The Walking Dead: Taifun - Wesley Chu - E-Book

The Walking Dead: Taifun E-Book

Wesley Chu

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Beschreibung

Ein offizieller THE WALKING DEAD-Roman von Bestsellerautor Wesley Chu (Die Leben des Tao)! Dieser nervenaufreibende Thriller spielt in der großen Welt von Robert Kirkmans Serie THE WALKING DEAD. In China finden sich drei sehr unterschiedliche Menschen – ein Bauer, ein Militärveteran und ein amerikanischer Student – urplötzlich in einem regelrechten Taifun der Untoten wieder, als das Chaos über das bevölkerungsreichste Land der Welt schwappt.

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Seitenzahl: 474

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TAIFUN

VONWESLEY CHU

Ins Deutsche übersetzt vonClaudia Kern

Die deutsche Ausgabe von ROBERT KIRKMAN’S THE WALKING DEAD: TAIFUN wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Claudia Kern; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Greg Ruth.Printausgabe gedruckt von GGP Media. Printed in Germany.

Titel der Originalausgabe:

ROBERT KIRKMAN’S THE WALKING DEAD: TYPHOON by Wesley Chu.

German Translation copyright © 2020 by Cross Cult

Original English language edition Copyright © 2019 by Simon & Schuster, Inc.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

This edition published by arrangement with the original publisher,

Skybound Books / Gallery Books an Imprint of Simon & Schuster, Inc., New York.

Print ISBN 978-3-96658-044-1 (November 2020)

E-Book ISBN 978-3-96658-045-8 (November 2020)

WWW.CROSS-CULT.DE

Für Russ, der mir half,mich in der Apokalypse zurechtzufinden

Inhalt

1 DIE NEUE WELT

2 DER TAIFUN DER TOTEN

3 QUOTE

4 FREMDE IN EINEM FREMDEN LAND

5 DIE BEGRÜSSUNG

6 DER LICHTBLICK

7 DIE REVOLUTION DER LEBENDEN

8 HEIMKEHR

9 SUCHE

10 KAMPF GEGEN DEN TAIFUN

11 WIEDERGEWONNENE UNSCHULD

12 WIEDERSEHEN

13 DIE LETZTE GRENZE

14 DIE RÜCKKEHR

15 DIE VERTEIDIGUNG DER REVOLUTION

16 EINSATZ

17 MORALISCHE FRAGEN

18 DIE TRENNUNG

19 VORBEREITUNGEN

20 ZUHAUSE

21 RÜCKKEHR NACH FONGYUAN

22 IM SCHOSS DER REVOLUTION

23 DAS VERLORENE PARADIES

24 DIE BELAGERUNG

25 ERLÖSUNG

26 FÜR DIE REVOLUTION DER LEBENDEN

27 DIE FLUCHT

28 DER STURM ZIEHT VORÜBER

EPILOG

DANKSAGUNGEN

1

DIE NEUE WELT

Wenn man das Dorf Fongyuan aus der Ferne betrachtete, schien die Zeit dort stehen geblieben zu sein.

Dieser uralte, wunderschöne Ort schmiegte sich im Herzen der Provinz Hunan an den Yuanjiang-Fluss. Er klammerte sich an seine reiche Vergangenheit und kämpfte erbittert gegen jegliche Veränderungen. Saftig grüne Berge stiegen aus dem Morgennebel empor wie spitze Schuppen auf dem Rücken eines Drachen. Ein Schwarm weißer Kraniche stand am Flussufer und suchte im Wasser reglos nach kleinen Beutetieren. Der von Algen bedeckte breite und ungezähmte Fluss schlängelte sich durch das Tal wie eine gefleckte Bergviper.

Das Dorf bestand aus eng zusammenstehenden alten Häusern, die noch aus der Zhou-Dynastie stammten und mit dem charakteristischen geschwungenen Dach versehen waren, und einigen Wohnblöcken aus dem zwanzigsten Jahrhundert. An beiden Ufern ragten auf Stelzen stehende Häuser über das Wasser hinaus, was an die durch das flache Wasser watenden Kraniche erinnerte. In einiger Entfernung stürzte ein Wasserfall aus den Bergen in einen schmalen, sich dahinschlängelnden Zufluss des Yuanjiang herab. Abgesehen von der wuchernden Flora, den ausgebrannten Autos und einigen eingestürzten Häusern wirkte das Dorf idyllisch.

Jahrhundertelang hatte sich Fongyuan Hungersnöten, fremden Eroberern und Aufständen widersetzt. Es hatte im Zweiten Weltkrieg erbittert gegen die Japaner gekämpft und den Revolutionären während des chinesischen Bürgerkriegs als Stützpunkt gedient. In seiner mehrere Tausend Jahre langen Geschichte hatte Fongyuan allem widerstanden und war Dutzende Male wiederaufgebaut worden.

Doch den Toten, die aus ihren Gräbern stiegen, hatte sich das Dorf geschlagen geben müssen.

Aus dem Nebel schlurften zwei Gestalten mit abgehackt und steif wirkenden Bewegungen auf die Kopfsteinpflasterstraße am Dorfrand. Sie stießen beim Gehen immer wieder zusammen wie zwei Betrunkene, die in ein Gespräch vertieft waren.

Chen Wenzhu beugte sich über die Dachkante und betrachtete die beiden ungeduldig, als sie unter seinem Posten vorbeigingen. Sie sahen abgerissen aus und die Haut hing ihnen von den Knochen. Wahrscheinlich waren sie schon ganz am Anfang gestorben. Die Glücklichen.

Die vordere Gestalt war hager und ging leicht vorgebeugt den steilen Kopfsteinpflasterweg hinunter. Sie stieß mit der Schulter gegen eine Mauer, worauf sie in die Mitte der Gasse taumelte. Einer ihrer Arme endete am Ellbogen. Unter einer dünnen Schicht loser Haut, die sich sanft im Wind bewegte, konnte man die Hälfte ihres Kiefers sehen. Ihr einst rosa geblümtes, knöchellanges Kleid war nun zerschlissen, verblasst und voller Blutflecken.

Die beiden Gestalten waren ungewöhnlich, denn die kleinere blieb dicht hinter der größeren und hielt ihre Hand. Der kleine Junge trug kein Hemd und keine Schuhe und war höchstens fünf oder sechs Jahre alt. Er hatte ein engelsgleiches, unberührtes Gesicht und schwarze Haare mit einer Topfschnittfrisur. Ohne seinen abwesenden Blick und die hässliche Wunde am Hals hätte man ihn für einen Lebenden halten können.

Die beiden jiāngshī, wie man sie nun nannte, waren dazu verdammt, als Untote durch die Welt zu ziehen, bis jemand ihnen aus Mitleid einen zweiten Tod gewährte. Einen endgültigen Tod.

Jiāngshī.

Zhu schnalzte mit der Zunge, als er an diesen Namen dachte. So nannten alle die Toten, die nicht tot bleiben wollten. Das war ein alter Begriff, der aus Mythen stammte, die bis in die Qing-Dynastie zurückreichten. Historisch betrachtet handelte es sich bei den jiāngshī aus den Legenden um Leichen, die durch Magie oder von Geistern wiederbelebt worden waren. Diese schrecklichen Kreaturen ernährten sich vom Qi, der Lebenskraft eines Menschen.

Die Toten, die sich nun erhoben und das Land heimsuchten, waren etwas völlig anderes und ihre Existenz war weitaus schlimmer als die ihrer Namensvettern.

Ming Haobo, der neben Zhu hockte, fragte: »Was meinst du, Elena? Mutter und Sohn? Lehrerin und Schüler? Zwei Fremde, die zueinander fanden, als die Epidemie das Dorf erreichte?«

Elena Anderson, die dritte Person in ihrem Windteam, stieß einen dumpfen Laut aus, der wie ein Gurren klang. »Ich glaube, das ist eine Großmutter. Sie sieht wie eine Agatha oder Maribelle aus. Der kleine Junge heißt Bobby. Der kleine Bobby hat Oma Maribelle hier draußen auf dem Land besucht.«

»Maribelle hat für Bobby bestimmt Kekse und Mondkuchen gebacken.« Bo stolperte ein wenig über die englischen Namen, aber Elena nahm die Mühe, die er sich dabei gab, grinsend zur Kenntnis. Vielleicht würde er eines Tages besser Englisch sprechen als sie Mandarin.

»Du denkst immer nur ans Essen, Bo.«

Bo zuckte mit den Schultern. »Wenn ich meine năinai besucht habe, habe ich die ganze Zeit lang nur gut gegessen.«

Elena stupste seinen umfangreichen Bauch leicht an. »Das erklärt so einiges.«

Sie sahen zu, wie Maribelle Bobby zu einer Treppe führte, die sich vor einem Haus erstreckte. Sie stieß gegen das Geländer und machte weitere Schritte, obwohl sie nicht mehr vorankam.

»Maribelle ist mit Bobby bestimmt oft im Dorf spazieren gegangen.« Elena klang wehmütig.

Bo spielte mit. »Sie haben Drachen steigen lassen und Libellen auf dem Spielplatz ein paar Straßen hinter uns gefangen.«

»Jeden Morgen sind sie zum Angeln an den Fluss gegangen.«

Bo zeigte auf einen dritten jiāngshī, der ein Stück hinter ihnen gerade in die Straße einbog. »Vielleicht ist er der Großvater. Was glaubst du, wie er heißt?«

Elena presste die Lippen aufeinander. »Er sieht wie ein …«

»Das reicht«, unterbrach sie Zhu. »Es ist nicht mehr lange hell.« Obwohl er alles tolerierte, was sie von der Realität ablenkte, gefiel ihm dieses Spiel nicht. Den Toten Namen zu geben machte ihre Arbeit nur unnötig schwerer. So ein Blödsinn konnte einen von ihnen das Leben kosten.

Zhu zeigte auf den kleinen jiāngshī. »Elena, du erschießt den links. Ich kümmere mich um die rechts.« Er warf einen Blick auf den dritten jiāngshī. »Bo, du holst dir den yéye.«

Elena und Bo machten sich an die Arbeit. Bo kroch über das Dach zu dem jiāngshī, der ihm zugewiesen worden war, während Elena ihren Bogen spannte. Alle drei ließen sich gleichzeitig von den Dächern fallen. Elena fand ihr Gleichgewicht erst nach einem Moment wieder und verlagerte ihr Gewicht auf ein Bein, als sie wieder auf die Füße kam. Die Straße war steil und das Kopfsteinpflaster uneben. Zhu wartete nicht auf sie, sondern stürzte sich auf die beiden jiāngshī.

Er wollte Maribelle gerade die Machete in den Nacken stoßen, als ein Pfeil über seine Schulter raste und sich in ihren Kopf bohrte. Maribelle sackte zusammen, als der Untod aus ihr wich. Zhu wechselte rasch das Ziel, wandte sich der kleineren Gestalt zu und schlug dem armen kleinen Bobby schwungvoll den Kopf ab.

Er sah Elena verärgert an und schlug sich auf den rechten Arm. »Das ist rechts.«

»Tut mir leid«, murmelte sie und senkte den Bogen. »Ich hab das wieder verwechselt.«

Zhu nickte, fragte sich aber, ob das wirklich stimmte. Wahrscheinlicher war, dass sie den kleinen Jungen nicht hatte erschießen wollen. Elena war in dieser Hinsicht sensibel. Das war verständlich, aber Empathie für etwas zu entwickeln, das man töten musste, war auch gefährlich. Diese Lektion hatte er schon als kleines Kind gelernt, als er den Hühnern, die seine Familie hielt, Namen gegeben hatte. Der Tag, an dem sein yéye zwei seiner Lieblingshennen am Hals gepackt und in die Küche mitgenommen hatte, war einer der traumatischsten seines Lebens gewesen.

Zhu ließ es auf sich beruhen. »Wir üben das später noch mal. Was macht dein Bein?«

»Ich bin nur umgeknickt. Alles in Ordnung.«

Als er einen Blick zurückwarf, sah er, wie Bos Vorschlaghammer den Schädel des dritten jiāngshī wie eine Melone zerplatzen ließ. Fleisch und Knochen klatschten gegen die Mauer dahinter. Der kräftige Mann nahm sofort einen Lappen und wischte seinen Hammer sorgfältig ab.

Bo kam nur einen Moment später zu ihnen und betrachtete das Ergebnis ihrer Arbeit. Er wirkte niedergeschlagen. »Ich hoffe, dass es im Himmel Mondkuchen gibt, kleiner Bobby.«

Das Windteam verließ rasch die Hauptstraße und lief die gewundene Nebenstraße entlang. Zhu behielt Elena im Auge, die versuchte, trotz ihres verletzten Beins mitzuhalten. Der Straßenbelag bestand aus unterschiedlich großen Steinen, die man wie ein riesiges Puzzle zusammengefügt hatte und die sich über die Jahrhunderte hinweg abgenutzt hatten, sodass der Untergrund nun rau und uneben war. Die einstöckigen Häuser, die die Straße säumten, waren aus Holz, Stein und Beton zusammengewürfelt und die verschiedenen Schichten hatten den Häusern den Stempel ihrer jeweiligen Zeit aufgedrückt. Die Dächer waren niedrig und ragten weit über die Häuser hinaus, sodass vom Himmel nur ein schmaler Streifen in der Mitte der Straße übrig blieb.

Während sie kleinen jiāngshī-Gruppen auswichen, suchte Zhu nach einer Möglichkeit, auf die Dächer zurückzukehren. In einem Dorf wurde es auf dem Boden schon nach wenigen Sekunden gefährlich. Außerdem waren sie ein Windteam: Sie gehörten nach oben, an einen Ort, an dem sie sich so lautlos und sicher bewegen konnten wie die Brise, die über ihnen wehte. Zum Glück befanden sie sich am Dorfrand, sonst wäre der Sprung vom Dach Selbstmord gewesen. Die untergehende Sonne warf zunehmend längere Schatten. Sie würden bald Schutz suchen müssen.

Die Straße selbst war überraschend sauber und leer, wenn man bedachte, dass sie wahrscheinlich seit vielen Monaten nicht mehr gereinigt worden war. Das lag vermutlich an der Regenzeit, die seit einigen Wochen einen Großteil der Provinz durchnässte. Eine leichte Brise wehte von Norden heran, wirbelte Nebelschwaden auf und kitzelte die Härchen in Zhus Nacken. Der Wind brachte zwar einen schwachen Verwesungsgeruch mit sich, aber auch die Frische des Frühlings und die winzige Hoffnung auf neues Leben.

Zhu wies sein Team mit einer Geste an, dicht zusammenzubleiben. Sie eilten die Straße zur Hälfte hinunter und bogen dann in eine Gasse ein, die so schmal war, dass zwei Menschen kaum aneinander vorbeipassten. Ein jiāngshī, der ihm den Rücken zugewandt hatte, drehte sich um und streckte den Arm aus. Er konnte gerade noch ein Knurren ausstoßen, bevor Zhus Tritt seine Brust traf und ihn in einen Müllhaufen warf. Zhu stieß ihm die Machete in die Augenhöhle und lief, ohne langsamer zu werden, weiter durch die Gasse. Er bog nach links ab, nach rechts und blieb dann an einer Kreuzung stehen, um sich zu orientieren und sich zu vergewissern, dass sein Team noch bei ihm war. Elena war nur einen Schritt hinter ihm und Bo tauchte einige Sekunden später schwer atmend auf.

»Es ist fast dunkel«, sagte Elena, während ihr Blick über die beiden Straßen glitt, zwischen denen sie sich entscheiden mussten. »Bist du sicher, dass du den Weg kennst?«

Eine der Straßen wurde von Kisten und einem umgeworfenen Ochsenkarren blockiert. Davor lag ein Haufen Abfall, um den herum sich eine Gruppe jiāngshī versammelt hatte. Also mussten sie die andere nehmen, doch die führte in die falsche Richtung. Außer …

Bo warf einen nervösen Blick auf die jiāngshī-Gruppe. »Wo lang, xiăodì?« Der Kosename »kleiner Bruder« war streng genommen nicht ganz zutreffend. Der Altersunterschied war so groß, dass Bo fast Zhus Vater hätte sein können.

»Wir sind fast da.« Das war ein wenig geflunkert, denn Zhu wusste es nicht genau. Über die Jahre hatte sich viel verändert und der Zusammenbruch der Welt hatte dafür gesorgt, dass ihm nichts mehr vertraut erschien. Etwas in seiner Brust zog sich zusammen. Er hätte hier sein sollen.

Hastig lief er die freie Straße hinunter und sein Team hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Sie hatten die Straße zur Hälfte zurückgelegt, als er das fand, wonach er gesucht hatte. Er warf seine Machete auf das Blechdach eines Hühnerstalls und zog sich hoch. Elena und Bo waren dicht hinter ihm.

»Passt auf.« Er warf einen Blick über den Rand des Stalls, wo Balken das Dach stützten. Niemand wusste, wie viele jiāngshī sich in den Gebäuden unter ihnen aufhielten. Die drei liefen über das Labyrinth aus niedrigen und hohen Dächern und sprangen schließlich in einen von Mauern umgebenen Hinterhof. Dort steckten zwei jiāngshī im Schlamm eines Koiteichs fest. Sie hoben die Arme, als sie die Menschen bemerkten, stellten aber keine Gefahr dar. Das Team kletterte die Mauer auf der anderen Seite des Hofs hoch und balancierte vorsichtig über die Krone, bis es den Balkon im ersten Stock des Nachbarhauses erreichte. Einen kurzen Sprung später betraten die drei ein scheinbar verlassenes Wohnhaus.

Zhu legte seinen Seesack ab und schnüffelte. Zum Glück roch es kein bisschen nach Verwesung, doch er zögerte trotzdem an der Türschwelle, als ihn nostalgische Erinnerungen überkamen. »Hier sollten wir uns ausruhen können.« Es war gut, dass sie diese Nacht ein Dach über dem Kopf hatten. Er war sich nicht sicher gewesen, ob sie es vor Sonnenuntergang schaffen würden. Sie hatten drei Tage gebraucht, um das Dorf zu finden, und die nächste gelbe Fahne, die einen sicheren Ort markierte, war eine halbe Tagesreise entfernt.

In dem spärlich eingerichteten Wohnzimmer gab es ein Sofa an einer Wand, einen Röhrenfernseher in der Ecke und einen kaputten Schaukelstuhl. Obwohl so viele Monate vergangen waren, hatte die Natur das Gebäude noch nicht erobert. Abgesehen von der dicken Staubschicht sah die Wohnung sauber und ordentlich aus. So wie in seiner Erinnerung. Bilder der Vergangenheit strömten auf Zhu ein: der vertraute Geruch des Eintopfs, den seine năinai gekocht hatte, die langen Nächte, in denen er und seine Familie zugesehen hatten, wie Glühwürmchen den Himmel erleuchteten, den Abend, an dem er mit seiner Schwester einen Drachen im Wohnzimmer auseinandergenommen hatte, um aus dem Rahmen Pfeile und Bogen herzustellen. Bo hatte bei seinem Gespräch mit Elena einen Nerv getroffen.

Dies war einmal das Zuhause seiner Großeltern gewesen. Seine Eltern hatten in der unteren Etage gewohnt, doch sich im Erdgeschoss umzusehen war viel zu gefährlich. Als er das letzte Mal in der Wohnung gewesen war, hatten sich vier Generationen der Chen-Familie dort gedrängt. Nun gab es, soweit er wusste, nur noch ihn. Zhu wusste nicht, was den anderen widerfahren war. Seine Urgroßmutter war wahrscheinlich schon ganz zu Anfang gestorben. Sie wäre dieses Jahr neunundneunzig geworden. Zu seinen Eltern, Großeltern und seiner Schwester hatte Zhu kurz nach dem Ausfall des Strom- und Telefonnetzes den Kontakt verloren. Er hatte seitdem nichts mehr von ihnen gehört.

Als er sich umsah, kam ihm die Wohnung friedlich und leer vor. Es gab keine Toten, keine jiāngshī, keine Gewalt. Darüber war er froh. Er hatte sich schon auf das Schlimmste eingestellt. Zhu wandte sich von seinem Team ab, schloss fest die Augen, verabschiedete sich flüsternd von seiner Familie und bat um Vergebung, weil er nicht da gewesen war, als sie ihn gebraucht hatte. Er hätte ein besserer Sohn sein und nach Hause zurückkehren sollen, als er erkannt hatte, dass die Regierung die Epidemie nicht mehr im Griff hatte. Er hätte mit dem ersten Bus ins Dorf fahren sollen, als sie sich ausgebreitet hatte. Er hätte zu Fuß gehen sollen, als die Busse und Züge den Betrieb eingestellt hatten. Doch das hatte er nicht getan. Nun konnte er nur noch mit seiner Vergangenheit abschließen und weitermachen. Er hatte keine andere Wahl.

In den letzten Tagen vor dem Untergang des Landes hatten Chaos und Verwirrung geherrscht. Das Gesundheitsministerium hatte in seinem letzten Bericht die Befürchtung geäußert, es könne bereits siebenhundert Millionen jiāngshī geben. Das bedeutete, dass über die Hälfte der chinesischen Bevölkerung in den ersten Wochen seit Ausbruch der Epidemie gestorben war. Heute, sechs Monate später, waren es wahrscheinlich bedeutend mehr.

Damals hatte die Regierung den Menschen versichert, dass sie alles unter Kontrolle hätte. Dass alles gut würde. Die Menschen würden das überstehen, würden die Toten vernichten und alles wiederaufbauen. China würde, wie schon immer, durch die Kraft und die Entschlossenheit seines Volkes überleben.

Sie hatte diese Botschaft bis zum Schluss verkündet, als es in Peking plötzlich still geworden war. Als der Kopf verstummt war, hatte sich im Rest des Körpers Panik ausgebreitet. Viele Kommunalverwaltungen waren zusammengebrochen. Die Straßen um die Großstädte waren äußerst gefährlich geworden. Die Stadtbewohner hatten versucht, aufs Land zu fliehen, um dem Strom der Toten zu entkommen, während die Dorfbewohner versucht hatten, in die Städte zu fliehen, weil sie glaubten, dass die Regierung sie dort besser beschützen könne. Das hatte dazu geführt, dass der Verkehr in beide Richtungen zum Erliegen gekommen war. Überall, wo sich Menschen versammelt und Zuflucht gesucht hatten, hatte schon bald der Tod zugeschlagen. Die Epidemie hatte jede Menge Überträger gefunden, um sich rasch im gesamten Reich der Mitte ausbreiten zu können.

Elena, die Kommoden und Schränke durchsucht hatte, stemmte die Hände in die Hüften. »Woher kennst du diese Wohnung, Zhu?«

Man hätte sicherlich eine leichter zugängliche und bequemere Unterkunft für diese Nacht finden können, aber darüber wollte Zhu jetzt nicht reden. Er wollte den Rest der Nacht nicht mit Geschichten aus seiner Vergangenheit verbringen. Die Wunden waren noch zu schmerzhaft und die Schuldgefühle zu stark. Außerdem hatten sie einen Job zu erledigen. Aber wenn er schon einmal in Fongyuan war, musste er dem Zuhause seiner Familie zumindest einen letzten Besuch abstatten. Sonst würde er es für immer bereuen. Und vielleicht würde er eine solche Gelegenheit nie wieder bekommen. »Das ist nur eine verlassene Wohnung.« Er zeigte auf den Ofen, der in einer Ecke stand. »Zünde ein Feuer an. Bo, sieh dich in der Küche um. Ich durchsuche die anderen Zimmer.«

Mit der Machete in der Hand ging Zhu durch den Flur. Wären hier jiāngshī gewesen, hätte man sie schon längst gehört. Und definitiv gerochen. Aber man konnte nie vorsichtig genug sein.

Abgesehen von einem großen klassischen Steinbett und einer hölzernen Kommode war das Schlafzimmer seiner Großeltern leer. An der gegenüberliegenden Wand gab es neben einem Fenster viele Fotos seiner năinai und seines yéye, die sie von ihrer Jugend bis zu der Zeit, als sie beide faltig, grau und gebeugt waren, begleiteten. Auf dem größten Foto war seine ganze Familie zu sehen, über fünfzig Personen. Als Zhu es genauer betrachtete, sah er die obere Hälfte seines jugendlichen Gesichts am rechten Bildrand, direkt neben dem übermalten Gesicht des Ex-Mannes seiner Cousine. Năinai kannte keine Gnade, wenn es um die Familie ging.

Auf dem obersten Regalboden über der Kommode stand ein Buddhaschrein. In den Tassen steckten immer noch abgebrannte Räucherstäbchen. Auf einem kleinen Tisch neben dem Bett lag ein xiàngqí-Brett. Die aufgestellten Figuren warteten auf ein Schachspiel, das nicht mehr stattfinden würde.

Zhu hob eine der Figuren auf – den Elefanten – und betrachtete die abgeschabten Kanten und die vielen Kratzer, die er wahrscheinlich verursacht hatte, weil er die Figur so oft frustriert auf den Boden geworfen hatte. Er war als Kind ein schlechter Verlierer gewesen und sein yéye hatte sich selbst gegenüber einem Achtjährigen nicht zurückgehalten. Zhu klopfte mit der Figur auf das Spielbrett, dann stellte er sie wieder an die Stelle, von der er sie genommen hatte. Vielleicht würde jemand ja das Spiel finden und etwas damit anfangen können. Doch nicht er. Spiele waren im Lichtblick zwar heiß begehrt, brachten als Beute jedoch nur wenige Punkte ein. Außerdem konnte er die Vorstellung, dass jemand anderes das xiàngqí-Spiel seines Großvaters benutzte, nicht ertragen.

Im nächsten Zimmer standen zwei schmale Betten, deren Kopfenden sich in einer Ecke trafen. Eines war perfekt gemacht, das andere zerwühlt. Ihnen gegenüber standen zwei Schreibtische nebeneinander. Zhu verharrte einen Moment lang im Türrahmen. Hier hatten er und Ahui gelebt. In der Wohnung ihrer Eltern hatte es nur ein Zimmer gegeben und sie hatten auch fast immer gearbeitet, sodass er und seine Schwester einen Großteil ihrer Kindheit hier oben verbracht hatten. Er ging zu dem zerwühlten Bett, setzte sich hin und ließ alles auf sich wirken.

Das Zimmer wirkte viel kleiner und beengter als in seiner Erinnerung. Er betrachtete die Stelle, an der sich die beiden Betten berührten. Er und Ahui hatten sich nachts oft so lange flüsternd unterhalten, bis ihr yéye ins Zimmer gestürmt war und gedroht hatte, er würde sie zwingen, den Rest der Nacht kniend an der gegenüberliegenden Wand des Raums zu verbringen.

Als sie klein waren, hatte Ahui oft Ramenpackungen aus dem Lebensmittelladen ihrer Mutter gestohlen. Wenn sie sich nachmittags hinlegen sollten, war sie wach geblieben und hatte stattdessen die Gewürzpackungen ausgeleckt. Das hatte sie einen ganzen Sommer lang durchgezogen, bis năinai einen Berg geöffneter Ramenpackungen, in denen noch die Nudeln steckten, unter ihrem Bett gefunden hatte. Da Zhu der ältere Bruder war, hatte er sie natürlich nicht verpetzt, sondern die Strafe an ihrer Stelle eingesteckt. Er hatte den Hintern so heftig wie noch nie in seinem Leben versohlt bekommen.

Dann bemerkte er es.

Zhu stand auf und ging zu dem Schreibtisch, der dem Fenster am nächsten war. Er schob die verstaubten Notizbücher und einen Bleistiftspitzer zur Seite und nahm ein verblichenes Foto in die Hand, das an der Wand geklebt hatte. Darauf war ein dümmlich grinsender Zwölfjähriger zu sehen, neben dem zwei etwas jüngere Mädchen standen. Alle drei trugen Schuluniform. Der Junge und eines der beiden Mädchen hätten Zwillinge sein können. Das andere Mädchen hatte ein ovales Gesicht und große, auffällige Augen. Ohne ihr schiefes Grinsen wäre sie hübsch gewesen. Vielleicht, dachte Zhu, war sie trotz dieses Lächelns hübsch.

Das spielte keine Rolle mehr. Das waren Geister, die nur noch in der Vergangenheit lebten. Nur die Zukunft war noch wichtig. Auf die Rückseite des Fotos hatte jemand mit schwarzem Filzstift geschrieben: Ahui und Meili und mein nerviger Bruder. Abschlussfeier der Grundschule. 10 Jahre alt.

Zhu warf das Foto auf den Schreibtisch und verließ das Zimmer. Ein Teil von ihm hätte es am liebsten mitgenommen. Er besaß kein anderes Foto seiner Schwester. Doch ein anderer, stärkerer Teil konnte mit den Schuldgefühlen, die an ihm nagten, wenn er das Foto betrachtete, nicht umgehen. Also ließ er es dort zurück, wo es hingehörte: in der Vergangenheit. Tränen stiegen ihm in die Augen und er wandte sich rasch dem Bad zu.

Ein heftiger Todesgestank stieg ihm sofort in die Nase, als er die Tür öffnete. Eine beinahe skelettierte Gestalt stolperte aus der Dunkelheit auf ihn zu. Sie umklammerte den Arm, mit dem er die Tür geöffnet hatte, und hätte beinahe ein Stück herausgerissen. Der völlig überraschte Zhu tastete nach seiner Machete, verlor das Gleichgewicht und stolperte zurück. Die Gestalt musste schon vor ihrem Tod alt gewesen sein.

Instinktiv versetzte er ihr einen Faustschlag, der sie zu Boden warf. Zhu schüttelte seine schmerzende Hand aus und hob seine Machete auf. Auf Knochen einzuschlagen war nicht gerade angenehm. Verärgert stapfte er zu dem am Boden liegenden jiāngshī und trat den Arm zur Seite, der nach ihm greifen wollte. Er wollte mit der Machete ausholen … und zögerte.

Der Moment des Erkennens lähmte seine Hand. Vielleicht lag es an den ausgefransten Zöpfen oder dem Funkeln der Goldzähne. An etwas, das sein Verstand nicht richtig verarbeiten konnte. Bevor seine Fantasie mit ihm durchgehen konnte, schwang er die Machete und spaltete den Schädel des jiāngshī. Ein Stöhnen kam ihm über die Lippen, als ihn das kalte Entsetzen darüber traf, was er getan hatte. Schuldgefühle und Wut gesellten sich dazu. Zhu hob die Machete und schlug zu, bis der jiāngshī sich nicht mehr regte.

Der Zorn und das Adrenalin verließen seinen Körper und er blieb erschöpft zurück. Ein Schaudern überkam ihn, als er die vertrocknete, ausgezehrte und selbst für jiāngshī-Verhältnisse jämmerliche Leiche betrachtete. Es gab keinen Zweifel. Das war seine neunundneunzigjährige Urgroßmutter, die man zum Sterben allein zurückgelassen hatte. Ihre letzten Momente mussten furchtbar gewesen sein. Der Gedanke verzehrte Zhu innerlich. Die Entscheidung war seiner Familie bestimmt nicht leichtgefallen. Er hatte nicht das Recht, wütend auf sie zu sein oder über sie zu urteilen. Er war nicht dabei gewesen. Vieles wäre anders verlaufen, wenn er da gewesen wäre. Vielleicht hätte er sie retten können. Vielleicht würden alle noch leben, wenn er nicht weggeblieben wäre. Ein ersticktes Zischen kam ihm über die Lippen. Er stürmte aus dem Bad und zurück ins Wohnzimmer.

Mittlerweile brannte im Ofen ein kleines Feuer und die Wärme vertrieb die klamme Luft. Elena, die im Feuer herumstocherte, sah verwundert auf. »Alles in Ordnung?«

Er versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die ihm in die Augen stiegen. »Ich brauche frische Luft.«

»Hey, xiăodì«, sagte Bo aufgeregt und präsentierte einen halb leeren Styroporbehälter, in dem einige ovale schwarze Dinger lagen. Er war stolz, als wäre er auf Gold gestoßen. »Ich habe Hundertjährige Eier gefunden. Das wird heute Abend ein Festmahl.«

Zhu antwortete nicht, sondern trat auf den Balkon, von dem aus man den Yuanjiang sehen konnte.

»Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte Bo.

Zhu beugte sich über das Balkongeländer und betrachtete das gegenüberliegende Ufer. Es roch nach Fisch und Algen und feuchter Fäulnis. Eine aufgedunsene Leiche trieb an einigen Gänsen vorbei. Ihr folgte eine weitere und dann ein ganzes Dutzend, das von Trümmern begleitet wurde. Er verschwendete kaum einen Gedanken an den grausigen Anblick. Wahrscheinlich war ein Boot untergegangen. So etwas kam auf Flüssen immer mal vor.

Elena gesellte sich einige Sekunden später zu ihm. Sie legte ihren Arm um seine Hüften und lehnte sich an ihn. »Hey, ist alles in Ordnung? Du bist schon den ganzen Tag so nervös.«

Zhu zog sie zu sich und atmete ein. Sie roch so, wie man nun einmal roch, wenn man seit Wochen durch Schlamm und Müll und Wildnis zog. Nach Schweiß und Dreck und ehrlich gesagt, auch ein wenig nach Kot. Doch unter all dem roch Zhu auch sie. Das war wunderbar. Er drückte sie. »Ich bin nur besorgt, weil wir so weit in einen Ort vorgedrungen sind.«

»Das hast du mir als erste Überlebensregel beigebracht«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Halte dich von Bevölkerungszentren fern. Es überrascht mich, dass du diese Idee hattest.«

»Wir hatten keine Wahl«, erwiderte er. »Wir haben unsere Quote seit Wochen nicht erfüllt. Wir brauchen gute Beute.«

»Aber so weit draußen? Woher wusstest du überhaupt von diesem Goldtopf am Ende des Regenbogens?«

Zhu war sich nicht sicher, was das bedeutete. Elenas amerikanische Redewendungen ließen sich nicht immer in Mandarin übersetzen. Aber das machte einen Teil ihres Charmes aus. Er reckte die Nase in die Luft. »Hier riecht es nach faulen Eiern.«

»Bo hat ein mit Pech gestrichenes Regal zerschlagen, damit wir Feuerholz haben. Wir kochen gerade das Abendessen«, antwortete sie. »Dieser Ofen ist uralt. Der könnte noch aus der Ming-Dynastie stammen.«

Er seufzte. »Gibt es sonst noch was zu essen?«

Elena nahm einen vornehmen, aber schlechten britischen Akzent an, der sie wie eine Mischung aus einem Singapurer und einem amerikanischen Cowboy klingen ließ. »Als Vorspeise servieren wir heute abgestandenes Wasser mit einem Hauch Chlor aus der Flasche. Als Hauptgang haben wir Klebreis mit Erdnüssen in getrockneten Bananenblättern. Und zum Dessert gibt es eine große Durian, die du dir mit Bo teilen kannst.« Sie hielt inne. »Und wir haben auch noch diese ekligen Eier, die Bo gefunden hat.«

Zhu verzog das Gesicht. »Das ist ein schreckliches Menü. Ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.«

»Selbstverständlich, Sir. Sie können Ihre Beschwerde hier hinterlassen.« Sie zeigte ihm den Mittelfinger und streckte dann den kleinen Finger aus, die chinesische Geste. Anschließend grinste sie. »Aber mal ernsthaft, sobald wir unsere Quote erfüllt haben, werde ich mir von den Punkten, die wir dann bekommen, echtes Obst kaufen.«

»Durian ist echtes Obst.«

»Darüber lässt sich streiten.« Sie zeigte zum Horizont. »Es kommt Nebel auf. Wenn der bis morgen nicht weg ist, sitzen wir in diesem Dorf fest. Jedenfalls sollten wir uns bei dem Wetter nicht draußen umsehen.«

»Der Nebel wird morgen früh weg sein.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es«, erwiderte Zhu mit Gewissheit. Er drehte den Kopf und warf einen Blick ins Wohnzimmer. »Was macht Bo da drin?«

»Er liest in seinen Büchern.«

Bo war als Einziger im Team vor dem Zusammenbruch so arm gewesen, dass er sich keine elektronischen Geräte hatte leisten können. Zhu hatte eine einfache Kamera und einen MP3-Player mit Musik dabei und Elena besaß praktisch alles: eine Kamera, ein Handy, einen MP3-Player und einen dieser schicken tragbaren DVD-Player. Bo besaß nur Bücher. Auf der einen Seite war das gut, weil er nie Punkte für das Aufladen seiner Geräte ausgeben musste. Auf der anderen Seite war er oft gezwungen, die wenigen Bücher, die er besaß, mehrfach zu lesen. Außerdem hatte Zhu ihm ausdrücklich verboten, mehr als ein Buch auf ihre Beutezüge mitzunehmen.

»Ich wünschte, ich könnte hànzì besser lesen«, sagte Elena wehmütig. »Wie nennt man so eine Geschichte noch mal?«

»Wūxiá, was so viel wie ›Kampfkunstheld‹ bedeutet. Da kommen die ganzen Kung-Fu-Geschichten her. Wenn du möchtest, kann ich dir beibringen, die Zeichen besser zu lesen. Schließlich hast du dir, bevor das alles losging, ja auch große Mühe mit meinem Englischunterricht gegeben«, bot Zhu an und tastete nach ihrer Hand.

»Der Lehrling ist nun selbst zum Meister geworden.« Sie lächelte und ließ sich von ihm zurück ins Wohnzimmer führen.

Das Abendessen entsprach ihrer Beschreibung: Klebreis mit Erdnüssen und Sojasoße, eingewickelt in Bananenblätter. Zhu und Elena gaben Bo von ihren Portionen etwas ab, da der kräftige Mann so viel wog wie sie beide zusammen. Sie gab ihm auch ihren Teil der Durian.

Der Rauch, den das Feuer im Holzofen verursachte, zog nur zum Teil ab, doch das Team ertrug es, weil das immer noch besser als die Kälte war. Die drei vertrieben sich die Zeit mit den spärlichen Unterhaltungsmöglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen. Sie hörten die Musik, die Zhu auf seinem MP3-Player gespeichert hatte, und sahen sich Filme auf Elenas kleinem Bildschirm an. Anschließend las Bo etwas aus seinem wūxiá-Buch vor und Zhu half Elena mit ihrem Mandarin.

Sie rückten näher an den Ofen heran, als die Nacht anbrach und es kälter wurde. In der Dunkelheit konnte man nicht mehr lesen, also unterhielt Elena die anderen mit Geschichten über ihr Leben in Amerika. Anscheinend war ihre Familie fast jedes Wochenende Boot gefahren oder hatte gegrillt, war an Sandstränden entlangspaziert oder hatte auf einem großen Fluss namens Colorado etwas getan, das Elena als »Tubing« bezeichnete. Sie erzählte ihnen, dass sie und ihr Bruder Robbie oft mit ihrem Vater Rehe mit Pfeil und Bogen gejagt hatten, was erklärte, weshalb sie so gut damit umgehen konnte.

Wenn Elena von ihrer Heimat sprach, hellte sich ihre Miene auf. Es war offensichtlich, wie sehr sie ihre Familie vermisste. Dass sie so weit weg gewesen war, als die Welt auseinanderbrach, musste sie innerlich zerrissen haben. Seit sie und Zhu im Frühstadium der Katastrophe aus Changsha geflohen waren, hatte sie nichts mehr aus Amerika gehört.

Bo hob die Hand, als sie wieder einmal versuchte, ihnen Tubing zu erklären. »Ich verstehe das nicht.« Er zählte die Punkte an den Fingern ab. »Deine Familie hat ihr eigenes Boot, mit dem sie zum Spaß herumfährt, ohne Ziel und ohne etwas zu befördern. Aber ihr lasst euch auch gerne auf Autoreifen im See treiben.«

Sie nickte. »Es geht nicht darum, irgendwo anzukommen. Wir wollten nur zusammen sein und diese Erfahrung genießen. Außerdem gab es auf dem Lake Travis oft Partys. Wir sind herumgefahren, haben ein paar Boote miteinander vertäut und hatten Spaß.«

Bo wirkte ein wenig verwirrt. Zhu konnte das gut nachvollziehen. Sie kamen beide vom Land, Zhu aus West-Hunan und Bo von irgendwo weit oben im Norden. Beide hatten einen Bauernhof verlassen, um sich in der Stadt Arbeit zu suchen, und hatten schließlich nebeneinander in einer Fabrik am Fließband gestanden. Kurz darauf hatte sich Zhu auf die Suche nach einem Englischlehrer gemacht und Elena kennengelernt.

Zum Einschlafen hörten sie gŭzhēng-Volksmusik, Klassiker von Andy Lau und chinesischen Death Metal – Letzteres gefiel Zhu erst seit Kurzem. Bo legte sich neben den Ofen, während sich Zhu und Elena einen Schlafsack teilten. Sie hatten auf einen zusätzlichen Schlafsack verzichtet, um mehr Platz für die Beute zu haben, die sie in die Siedlung zurückbringen wollten.

Zhu überprüfte den Ofen und legte noch ein paar Bretter von dem Regal, das Bo mit seinem Vorschlaghammer zerschmettert hatte, hinein. Dann kontrollierte er auch den Schornstein noch einmal, um sicherzustellen, dass ein Großteil des Rauchs aus der Wohnung geleitet wurde. Es wäre eine Schande, wenn sie an Rauchvergiftung sterben würden, nachdem sie die jiāngshī-Apokalypse überlebt hatten.

Als er neben Elena in den Schlafsack kroch, war sie bereits eingeschlafen. Zhu legte schützend die Arme um sie und sie drückte sich instinktiv mit dem Rücken gegen seine Brust. Er blinzelte, als ihn Erschöpfung überkam. Er warf einen Blick zur Seite und sah, dass Bo mithilfe einer Stirnlampe immer noch in seinem Buch las.

»Wir müssen morgen früh raus«, sagte er.

Das Licht ging aus. »Okay, xiăodì. Schlaf gut.« Der kräftige Mann musste ebenfalls erschöpft sein, denn er schlief nach nur wenigen Sekunden ein. Schon bald erfüllte sein lautes, angestrengtes Schnarchen, das ein wenig an das Zischen eines jiāngshī erinnerte, den Raum.

Zu Zhus Leidwesen fiel Elena, die das Gesicht an seiner Schulter vergraben hatte, schon bald in den Chor ein. Ihr leises Atmen wechselte sich mit Bos lautem Zischen ab. Gemeinsam verfielen sie in einen Rhythmus, dem sich schon bald das Zikadenzirpen, das von draußen in die Wohnung drang, anschloss.

Zhu starrte die Decke seines Elternhauses noch an, als diese seltsame Symphonie lange verklungen war. Er fragte sich, ob jiāngshī schliefen, ob sie sich zumindest in Bruchstücken an ihr vergangenes Leben erinnerten und ob ihre Seele noch in ihrem Körper weilte. Doch hauptsächlich dachte er an seine Urgroßmutter und wie sie die ganze Zeit auf der Toilette gesessen und auf nichts gewartet hatte.

Er hoffte inständig, dass die Urgroßmutter, die er geliebt und verehrt hatte, vor all den Monaten zusammen mit ihrem Körper gestorben war und dass ihre Seele mit denen ihrer Verwandten vereint worden war. Dann würde sie sich keine Fragen mehr stellen oder sich Sorgen machen müssen und vor allem würde sie nicht allein sein. Bevor der Schlaf ihn übermannte, fühlte er sich schuldig, weil ihm die Flucht in die süße Bewusstlosigkeit vergönnt war.

2

DER TAIFUN DER TOTEN

Die jiāngshī schlurften in einer langen Reihe beinahe höflich den schmalen Pfad entlang. Ihr Anführer, ein dürrer Teenager, dem eine Gesichtshälfte fehlte, blieb stehen, als es in einem nahe gelegenen Teich blubberte. Der jugendliche jiāngshī knurrte, legte den Kopf schief und starrte in den Teich. Der Körper hinter ihm prallte gegen ihn und dann auch der hinter ihm, was eine Kettenreaktion auslöste, die sich durch die ganze Reihe ausbreitete, bis der Vorwärtsschwung den ersten jiāngshī zwang, weiterzugehen. Die gespenstische, beinahe lautlose Prozession setzte sich wieder in Bewegung.

Ying Hengyen, Anführer der Lichtblick-Windteams, hockte auf einem Ast oberhalb des Pfads. Ihm entging die bittere Ironie dieser Szene nicht. Das, was sich gerade unter ihm abspielte, hätte als Metapher für die gesamte jiāngshī-Epidemie fungieren können. Ein paar lebende Tote spielten keine Rolle, aber wenn man alle zusammennahm, wurden sie zu einer unaufhaltsamen, unkontrollierbaren Naturgewalt, die alles verschlang, was sich ihr in den Weg stellte. Der von zielloser Masseträgheit angetriebene Tod.

Der Windmeister hatte eigentlich in seinem Versteck bleiben und die Reihe der jiāngshī passieren lassen wollen, doch nun erkannte er, dass er das Unvermeidliche nicht aufschieben sollte. Das Team würde sie entweder jetzt oder auf dem Rückweg töten müssen. Und das Gelände, auf dem sie sich momentan befanden, bot ihnen taktische Vorteile.

Er nahm die Fingerspitzen in den Mund und stieß ein leises Pfeifen aus. Er hatte beinahe den ganzen Tag bis zum Hals in kaltem Moorwasser gestanden und nun war fast sein ganzer Körper taub. Das Pfeifen reichte jedoch. Als es seine Lippen verließ, tauchten drei Gestalten, die jeweils einen langen Speer in den Händen hielten, aus dem Wasser auf. Mit den scharfen Spitzen durchbohrten sie sieben jiāngshī, bevor die anderen sie bemerkten.

Als die Toten ihnen den Rücken zuwandten, ließen sich Hengyen und Linnang von den Bäumen auf zwei jiāngshī fallen und griffen den Rest dann von hinten an. Hengyen, der mit zwei langen Dolchen bewaffnet war, erledigte routiniert vier. Linnang, das neueste Mitglied des Windteams, setzte beim Kampf eine große Axt ein. Sie schlugen und stachen um sich, mussten sich aber einen dicht bewaldeten Hügel hinauf zurückziehen, als die zuvor so ordentliche Reihe sich in eine blutgierige Meute verwandelte. Die beiden Männer flüchteten sich hinter einige Brombeersträucher und erledigten die jiāngshī, die in den Dornen hängen blieben.

Der Rest von Hengyens Windteam stürmte vor und durchbohrte die anderen mit ihren Speeren. Als die jiāngshī sich ihnen zuwandten, flüchteten sie ins Wasser, wo die schwerfälligen Toten kaum vorankamen.

Schon bald waren der Pfad und der Teich voller Leichenteile und Blut. Hengyen und Linnang verließen das Gestrüpp, sahen sich die am Boden liegenden jiāngshī an und töteten alle, die sich noch regten. Innerhalb weniger Minuten hatte das fünfköpfige Windteam mehr als fünfmal so viele jiāngshī getötet. Alle, abgesehen von ihrem »Anführer«, der weiter den Pfad entlangschlurfte und nicht ahnte, dass sein Gefolge abgeschlachtet worden war.

Linnang zog ein Wurfmesser und zielte. Hengyen zog gleichzeitig sein Messer. Linnangs Klinge löste sich zuerst von seinen Fingerspitzen und verfehlte den Kopf des jungen jiāngshī um eine Handbreite. Der jiāngshī drehte sich zu ihnen um, doch im selben Moment bohrte sich Hengyens Klinge in sein Auge.

Hengyen klopfte seinem neuesten Teammitglied auf die Schulter. »Nimm dir Zeit. Das rettet Leben.«

»Ja, dàgē.« Der junge Mann errötete vor Scham.

Hengyen wandte sich den anderen drei Mitgliedern seines Teams zu, die gerade aus dem Wasser stiegen, und reichte ihnen nacheinander die Hand, um ihnen herauszuhelfen. Das Team kam rasch zusammen und ging weiter über den Pfad, der an einer Schlucht entlangführte. Vor ihnen gab es in einiger Entfernung eine Brücke, die beide Seiten der Schlucht miteinander verband. Ein unendlicher Strom jiāngshī zog darüber. Selbst über diese Distanz erfüllten ihr Stöhnen und die Geräusche, die ihre Schritte verursachten, die Luft. Ab und zu fiel ein jiāngshī von der Brücke und landete mit einem Krachen auf den Felsen darunter. Es klang wie Hagel, der ein Blechdach traf. Die Geräusche hallten durch die Schlucht und ihr Echo klang noch lange nach.

Sie gingen rasch, aber vorsichtig weiter und traten schließlich in den Schatten der Brücke. Der Boden war voller Leichen: jiāngshī, die von der Straße, die über ihnen verlief, gestolpert waren. Die meisten waren beim Sturz zerquetscht worden und kaum noch zu erkennen, aber einige regten sich noch und streckten ihre verdrehten und gebrochenen Gliedmaßen nach dem Windteam aus. Hengyens Leute erledigten alle, die sie im Vorbeigehen sahen, mit militärischer Präzision.

Noch vor sechs Monaten hätte sich Hengyen bei diesem furchtbaren Anblick der Magen umgedreht. Doch nun war das sein Alltag, wenn er die Gegend östlich des Lichtblicks erkundete. Einer der ersten Ratschläge, die Hengyen neuen Rekruten der Windteams gab, war, sich bei der Beutesuche immer in Richtung der untergehenden Sonne zu halten. Wer nach Osten ging, forderte den Tod heraus. Dort lagen die großen Städte, in denen die Seuche ausgebrochen war und in denen es mehr jiāngshī gab als Sterne am Himmel.

Nur sein Team durfte in diese Richtung gehen, denn ihre Aufgabe war wichtiger als die Erfüllung einer Quote. Hengyen war einer der wenigen verbliebenen Berufssoldaten und er kümmerte sich ausschließlich darum, die Sicherheit des Lichtblicks zu gewährleisten. In den letzten Wochen hatte die Zahl der jiāngshī, die aus dem Osten heranströmten, stark zugenommen. Nur er und sein Expertenteam verfügten über die Erfahrung und das Können, die nötig waren, um sich auf das Territorium der jiāngshī zu begeben und nach der Ursache dafür zu suchen.

Seit dem Ausbruch der Epidemie kämpfte Hengyen an der Front gegen die Toten. Er war Hauptmann bei der bewaffneten Volkspolizei gewesen, genauer gesagt, hatte er eine der Eliteeinheiten des Falkenkommandos in der Volksbefreiungsarmee angeführt. Er und seine Leute hatten zu den ersten Soldaten gehört, die die Stadt Hangzhou betreten hatten, als dort Chaos und Panik ausgebrochen waren. Man hatte sie kaum mit Informationen ausgestattet, es gab nur einige Berichte über Menschen, die von einem schrecklichen Virus infiziert worden seien, durch den sie den Verstand verloren hätten und nun andere Menschen angriffen.

Anfangs hatte die Regierung von einer Krankheit gesprochen, deshalb hatten Hengyen und seine Leute versucht, die »Kranken« zu neutralisieren, ohne sie zu verletzen. Das war ihr erster Fehler gewesen. Erst als Hengyen mit eigenen Augen gesehen hatte, wie ein sechsjähriger Junge seiner Mutter die Kehle herausriss und seine Zähne anschließend einem seiner Soldaten in den Arm schlug, hatte er begriffen, gegen was er kämpfte. Sein Soldat war gestorben, hatte sich ein paar Stunden später wieder erhoben und die Hälfte der Leute auf seiner Krankenstation umgebracht.

Als klar geworden war, dass man die Seuche nicht eindämmen konnte, hatten die chinesischen Behörden versucht, die Stadt zu evakuieren, anstatt Luftangriffe anzuordnen, mit denen man die Toten vernichtet hätte. Das war ihr zweiter Fehler gewesen. Eine Eindämmung war unmöglich. Die Städte waren zu dicht besiedelt. Die Infektion hatte sich zu leicht ausgebreitet. Nach wenigen Tagen hatten die Toten und verzweifelte Überlebende die meisten Quarantäneposten in den Bevölkerungszentren überrannt. Nach wenigen Wochen hatte die Regierung den Kontakt zu sämtlichen Großstädten in Ostchina verloren. Danach hatte sich dieses Kommunikationsloch weiter nach Westen ausgebreitet und eine Stadt und eine Provinz nach der anderen verschlungen, bis das Militär schließlich nicht mehr gewusst hatte, was es eigentlich noch beschützen sollte. Mittlerweile wusste Hengyen nicht einmal mehr, wie viel vom Militär übrig geblieben war.

Das Windteam eilte unter der Brücke hindurch und dann weiter, wobei alle darauf achteten, den herabfallenden Leichen auszuweichen. Sie blieben dicht an der Felswand, bis sie einen leicht ansteigenden Pfad fanden, der sich an der Ostseite der Schlucht nach oben wand. Unmittelbar über ihnen befand sich eine Felsformation, die so hoch wie ein mehrstöckiges Haus war und von der aus man die Umgebung bis hin zur Großstadt Changde überblicken konnte. Hengyen war bei seinen zahlreichen Erkundungen auf den Pfad und den Aussichtspunkt gestoßen. Anfangs hatte er die jiāngshī, die aus der Stadt hierher unterwegs waren, allein überwacht, doch in den letzten Wochen waren es so viele geworden, dass das zu gefährlich geworden war.

Hengyen befahl allen außer seinem Leutnant, Wangfa, am Boden der Schlucht zu bleiben. Der Pfad war so schmal, dass man ihn nur seitwärts und mit dem Rücken zur Wand entlanggehen konnte. Und selbst dann ragten die Zehen noch über den Abgrund hinaus. Er hatte bereits einen Mann durch einen Sturz verloren. Der Tod war auch so schon allgegenwärtig. Er wollte nicht noch mehr Leben verschwenden.

Die beiden Männer gingen den Pfad hinauf. Wangfa stieg zum ersten Mal auf den Aussichtspunkt. Hengyen war es wichtig, dass sein Stellvertreter sich daran gewöhnte, für den Fall, dass ihm etwas zustieß. Wangfa war der einzige andere Überlebende aus dem Falkenkommando. Sie waren oft unterschiedlicher Meinung, aber er war ein guter Soldat und ein kompetenter Offizier. Hengyen vertraute ihm. Ob er ihn mochte, war irrelevant.

In seinem früheren Leben wäre Wangfa für eine Führungsposition nicht infrage gekommen. Man hatte sogar wegen übermäßiger Gewaltanwendung und Brutalität eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet, doch seit der Epidemie krähte kein Hahn mehr danach. China hatte seine besten und klügsten Leute verloren. Die Überlebenden hatten die leeren Ränge irgendwie auffüllen müssen, deshalb hatte Wangfa eine zweite Chance bekommen und seinen Dienst wieder aufnehmen dürfen.

Sie hatten die Schlucht fast verlassen und die Ebene erreicht, als der schmale Pfad endete. Den Rest des Weges mussten sie mit Seilen und Haken bewältigen, die Hengyen bei einem früheren Ausflug dort angebracht hatte. Er hörte das Murmeln der jiāngshī, die auf der anderen Seite der Felsformation vorbeizogen. Vor zwei Monaten hatte es auf dieser Seite der Schlucht so gut wie keine jiāngshī gegeben. Doch das hatte sich geändert. Hengyen kam als Erster oben an und zog Wangfa hoch. Auf dem Bauch krochen sie zum Rand der Felsformation und blickten ins Tal hinab. Wangfa keuchte, doch Hengyen brachte keinen Laut hervor, sondern atmete nur stumm durch zusammengebissene Zähne aus.

Die jiāngshī drängten sich nicht nur auf der Ebene unter ihnen. Sie bedeckten das ganze Land bis zum Horizont. Es waren mehr, als Hengyen sich in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Und was noch schlimmer war, sie schlurften auf die Straße und die Brücke, die über die Schlucht führte, zu.

»Das müssen Hunderttausende sein. Oder eine Million«, flüsterte er und ein Schaudern überkam ihn. Zum ersten Mal seit den Anfängen dieses Krieges gegen die jiāngshī krampfte Hoffnungslosigkeit seinen Magen und sein Herz zusammen.

Gegen eine solch gewaltige Versammlung der Toten würde jede Streitmacht verlieren. Das Ende des Lichtblicks war gekommen.

In den Monaten seit Kriegsausbruch hatte Hengyen so gut wie alles erlebt und getan. Er hatte oft vor schier unüberwindlichen Hürden und unvorstellbaren Entscheidungen gestanden. In den ersten Tagen der Epidemie hatte er es gewagt, einen Soldatentrupp aus Changsha zu retten. Dann hatte er einen Luftangriff befohlen, obwohl er wusste, dass sich noch Zivilisten in der Stadt aufhielten. Er hatte alle verletzten Soldaten in einem Militärkrankenhaus zum Tode verurteilt, weil die jiāngshī die Barrikaden durchbrochen und sie keine Zeit für eine Evakuierung gehabt hatten. Hengyen hatte nie gezweifelt oder gezögert. Nur die Revolution der Lebenden zählte. Er wusste, wofür er kämpfte.

»Diese Straße führt zum Lichtblick«, sagte Wangfa leise. »Das sind so viele jiāngshī, sie werden alles, was ihnen im Weg steht, zerstören.«

»Wir müssen sie irgendwie ablenken.«

»Wie denn, Windmeister?«

»Ich weiß es nicht, aber wir werden einen Weg finden. Der Lichtblick und die Revolution der Lebenden hängen davon ab.«

Ein lauter, aus der Schlucht kommender Ruf erregte die Aufmerksamkeit der beiden Männer. Sie krochen zur anderen Seite der Felsformation und sahen, dass Linnang ihnen hektisch zuwinkte. Ein Blick in die Schlucht verriet ihnen, was los war. Über dreißig jiāngshī stolperten dort unten auf Hengyens Team zu. Wenn sie nicht sofort nach unten kletterten, würden sie hier oben in der Falle sitzen.

Er nahm das Seil in beide Hände und schwang die Beine über die Felskante. »Wir müssen weg.«

Hengyen seilte sich innerhalb von Sekunden zum Pfad ab, aber der Rest des Weges ließ sich nicht beschleunigen. Ruhig sah er zu, wie die Welle der Toten unter ihm durch die Schlucht rollte.

Die ersten jiāngshī wurden problemlos erledigt, aber die ersten machten einem selten Probleme. Hengyen und Wangfa hatten erst die Hälfte des Weges hinter sich gebracht, als das Gros der Toten den Pfad erreichte. Stöhnend und um sich schnappend wie ein sich windender, aus unzähligen Gliedmaßen bestehender Dämon stolperten sie den Pfad hinauf. Stolz überkam Hengyen, als er sah, wie sein Windteam mit seinen primitiven Waffen gegen sie kämpfte. Seine Leute ließen ihn nicht im Stich.

Er wollte unbedingt zu seinem Team zurückkehren, hatte es jedoch zu eilig und rutschte aus. Er fiel zur Seite und kopfüber dem Boden entgegen. Er konnte sich mit drei Fingern an der Felskante festhalten, doch dann verlor er den Halt und stürzte zwei Stockwerke tief hinab. Der Boden raste auf ihn zu und er spürte, wie etwas an einer Seite seines Körpers heftig knirschte. In seinen Ohren rauschte es dumpf und sein Bewusstsein setzte einen Moment wegen der Schmerzen aus. Die Welt stotterte, schien beinahe anzuhalten und beschleunigte dann, um die Realität einzuholen. Wangfa trat neben ihn und zog ihn hoch. Dann platzte das Rauschen wie ein Ballon und er wurde von einer wahren Kakophonie getroffen. Er gewann die Kontrolle über seine Sinne zurück und sah, dass um ihn herum ein Kampf tobte, durch den Wangfa ihn in Sicherheit zerren wollte. Hengyen schüttelte seinen Stellvertreter ab und übernahm das Kommando. »Die jiāngshī sind ungeschickt. Nutzt das Gelände. Lasst sie zu euch kommen.«

Er bellte noch einige Befehle, um sein Team zu einer Einheit verschmelzen zu lassen. Weizhen und Haihong mussten sich zurückziehen und der Rest des Teams rückte zusammen. Das unebene Gelände und die herumliegenden Felsbrocken und Abfälle behinderten die jiāngshī. Und es waren so viele, dass sie sich gegenseitig in die Quere kamen, als sie sich gierig auf die Menschen stürzen wollten und stattdessen zusammenprallten. Solange alle gelassen blieben und sich an ihre Befehle hielten, sollte es ihnen gelingen, die Gruppe nach und nach zu dezimieren. Die Hälfte der jiāngshī hatten sie bereits getötet.

Aus dem Augenwinkel sah Hengyen, wie Linnang zurückfiel und seine Stellung verließ. Das neueste Teammitglied brüllte etwas Unzusammenhängendes, während sich die jiāngshī um ihn versammelten.

»Ihr Leichen seid nichts! Nur Haut und Knochen.« Er schlug seine Axt in einen Schädel. »Das ist für meinen bà.« Er schlug nach einem anderen jiāngshī und riss seinen Kiefer auf. »Das ist für meinen dì. Das ist für meine Freundin und meinen Scooter. Und meine Universität. Zwei Tage vor dem dämlichen Ausbruch bin ich in Fudan angenommen worden. Ich habe sechs Monate für die Aufnahmeprüfung gelernt!« Er setzte seine lange Beschwerdeliste fort.

»Linnang«, bellte Hengyen. »Reiß dich zusammen und zieh dich zurück.«

Linnang war so sehr in seinem Blutrausch gefangen, dass er die ihn langsam umzingelnden jiāngshī gar nicht bemerkte. Er fuhr einfach mit seinen Beschwerden fort, während er weiter um sich schlug. Blut und Gedärme durchnässten sein Hemd und bedeckten seine Arme. Er schwang seine Axt, holte weit aus und grub sie einem jiāngshī so tief in den Bauch, dass der beinahe in zwei Hälften gespalten worden wäre. Als Linnang die Axt zurückziehen wollte, blieb die Klinge im Knochen stecken. Der Stiel rutschte ihm aus der Hand und er stolperte zurück. Er wollte erneut danach greifen.

»Lass sie stecken!«, rief Hengyen, während er seine zwei Dolche in der Brust eines besonders fetten und widerstandsfähigen jiāngshī versenkte.

Linnang erkannte endlich die Gefahr, in der er schwebte. Die jiāngshī wandten sich nun vom Rest des Teams ab und näherten sich dem Nachzügler. Er hätte immer noch fliehen und die zwei, drei jiāngshī, die ihm den Weg versperrten, zur Seite stoßen können. Stattdessen geriet er in Panik und zog seine Pistole.

»Nein!«, schrie Hengyen. Er rannte auf den Jugendlichen zu, aber es war zu spät. Linnang feuerte die Pistole ein halbes Dutzend Mal ab und tötete mit jedem Schuss einen der jiāngshī, die ihn umzingelten. Die beiden Männer erstarrten, als der Lärm der Schüsse durch die Schlucht hallte. Hengyen suchte mit Blicken die Felskante über ihnen ab, während das Echo verklang. Nichts. Kein jiāngshī, noch nicht einmal eine Staubwolke. Anscheinend hatten sie Glück gehabt.

Hengyen stürmte zu Linnang und riss ihm die Pistole aus der Hand. »Was habe ich über das Abfeuern deiner Waffe gesagt, vor allem, wenn eine ganze Armee von denen in der Nähe ist?«

Linnangs Hände zitterten. Er kicherte nervös. »Es tut mir leid, Windmeister. Ich habe gesehen, dass ihr alle weiter vorn wart. Da bin ich in Panik geraten.«

Hengyen atmete erleichtert durch und tippte ihm mit dem Finger auf die Stirn. »Benutz nächstes Mal deinen Kopf. Zum Glück ist dieses Mal alles gut gegangen, aber …« Er ließ den Satz unvollendet. Ein dumpfes Dröhnen hallte durch die Schlucht, in das sich Stöhnen und Zischen mischte. Die Geräusche wurden immer lauter.

Aus dem Augenwinkel sah Hengyen, wie etwas von Himmel fiel. Er fuhr herum und sah gerade noch, wie nur wenige Meter von ihm entfernt ein Körper auf die Felsen aufschlug.

Haihong erbleichte und zeigte auf den Rand der Schlucht. Auf beiden Seiten tauchten massenhaft jiāngshī auf, die vom Lärm der Schüsse angelockt worden waren. Nun traten sie über die Kante und krachten auf die Felsen in der Schlucht. Weitere jiāngshī folgten ihnen, doch viele aus dieser zweiten Welle standen wieder auf, weil die, die vor ihnen heruntergefallen waren, ihren Aufprall dämpften.

Hengyen widerstand dem Impuls, diese Situation als Lehrstück zu nutzen, und befahl einen raschen, aber geordneten Rückzug. Er kämpfte sich in die Richtung durch, aus der sie gekommen waren. Die jiāngshī fielen um sie herum weiter vom Himmel. Viele, die zwischen den Felsen aufschlugen, erhoben sich nicht mehr. Doch ebenso viele standen wieder auf. Die Leichen stapelten sich inzwischen bereits am Fuß der steilen Felswände.

Ein jiāngshī, dessen Aufprall von einem Dutzend anderer, die vor ihm aufgeschlagen waren, gedämpft wurde, rollte von dem Leichenberg herab und landete irgendwie auf den Füßen. Mit ausgestreckten Armen und unnatürlich verdrehtem Hals schlurfe er auf Hengyen zu, der so mit seinen Befehlen beschäftigt war, dass er den jiāngshī erst bemerkte, als der gegen ihn prallte und nach seinem Arm griff.

Der Windmeister schob seine freie Hand unter dessen Ellbogen, blockierte den Arm, warf den jiāngshī zu Boden und trieb ihm mit einer geschmeidigen Bewegung seinen Dolch in den Schädel. Ein anderer kam aus seinem toten Winkel auf ihn zu. Hengyen trat ihm die Beine unter dem Körper weg, kam auf die Füße und gab dem Rest des Teams ein Zeichen, sich zurückzuziehen.

Ein jiāngshī bekam Linnang zu fassen und biss ihm mit seinen verrotteten Zähnen ein Stück Fleisch aus dem Arm. Linnang schrie und schlug auf den Kopf der verwesenden Kreatur ein. Einem zweiten jiāngshī gelang es, mit seinen schwarz verfärbten Händen das Bein des Mannes zu packen. Ein dritter krallte sich in seine Haare.

Dann begann der Fressrausch.

Linnangs Schreie gellten durch die Schlucht, als er unter den Körpern begraben wurde. Hengyen zog die Pistole und suchte in der Hoffnung, ihn durch einen Schuss von seinem Leid erlösen zu können, nach ihm. Doch er sah nur zuckende Gliedmaßen und spritzendes Blut. Er winkte den anderen zu. »Rückzug.«

Der Rest des Windteams gab den Kampf auf und floh. Hengyen führte die anderen an und schlug dabei immer wieder Haken, um den jiāngshī zu entgehen, die noch immer herabfielen. Ein Körper wäre beinahe auf Weizhen gelandet. Haihong stolperte und stürzte schmerzhaft, als ein anderer direkt vor ihr aufschlug.

Das Windteam rannte fast einen Kilometer weit durch die Schlucht. Erst dann befahl ihm Hengyen, anzuhalten. Er warf einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Schon bald würden sich die jiāngshī in der Schlucht drängen. Es würde Wochen dauern und sie würden Leute einsetzen müssen, die anderswo gebraucht wurden, wenn er die Steinformation wieder als Aussichtspunkt nutzen wollte.

»Was machen wir jetzt, Windmeister?«, fragte Wangfa.

Hengyen schüttelte den Kopf. Um dieses Problem würde er sich später kümmern. »Wir kehren so schnell wie möglich nach Hause zurück. Lasst alles liegen, was ihr nicht unbedingt braucht. Wir müssen den Lichtblick warnen, dass sich ein Taifun nähert.«

3

QUOTE

Zhus Windteam brach im Morgengrauen auf. Wie er prophezeit hatte, löste sich der starke Nebel im ersten Licht des Tages auf. Das Frühstück hatte aus den verbliebenen Hundertjährigen Eiern bestanden, die Elena noch mehr hasste als Durian. Doch da ihnen der Klebreis ausgegangen war, aß sie jedes Stück, das er ihr anbot.

Zhu führte sie über die Treppe ins oberste Stockwerk, wo sie durch ein Fenster in der Seitenwand auf das nächste Dach sprangen. Sie gingen vorsichtig an dem im Stil einer Pagode errichteten Dach bis zur Ecke und kletterten dann auf allen vieren zum First hinauf. Sie bewegten sich langsam und vorsichtig, denn durch den feuchten Nebel waren die Dachziegel glitschig geworden.

»Wehe hindurch, als wärst du nie hier gewesen«, murmelte er, ohne den Blick von seinen Füßen zu nehmen. Diese Redewendung wurde jedem Windteam während der Ausbildung eingebläut. Als sie tiefer ins Dorf vordrangen, füllten sich die Straßen unter ihnen mit jiāngshī. Fast alle standen völlig reglos da, als würden sie zur Terrakottaarmee gehören. Der Anblick ließ Zhu zu den rastlosen Gedanken zurückkehren, die er sich in der letzten Nacht gemacht hatte: Schliefen jiāngshī? Träumten sie? Es spielte keine Rolle. Hauptsache, sie wurden nicht gestört, denn Unruhe war ansteckend. Ein Meer von unruhigen, aufgeregten jiāngshī hätte das Windteam nur abgelenkt und das durfte es sich nicht erlauben. Ein Schwarm Kraniche flog tief über sie hinweg, als Zhu einen Schrei hinter sich hörte. Er drehte sich um und sah, wie Elena mit den Füßen voran über das steile Dach rutschte, während sie sich verzweifelt festzuhalten versuchte. Er warf sich in ihre Richtung und rutschte über die rauen Dachziegel, erkannte jedoch, dass er es nicht schaffen würde. Doch dann gelang es Elena zu seiner Überraschung doch noch, sich festzuhalten, und er schlitterte an ihr vorbei. Die Dachkante kam rasch auf ihn zu. Er stellte sich vor, wie er mit dem Kopf zuerst in ein Meer aus jiāngshī stürzte, aber dann wurde sein Fall abrupt gestoppt.