch mal?«
»Die Nichte von Cassandra.« Ich hatte keine Ahnung, wen sie meinte, offenbar dämmerte das auch Mom. »Cassandra? Aus meiner Bowlinggruppe?«
»Seit wann bowlst du?«
»Seit zwei Wochen, habe ich dir das nicht erzählt? Jeden Dienstag.«
»Ist Dienstag nicht dein Skat-Abend?«
»Den haben wir auf Donnerstag verlegt. Eigentlich sollte es der Freitag werden, aber da ist diese Linedance-Gruppe, die ich mir anschauen wollte. Das wäre vielleicht auch was für dich. Du hockst immer nur zu Hause rum, du könntest mitk…«
»Niemals nie«, unterbrach ich sie. »Auch ich habe Grenzen.«
»Aber …«
»Außerdem habe ich keine Zeit.«
»Wie lange dauert es noch, bis du dein WG-Zimmer endlich fertig renoviert hast?«
»Noch ein wenig«, stieß ich aus. »Es war mehr zu tun als gedacht.«
»Und wenn ich dir doch helfe?«
»Nein. Ich will das allein machen. Du siehst es noch früh genug.«
»Du hast nur Angst davor, dass ich dir Einrichtungstipps aufzwinge, oder?«
Damit rang sie mir ein Lächeln ab. »Auch. Aber jetzt muss ich Schluss machen, Mom. Ich bin hundemüde.«
Nachdem sie mir das Versprechen abgenommen hatte, endlich mal wieder zum Abendessen vorbeizuschauen, schnappte ich mir meinen Rucksack und ging ins Bad. Kurz überlegte ich, mir noch schnell einen Burger zu holen, aber ich war zu müde. Die Fries, die mir Bentley vor zwei Stunden gebracht hatte, bevor er gegangen war, mussten als Abendessen reichen. Als ich im Bad fertig war, nahm ich meine Sachen und ging nach draußen. Obwohl der Abend schon in die Nacht überging, war es noch immer warm genug für das Shirt, das ich trug.
Ein weiterer Sommertag, der an mir vorbeigeflogen war.
Wahrscheinlich hatte Mom nicht unrecht, vielleicht sollte ich weniger arbeiten. In Momenten wie diesen nagte die Erkenntnis an mir, dass ich zu viel vom Leben verpasste.
Ich hing mir meinen ausgeblichenen Rucksack über die Schulter, schloss die Ladentür ab und stieg in den rostbraunen Dodge Ram, den ich an der Hauptstraße geparkt hatte. Es war kaum noch jemand unterwegs, als ich mich in den Verkehr einfädelte. Ich folgte der Main Street ein Stück stadtauswärts, dann bog ich in eine der Seitenstraßen ein. Zwei weitere Mal abbiegen und ich fand den perfekten Parkplatz, etwas abseits der Einfamilienhäuser mit ihren Vorgärten, die von den Straßenlaternen beleuchtet wurden.
Ein guter Ort zum Leben.
Er würde Mom gefallen.
Ich nahm den Rucksack, stieg aus und atmete noch einmal die süße Sommerluft ein. Leider hatte die keine Chance gegen meine Müdigkeit. Es wurde Zeit, schlafen zu gehen. In ein paar Stunden musste ich schon wieder in der Backstube stehen.
Ich öffnete die hintere Tür, rutschte auf die Autorückbank und zog das Kissen aus dem Fußraum. Es fand seinen viel zu vertrauten Platz auf der Rückbank und beinahe sofort sank mein Kopf darauf.
»Du siehst müde aus.« Bentley reichte mir einen Pappbecher mit Coke. »Und deshalb glaube ich dir nicht, dass du gestern einigermaßen pünktlich Feierabend gemacht hast. Wie lange warst du noch hier?«
»Nicht so lange.« Ich nahm den Becher und hoffte, Bentley würde es dabei belassen, doch ich hätte es besser wissen müssen.
»Du darfst deinen Chef nicht anlügen«, erwiderte er. »Sonst lasse ich hier Kameras installieren, nur um zu überwachen, dass du pünktlich Schluss machst.«
»Unnötig.« Ich mühte mir ein Lächeln ab und trank einen Schluck. »Du glaubst doch nicht, dass ich hier länger bleibe, als ich müsste.«
Bentley warf mir einen prüfenden Blick zu. »Du machst jetzt Schluss und ich schließe den Laden ab. Dann kann ich sichergehen, dass du nicht gleich noch irgendwelche Teige ansetzt.«
»Aber die müssen angesetzt werden, damit ich sie morgen früh backen kann.«
»Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte, wenn du nach Hause gehst, ohne alles fertig zu haben?«
»Dass wir morgen keine Muffins verkaufen können?«
»Okayyy, das wäre mies, von denen brauche ich mindestens zwei am Tag für meine Ausgeglichenheit.« Er grinste auf diese Weise, die sich anfühlte wie Sonnenstrahlen, die einen von innen heraus wärmten. Früher hatte ich mir immer einen jüngeren Bruder gewünscht, mittlerweile fühlte es sich so an, als hätte ich den verspätet mit Bentley bekommen. Sein Chaos machte mich regelmäßig fertig, seine Sprunghaftigkeit würde mir irgendwann die ersten grauen Haare verpassen und seine Ideen … ich wollte lieber nicht wissen, was die bereits mit meinen Nerven veranstaltet hatten. Und obwohl ich ihn oft dafür verfluchte, war seine Lebendigkeit ansteckend.
»Aber ernsthaft, Logan«, fuhr er fort, »ich verzichte lieber auf meine Schokomuffins, wenn du dafür pünktlich Feierabend machst.«
Und genau das war Bentley. Er inhalierte meine Muffins förmlich und trotzdem meinte er jedes Wort ernst.
»Und unsere Kunden?«
Er zuckte mit den Schultern. »Haben Pech gehabt? Dann gibt es morgen mal keine Muffins oder Cookies. Das macht keinen Unterschied.«
Und genau das war der Grund, weshalb ich manchmal noch nachts in der Backstube stand: Weil ich wusste, dass es einen Unterschied machen würde. Vielleicht nicht morgen oder beim Mal darauf, aber irgendwann würden die Kunden ausbleiben. Also gab ich ihnen die Auswahl, die sie wollten. Sie bekamen sogar die Torten mit den grässlichen Aufschriften und besondere Dinge für zwischendurch. Was machte es da schon, wenn ich ein paar Stunden weniger Schlaf abbekam?
»Alles gut, geh ruhig. Ich mache eh demnächst Schluss. Mom zwingt mich zu einem ihrer arrangierten Dates«, sagte ich daher. »Die macht sich auch immer zu viele Sorgen um mich.«
»Wir kennen dich halt zu gut.« Bentley lehnte sich an den Kassentresen. »Und ich hoffe, dass du mir morgen jedes Detail von deinem Date erzählst. Ob es schlimmer wird als beim letzten, als sie wollte, dass du dein Handy wegwirfst, weil dich die elektromagnetischen Schwingungen krank machen?«
Hoffentlich nicht.
»Vielleicht war es ein Fehler, dir davon zu erzählen.«
»Nein. Ich brauche das. Dein nicht vorhandenes Liebesleben ist das Einzige, das mich kurzzeitig vergessen lässt, dass James nicht bei mir ist.«
»Schön, dass ich dir helfen kann«, erwiderte ich finster und nahm einen neuen, größeren Schluck Coke, um die Müdigkeit abzuschütteln, die sich in mir festgesetzt hatte.
Mein Blick flog über die Auslage, kontrollierte, ob noch etwas abgeräumt werden musste, aber Bentley hatte schon alles übernommen. Ich fand die Fotowand, an der ein sonderbarer weißer Zettel zwischen den Fotos hing. Den hatte ich heute Morgen beim Reinkommen nicht gesehen, doch da war der Verkaufsraum auch nicht beleuchtet gewesen und ich hatte mich direkt in die Backstube begeben und war dort fast die ganze Zeit über geblieben. Die Überschrift war so dick mit Edding ausgemalt, dass sie sich geradezu in meine Netzhaut brannte.
Mitbewohner Ab Sofort Gesucht.
»Was ist das?« Noch bevor die Frage ganz raus war, stand ich schon davor und überflog die wenigen Informationen. Es war nur ein kleines Zimmer, aber deutlich größer als die Rückbank meines Pick-ups. Die Wohnung lag nur ein paar Minuten von hier entfernt und der Preis war bezahlbar.
Zeigte das Schicksal endlich Erbarmen?
»Eine Mitbewohnersuche«, gab Bentley verspätet zurück. Wahrscheinlich war er mit den Gedanken schon wieder beim Gebäck. »Willst du umziehen?«
»Ich schau hin und wieder, was der Markt so hergibt.« Das klang irgendwie besser, als zuzugeben, dass ich seit Wochen im Auto lebte. Seit der Nacht, in der Bentley überraschend im Laden aufgetaucht war, weil er seine Jacke vergessen hatte. Da hatte ich mich damit rausgeredet, dass ich etwas für den nächsten Tag vorbereiten wollte und er hatte es mir geglaubt. Seitdem traute ich mich aber nicht mehr, hier zu schlafen. Ihn zu fragen, ob ich hier übernachten konnte, bis ich endlich eine Unterkunft hatte, war unmöglich. Zwar hätte er sofort zugestimmt, aber dann hätte er gewusst, wie sehr ich mich bemühte, in Juniper Falls leben zu können. Das konnte ich nicht mal meiner Mom eingestehen – also zog ich das Auto vor. Drei Wohnungen hatte ich mittlerweile besichtigt und eine WG. Das waren die einzigen Angebote seit Monaten, die ich mir in Juniper Falls hatte leisten können. Offenbar hatte ich gerade das fünfte gefunden und es klang perfekt.
»Warum ziehst du nicht zu uns?« Nur Bentley konnte spontan jemanden einladen, bei sich einzuziehen. Sein Herz war einfach dieses Stück größer als bei den meisten anderen Menschen.
»Danke, aber ich glaube, das wäre nicht das Richtige.«
»Warum nicht? Alle würden sich freuen.«
Ich drehte mich zu ihm, bevor er noch mehr Feuer fangen konnte, denn dann war es beinahe unmöglich, ihn wieder davon abzubringen. »Zwingst du mich, es auszusprechen?«
Bentley hatte bereits den Mund geöffnet, wohl um mir all die Gründe zu präsentieren, weshalb seine Idee grandios war, und stoppte nun irritiert. Doch nur einen Augenblick später glomm Verständnis in seinen Augen auf. »Ella-Bella?«
Natürlich.
Widerwillig rang ich mir ein minimales Nicken ab. Die meiste Zeit war es für mich in Ordnung, sie und Darce zusammen zu sehen. Nur manchmal in diesen Augenblicken, wenn die beiden so miteinander beschäftigt waren, dass sie die ganze Welt um sich herum ausblendeten, zwickte es hinter meiner Brust. Weil ich mir dann wünschte, dass es auch jemanden in meinem Leben gäbe, mit dem ich diese Innigkeit besäße. Doch der einzige Mensch, den ich mir dafür hätte vorstellen können, war Ella gewesen. Und deshalb würde ich wohl für alle Zeit mit diesem angeknacksten Herzen herumlaufen.
Ich freute mich für Ella und Darce.
Wirklich.
Aber keinesfalls wollte ich mit ihnen zusammenwohnen.
»Sorry, das war unsensibel.«
»Alles gut. Wie war das mit meiner Superpower? Ich stelle einfach meinen Charme an und sichere mir das Zimmer.«
Die begeisterte Unterstützung, mit der ich gerechnet hatte, blieb aus, stattdessen starrte Bentley mich aus großen Augen an, bevor er langsam nickte.
»Kennst du denjenigen, der den Zettel aufgehängt hat? Hier findet sich überhaupt nichts an Infos.«
»Nein.« Er schüttelte überraschend heftig den Kopf. »Keine Ahnung, wer das war.«
Mist, wenn das kein Stammkunde gewesen war, hatte wohl nur jemand Geschäfte abgeklappert, um überall Aushänge zu verteilen. Das würde bedeuten, ich würde gegen Dutzende von Bewerbern bestehen müssen. Wobei, mit etwas Glück waren es dieses Mal weniger, schließlich schien der Termin kurzfristig angesetzt worden zu sein.
»Okay, ich mache doch jetzt Schluss, dann schaffe ich es noch rechtzeitig.«
Bentley nickte erneut langsam und sein Blick huschte zum Aushang. Ich nahm einen letzten großen Schluck Coke und setzte mich in Bewegung. Plötzlich fühlte ich mich deutlich besser, beinahe beschwingt. Heute würde es klappen. Dass der Zettel hier hing, war ein Zeichen.
Dieses Zimmer würde meins werden.
»Logan?« Bentley stoppte mich, gerade als ich dabei war, aus dem Verkaufsraum zu hasten, um den Rucksack zu holen. Fragend sah ich mich zu ihm um, wartete auf das, was er zu sagen hatte, aber er wippte nur mit den Füßen, als suchte er nach Worten.
»Was ist los?«
»Ach, nichts«, stieß er aus. »Ich wollte dir nur viel Glück wünschen.«
»Wozu brauche ich Glück?«, gab ich grinsend zurück. »Ich habe doch meine Charme-Superkraft.«
»Klar.« Bentley lächelte ebenfalls, nur wirkte es bei ihm ungewöhnlich angespannt. »Aber Glück kann nicht schaden.«
Diese Wohnung war meine Festung. Wenn ich nach der Arbeit die Tür hinter mir schloss, konnte ich runterfahren. Das war der Moment, in dem diese permanente Spannung zwischen den Schulterblättern endlich schwand und mein Kopf so etwas wie Ruhe fand.
Weil ich mich hier nicht verstellen musste.
Hier gab es niemanden, der mich beurteilte.
Keiner, der die heilende Stille störte – das hier war mein Rückzugsort vor der Welt.
Bis heute.
Seit zwei Stunden liefen nun fremde Menschen durch die Wohnung und begutachteten die Räume, in denen ich lebte.
Ich hasste alles daran.
Ungefähr einhundertmal war mir durch den Kopf gegangen, dass es vielleicht doch besser wäre, mich auf die Suche nach etwas anderem Bezahlbarem zu machen. Aber die Mieten in Juniper Falls stiegen seit Jahren in immer astronomischere Höhen. Wahrscheinlich hätte ich es dennoch probiert, wenn diese Wohnung nicht der erste Sonnenstrahl nach einer finsteren Zeit gewesen wäre. Sie war mein Sieg. Ich konnte sie nicht aufgeben. Also stand ich da und presste die Zähne aufeinander, während die Fremden die hohen weißen Wände musterten. Die großen Fenster, die ein wenig zugig waren, aber viel Tageslicht hineinließen. Den Holzboden, den ich vom zerschlissenen Teppich befreit hatte und der jetzt in einem warmen Braunton schimmerte. Und sich dann über den winzigen Balkon amüsierten, der vom Wohnzimmer abging. Im Anschluss nahm ich ihre Fragebögen entgegen und während sie mir Fragen stellten, musterte ich verstohlen ihre Antworten.
Die Fragebögen waren die Idee von Olive gewesen. Sie hoffte darauf, dass jemand all meine Fragen perfekt beantwortete, woraufhin er und ich uns unsterblich ineinander verlieben würden. An dieser Stelle hatte sie einen Blick voller Todesverachtung von mir bekommen. Auch wenn Olive meine einzige Freundin war und ich das allermeiste an ihr vergötterte – ihre kitschige Vorstellung von Liebe löste regelmäßig meinen Würgereflex aus.
Genau wie die Erkenntnis, dass ich hier bald nicht mehr allein leben würde. Deshalb hatte ich die Idee mit den Fragebögen übernommen, nicht für so etwas Albernes, wie mich zu verlieben, sondern um den perfekten Mitbewohner zu finden. Ich wusste genau, wonach ich suchte: einen Geist. Die bekam man weder zu sehen noch zu hören. Leider bezahlten Geister keine Mietanteile, also musste ich jemanden suchen, der das übernahm und von dem ich ähnlich wenig mitbekam.
»Ich habe hierzu ein paar Fragen«, sagte der Typ im Anzug, der für heute wohl der Letzte sein würde. In fünf Minuten konnte ich die Tür schließen und die Welt endlich wieder aussperren. Er wedelte mit dem Blatt Papier. »Die Fragen sind alle etwas … speziell. Du suchst vermutlich jemanden, mit dem du was unternehmen kannst? Das Zimmer ist klein, aber in Ordnung – doch diesen Part, ich fürchte, darauf hätte ich keine Lust.«
Und da war er.
Dieser magische Moment, auf den ich gehofft hatte.
»Okay«, stieß ich aus und musterte ihn.
Er war irgendwas zwischen Mitte bis Ende zwanzig. Den Anzug hatte er sich bestimmt nicht für die Besichtigung heute angezogen, das bedeutete, er war direkt von der Arbeit hierhergekommen. Ein weiterer Pluspunkt. Offenbar arbeitete er viel.
»Finde ich gut.«
Überrascht hob er die Augenbrauen und schien sich nicht sicher zu sein, ob ich scherzte, aber ich lächelte, um meine Worte zu unterstreichen.
»Wie stehst du zu Besuch?«
»Je weniger desto besser«, sagte er. »Das wäre mir wichtig. Ich arbeite unter der Woche in Juniper Falls und bin quasi nur zum Schlafen hier, weil ich an den Wochenenden in meine Heimatstadt fahre. Ich suche einen Ort, an dem ich einfach meine Ruhe habe, keine neuen Freunde. Sorry, wenn ich damit anecke.«
Konnte er mein ganz persönlicher Geist sein?
»Also würde ich dich fast nicht sehen?«
»Vielleicht mal in der Küche, aber meist esse ich auf der Arbeit. Ich verstehe, wenn es nicht das ist, was du willst, aber ich möchte dir auch nichts vormachen. Ich bin auf der Suche nach einer Zweck-WG.«
Dingdingding.
Ich hatte einen Gewinner.
»Das bin ich auch«, erwiderte ich und deutete auf seinen Fragebogen. »Bist du mit dem fertig? Ich denke, ich rufe dich morgen oder so an.« Wenn ich meine soziale Batterie wieder ausreichend aufgeladen hatte.
Zwar bekam ich noch einen prüfenden Blick, aber er nickte. »Super, dann passt es ja zwischen uns.«
Definitiv.
»Ich finde allein raus«, setzte er hinzu und verschaffte sich damit weitere Bonuspunkte. Bevor er ging, übergab er mir seinen Fragebogen und ich begann, seine Antworten zu überfliegen, während wir uns knapp verabschiedeten. Doch kaum war ich in der Küche angelangt, hörte ich schon erneut Schritte und diese hier kamen eindeutig auf mich zu.
Verdammt.
Ein weiterer Interessent.
Es waren nur noch fünf Minuten übrig. Wer kam so spät zu einem Besichtigungstermin?
Und gerade als ich dachte, es könnte nicht schlimmer werden, erklang ein: »Hi?«
Seine Stimme.
Hier.
Bei mir!
Was zur Hölle hatte das Schicksal nur gegen mich?
Das Haus war eine dieser Bauten mit sechs verschiedenen Parteien, die mitten in der Innenstadt lagen. Drumherum mischten sich diverse Geschäfte mit Wohnhäusern. Und direkt gegenüber, eingezwängt zwischen einem Brautmodengeschäft und dem einzigen Tattooladen in Juniper Falls, lag das Heaven & Hell. Eines der wenigen Lokale, in dem sogar ich schon gewesen war. Davor winkte mir eine unserer Stammkundinnen zu, die sich jeden Tag einen Zimtcookie kaufte. Sonnenlicht fiel durch das Geäst der Bäume und Sträucher, die die Straße säumten, und gab ihr einen beinahe malerischen, warmen Anstrich. Von hier aus konnte ich sogar das Backsteingebäude der öffentlichen Bücherei sehen, in der ich früher regelmäßig Bücher ausgeliehen hatte, weil ich mir keine neuen hatte leisten können. Die Ecke hier hatte ich schon immer gemocht und das fühlte sich an wie ein weiteres gutes Zeichen. Heute würde es klappen!
Ich peilte das cremefarbene Haus an und erst da ging mir auf, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich klingeln musste. Da der Termin beinahe beendet war, erwartete mich nicht die sonstige Reihe an Wartenden, denen ich hinterhertraben konnte. Die Lösung fand sich auf einem Post-it, das an die offene Tür geklebt worden war. Besichtigung oben. Wer auch immer die Wohnung vermietete, hielt sich nicht mit vielen Worten auf.
Aufregung kribbelte in meinem Magen, als ich das Haus betrat und die ersten Schritte auf den weichen dunkelroten Samtteppich setzte, der wirkte, als wäre er aus der Zeit gefallen. Ich folgte der geschwungenen Treppe hinauf und fand zwei nebeneinanderliegende Wohnungstüren. Die linke von ihnen war angelehnt und daneben stand ein einfacher Holzstuhl, der beladen war mit Zetteln und einem Becher mit vier Kugelschreibern. Vorm Betreten ausfüllen, befahl mir ein darüber hängender Post-it.
Verdammt.
Offenbar fand hier die erste Ausschlussrunde schon statt, bevor man überhaupt durch die Tür treten durfte.
Mir blieben nur wenige Minuten, um zu bestehen.
Ruhig bleiben.
Durchatmen.
Ich schnappte mir einen der Zettel und überflog die Fragen. Und mit jeder davon ließ der Druck, der sich auf mich gelegt hatte, ein wenig nach. Es ging nicht um mein Einkommen, nicht mal um die bisherige Wohnadressen, sondern nur um mich. Es waren zehn Fragen, in denen ich zeigen konnte, was für einen charmanten und geselligen Mitbewohner ich abgeben würde. Das war kinderleicht. Hatte Bentley nicht selbst gesagt, dass Charme meine Superkraft war? Hier kam die Chance zu glänzen. Ich nahm mir einen der Kugelschreiber und er flog geradezu über das Papier, so spielend einfach fielen mir die Antworten.
Hast Du Ein Haustier?
Noch nicht, aber ich träume von einem Hund.
Denn jeder liebte Hunde, oder?
Wie Stellst Du Dir Die Abende Hier Vor?
Gemeinsam kochen und zum Essen Freunde einladen, mit denen wir im Anschluss spielen – ich habe tolle Brettspiele, die ich mitbringen kann.
Ja, das hier war kinderleicht. Auch auf die anderen Fragen fand ich sofort die perfekten Antworten.
In einer spontanen Eingebung kritzelte ich noch einen kleinen Muffin mit einer winzigen Kirsche als Topping in die rechte Ecke. Damit konnte ich mich zusätzlich von den anderen Bewerbungen absetzen. Der Kugelschreiber fand seinen Weg zurück ins Glas und ich wollte gerade die Wohnung betreten, als ich fast in jemanden hineingelaufen wäre, der herauskam.
Nicht jemand.
Superman.
Er besaß glatt gegelte schwarze Haare und war so gut gekleidet, dass ich mir daneben unscheinbar vorkam.
»Sorry«, stieß ich aus und wich zur Seite, was er mit einem winzigen Nicken quittierte. Sein flüchtiger Blick fuhr über mich hinweg, als wäre ich Teil des Hausflurs, und schon war er an mir vorbei. »Bye«, rief ich ihm noch hinterher, aber – Überraschung – die Antwort blieb aus.
Manche Leute waren so gesellig wie Meeresschildkröten. Die konnten über Jahre allein leben, ohne irgendwas zu vermissen. Superman versprühte definitiv Schildkröten-Vibes. Gut für mich. An diesem Fragebogen war er bestimmt gescheitert.
Ich trat in die Wohnung und fand ein Wohnzimmer mit einem auffallend schönen Boden aus Holzdielen. Ein cremefarbener Zweisitzer mit einem dunkelbraun gebeizten Tisch stand auf der einen Seite. Zwei gut gefüllte Bücherregale, von denen sich einige grüne Hängepflanzen herunterhangelten, an der anderen und dazwischen, mir direkt gegenüber, umrahmten weiße, durchscheinende Gardinen mit zartem Blumenmuster den winzigsten Balkon, den ich je gesehen hatte.
Das hier war, was man als minimalistisch bezeichnete. Es gab keine Fotos, keine Bilder an den Wänden, keinen Teppich – wobei das bei dem Fußboden auch eine Schande gewesen wäre. Wer immer hier lebte, musste erst vor Kurzem eingezogen sein. Vier Türen gingen vom Wohnzimmer aus ab, doch alle waren geschlossen.
»Hi?«, stieß ich aus und plötzlich fühlte es sich mit der Stille um mich herum an, als wäre ich allein. Es kam keine Antwort, also zog ich mein Handy aus der Jeanstasche, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. Mir blieben noch ganze vier Minuten, bis die Besichtigung endete. »Hallo?«, rief ich erneut lauter und schob das Handy zurück. Wieder kam keine Reaktion, doch gerade als ich überlegte, an welche der Türen ich klopfen sollte, öffnete sich die hintere auf der rechten Seite. Kurz flackerte Erleichterung in mir auf.
Und dann sah ich sie.
Ihr auffälliges pastelllilafarbenes Haar trug sie heute in einem seitlichen Zopf und über ihre Jeans fiel ein so übergroßes schwarzes Shirt, dass es wirkte, als wollte sie darin verschwinden. Diese Frau war ein einziger Widerspruch und sie stand ausgerechnet hier.
H. starrte mich aus diesen großen taupefarbenen Augen an, deren graubrauner Farbton mich an die Rinden von Wacholder erinnerte. Im nächsten Moment blinzelte sie so heftig, als hoffte sie darauf, dass ich mich darunter in Luft auflöste.
Würde ich nicht.
Die Stille vertiefte sich, wurde schneidend, während wir uns anschwiegen und wohl beide darauf hofften, dass das hier ein schlechter Witz war.
Wenn der Zettel von ihr stammte, hätte Bentley davon gewusst. Mit ihm sprach sie. Dann hätte er mich doch niemals hierherkommen lassen. Ich atmete tief durch und versuchte mich an etwas, das sich wie ein Lächeln anfühlte.
»Bist du auch wegen des Zimmers hier?« Das musste es sein. Sie war nur eine weitere Bewerberin um den raren Wohnraum. Jeden Augenblick würde die Tür ganz aufgehen und wer immer hier wohnte, würde herauskommen.
Aber mit Hoffnungen war es so eine Sache. Sie waren so fragil, dass manchmal schon Stille ausreichte, um sie zu zersplittern.
»Du hast wohl auch keine Pizza geliefert?« Ich hatte es wie einen Scherz klingen lassen wollen, aber kaum, dass ich die Frage aussprach, hörte selbst ich die Verzweiflung darin.
Die geheimnisvolle H. hatte also den Zettel aufgehängt und Bentley hatte es gewusst und nichts gesagt.
»Dann geh ich wohl besser«, mühte ich mir ab und sie schwieg sich weiter aus.
Großartig.
War ich hier eigentlich der Alleinunterhalter?
»Hat dir die Torte geschmeckt?«, fragte ich, um ihr wenigstens eine Antwort abzuringen, aber sie zuckte nur mit den Schultern. Offenbar würde ich dieses Haus verlassen, ohne dass jemand auch nur ein Wort mit mir gesprochen hatte. Das war ein neuer Rekord bei meiner Wohnungssuche-Odyssee. »Dann noch einen schönen Abend.« Ich drehte mich Richtung Wohnungstür. »Wir sehen uns bestimmt bald im Laden.« Wo du mich wieder schreckliche Beleidigungen auf deine Torten schreiben lässt.
Meine Schritte pochten auf dem Holzboden.
Diesem verdammt schönen Holzboden.
In diesem wirklich schönen Haus.
Ich wollte nicht zurück in meinen Dodge.
Nicht schon wieder gescheitert sein.
Nein!
Ich fuhr zu ihr herum. »Lässt du mich das Zimmer sehen?«
Erneut dieses Blinzeln, jetzt beinahe verstört. »Weshalb?«
Zumindest hatte sie meine Frage daran erinnert, wie die Sache mit dem Sprechen ging.
»Weil ich mich darauf bewerbe. Ich habe noch knapp drei Minuten, um dich zu überzeugen, oder?«
Entgeisterung tänzelte in ihren Augen und das Schlimmste daran war, dass die gleiche Entgeisterung auch in mir tanzte. Hätte mir jemand vor einer Stunde gesagt, dass das hier für mich eine Option war – trotz ihr, ich hätte es nicht geglaubt. Offenbar saß meine Verzweiflung viel tiefer als geahnt.
»Es ist schwer, ein Zimmer zu finden, das irgendwie bezahlbar ist«, setzte ich erneut an. »Ich weiß, du hasst mich …« Die Pause, die ich setzte, damit sie widersprechen konnte, zog sich wie Kaugummi und wieder schwieg sich H. aus.
Wow.
Sie hasste mich also wirklich.
»Kann ich das Zimmer sehen? Bitte?«
H. atmete so tief ein, dass sich das schwarze Shirt sichtbar hob und dann presste sie die Luft aus, als würde sie sich daran vergiften. »Komm mit.« Mit schnellen Schritten durchquerte sie den Raum, ging am Sofa vorbei und öffnete die erste der beiden linksgelegenen Türen. Sie selbst blieb im Wohnzimmer stehen, als ich eintrat. Das Zimmer war klein und eine Schräge an der gegenüberliegenden Wand nahm ihm zusätzlichen Raum. Das erklärte, weshalb ich es mir leisten konnte.
»Es passt nicht viel außer einem Bett rein«, sagte H. hinter mir. »Ein Kleiderschrank wird schon schwierig.« Die Aussicht, dass ausgerechnet ich in dieses Zimmer ziehen wollte, hatte sie ihr Schweigen brechen lassen. Jetzt bekam ich sogar ganze Sätze, die mich davon abhalten sollten, hier einzuziehen.
»Ich habe nur eine Kleiderstange«, gab ich zurück. »Das Zimmer passt perfekt.«
Ihrem Blick nach hatte sie wirklich auf eine andere Erwiderung gehofft. »Okay«, stieß sie aus. »Dann ist der wohl für mich?« Sie deutete auf den Zettel in meiner Hand, dessen Antworten sich jetzt so überhaupt nicht mehr grandios anfühlten. Doch es würde sonderbar wirken, wenn ich nach draußen hastete, um einen neuen Fragebogen auszufüllen, also reichte ich ihn ihr widerwillig. Sie senkte den Kopf, wodurch ihr Zopf tieferrutschte. Einige Strähnen hatten sich daraus befreit und wirkten nun beinahe verloren auf all dem Schwarz.
H. presste die Lippen aufeinander, während sie meine Antworten las, um nach Gründen zu suchen, weshalb ich nicht hier einziehen konnte.
»Du willst einen Hund?« Kaum begann sie zu lesen, fuhr ihr entsetzter Blick auch schon wieder zu mir hoch. Bis gerade hatte ich gedacht, dass so ziemlich jeder Mensch Hunde liebte. Ihrer Miene nach sah das bei H. anders aus. Natürlich. Entweder sie tat nur so, als würde sie einfach alles hassen, was mir gefiel, oder aber wir waren die inkompatibelsten Menschen auf diesem Planeten.
Ausgerechnet hier wollte ich einziehen?
Kurz zuckte die Erkenntnis wie ein Blitz durch mich und plötzlich kamen mir die Rücksitze meines Pick-ups gar nicht mehr so unbequem vor. Doch dann nickte ich schicksalsergeben.
Weil ich mich mit jedem Tag im Auto erbärmlicher fühlte.
Weil ich Mom nicht ewig hinhalten konnte.
Und weil die einzige Alternative zu dem hier war, dass ich bei Bentley einzog – und bei Ella und Darce.
Wie schlimm konnte das hier dagegen schon sein?
Aber H. bekam mein Nicken überhaupt nicht mit. Sie hatte sich wieder dem Fragebogen zugewandt und ich könnte schwören, dass ihre Wangen heller wurden und sie fassungslos ein Wort formte, das an Brettspiele erinnerte.
Ich musste was tun.
Nur was?
»Irgendwann einmal.«
Sie sah wieder auf, doch nun fand sich ehrliche Verwirrung in ihrem Gesicht.
»Der Hund?«, versuchte ich es erneut und diesmal war sie es, die nickte, falls diese winzige Bewegung überhaupt ein Nicken darstellte. Offenbar war der Hund in den Antworten nicht mehr mein größtes Problem.
Irgendetwas schien mit der Zeit nicht zu stimmen, denn es dauerte Ewigkeiten, bis sie endlich vom Fragebogen abließ, um mich anzuschauen. Beinahe sofort sah sie auch schon an mir vorbei zu der Gardine des winzigsten Balkons aller Zeit. Ob sie darüber nachdachte, sich dahinter zu verkriechen und darauf zu hoffen, dass wir den nächsten Moment überspringen konnten, der das hier noch unangenehmer machte?
Sie würde mir eine Abfuhr geben.
Natürlich würde sie das.
Wären unsere Rollen vertauscht, hätte ich das Gleiche getan.
»Also eigentlich«, begann sie und stoppte, um sich für einen winzigen Augenblick auf die Unterlippe zu beißen. Nicht auf diese süße Art wie Schauspielerinnen in Filmen, sondern eher wie jemand, der seinen Text vergessen hatte und nun verzweifelt versuchte, sich daran zu erinnern. »Ich will nicht so eine Art von Mitbewohner.« Vorsichtig kehrte ihr Blick zu mir zurück, suchte in meinem Gesicht nach etwas, das sie wohl kaum fand, denn da herrschte sicher die gleiche Verwirrung wie in mir. »Ich suche keine Freunde«, fuhr sie fort und steigerte meine Verwirrung ins Bodenlose.
Ernsthaft, was hatte sie gegen Freunde?
»Was willst du dann?«
»Einen Geist.«
Wow.
Wo war ich hier gelandet?
War das einer von Bentleys Pranks? Würde er gleich lachend eine der Türen öffnen und mit Konfetti werfen, weil ich ihm auf den Leim gegangen war? Oder meinte sie das ernst und glaubte nicht nur an Geister, sie wollte auch mit einem zusammenle…
»Du denkst doch jetzt nicht ernsthaft, ich meine einen echten Geist?« Sie war zurück, diese bodenlose Entgeisterung in ihren Augen, und langsam fühlte es sich an, als wäre dieser Blick allein für mich reserviert.
»Natürlich nicht«, gab ich diese verräterische Spur zu schnell und zu hoch zurück.
Sie hob die Augenbrauen und es wirkte nicht, als würde sie mir glauben.
»Ich meinte nicht so einen Geist«, sagte sie so langsam, als wäre ich ein Kind, dem sie eine komplizierte Rechenaufgabe erklärte. »Sondern einen Mitbewohner, der wie ein Geist ist – unsichtbar und nicht zu hören.«
»Wer sollte so etwas wollen?« Die Frage entwischte mir, lange bevor ich sie hätte aufhalten können.
»Jemand, der sich diese Stadt nicht leisten kann und hierzu gezwungen wird?« Nun klang sie müde. So unendlich müde, wie ich mich fühlte. Viele hier freuten sich über die Aufmerksamkeit, die Juniper Falls in den letzten Jahren auf sich gezogen hatte. Plötzlich gab es Filialen von angesagten Modeketten in der Mall, schickere Restaurants und sogar ein Starbucks hatte hier ein paar Straßen weiter vorigen Monat eröffnet. Doch die neuen Läden vertrieben die alteingesessenen. Das Diner, in dem ich früher gearbeitet hatte, war eines der Relikte, die sich hielten – noch. Während viele Kleinstädte befürchten mussten, irgendwann auszusterben, gewann Juniper Falls jeden Monat etliche Einwohner dazu und würde bald eine fünfstellige Zahl aufweisen. Doch all die Menschen brauchten Wohnraum – genau wie ich – und im Zweifel konnten sie dafür mehr bieten.
»Eigentlich habe ich den passenden Geist schon gefunden«, fuhr sie langsam fort und obwohl ich gewusst hatte, dass sich meine Chancen irgendwo in der Nähe des Bodensatzes befanden, piekste die Enttäuschung wie eine überdimensionale Nadel in meine Brust.
»Ist Superman dein Geist?«
»Superman?«
»Der schweigende Typ im Anzug, in den ich fast reingerannt bin? Wenn du die Augen ein wenig zusammenkneifst, sieht er aus wie Superman.«
Ich bekam ein Nicken und einen weiteren dieser verständnislosen Blicke.
Das war irgendwie unser Ding.
Gegenseitige Verständnislosigkeit.
Noch nie hatte ich einen Menschen getroffen, den ich weniger verstanden hatte.
Sie war das personifizierte Gegenteil von mir.
»Superman wird ein toller Mitbewohner«, mühte ich mir ab, da schob sich wie aus dem Nichts die gegenüberliegende Tür auf – die aus der H. vorhin getreten war. Diese verdammte Diskussion über Geister musste daran schuld sein, dass ich vor Schreck zusammenfuhr. Und dann sah ich es.
Es hatte spitze, absurd große Ohren, rosafarbene Haut und seine Statur besaß Ähnlichkeiten zu der einer Ratte, nur war es dafür um ein Vielfaches zu groß. Dieses Etwas stoppte abrupt, als es mich bemerkte, und starrte mich aus hellblauen Augen an.
»Was ist das?« Nicht nur das Geschöpf war in seiner Bewegung eingefroren, das galt auch für den größten Teil meines Körpers.
»Meine Katze.«
Nein.
Unmöglich.
Schließlich kannte ich Katzen, die waren flauschig und süß und sie musterten einen nicht so durchdringend. H. öffnete die helllilafarbene Balkontür und machte ein schnalzendes Geräusch, das die Starre des Tieres aufzubrechen schien. Denn die Katze neigte den Kopf, als würde sie H. eine unhörbare Frage stellen, dann bekam ich einen weiteren misstrauischen Blick zugeworfen und sie setzte sich vorsichtig in Bewegung. Jetzt, wo sie ging, war die Eleganz einer Katze unleugbar, geschmeidig huschte sie das letzte Stück auf den leeren Balkon, während H. zurückkehrte.
»Wie heißt sie?«
»Cat«, gab H. zurück und jetzt war sie es, die Verständnislosigkeit erntete.
»Katze? Sie hat keinen Namen?« Katzen hatten doch süße Namen wie Snowball – die von James. Oder Molly wie die von Moms Nachbarin. Mir selbst würde spontan ein ganzes Dutzend davon einfallen.
»Nein. Wie soll ich sie benennen, wenn ich nicht weiß, wie sie heißen möchte?«
Ja.
Es gab keine zwei Lebewesen auf diesem Planeten, die so verschieden waren wie wir.
»Okay«, setzte ich erneut an. »Ich geh dann mal. Danke, dass du mir das Zimmer gezeigt hast.«
Sie nickte langsam, während sie wieder auf ihre Unterlippe biss, doch nun wirkte sie dabei nicht verloren, sondern irgendwie … süß? Offenbar hatte dieser Abend meinem Verstand noch mehr zugesetzt als gedacht. Ich sollte schleunigst hier raus, bevor sich diese unsinnige Erkenntnis in mir festigen konnte.
»Kein Hund«, stieß H. aus, gerade als ich ihr zum Abschied zuwinken wollte, und meine Hand verharrte unschlüssig.
Was wurde das?
»Das geht mit Cat nicht. Und keine geselligen Abende oder Brettspiele – die gehen mit mir nicht«, fuhr sie fort.
»Heißt das, ich bekomme das Zimmer doch?« Vorsichtige Begeisterung kribbelte in meinem Bauch.
»Erst musst du meinen Regeln zustimmen, aber offenbar mag dich meine Katze, also …«
Die Katze, die mich gerade angestarrt hatte, als wäre ich der Teufel in Menschengestalt? Dann wollte ich nicht wissen, wie sie Leute begrüßte, die sie nicht leiden konnte.
»Klar«, erwiderte ich schnell. »Kein Hund, keine Geselligkeit, keine Brettspiele.« H. konnte fordern, was sie wollte. Wenn ich dafür das offenbar letzte bezahlbare Zimmer in Juniper Falls bekam, würde ich alles unterschreiben. »Gibt es noch mehr Regeln?«
»Du musst schwören, dass du dich nicht in mich verliebst.«
Wer hätte gedacht, dass dieser Abend noch absurder werden konnte?
»In dich … was?«, fragte ich, nur um sicherzugehen, dass ich mich nicht verhört hatte.
»Verliebst«, gab sie ungerührt zurück. »Sobald du dich in mich verliebst, werfe ich dich raus.«
Und wieder kam mir Bentley und seine Begeisterung für Scherze in den Sinn. Doch auch dieses Mal fühlte sich ihre Miene nicht nach einem an.
Nein, sie meinte diesen Unsinn ernst.
»Wie kommst du darauf?«, stieß ich kopfschüttelnd aus. »Ich bin überhaupt nicht der Typ für Liebe.«
»Als ich dich kennengelernt habe, warst du in eine Herzgirlande eingewickelt.«
Okay.
Punkt für sie.
»Die war nur Deko!«
»Dass du das immer wieder so betonst, macht es nicht besser.«
»Was für ein Problem hast du mit Valentinstagsdeko?«, brach es aus mir heraus. Etwas zu heftig, aber die Frage hatte ich ihr schon damals stellen wollen, als sie sich auf Bentleys Seite gestellt hatte und meine ganzen liebevoll ausgearbeiteten Valentinstagsideen zerschmettert hatte.
»Ich verachte das Konzept hinter dem Valentinstag.« Sie zuckte mit der Schulter und ihr lilafarbener Zopf rutschte nach vorn. »Außerdem glaube ich nicht an das, was allgemein für Liebe gehalten wird. Liebe ist eine chemische Reaktion. Ein Rausch aus Dopamin, Oxytocin und ein Mangel aus Serotin – das ist alles.«
Das war die schlimmste Definition von Liebe, die ich jemals gehört hatte. Ich zwang mich dennoch, still zu bleiben und jede Erwiderung in mir zu behalten. Wenn wir jetzt stritten wie bei den Wochentagen, konnte ich das Zimmer vergessen.
»Verlieb dich, wie du möchtest«, fuhr sie fort und ihre graubraunen Augen verkleinerten sich. »Aber lass mich aus dem Spiel, sonst fliegst du hier raus. Also, schwörst du es – beim Leben deiner Granny?«
»Klar.« H. musste nicht wissen, dass meine Grannys schon vor meiner Geburt gestorben waren. Das hier war das unsinnigste Versprechen aller Zeiten. Als wenn es auch nur den Hauch einer Chance gab, dass ich mich ausgerechnet in sie verlieben konnte.
Nein.
Ausgeschlossen.
»Du musst dir wirklich keine Sorgen machen.« Das musste ich unbedingt klarstellen, denn offenbar hatte sie da etwas vollkommen falsch verstanden. »Ich bin nicht hier, weil ich heimlich unsterblich in dich verliebt bin und ich werde ganz sicher nicht irgendwelche Annährungsversuche machen. Mich interessiert nur das Zimmer.«
»Annäherungsversuche?« Offenbar war das nicht die Richtung, in der ihre Gedanken gestreift waren. Plötzlich fühlte sich ihre Musterung seltsam anders an. Irgendwie prüfender und intensiver. »Nur fürs Protokoll«, fuhr H. langsam fort. »Ich für meinen Teil kann Sex und Liebe wunderbar trennen«, setzte sie hinzu und lächelte.
H. lächelte mich an.
Mich.
Zum ersten Mal überhaupt.
Wenn es nicht sie gewesen wäre, hätte ich gedacht, dass ich hier gerade klare Flirtvibes verspürte.
Und ja, dieser verfluchte Gedanke, dass sie tatsächlich ziemlich süß war, flackerte augenblicklich wieder in mir auf.
»Gut zu wissen«, stieß ich einen Hauch zu atemlos aus und hoffte, dass sie es nicht merkte. »Dann sind wir wohl jetzt Mitbewohner. Es gibt da nur ein Problem …«
»Welches?«
»Ich kenne deinen Namen nicht.«
»Ich kann es nicht fassen, dass du gerade bei ihr einziehst, ohne zu wissen, wie sie heißt.«
Wie oft Bentley das wohl mittlerweile festgestellt hatte? Seit dem Augenblick, in dem ich ihm erzählt hatte, dass ich mit H. zusammenziehen würde, tat er kaum etwas anderes. Meine Wut auf ihn hatte sich verflüchtigt, nachdem er angeboten hatte, mir beim Umzug zu helfen. Doch so wie er gerade beim Schleppen des Kartons mit den Tortenkunst-Büchern ächzte, bereute er sein Angebot bereits.
»Ich auch nicht.« Fairerweise war einfach alles so absurd gewesen, dass dieser Umstand kaum noch ins Gewicht fiel.
Behutsam hob ich die kleine palmenähnliche Pflanze an, die Mom mir damals zum ursprünglichen Einzug geschenkt hatte. Keine Stunde, nachdem mein neuer Mitbewohner angerufen hatte, um mir zu sagen, dass aus dem Zimmer doch nichts wurde, weil er es kurzfristig einem Bekannten überlassen hatte. Ich wusste, was das bedeutete: Jemand anderes hatte mehr Geld geboten. Eigentlich hatte ich Mom damals beim Mittagessen beichten wollen, dass ich doch noch blieb, dann hatte sie mir die kleine Palme überreicht und mir gesagt, wie stolz sie auf mich war. Also hatte ich das einzig Richtige getan. Ich hatte Mom gedrückt, meinen Rucksack genommen und war woanders eingezogen, nur leider nicht in das hübsche Apartment in der Waterkant Street, sondern in den Dodge. Die kleine Palme hatte ich bei Mom gelassen und behauptet, ich müsste erst renovieren.
Damals hatte ich gedacht, ich würde schnell etwas Neues finden. Das war nun viele Wochen her, in denen ich Mom gegenüber ein chronisch schlechtes Gewissen hatte. Dabei wusste ich, dass es so auch für sie besser gewesen war. Sie brauchte den Platz für die Kids, die sie betreute. Besonders nachdem ihr vor ein paar Monaten eine fiese Kröte die Behörden auf den Hals gehetzt hatte. Mein Auszug war der Versuch gewesen, das Chaos wiedergutzumachen und jetzt endlich fühlte es sich an, als hätte ich es geschafft.
Zumindest, wenn ich nicht gerade darüber nachdachte, mit wem ich zusammenzog. Die meiste Zeit tänzelte ich in Euphorie, weil ich den Rücksitzen meines Dodges entkommen war, doch manchmal fragte ich mich, ob es das wirklich wert war.
Die Frage war gestern wie ein Loop um mich gekreist, als H. sich geweigert hatte, mir ihren Namen zu verraten und mir stattdessen die Haustürschlüssel mit einem Dutzend alberner Regeln überreicht hatte.
Berühre Cat nicht.
Schau sie am besten nicht an.
Lass ihr die Tür auf, damit sie auf den Balkon kann.