Zeitkurier - Wesley Chu - E-Book + Hörbuch

Zeitkurier Hörbuch

Wesley Chu

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Beschreibung

In einer zerstörten Zukunft liegt die letzte Hoffnung in der Vergangenheit

Die Erde hat sich in der Zukunft in ein verseuchtes Ödland verwandelt, und die Menschheit musste ins äußere Sonnensystem ausweichen. Dort, in den Weiten des Alls, sind Ressourcen allerdings ein seltener Luxus, und so bedient sich die menschliche Zivilisation der Zeitreise als letztes Mittel. Sogenannte Zeitkuriere reisen in die Vergangenheit, um dort nach Ressourcen und Antworten zu suchen. Bei seinem letzten Auftrag macht der Zeitkurier James Griffin-Mars jedoch den größten Fehler: Er greift in die Zeitlinie ein – und rettet eine Frau. Jetzt bleibt ihnen nur noch die Flucht in die Gegenwart …

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Zeit:15 Std. 10 min

Sprecher:Mark Bremer

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Das Buch

Die Erde hat sich in der Zukunft in ein verseuchtes Ödland verwandelt, und die Menschheit musste ins äußere Sonnensystem ausweichen. Dort, in den Weiten des Alls, sind Ressourcen allerdings ein seltener Luxus, und so bedient sich die menschliche Zivilisation der Zeitreise als letztes Mittel. Sogenannte Zeitkuriere reisen in die Vergangenheit, um dort nach Ressourcen und Antworten zu suchen. Bei seinem letzten Auftrag macht der Zeitkurier James Griffin-Mars jedoch einen fatalen Fehler: Er greift in die Zeitlinie ein – und rettet eine Frau. Jetzt bleibt ihnen nur noch die Flucht in die Gegenwart …

Der Autor

Wesley Chu, 1976 in Taiwan geboren, wuchs in den USA auf und studierte Management und Informatik an der Universität von Illinois. Nach einigen Jahren als Berater, Banker und Stuntman schrieb er seinen Erstlingsroman »Das Leben des Tao«. Mit Zeitkurier hat Wesley Chu internationale Anerkennung und Erfolg gewonnen. Er lebt mit seiner Familie in Chicago.

Mehr über Wesley Chu und seinen Roman erfahren Sie auf:

diezukunft.de

WESLEY CHU

ZEITKURIER

ROMAN

Aus dem Amerikanischen vonJürgen Langowski

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe

TIME SALVAGER

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 09/2017

Redaktion: Lars Zwickies

Copyright © 2016 by Wesley Chu

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-18443-8V001

www.diezukunft.de

Für meine Großeltern und alle,die vor mir gelebt haben

01

ENDZEIT

Ein Lichtbalken bohrte sich durch das Nichts und schoss zum Zentrum der taktischen Karte. Auf der Brücke hielten die Besatzungsmitglieder gleichzeitig den Atem an und verfolgten den Weg des Lichtstreifens durch das All. Im Raum herrschte Totenstille, wenn man von der monotonen Stimme absah, die die Sekunden bis zum Einschlag herunterzählte. Dann entstand eine Explosionswolke in der Größe eines Daumennagels, blähte sich auf, bis sie die Hälfte des Displays einnahm, und verblasste wieder.

Auf der Brücke brachen Jubelrufe aus, als das Flaggschiff der Neptune Divinity von der holografischen Anzeige verschwand. Der Jubel war jedoch nur von kurzer Dauer. Kapitän Dustinius Monk übertönte die Rufe.

»Stationsstatus!«, befahl er, und die unangenehmen Meldungen über den Zustand des Raumschiffs kamen herein.

»Schilde zusammengebrochen«, meldete ein Adjutant auf der Brücke.

»Manövrierdüsen offline«, fügte ein anderer hinzu.

»Hüllenbruch im Heck.«

Die Liste der Schäden wurde länger, je mehr verhängnisvolle Meldungen von den Stationen eingingen. Es war ein Wunder und ein Beweis für die Fähigkeiten der Mannschaft, dass die High Marker, das Flaggschiff der Technology Isolationists, überhaupt noch flog.

Grace Priestly gähnte gelangweilt. Sie war eigentlich immer gelangweilt, wenn sie sich mit den quälend langsamen Denkprozessen der Durchschnittsmenschen konfrontiert sah. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie lange sie warten musste, bis endlich einmal jemand etwas Interessantes sagte.

Monks Stellvertreter schien der Panik nahe, als er Bericht erstattete. »Kapitän, die Schockwelle der Explosion ist noch nicht vorbei!« Das Geplapper erstarb, und wieder breitete sich Totenstille aus.

»Können wir nicht wenigstens einen Schild aktivieren?«, fragte Monk.

»Nicht ohne umfangreiche Außenreparaturen.«

»Flickt mir einen verdammten Schild, damit ich die Druckwelle ablenken kann!«, brüllte Kapitän Monk in die angespannte Atmosphäre. Der Rest der Brückenbesatzung war vor Angst erstarrt. »Was ist mit dem Antrieb? Seitliche Schubdüsen? Können wir das Schiff bewegen? Gebt mir irgendetwas, verdammt!«

»Wir schweben antriebslos im Raum, Kapitän.« Der Adjutant, der neben ihm stand, schüttelte den Kopf. »Kraftwerksleistung ist auf sechs Prozent gefallen. Anscheinend wurde auch die Titanquelle beschädigt.«

»Leiten Sie sofort die Energie um.«

Der Adjutant erbleichte. »Kapitän, die Systemadjutantin berichtet, dass der Umsetzer zerstört wurde.«

»Zerstört? Wie ist das möglich?«

»Das weiß sie nicht, Kapitän.«

Monk öffnete ein Display und starrte die Druckwelle an, die vom Flaggschiff der Neptune Divinity ausging. Auf einem zweiten Bildschirm überprüfte er die Daten. Schließlich zuckte er zusammen und wurde kreidebleich.

Er blickte zu Grace, die kalt und gleichgültig zurückstarrte. Dann erteilte er rasch zahlreiche Befehle und tat alles, was er konnte, um die drohende Katastrophe abzuwenden. Alle Besatzungsmitglieder arbeiteten hektisch, während die Schiffsuhr die Zeit bis zum Aufprall der heranrasenden Druckwelle runterzählte.

Grace war klar, dass das alles nichts mehr nützte. Seit dem Moment, als die Fusionsrakete das feindliche Schiff getroffen hatte, waren sie dem Untergang geweiht. Hauptantrieb und Steuerdüsen waren außer Betrieb, alle drei Schilde waren inaktiv. Die High Marker war völlig wehrlos. Die Druckwelle würde sie aus dem Sonnensystem in Richtung der Heliopause schleudern. Von dort war noch nie ein Schiff zurückgekehrt.

Beiden, Grace wie auch Monk, war völlig klar, dass es höchstwahrscheinlich genau darauf hinauslaufen würde. Nachdem der Antrieb der High Marker ausgefallen war, hatte er sie um die ausdrückliche Genehmigung bitten müssen, trotz der geringen Entfernung eine planetenbrechende Rakete einsetzen zu dürfen. Obwohl alles dagegen sprach, hatte sie die Erlaubnis erteilt. Wenn sie schon sterben mussten, wollten sie wenigstens den Feind mitnehmen.

Der Kapitän und seine Crew kämpften, um die High Marker zu retten, doch soweit es Grace betraf, hätten sie ebenso gut versuchen können, die Toten zu erwecken. Davon gab es auf dem Schiff ohnehin schon genug.

Trotzdem amüsierte sie sich darüber, dass Monk sich so sehr bemühte, das Unausweichliche abzuwenden. Der Kapitän war ein kluger Mann und hatte seine achtzig Lebensjahre ausschließlich im Weltraum verbracht. Hätte Grace es nicht besser gewusst, dann hätte sie tatsächlich glauben können, dass der gute Kapitän sich die allergrößte Mühe gab, das Schiff zu retten. Natürlich durchschaute sie ihn. Wenn die Oberin der Technology Isolationists auf seinem Schiff starb, würde seine ganze Familie ewig in Schande leben.

Vielleicht verstellte sich Kapitän Monk auch gar nicht, sondern machte sich etwas vor und glaubte, er könnte wirklich ein Wunder vollbringen. Grace hoffte allerdings, dass dies nicht zutraf. Es wäre unerfreulich, wenn sie einsehen müsste, dass sie einen Schwachsinnigen zum Kommandanten des Flaggschiffs ernannt hatte. Nein, es gab keine Wunder, und Grace hatte keine Lust mehr, die sinnlose Übung zu beobachten. Die High Marker war dem Untergang geweiht.

Die Druckwelle erfasste das Schiff, es ruckte, und wer stand, wurde von den Beinen gerissen. Ein halbes Dutzend weitere Alarmmeldungen flackerten auf dem taktischen Display. Grace saß im Schwerkraftsessel und sah der Mannschaft zu, die sich beeilte, die neuen Gefahren zu bekämpfen, während die High Marker von der Welle mitgerissen wurde.

Grace stand auf und sah ihren Knecht an. »Komm mit, Swails. Wenn der gute Kapitän bereit ist, Bericht zu erstatten, kann er mich in meiner Kabine aufsuchen.«

Der Knecht stand auf und schritt neben ihr her. Mit ihren runzligen Händen streichelte sie sein makelloses Gesicht. Der arme Idiot war unfähig zu begreifen, was gerade geschah. Wahrscheinlich war in seinem schönen Kopf noch nie ein eigenständiger Gedanke entstanden, aber genau so mochte sie ihre Knechte. Die Brückenbesatzung unterbrach die Arbeit und hielt respektvoll inne, als sie vorbeiging.

»Oh, versucht nur weiter, das Schiff zu retten«, sagte sie, als sie hinausschwebte. Die Trottel würden sich bei diesem sinnlosen Spiel zu Tode schuften. Was für eine Verschwendung. Eigentlich hätte Grace doch gedacht, dass sie die Technology Isolationists zu größerer Klugheit angeleitet hatte.

»Komm schon, Knecht«, sagte sie und winkte Swails, als sie den mit Trümmern übersäten Gang hinunterlief. Die High Marker war das modernste Schiff, das die Menschheit je gebaut hatte. Was es den Technology Isolationists an Personal und Ressourcen mangelte, machten sie durch Fortschritte in der Energieerzeugung und andere technische Errungenschaften mehr als wett. Andererseits konnte ein zahlenmäßig überlegener und mit besseren Ressourcen gesegneter Gegner diese Macht bezwingen, und genau das hatte die Neptune Divinity getan. Ohne ausreichende Ressourcen konnte sich keine Fraktion lange halten.

Die High Marker war kurz nach dem Rendezvous mit dem Stützpunkt auf Eris in den Hinterhalt geraten. Das Flaggschiff, zwei Begleitschiffe und rund ein Dutzend Verstärkungseinheiten vom Planeten hatten die mehr als sechzig Einheiten der Neptune Divinity bekämpft und gesiegt. Ein Pyrrhussieg mochte kein echter Triumph sein, doch er war immer noch besser als die Alternative.

Auf beiden Seiten waren in der gewaltigen Schlacht so gut wie alle Schiffe vernichtet worden. Die einzige nennenswerte Ausnahme war die High Marker, die jetzt aus dem Sonnensystem geschleudert wurde. Sofern sie nicht den Antrieb reparieren konnten, was bisher allerdings noch keinem Raumschiff außerhalb des Docks gelungen war, würden sie entweder im kalten Weltraum sterben oder beim Zusammenprall mit irgendeinem Objekt untergehen. Grace hoffte, die High Marker werde wenigstens auf etwas Interessantes wie eine Plasmawolke oder ein schwarzes Loch treffen. Natürlich aus rein wissenschaftlicher Neugierde.

Sie beschloss, die restliche Lebenszeit sinnvoll zu nutzen und sich von ihrem Knecht besinnungslos vögeln zu lassen. Wenn sie schon sterben musste, dann wollte sie dabei wenigstens glücklich sein.

Sie erreichten einen besonders stark beschädigten Bereich des Schiffs. Eine Metallstrebe und mehrere große Trümmerstücke blockierten den Gang. Aus dem Schutt ragte ein verkohlter Beinstumpf. Grace wich vorsichtig aus, um ihr Kleid nicht zu beschmutzen.

»Knecht, hilf mir«, sagte sie.

Er gehorchte willig und hielt sanft ihre Hand, als sie langsam über die Strebe stieg. Für eine Dreiundneunzigjährige bewegte sie sich sehr gewandt. Hinter ihr sprang Swails über das Hindernis und lief neben ihr weiter. Irgendetwas an ihm entsprach nicht dem Bild, das sie von ihm hatte. Sie hatte es gleich bemerkt, als sie an Bord gekommen war. Swails war heute anders als sonst.

Lediglich im Detail unterschieden sich die Klugen von den Brillanten, und Grace war nicht nur die brillanteste Denkerin ihrer Generation, sondern auch einer der klügsten Menschen, die je gelebt hatten. Bald spielte das keine Rolle mehr. Sie starrte Swails’ gentechnisch verändertes Gesicht an. Es war vollkommen. Dieser Mann sah aus wie ihr Knecht und bewegte sich wie Swails, doch hinter seinen Augen ging irgendetwas vor. Sie waren nicht so leer, wie es die Augen ihres Knechts eigentlich sein sollten.

Er war ein Hochstapler, was sich in vielen kleinen Details zeigte, die den meisten Menschen völlig entgangen wären. Sie war jedoch anders als die meisten Menschen. Vielleicht war er nur krank und litt unter einem Anfall eigener Gedanken. So etwas kam von Zeit zu Zeit vor, auch wenn die Züchter sich große Mühe gaben, diese Neigung auszumerzen. Nun, es war egal. Es gab sowieso nur eine Sache, für die sie ihn brauchte.

Das Licht im Schiff flackerte und wurde um genau 18 Prozent gedämpft. Zweifellos wollte der gute Kapitän Monk Energie sparen, um das Schiff länger am Leben zu halten, weil er die abwegige Hoffnung hegte, sie könnten doch noch gerettet werden. Grace gestattete sich ein kleines Lächeln. Der dumme Mann verlängerte nur ihre Qualen. Wenn er wirklich etwas Sinnvolles tun wollte, dann sollte er alle Luftschleusen öffnen und auf der Stelle alle Menschen an Bord töten. Das hätte sie jedenfalls getan. Andererseits war sie für ihren Verstand und ihre sexuellen Gelüste bekannt, und nicht für ihr übergroßes Mitgefühl.

Grace fragte sich, warum die Energie auf der High Marker so stark abgefallen war. Wie bei jedem anderen modernen Raumschiff befanden sich auch hier die Energiequellen mitten im Rumpf. Es war fast unmöglich, den Kern zu beschädigen, ohne gleichzeitig das Schiff zu zerstören, und es war undenkbar, dass ein vierundneunzigprozentiger Ausfall des Kerns ohne ein katastrophales Ereignis auftrat. In weniger düsteren Zeiten hätte sie darauf gebrannt, das kleine Rätsel zu lösen. Jetzt hatte sie viel fundamentalere Bedürfnisse.

»Komm, Knecht.« Sie winkte ihn weiter. »Wir ziehen uns in mein Quartier zurück.«

Wieder bemerkte sie eine leichte Veränderung in seinem Gang. Seine Schritte waren etwas länger als üblich. Er hielt sich etwas aufrechter, der Druck seiner Hand auf ihrer Haut war nicht ganz so sanft wie sonst. Nein, er war nicht ganz er selbst, aber soweit sie es sagen konnte, gab es derzeit keine Technologie, um das Äußere eines anderen Menschen perfekt zu imitieren und so jemanden als Spion einzuschleusen. Und wenn so etwas existierte, dann wäre sie diejenige gewesen, die es erfunden hätte. Um ganz sicherzugehen, streckte sie noch einmal die Hand aus, streichelte sein Gesicht und vergewisserte sich, dass es kein Hologramm und keine Illusionsüberlagerung war. Ja, das vollkommene Gesicht war nach wie vor sein eigenes.

Sie betraten den Vorraum ihrer Gemächer. Zwei stumme Diener mit Augenbinden standen in einer Ecke. Diese Kriegerknechte waren ganz anders als der Sexknecht. Sie waren gewalttätig und ihr bedingungslos ergeben, gerieten schnell in Rage und waren schwer zu kontrollieren. Die Lichter und der Lärm im havarierten Schiff konnten sie leicht in die Tobsucht treiben. Es war das Beste, sie hier im Vorraum zu lassen. Allerdings fand sie es auch beruhigend, die beiden jetzt wieder in Rufweite zu haben.

»Einen Becher warmes Wasser, Knecht«, befahl sie. »Und hole mir meinen Umhang. Wenn wir heute Nacht schon sterben müssen, dann soll es wenigstens in aller Bequemlichkeit geschehen.« Swails brachte ihr das Wasser, während sie sich auszog.

Grace blickte durch die Bullaugen in den Weltraum. Der Winkel, in dem die Sterne am Fenster vorbeizogen, verriet ihr, dass das Schiff mittlerweile noch stärker taumelte. Sie musste wohl damit rechnen, dass jeden Augenblick auch die Schwerkraft abgestellt wurde, um Energie zu sparen. Monk war schrecklich berechenbar.

Sie riss sich von den Bullaugen los und winkte Swails, sich um sie zu kümmern. Gut möglich, dass es ihr letzter Fick wurde, also wollte sie ihn genießen. Ihr Knecht war der Schönste aus seinem Wurf, sie würde seine zärtlichen Berührungen vermissen. Den heutigen Abend hatte sie aber noch.

Sie legte sich auf das Bett und wartete darauf, dass Swails seinen Pflichten nachkam. Gehorsam zog er sich aus und sprach das Sklavengebet, mit dem er um Erlaubnis bat und sich für die Ehre bedankte, das Bett der Herrin teilen zu dürfen.

Grace beobachtete Swails’ Bewegungen. Sie hatte schon hundertmal zugesehen, wie er das Ritual vollzog. Die Gesten waren korrekt, doch ihm fehlte die gewohnte Anmut. Als er das Gebet beendet hatte, sank er an der Bettkante auf die Knie, breitete die Arme aus und blickte zur Decke empor.

Statt ihm die Erlaubnis zu erteilen, kroch Grace mit verführerischen Bewegungen zu ihm und legte ihm die Hand auf den festen, wohlgeformten Oberkörper. Mit den Fingern fuhr sie bis zum Bauch hinunter und spürte die vertrauten Dellen und Schwellungen seiner Muskeln. Dann wanderten ihre Finger zu seinem Herzen hinauf. Sie schloss die Augen und lauschte. Die Herzschläge waren unglaublich schnell für einen Klon. Mit der anderen Hand fasste sie ihn am Kinn und zog sein Gesicht zu sich.

»Wer bist du, Fremder?«, fragte sie.

Swails zögerte einen Moment. »Dann weißt du es?«

»Ich ahne es seit heute Morgen. Du bist schon den ganzen Tag nicht der Swails, den ich kenne.«

Jetzt lächelte er. »Grace Priestly, du bist eine außergewöhnliche Frau. Es ist mir eine Ehre.« Er rückte von ihrem Bett ab, ging zu ihrem Schreibtisch auf der anderen Seite des Raumes und kramte in ihren persönlichen Habseligkeiten herum.

Erschrocken stand sie auf und zog sich in die andere Ecke des Raumes zurück. »Was tust du da?«

Swails hörte nicht auf sie, sondern holte Papiere, Scans und Datenchips heraus. Mehrere seltene Bücher warf er weg, dann ging er ihre persönlichen Akten durch und brachte alles in Unordnung. Grace hasste Unordnung. Schließlich holte er die erst kürzlich formulierte Zeitcharta hervor und ließ den Finger über die Zeilen gleiten, bis er gefunden hatte, was er suchte.

Das Gesetz war Höhepunkt und moralische Grundlage ihrer zehnjährigen Forschungsarbeiten. Die Technologie war bereit. Die Menschheit musste nur noch einen Weg finden, um ihre neue Entdeckung sinnvoll einzusetzen. Wenn ihre neue Behörde Erfolg hatte, würde man Grace Priestly dafür rühmen, dass sie nicht nur die Menschheit gerettet, sondern auch die Technology Isolationists zu neuen Höhen geführt hatte. Das in Allorium gravierte Werk, das er jetzt in Händen hielt, schrieb die Leitlinien der neuen Behörde fest. Das Chronologieamt sollte der Menschheit den Weg aus ihrer selbst verursachten Hungersnot weisen.

»Leg das wieder weg!«, rief sie. »Kau, Trau! Zu mir!«

Die beiden Kampfknechte stürmten herein, die Augenbinden hatten sie bereits abgenommen, sodass die kybernetisch rot glühenden Augen zum Vorschein kamen. Es war ihr zuwider, dass sie so kurz vor ihrem Tod eine Gewalttat anordnen musste. Grace war nicht der Typ, der voreilig zu solchen Mitteln griff, aber dieses Ding war nicht ihr geschätzter Knecht. Sie war sogar sicher, dass er Swails getötet hatte. Sie wollte Antworten hören.

»Fangen. Nicht töten. Nicht töten.« Sorgfältig sprach sie die Befehle aus. Die Kampfknechte besaßen nur eine niedrige Intelligenz, und jeder Befehl, der sich nicht ums Töten drehte, musste präzise formuliert werden.

Trau legte los, ein Dutzend kleine Klingen klappten aus den Armen und Beinen heraus. Er griff den Hochstapler an und schlug zu, während Kau zwischen ihr und Swails, ebenfalls mit ausgefahrenen Klingen, eine Verteidigungsposition einnahm.

»Lebendig!«, rief Grace.

Anscheinend hatte sie mit dem Falschen gesprochen, denn Trau erreichte Swails schneller, als es für einen gewöhnlichen Menschen möglich gewesen wäre, und zog dem Schwindler die Klingen mit einer Wucht, die jeden unverstärkten Menschen zweigeteilt hätte, quer über die Brust. Doch auf einmal erschien ein gelber, funkensprühender Schutzschild, der Swails umgab. Das elektrische Feld lenkte Traus Klingen zur Seite ab.

Nun setzte der Hochstapler zur Gegenwehr an und bewegte sich so schnell, dass man mit bloßem Auge kaum folgen konnte. Die beiden Kämpfer wirbelten in einem tödlichen Tanz umeinander, Traus Klingen und die seltsamen gelben Funken blitzten in der Luft. So rasch, wie das Handgemenge begonnen hatte, war es auch schon wieder vorbei.

In einem Moment stand der Schwindler neben Trau, im nächsten war er schon hinter dem Kampfknecht. Der Fremde machte eine rasche Bewegung aus dem Handgelenk, und Trau flog quer durch den Raum und prallte so heftig gegen die Wand, dass sich die Unterdruckblenden vor die Bullaugen schoben. Traus mit Stahl verstärktes Rückgrat brach mit einem lauten Knacken, als es mit einer der Streben kollidierte, die aus der Wand ragten. Sein Körper erschlaffte, er fiel auf den Boden, und das rote Glühen der Augen erstarb.

Grace starrte den besiegten Kampfknecht an. Das war unmöglich. Es handelte sich um Cyborgs der Klasse sechs! Sie waren fähig, eine ganze Abteilung gepanzerter Raumsoldaten zu besiegen. Panisch blickte sie zu Swails, oder vielmehr zu dem Ding, das so aussah wie ihr Sexknecht.

Kau verharrte zwischen ihr und dem Schwindler. Er würde erst auf ihren Befehl hin angreifen und vermutlich ebenso schnell sterben. Swails beäugte Kau ohne große Sorge, als wartete er darauf, dass der Kampf endlich vorbei war, damit er sich wieder um das kümmern konnte, was er eigentlich hier wollte. Wenn sie genau hinschaute, sah sie ein durchsichtiges gelbes Flimmern direkt über der Haut. Dann fiel ihr Blick auf die Alloriumcharta, die der Hochstapler während des Kampfes auf dem Schreibtisch liegen gelassen hatte.

Auf einmal begriff sie es.

»Kau.« Sie deutete zur Tür. »Verlasse den Raum. Sorge dafür, dass ich nicht gestört werde.«

Der Kampfknecht sah sie zögernd an. Die Cyborgs waren schließlich nicht völlig dumm. Sie waren durchaus in der Lage, einen eigenartigen Befehl zu erkennen.

»Geh!«, wiederholte sie.

Kau beäugte Swails misstrauisch, stieg aber schließlich über den toten Trau hinweg und schlurfte hinaus. Der Schwindler ignorierte den tödlichen Kampfknecht und gab sich völlig ungerührt. An der Tür hielt Kau noch einmal inne, betrachtete den Eindringling und zog sich mit einem Grunzen zurück. Grace entging das Zögern keineswegs. Anscheinend hatten die Sechser immer noch ein paar Macken, die ausgebügelt werden mussten.

»Schließ die Tür«, befahl Grace.

Der Hochstapler zog eine Augenbraue hoch. Sicher überraschte es ihn, dass sie bereit war, mit ihm unter vier Augen zu reden, oder er staunte, weil sie ihn immer noch herumkommandierte. Auf jeden Fall gehorchte er. Und erst jetzt sah Grace so etwas wie echte Gefühle in Swails’ Augen: Ehrfurcht, Trauer, Bedauern, Schmerz. All die Empfindungen, die der echte Swails niemals hätte haben dürfen.

»Wie weit aus der Zukunft?«, fragte sie schließlich.

Swails lächelte. Das Flimmern des seltsamen gelben Körperschilds verblasste, und nun verschwand sein Gesicht Zeile um Zeile, als würde die Aufnahme eines Zeichners, der ein Gesicht malte, rückwärts abgespielt. Sie sah zu, bis nichts mehr außer einer leeren Hautfläche zu sehen war. Dann verschwand der ganze Kopf und wich einem anderen mit hellerer Haut und einem unvorteilhaften Bart.

»Sechsundzwanzigstes Jahrhundert, Oberin.« Er verneigte sich so tief, dass die Nase fast die Knie berührte. Einen Moment lang hoffte sie, die Technology Isolationists hätten sich gut entwickelt, da man immer noch so ehrerbietig mit ihr umging. »Wie haben Sie es herausgefunden?«, fragte er.

Grace schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Ihre Verkleidung täuscht nur einige Sinne, nicht alle.«

Wieder verneigte er sich, wenngleich nicht mehr so tief. »Die legendäre Grace Priestly. Sie sind genau so, wie man Sie im ehrenvollen Gedenken beschreibt.«

Grace musterte ihn genauer. Für ihren Geschmack war er eine Spur zu dünn. Sie bevorzugte Männer, die ein wenig kräftiger waren als der Durchschnitt. Er hatte ein hübsches oder wenigstens ebenmäßiges Gesicht, dessen Züge schätzungsweise siebzig Prozent des Ideals erreichten. Das Antlitz war lang und schmal, die Wangen eingefallen, und es gab noch weitere Unvollkommenheiten, die auf ein anstrengendes Leben hinwiesen. Binnen Sekunden sagten ihr die braunen Augen, die leicht gekrümmte Nase und das markante Kinn alles, was sie über seine Herkunft wissen musste.

»Wie ergeht es der Menschheit in dreihundert Jahren?«, fragte sie und beobachtete sein Gesicht genau.

Seine Haut wirkte im Licht ihrer Kabine beinahe wie Pergament. War dieser Mann jemals direktem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen? Er sah aus, als wäre er im Weltraum geboren worden: blass, groß und schlaksig, wie es für all jene typisch war, die ihr ganzes Leben zwischen den Planeten verbracht hatten. Die braunen Haare lagen unordentlich auf seinem Kopf, sodass ein etwas schmuddeliger, zerzauster Eindruck entstand. Seltsam. Sie hätte angenommen, dass jemand aus der Zukunft besser frisiert wäre. Nach den Maßstäben der Technology Isolationists war dies kein Mann, den man in die Gemeinschaft aufnahm, ganz zu schweigen von ihrem Schiff.

»Wenn ich Ihnen doch nur gute Nachrichten übermitteln könnte«, entgegnete er.

»Natürlich können Sie mir nichts verraten, weil sich dadurch der Lauf der Ereignisse verändern würde.«

Er schüttelte den Kopf. »In diesem Fall würden die Neuigkeiten aus der Zukunft keine Rolle spielen. Das zweite Gesetz der Charta …«

»›Reisen in die Vergangenheit sind auf abgeschnittene Zeitlinien beschränkt und müssen so kurz sein, dass sich der Chronostrom im Falle von Verwerfungen wieder glätten kann‹«, zitierte sie.

»Ja. Sie erinnern sich daran.«

»Ich habe es gestern Abend aufgeschrieben.«

»Das ist das zweitwichtigste Zeitgesetz.«

Die Erkenntnis, was seine Worte wirklich bedeuteten, traf sie wie ein körperlicher Hieb. »Die High Marker wird also mein Grab werden.«

Nun tat sie etwas Untypisches und knirschte mit den Zähnen. Eine Gewohnheit aus der Kindheit, die sie als Jugendliche abgelegt hatte. Jetzt war es, als wollte sie all die verlorenen Jahre auf einmal wettmachen und die Zähne bis auf die Wurzeln abschleifen. »Ich wusste, dass wir dem Untergang geweiht waren. Die Überlebensaussichten waren schlecht, aber es fühlt sich trotzdem ganz anders an, wenn jeder Zweifel ausgeräumt wird.«

Nun brachen alle Gefühle heraus, die sie hinter der kalten Fassade verborgen hatte. Grace setzte sich auf das Bett. Sie war nicht sicher, ob sie eher wütend oder traurig war, und zitterte unter dem Widerstreit der Emotionen. Sie wollte lachen, schreien und in Tränen ausbrechen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie schloss die Augen und bohrte die Fingernägel in die Handflächen. Sie war die Oberin! Man würde sie auch Jahrhunderte später noch verehren! Das war doch etwas wert, oder? Im Augenblick fühlte sich das alles jedoch nur noch hohl an.

Sie sah ihn an. »Warum sind Sie hergekommen? Oh, natürlich. Sie haben die Energiequelle der High Marker geleert und gestohlen.«

Er nickte. »Und die Charta. Das ist ein sehr begehrtes Relikt.«

»Dann existiert das Zeitreiseamt, das ich mir vorgestellt habe? Es wächst und gedeiht?« Stolz erfüllte sie.

Er zögerte und lächelte halbherzig. »Das Amt wird verehrt und geliebt. Es ist das Einzige, was den Zusammenbruch der Menschheit aufhält, Oberin.«

Eine Lüge oder zumindest eine Wahrheit, die er selbst nicht glaubte. Das spielte keine große Rolle. Da ihr Tod unmittelbar bevorstand, war Grace nicht nach Haarspaltereien zumute. »Verstehe. Nun gut, Sie können die Charta haben.«

Wieder verneigte er sich. Anscheinend war es im sechsundzwanzigsten Jahrhundert üblich, ständig zu dienern. In der Gegenwart tat es niemand. Grace mochte es. Sie sah ihm zu, als er zum Schreibtisch schlenderte, die Charta an sich nahm und mit einer Hand wog. Dafür, dass es sich angeblich um ein begehrtes Relikt handelte, ging der Zeitreisende nicht gerade besonders ehrerbietig damit um.

Auf einmal machte er mit der anderen Hand eine Geste, und vor ihm in der Luft entstand ein schwarzer Kreis. Fasziniert sah sie zu, wie er die Charta in das Loch warf. Dann verschwand der Kreis wieder.

»Wie haben Sie …«, setzte sie an.

»Anwendung der Kompressionstheorie«, antwortete er.

»Alan Guth?«

Er zuckte mit den Achseln. »Ich wende es nur an, weiß aber nicht, wie es funktioniert.«

»Verstehe.« Grace blickte aus dem Fenster. »Wenigstens hat die Wissenschaft große Fortschritte gemacht. Das macht mir Mut.«

»Leider nicht. Ich möchte Sie nicht anlügen, Oberin.«

Sie stand auf und ging zu ihm. »Und was jetzt? Das Schiff ist dem Untergang geweiht, wie Sie sagen. Sie haben die Charta an sich genommen und die Energiequelle abgesaugt. Verlassen Sie jetzt diese Zeitlinie?«

»Wie es Ihren Anweisungen entspricht.« Er schien fast traurig, dass er sie ihrem Schicksal überlassen musste.

Grace ergriff die Gelegenheit, die sich zu bieten schien. »Nehmen Sie mich mit«, platzte sie heraus und fasste ihn an den Handgelenken. Der Zeitreisende schien zu schwanken, ihm war anzusehen, wie er mit sich rang. »Auch in der Zukunft kann es nicht viele wie mich geben.«

»Niemanden mit Ihrem Verstand.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das Erste Zeitgesetz schreibt vor …«

»Zum Teufel mit den Zeitgesetzen!«, sagte sie. »Ich habe die verdammten Regeln aufgeschrieben und mich betrunken, während ich diese intellektuelle Masturbation betrieben habe. Sie bedeuten rein gar nichts. Nehmen Sie mich mit.«

Jetzt bettelte Grace, aber das war ihr egal. Zum ersten Mal seit mehr als einem halben Jahrhundert übermannten sie ihre Gefühle. Es fühlte sich schrecklich an, aber ihre Arbeit war noch nicht vollendet. Sie hatte der Menschheit immer noch viel zu geben. Sie musste sich um die ganze Fraktion der Technology Isolationists kümmern. Noch schlimmer, da sich jetzt zeigte, dass ihre Forschungen zur Zeitreise offensichtlich greifbare Ergebnisse nach sich zogen, gab es unendlich viele Möglichkeiten zu erkunden. Sie wollte daran teilnehmen. Bei der Vorstellung, an den Utopien des einundzwanzigsten Jahrhunderts mitzuwirken, schlug ihr Herz schneller.

»Nehmen Sie mich mit.« Sie schluchzte und schlang die Arme um ihn.

Der Zeitreisende wich ihrem Blick aus. »Ich … das kann ich nicht, Oberin.«

Er hielt die Umarmung einige Sekunden lang, obwohl ihm sichtlich unwohl war. Schließlich schob er sie weg. Sie bemerkte, dass er für einen Moment abwesend ins Leere blickte.

»Ich muss gehen«, sagte er. »Ich bin schon viel zu lange hier.«

Widerstrebend ließ sie ihn los, riss sich zusammen und fasste sich. Sie erinnerte sich, wer sie war. »Wie viel Zeit habe ich noch?«, fragte sie.

»Das weiß ich nicht, Oberin. Die historischen Aufzeichnungen besagen, dass die High Marker letztmalig hundertachtundvierzig Astronomische Einheiten jenseits von Eris gesichtet wurde. Danach verschwand das Schiff.«

Sie wischte sich die Tränen ab. »Nennen Sie mich Grace.«

Der Zeitreisende sah sie ein letztes Mal an und verneigte sich zum Abschied. »Es war mir eine Ehre, Grace. Ich … es tut mir leid.«

Ein heller gelber Blitz erschien, dann verschwand der Zeitreisende, der Swails’ Gesicht getragen hatte.

02

JAMES GRIFFIN-MARS

Ein greller Lichtblitz blendete James Griffin-Mars, dann starrte er die trübe, achtundneunzig Astronomische Einheiten entfernte Sonne an. Ein einsamer gelber Punkt im schwarzen, mit winzigen Lichtern übersäten Weltraum. Ein seltsamer dunkler Ring umgab sie.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Sprungübelkeit abklang, während James die Luft aus seinem Atmo-Band tief einatmete. Seit dem ersten Bergungseinsatz hatte er sich nicht mehr nach einem Zeitsprung übergeben müssen, und er wollte diesen Fehler, den nur Neulinge begingen, nicht unbedingt wiederholen. Smitt würde es ihm immer wieder unter die Nase reiben. Wenn überhaupt, dann sollte sich dieses gemeine Zucken im Bauch anfühlen wie ein alter Freund. Die Sprungübelkeit wurde seit einiger Zeit allerdings stärker und hielt manchmal nach einem Raubzug sogar stundenlang an. Vielleicht lag es auch an der Art dieses Einsatzes, aber die Schmerzen und die Galle, die ihm in die Kehle stiegen, kamen ihm schlimmer vor als früher.

James schloss die Augen und zählte langsam rückwärts von einhundert bis null. Den Takt gab sein Herzschlag vor. Die Schwerelosigkeit trug nicht gerade dazu bei, die Übelkeit zu lindern, und sein Körper hatte anscheinend beim Rücksprung die Rotation der High Marker beibehalten. Er drehte sich so schnell um sich selbst, dass die Körperflüssigkeiten mehr oder weniger aus ihm herausgewrungen wurden. Das Atmo-Band am Handgelenk, das den Schutzschild und die Atmosphäre im Inneren regelte, war das Einzige, was ihn im Vakuum am Leben hielt.

James rief die Zeitanzeige des KI-Computerbandes auf: 22:38:44 Uhr am 5. Juni 2511, Standarderdzeit. Seit dem Sprung zu genau diesem Datum im Jahre 2212 waren exakt sechzehn Stunden, vierzehn Minuten und dreiunddreißig Sekunden vergangen.

Eine ferne Stimme, die aus einer langen, dünnen Röhre zu kommen schien, knisterte in seinem Kopf. »James, hier ist Smitt. Bist du wieder in der Gegenwart? Melde dich, mein Freund.« Zehn Sekunden Schweigen, dann wurde die Durchsage wiederholt: »James, hier ist Smitt, bist du wieder in der …«

»Ich bin da«, antwortete James. Das Com-Band übermittelte seine Gedanken an seinen Lotsen. »Gibt es Verwerfungen?«

»Negativ. Swails’ Leiche wurde auf Eris entdeckt, aber die Verwerfung beeinflusste nur einen drei Wochen langen Strom, bis die Zeitlinie wieder abgeheilt war. Wie geht es dem Paket?«

James aktivierte das exokinetische Band und bremste die Rotation ab. Sobald er sich nicht mehr drehte, verschwand der dunkle Ring, der die Sonne umgab, und verwandelte sich in einen einsamen dunklen Kreis: der Zwergplanet Eris. Er starrte die dunkle Oberfläche an, die sich so sehr von dem lebendigen Funkeln unterschied, das er nur wenige Stunden zuvor von genau diesem Punkt aus beobachtet hatte. In der Vergangenheit war Eris eine geschäftige Kolonie gewesen, überall hatten Lichter gebrannt, und man hatte Leben und Bewegung gesehen. Jetzt war der Zwergplanet verlassen. James öffnete den Subspeicher, überprüfte den Inhalt und nickte zufrieden. Dann hob er den Kopf und blickte zur Sonne.

»Smitt, die Ladung ist sicher. Hol mich ab.«

»Ich schicke den Collie los. Du bist etwas weiter draußen angekommen als berechnet. Wir sind bald da. Warum hast du so lange gebraucht?«

James rief die Taktikanzeige des KI-Bandes auf. Smitt hatte recht, er war zwanzig Minuten zu spät zurückgekehrt. Die letzten Augenblicke mit Grace hatten ihn ein wenig aufgehalten. Bei dem Tempo, mit dem die High Marker durch den Weltraum flog, legte sie in dieser kurzen Spanne eine riesige Entfernung zurück. Trotzdem, es hatte sich gelohnt, ein paar Augenblicke mit der legendären Mutter der Zeit zu verbringen.

Vor sechzehn Stunden war er ins Jahr 2212 auf Eris gesprungen und vor dem Start an Bord der High Marker geschlichen. Dann hatte er Swails ermordet und die Leiche in einem Frachtcontainer nach Eris zurückgeschickt. Anschließend hatte er sich den ganzen Tag als Grace Priestlys Knecht ausgegeben und ihr bei der Arbeit zugesehen. Es war ein wundervolles Erlebnis gewesen.

Trotzdem, beinahe hätte er sein Zeitfenster verpasst. Wäre er noch weitere zwanzig Minuten auf der steuerlos dahinrasenden High Marker geblieben, dann hätte James die Zeit, bis der Collie endlich eingetroffen wäre, nicht überlebt. Auch jetzt, mit zwanzig Minuten Verspätung, brauchte der Collie bereits mehr als eine Stunde, um seine derzeitige Position zu erreichen. Das war der schwierige Teil der Zeitsprünge. Ortsbestimmung und Zeitangaben waren zwei völlig unterschiedliche Variablen, die genau aufeinander abgestimmt werden mussten. Und ganz egal, was er erlebte, die Jetztzeit lief weiter. Die Zeit, die James in der Vergangenheit verbrachte, musste in der Gegenwart bei seinem Rücksprung berücksichtigt werden.

Vierzig Minuten später bemerkte James im Zentrum des schwarzen Kreises ein winziges Flackern. Als sich der Collie dem Rendezvouspunkt näherte, wuchs der Lichtpunkt langsam heran. Der Weltraum verzerrte alles, und man konnte Entfernungen schlecht schätzen. Der schimmernde Collie war nicht größer als der Nagel seines Zeigefingers. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis er neben ihm anhielt.

Mit einem Gedanken aktivierte James sein Exo und schwebte zum Collie, um auf der Steuerbordseite einzusteigen. Ein paar Atemzüge später war er drin und schnallte sich auf dem Pilotensitz an. Er verzichtete darauf, das Innere unter Druck zu setzen, und verließ sich lieber weiter auf das eigene Atmo.

Chronauten genossen im Sonnensystem gemeinhin einen eher schlechten Ruf, aber niemand bezeichnete sie jemals als leichtsinnig. Wer sich in diesem Beruf leichtsinnig verhielt, lebte nicht lange. Alle paar Monate hörte James von irgendjemandem, der jemanden kannte, der bei abgeschaltetem Atmo in einem alten Collie ohnmächtig geworden und nie mehr zu sich gekommen war, weil der Transporter durch ein Leck Druck verloren hatte.

Der Tang Collinear Streaker, oder kurz Collie, war für ein dreihundert Jahre altes Raumschiff recht zuverlässig, aber hundertprozentig vertrauen konnte man ihm nicht mehr. Der Lack, den man beim Bau aufgetragen hatte, war nach so vielen Jahren im unerbittlichen Weltraum längst abgeblättert. Die Steuerbordseite war ein Schachbrett aus unterschiedlich gefärbten Panzerplatten. Insgesamt entstand so der Eindruck, der Collie sei aus zwei unterschiedlichen Hälften zu einem deformierten Ganzen zusammengeschweißt worden.

Das Innere sah aus wie eine Gefängniszelle – ein schlichter rechteckiger Kasten mit einer Metallkoje an der Längsseite gegenüber der Luke, einer kleinen Latrine und einem Lagerraum ganz hinten. Die Decke war so niedrig, dass James nicht einmal aufrecht stehen konnte, und es war gerade genug Platz für einen einzigen Menschen, um in kleinen Kreisen umherzulaufen, wenn ihm nach körperlicher Ertüchtigung zumute war. Abgesehen von dem Steuerpult und dem Pilotensitz ganz vorne war der Collie auf das Allernotwendigste reduziert. Gerade deshalb war das Raumschiff so ungeheuer nützlich. Komplizierte Schiffe mussten mit komplizierten Verfahren gewartet werden.

James sah zu, wie die Displays hochfuhren und ihm den Schiffsstatus meldeten. Er achtete nicht auf die Resultate. Wenn das verdammte Ding in die Luft fliegen wollte, dann konnte er rein gar nichts dagegen tun. Chronauten hatten schon mit ihrem Job genug zu tun und konnten sich nicht noch über den Zustand ihrer Raumschiffe Sorgen machen. Darum mussten sich die Mechaniker und sein Lotse Smitt kümmern. Das Einzige, was James über diesen Apparat wusste, war, dass er starten konnte, sobald sich das Blinklicht rechts oben in der Konsole grün färbte, was es in diesem Augenblick tat.

»Smitt, ich bin jetzt in der Collie«, dachte James, während er ein Lagerfach öffnete und einen Chemoanzug anlegte, um den fast nackten Körper zu bedecken.

»Gute Arbeit, Mann«, sagte Smitt. »Wann gibst du dem alten Mädchen endlich einen richtigen Namen?«

»Was stimmt denn mit ihrem Namen nicht?«, fragte James.

Smitt kicherte und schnaubte. James hatte sich an diese Laute gewöhnt und fand sie sogar liebenswert. »Du bist der einzige Chronaut, der seinen Collie Collie nennt. Du hast die Fantasie eines Blechtellers.«

James grinste. »Das spart Papierkram. Wie auch immer, ich komme mit der Lieferung nach Hause.«

»Ausgezeichnet.« Es gab eine Pause. »Wie hast du das gedeichselt? Ich meine, bist du ihr begegnet? Hast du mit ihr geredet? Grace Priestly war angeblich schwer bewacht. Sieht sie so aus wie in den Videos?«

»Sie war … beeindruckend«, erklärte James. »Wirklich bemerkenswert. Bis zum Ende.«

»Hat sie dich enttarnt?«

»Sie gilt nicht umsonst als die Mutter der Zeit und der klügste Mensch der Geschichte. Sie hat mich recht schnell durchschaut, hat es aber besser aufgenommen als die meisten anderen.«

»Wie bist du so nahe an sie herangekommen?«

James grunzte. »Wie kommt man wohl an eine Herrin aus der Warring-Tech-Ära heran?«

»Hast du etwa mit Grace Priestly gevögelt?« Smitts Stimme war auf einmal eine Oktave höher. Die Behauptung, James hätte außerirdisches Leben entdeckt, hätte kaum schockierender sein können. »Also … äh, wie war es denn?«

James lehnte sich zurück und blickte zum Fenster hinaus. Das Schiff hatte nur auf der Backbordseite Fenster, da die Steuerbordseite mit unzähligen Platten geflickt war. Der Antrieb sprang an, und der Collie flog um Eris herum zum Schiffsdschungel. Er dachte daran, wie er die weinende Mutter der Zeit in den Armen gehalten hatte.

Nach der Warring-Tech-Periode und nach ihrem Tod waren auch die äußeren Kolonien in die Kernkonflikte zwischen Venus, Erde und Mars hineingezogen worden. Schließlich war der Ressourcenbedarf des Krieges so groß geworden, dass die Äußeren – Eris, Pluto und Merkur – nichts mehr bekamen und schließlich aufgegeben werden mussten. Eris, die einstige Bastion der Tech Isolationists, war jetzt ein Geisterplanet.

Ein Piepsen im Steuerpult riss James vom Fenster los. Der Collie würde jeden Moment den Schiffsdschungel erreichen. Vor ihm tauchten immer mehr Punkte auf, die sich wie Staubflocken von der Schwärze abhoben. Der Bildschirm im Pult des Collies registrierte unzählige Signale. Es waren die Knochen und Gerippe von Hunderttausenden Raumschiffen, die um die gasförmigen und chemischen Schätze der Riesen des Sonnensystems gekämpft hatten: Jupiter, Neptun, Uranus und Saturn. Die Gaskriege waren siebzig Jahre nach den Kernkonflikten ausgebrochen. Angeblich war dies die schlimmste Auseinandersetzung in der ganzen Menschheitsgeschichte gewesen, der im Laufe von vierzig Jahren eine Milliarde Menschen zum Opfer gefallen waren.

Der Collie flog in den Schiffsfriedhof hinein und wich den leeren Hüllen aus, in denen frühere Generationen geflogen waren. Hier konnte man immer noch viel Nützliches finden, aber die große Zeit der Plünderer war vorbei. James sah die Abzeichen der AR Star Fortress, auf die ihn einer seiner letzten Bergungseinsätze geführt hatte. An diesen Auftrag konnte er sich besonders gut erinnern. Die Star Fortress war ein mobiler Stützpunkt gewesen, auf dem eine Viertelmillion marsianische Soldaten gelebt hatten. Sie hatte den Ausgangspunkt für die Einnahme des Uranusmondes Oberon gebildet und war die Heimatbasis der Kuma-Fraktion gewesen. Am Ende war die Star Fortress zerstört worden, und dreihundert Jahre später hatte James den Energiekern erbeutet und eine ordentliche Summe dafür kassiert. Das Geld hätte ausreichen müssen, um ein ganzes Jahr früher aus seinem Vertrag herauszukommen, doch er hatte sechs Monate davon für Whisky und Huren verplempert.

»Die Collie reagiert träge. Vielleicht bemühst du dich lieber selbst an die Steuerung«, warnte Smitt ihn. Die Stimme ging fast im statischen Rauschen unter.

»Ich schalte auf manuelle Steuerung um.«

Er übernahm die Kontrolle über das Schiff und lotste es vorsichtig durch das Trümmerfeld. Der Collie kroch beinahe, als sie sich Neptun näherten. Je näher er dem Planeten kam, desto mehr Trümmern musste er ausweichen. James war bestenfalls ein durchschnittlicher Pilot, und das Manövrieren in dieser gefährlichen Umgebung überstieg fast schon seine Fähigkeiten. Ohne Smitts Hilfe hätte er die Collie niemals wohlbehalten durch den Gefahrenbereich gebracht.

Nach ermüdenden sieben Stunden kam die Collie endlich aus dem Schiffsdschungel heraus. Mehr als ein paar Kratzer hatte sie sich bei den glücklicherweise nur leichten Kollisionen nicht zugezogen. Es würde noch einmal mehrere Tage dauern, bis er den Vorposten der ChronoCom auf der Himalia-Station erreichte. Erschöpft schaltete James wieder auf Automatik, legte sich auf die rostige Metallkoje im hinteren Teil und aktivierte das Cryo-Band. Sekunden später war er dem Einschlafen nahe. Er brauchte die Ruhe. Zeitreisen waren anstrengend und belasteten auch das Bewusstsein. Hoffentlich war sein Gehirn zu erschöpft, um zu träumen. James fürchtete, dass die Einfälle seines Unbewussten nicht angenehm wären.

03

HIMALIASTATION

Als James schon beinahe eingeschlafen war, weckte ihn jemand unsanft auf. Instinktiv aktivierte er das Exo-Band, erweiterte das Feld und schlug zu. Das kraftvolle exokinetische System – der militärisch-industrielle Komplex war einer der wenigen Bereiche, in denen es tatsächlich noch Innovationen gab – verwandelte ihn beinahe in einen Gott, wenn er in der Zeit zurückreiste. Das gelbe Glühen erwachte zum Leben, erweiterte sich und schleuderte den Eindringling gegen die Innenwand des Transporters. Dann löste sich ein kinetischer Strang aus dem Feld, legte sich um die Hüften des Mannes und zog sich zusammen.

»Mann!«, keuchte der Werftarbeiter und hob die Hände. »Immer mit der Ruhe, Chronaut. Sie sind hier unter Freunden.«

James brauchte ein paar Sekunden, um sich zu erinnern, wo er war. Er hielt inne und blickte in beide Richtungen, ehe er den kinetischen Strang löste. Er hatte geträumt, als der arme Kerl versucht hatte, ihn zu wecken. Glücklicherweise hatte er den Traum schon wieder vergessen, auch wenn es nicht schwer zu erraten war, worum er sich gedreht hatte. In der letzten Zeit hatte er nur noch Albträume.

Er betrachtete den verschreckten Techniker. Der Mann hielt den Atem an und wartete darauf, dass James etwas sagte. Der Dummkopf hätte doch wissen müssen, dass man einen Chronauten so kurz nach einer Bergung nicht weckte. Seltsamerweise hatte James gemischte Gefühle, wenn er sich vor Augen hielt, dass er den Techniker beinahe getötet hätte. Nicht dass es ihm Spaß machte, andere Menschen zu verletzen, aber hätte es ihn wirklich bewegt, wenn es versehentlich passiert wäre? Er war nicht sicher, ob er überhaupt so etwas wie Reue empfinden könnte.

Kopfschüttelnd richtete James sich auf der Koje auf. »Beim Abgrund, was fällt Ihnen ein, einen Chronauten so unsanft zu wecken?«

»Ich … es tut mir leid«, antwortete der Techniker. »Wir haben Sie vier Stunden lang hier drin in Ruhe gelassen. Ihr Lotse hat uns schließlich aufgefordert, Sie zu wecken und Ihre Beute zu übernehmen. In einem Zyklus startet der Transporter zur Erde. Ich muss die Sachen verladen.« Sein Blick wanderte zu dem Subspeicher-Band an James’ Handgelenk.

James hielt dem Techniker seinen linken Arm hin.

»Äh, Chronaut …« Der Mann deutete auf die gelbe Abschirmung, die James umgab. »Sie haben noch nicht abgeschaltet.«

James sah sich im Raumschiff um, dann fuhr er das Exo- und das Atmo-Band herunter. Die Felder flackerten und lösten sich auf. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen, es roch stark nach Öl und Metall. Die Filter der Station liefen mal wieder nur mit halber Kraft. James gab dem Ingenieur Zugriff auf den Subspeicher. »Bedienen Sie sich. Zwei Objekte, registriert unter S-yi und C-san.«

Als die Übertragung abgeschlossen war, eilte der Techniker so schnell er konnte aus dem Collie. Chronauten waren die zweithöchsten Agenten der ChronoCom und aus gutem Grund bei den unteren Rängen besonders gefürchtet. Man musste gewisse Charaktereigenschaften haben, um Chronaut zu werden, und es waren nicht unbedingt die vorteilhaftesten.

Bevor man zum Chronauten berufen wurde, musste man sich allerdings in der ChronoCom-Akademie auf Tethys einem fünfjährigen zermürbenden Training unterziehen. Die Chronauten, die offiziell Zeitagenten genannt wurden, mussten intelligent und gute Schauspieler sein und sich leicht auf veränderte Umstände einstellen können. Außerdem mussten sie in der Lage sein, vergangene Einsätze möglichst schnell wieder zu vergessen.

Gute Chronauten hatten gewisse negative Charakterzüge. Sie kamen mit anderen Menschen nicht gut aus, waren jähzornig, außerordentlich gewalttätig und selbstmordgefährdet. Kein Wunder, dass die Lebenserwartung von Leuten wie James recht gering war.

Trotz ihrer psychischen Probleme und ihrer Eigenarten lieferten die Chronauten einen entscheidenden Beitrag zur Energieversorgung der ganzen Menschheit. Deshalb verzieh man ihnen fast alles. Manch einer behauptete gar, nicht der Job brächte die Eigenarten zum Vorschein, sondern die Agenten wären nur aufgrund dieser Eigenarten gute Chronauten.

James ging die Rampe des Collies hinunter und durchquerte den belebten Hangar. Die Himalia-Station war ein Startpunkt für Schürfoperationen um Jupiter und eine der wenigen ChronoCom-Außenstellen hier draußen. Im Augenblick wurde nicht viel geschürft, aber die Bergungsoperationen waren in vollem Gange.

James blieb stehen, als ein gelber Collie – es war die Ramhurst – mit hoher Geschwindigkeit hereinschoss und beinahe ein halbes Technikerteam vernichtete. Es war ein recht neues Schiff, dessen Farbe noch nicht abgeblättert war. Da er Palia mehrere Monate nicht gesehen hatte, wartete er und sah zu, wie die Techniker zum Schiff eilten und die Tür aufrissen. Ein paar Sekunden später schoben sie Palia auf einer Schwebetrage heraus und rannten los.

James hielt Palias Lotsin fest, als sie an ihm vorbeilief. »Kia, was ist mit ihr passiert?«

Kia riss sich los. »Der curellanische Bergarbeiteraufstand. Sie wurde während der Bergung erwischt. Wir haben sie mit knapper Not herübergeholt. Tut mir leid, James, wir können später noch reden.« Schon eilte sie weiter.

Die Helfer liefen den Flur hinunter zur Notaufnahme. Hoffentlich kam sie durch. Palia und Shizzu waren die einzigen noch lebenden Chronauten aus seinem Abschlusskurs auf der Akademie, und James konnte Shizzu nicht ausstehen. Die anderen waren entweder bei Einsätzen gestorben oder hatten den Riesen ins Auge gestochen. So drückten es die Chronauten aus, wenn man den Collie in einen Gasriesen lenkte und die Steuerung losließ. Wenn Palia starb, würde die nächste Wiedersehensfeier mit Shizzu sehr unerfreulich verlaufen.

Eine andere Gruppe von Technikern eilte vorbei und kümmerte sich um einen Collie, den er nicht erkannte. James machte ihnen Platz und verließ das Dock. Er sollte Smitt in der LOTOZ – der Lotsen-Operationszentrale – Bericht erstatten, suchte jedoch lieber die unteren Etagen auf und ging ins Tilted Orbit.

Die Himalia-Station war nicht so groß wie andere Stützpunkte. Der fünftgrößte Mond nach den vier wichtigsten Kolonien um Jupiter maß nur 170 Kilometer, war aber trotzdem von einer Viertelmillion Menschen bevölkert. Die meisten waren Gasschürfer, Soldaten und Personal der ChronoCom. Männer waren deutlich in der Überzahl. Genauer gesagt, betrug das Verhältnis sechs zu eins. Die Freudenjungen und -mädchen waren derart rar und gefragt, dass man sie fast ebenso sehr respektierte wie die Chronauten. Die meisten waren allerdings nur auf der Durchreise. Sie kamen an, arbeiteten ein paar Wochen und zogen erheblich wohlhabender so schnell wie möglich weiter.

Die Gänge der Station bestanden auf drei Seiten aus Metall, die Decke war aus natürlichem Gestein. Aufgrund der elliptischen Umlaufbahn war die Oberfläche des Mondes extremen Temperaturschwankungen unterworfen, sodass der größte Teil des Stützpunktes unterirdisch angelegt war. Deshalb waren die Gänge schrecklich eng und staubig, und ein Strom von Steinchen und Krümeln regnete unablässig auf die Bewohner der Station herab.

Das Licht flackerte wie immer, wenn die Energieversorgung auf ein Drittel gedrosselt wurde. Das war seit einer Weile die neue Norm. James wanderte durch einen Gang, der kaum drei Personen nebeneinander aufnehmen konnte, und folgte dem Strom der Menschen in das Wohnviertel. Auch wenn sie beengt war und Atemnot auslöste, war die Himalia-Station doch James’ bevorzugte Operationsbasis. Die meisten Besucher waren nicht lange genug hier, um einander kennenzulernen, und die wenigen ständigen Bewohner wussten, dass es besser war, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen.

Im Tilted Orbit suchte James sich einen Platz an der Theke. Mehrere Schürfer mit schmierigen Gesichtern, die ebenfalls dort saßen, standen auf und zogen sich zurück. Es war nicht so, dass die Menschen ihn hassten. Sie zogen es einfach nur vor, ihm aus dem Weg zu gehen. Niemand legte sich mit einem Chronauten an. Und wenn es doch mal jemand versuchte, dann war er schon so gut wie tot. James missbrauchte seine Machtposition nicht oft, aber er kannte einige, die es taten. Da die Chronauten die letzte Verteidigungslinie bildeten, die die Gesellschaft vor dem völligen Zusammenbruch bewahrte, war es ein Kapitalverbrechen, einen Chronauten zu verletzen.

Nach der letzten Zählung gab es weniger als zwanzig Chronauten auf Himalia und höchstens hundert auf der Erde. Im restlichen Sonnensystem waren es möglicherweise insgesamt dreitausend. Dreitausend minus eins, falls Palia es nicht schaffte.

»Jobe.« James winkte dem Barkeeper. »Whisky. Das Zeug, das sich niemand sonst leisten kann, und eine Runde für alle hier.«

Der Barkeeper nickte, holte die Flasche und einen Becher aus Blech und schenkte großzügig ein. »Auf deine Rechnung, James.« Dann entfernte er sich und schenkte den anderen Gästen ein.

James hob kaum den Kopf, als einige Zecher ihm mit erhobenen Bechern zuprosteten. So hielt er es jedes Mal, wenn er von einem Einsatz zurückkehrte. Manche verwechselten diese Geste mit Freundlichkeit. Nichts lag ihm ferner als das. Die wenigen, die sich persönlich bedanken wollten, trafen auf ein leeres Starren, wenn er ihnen nicht gleich den Rücken kehrte.

Während der nächsten Stunde saß James allein an der Theke und ignorierte den zunehmenden Lärm der Gäste, als immer mehr Schürfer und Angestellte der Station ins Tilted Orbit kamen. Er starrte den stark gesunkenen Pegel in der Whiskyflasche an. Inzwischen war sie nur noch zur Hälfte gefüllt. Seine Gedanken wanderten zu dem Whisky, den er Grace eingeschenkt hatte. Swails hatte ihr auch als Vorkoster gedient, und die beiden Drinks, die er in ihren Diensten zu sich genommen hatte, waren göttlich gewesen. Früher hatte es wirklich guten Whisky gegeben und nicht nur den Mist, den man hier im Vorhof der Hölle bekam.

James sah sich in der mittlerweile recht belebten Bar um. In der Station gab es nur zwei Lokale, wo man etwas trinken konnte, und daher waren beide nur selten wirklich leer. Einige andere Chronauten waren hereingekommen und nahmen ihre Plätze jeweils ein Stück weit entfernt von der Theke ein. Wie James wollten auch sie lieber allein sitzen und trinken.

Obwohl sich in dem beengten Raum so viele Menschen aufhielten, kam nach wie vor niemand in seine Nähe. James hob den Blechbecher und trank einen Schluck. Nun ja, fast niemand.

»Du solltest dich doch in der LOTOZ melden, ehe du hierher gehst«, sagte Smitt hinter ihm. Das war auf jeden Fall besser, als die Stimme seines Lotsen direkt im Kopf zu hören.

»Ich habe eine dumme Regel gebrochen. Schmeiß mich doch raus.« James zuckte mit den Achseln und winkte Jobe, einen weiteren Becher zu bringen. Er goss den sogenannten Whisky bis zum Rand ein und schob den Becher über die Theke. Ein Drittel des Inhalts schwappte heraus.

»Langsam.« Vorsichtig hob Smitt den Whisky mit beiden Händen hoch. »Nur weil du ein reicher Gott unter den Menschen bist, kannst du nicht annehmen, dass wir anderen genauso betucht sind. Es gibt einen guten Grund dafür, dass die Schürfer billigen Fusel bestellen, während du …«

»Fusel«, murmelte James und trank einen Schluck. Dann drehte er sich zu seinem einzigen lebenden Freund im Sonnensystem um. »Willst du wissen, was ich vorhin erst gekostet habe? Was ich gesehen habe? Erinnerst du dich an die Bergung im einundzwanzigsten Jahrhundert, als das Luxe-Imperium entstanden ist? Da gab es ein Getränk, das sie gekippt haben wie Wasser …«

Smitt hob den Becher. »Das war Champagner, James. Und danke, dass du es mir noch mal unter die Nase gerieben hast.«

»So etwas gab es nicht nur da. Mir scheint, jede Epoche vor unserer war besser. Wir lutschen die letzten Krümel der Zivilisation aus. Ehrlich gesagt habe ich manchmal keine Lust mehr zurückzukommen.« Er knallte die Faust auf die Theke. Sofort wurde es still in der Bar. Normalerweise war es keine große Sache, wenn zwischen den Gästen ein Streit ausbrach. Wenn aber ein Chronaut beteiligt war, passte jeder genau auf. James betrachtete die neugierigen Gesichter und konzentrierte sich wieder auf seinen Becher. Er mochte es nicht, wenn er derart im Mittelpunkt stand. Chronauten wurden dazu ausgebildet, nicht aufzufallen. »Jedes Mal, wenn ich zurückkehre, fühle ich mich, als stürzte ich in einen Albtraum hinein.« Er betrachtete die dunkle Flüssigkeit im Becher.

Smitt klopfte James auf den Rücken. Wahrscheinlich war er der einzige Mensch, der sich so etwas bei James erlauben konnte. »Die Vergangenheit ist tot. Die Ströme laufen, wie sie müssen. Wenn du in die Vergangenheit springst, siehst du nur die Illusion einer Wahlmöglichkeit.« Er hatte sich längst an James’ Klagelieder gewöhnt. Auf diese Ideen war der Chronaut nicht erst gerade eben beim Blick in den Becher Whisky gekommen. Es war die übliche Nachbesprechung nach jedem Sprung.

James betrachtete die Menschen in der Nähe. Die Hälfte der Gäste beäugte ihn immer noch. Er hatte sich schon mit einigen von ihnen geprügelt, ehe sie herausgefunden hatten, wer er war. Seit sie es wussten, standen sie nur herum und warteten darauf, dass er zuschlug. Er tat es nicht. So machte eine Schlägerei doch keinen Spaß. Nicht von ungefähr verzichtete er ganz bewusst darauf, seine ChronoCom-Abzeichen zu tragen.

James fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und ließ den Kopf sinken, bis er fast die Theke berührte. »Ich weiß nicht, was ich hier soll. Ich brauche einen Tapetenwechsel. Ich muss aus diesem Dreckloch heraus.«

»Vielleicht wird dein Wunsch erfüllt.« Smitt nahm James die Flasche aus den Händen und schenkte sich großzügig ein. »Als dein Lotse ist es meine Aufgabe, mich um deine Bedürfnisse zu kümmern. Du hast einen neuen Job. Es ist ein luxuriöser Auftrag mit ansehnlicher Bezahlung.«

James runzelte die Stirn. »Verdammt, was redest du da? Ich bin gerade erst zurückgekommen und muss eine Zwangspause einlegen. Ganz zu schweigen davon, dass ich mit der Miasmabehandlung zwei Wochen zu spät dran bin. Hör mal, die Sprungkrankheit …«

»Die Sondergenehmigung habe ich schon, und die Behandlung kannst du dir nach dem Auftrag gönnen. Glaub mir, es ist der Mühe wert«, sagte Smitt. »Eigentlich sollte Stoph den Job übernehmen, aber er hat vor zwei Tagen den Riesen gestochen. Die ChronoCom hat kaum noch erfahrene Chronauten, die Stufe-eins-Jobs übernehmen können, deshalb habe ich uns für dieses kleine Schnäppchen ins Gespräch gebracht. Es ist eine private Anfrage von einem wichtigen Kerl auf Europa. Du weißt, wie betucht sie dort sind.«

James seufzte. »Tausende Leute gehen zur Akademie, und trotzdem werden wir immer weniger. Was, beim schwarzen Abgrund, machen wir falsch?«

»Die ChronoCom kann sich keine gescheiterten Bergungseinsätze erlauben, und die Durchfallquote auf der Akademie liegt bei achtzig Prozent. Die Todesrate der Chronauten liegt bei – wie viel war es noch? Fünfundsiebzig Prozent in den ersten beiden Jahren? Wir haben höchstens noch fünfhundert Leute, die für Stufe zwei und eins brauchbar sind. Du weißt ja, was mit diesem Idioten Jerrod passiert ist, als er einen Neuling direkt nach der Akademie voll eingesetzt hat. Der Junge ist gestorben, und die ganze Bergung war erledigt. Achthundert übertragbare Energieeinheiten von einem Schlachtkreuzer sind unwiederbringlich verloren, weil der Lotse einen Kerl eingesetzt hat, der fast noch ein Zivilist war.«

»Haben sie ihn wenigstens am Beginn des Szenarios eingesetzt, damit es in dieser Zeitlinie ein anderer noch einmal versuchen kann?«, fragte James.

Smitt schüttelte den Kopf. »Nein, sie haben es viel zu knapp berechnet. Die ganze Zeitlinie ist zu zersplittert und instabil, ein zweiter Versuch kommt nicht infrage. Aber so sind die Regeln nun mal. Normalerweise gibt es für eine Bergung nur einen Versuch. Deshalb gibt es auch nur ungefähr hundert Stufe-eins-Leute wie dich, und deshalb verdienst du einen Haufen Geld.« Als es piepste, starrte Smitt einen Moment lang in die Ferne und runzelte schließlich die Stirn. »Jetzt gibt es nur noch neunundneunzig. Palia hat es nicht geschafft.«

»Dann sind in Zukunft wohl nur noch Shizzu und ich bei den Jahrgangstreffen.« James hob den Becher im Gedenken an die verstorbene Studienkollegin. Jetzt waren sie nur noch zu zweit. Er fragte sich, wer von ihnen der Letzte sein würde.

Smitt grinste. »Eigentlich bist nur noch du da. Shizzu macht Karriere. Er wurde zum Revisor befördert, während du Grace gevögelt hast.«

»Dieser Trottel von Shizzu ist Revisor geworden?« James knirschte mit den Zähnen. Er konnte sich niemanden vorstellen, der es weniger verdient gehabt hätte, befördert zu werden und die Chronauten zu beaufsichtigen. »Du willst mich verkohlen. Was hat das Arschloch getan, um so belohnt zu werden?«

Smitt zuckte mit den Achseln. »Um ehrlich zu sein, darüber haben sich viele Leute gewundert.«

»Schwarzer Abgrund.« Er kippte den Whisky herunter und setzte den Becher hart auf die Theke. »Das ganze Amt geht zum Teufel.«

Smitt stand auf und klopfte ihm noch einmal auf den Rücken. »Schlaf dich aus. Du fliegst in zwei Umdrehungen mit dem nächsten Schiff zur Erde.«

James schnitt eine Grimasse. »Zur Erde?«

Smitt grinste. »Ab und zu muss man mal was für das Team tun. Du hast gesagt, du brauchst Tapetenwechsel. Du hast nicht gesagt, dass es nett werden soll.«

04

DIE MING-DYNASTIE

Die Stadt Luoyang im Nordosten Chinas erinnerte Revisor Levin Javier-Oberon irgendwie an Habitat C3 auf Oberon, wo er zur Welt gekommen war. Vielleicht lag es an den Rußschwaden in der Luft, vielleicht an den unebenen grauen Pflasterstraßen und Mauern, oder es war der Lärm, der in der geschäftigen Stadt auch nachts nicht abbrach. Möglicherweise auch das Elend. So war das mit der Armut: Ganz egal auf welchem Planeten oder in welcher Epoche, Elend blieb Elend.

Auf der Höhe der Ming-Dynastie im Jahre 1551 besudelte sich die Menschheit auf die gleiche Weise wie in der Gegenwart. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund gelang es den Menschen einfach nicht, aus der Gosse zu kriechen. Vielleicht war das der Grund für die Prognose der Wissenschaftler, die Menschheit werde etwa im Jahr 3000 ausgelöscht sein. Aber nur, wenn Levin und die ChronoCom nichts mehr zu sagen hatten.

Er ging an einem kleinen Koiteich im nicht ganz so armseligen Kaufmannsviertel vorüber und hielt inne, um die gespenstischen Fische mit den glasigen Augen im klaren Wasser schwimmen zu sehen. In den kleinen Wellen erkannte er sein eigenes Spiegelbild. Das Tarnband verlieh ihm ein Äußeres, das sich in nichts von den Tausenden anderen Fußgängern in der Stadt unterschied.

Er ließ den Blick über das Wasser zu dem aus Stein und Holz erbauten Haus wandern, das den Teich auf drei Seiten umrahmte. Das Dach war mit gewölbten Ziegeln gedeckt. Dahinter stand halb verdeckt die Sonne, deren tägliche Reise zum westlichen Horizont sich dem Ende näherte. Der richtige Augenblick war fast gekommen.

Mit einem gedanklichen Befehl zog Levin die vierzehn Bänder, die lose an beiden Armen hingen – sechs auf der linken, acht auf der rechten Seite –, fest an. Er verzichtete darauf, sie mit dem Tarnband zu verstecken, sondern trug sie wie Eisenringe, die manchmal von Söldnern als Armschutz verwendet wurden. Wie die meisten Agenten setzte auch er das Tarnband so sparsam wie möglich ein. Wenn seine gekauften Spione die Wahrheit gesagt hatten, würde er all diese Bänder bald brauchen. Levin ging eine kurze Treppe hinauf und öffnete die rote Doppeltür, um den Hong-Jiu-Gasthof zu betreten.

Genau wie an den vergangenen beiden Abenden herrschte viel Betrieb, der Raum war voller Gäste. Im Speisebereich saßen Kaufleute, Einheimische und Soldaten. Eine Gruppe betrunkener Uiguren hatte ganz links drei Tische besetzt. Anscheinend waren sie der Begleitschutz einer Karawane. Am Nebentisch saßen einige Mongolen. Die Wächter beobachteten ihre Ecke der Gaststube sehr genau. Es fehlte nicht viel, um einen Streit anzuzetteln.

Rechts neben der Tür hatten sich mindestens drei Banden aus der Stadt niedergelassen. Zwei von ihnen erkannte Levin: die Gelbschlangen und die Graudrachen. Levin runzelte die Stirn. Keiner der Gäste sah aus, als gehörte er zu Coles Männern. Dann bemerkte er einen dürren Grobian, der die Treppe zur Galerie hinaufging und in einem Nebenraum verschwand.

Aber natürlich, Cole war jetzt ein wichtiger Mann. Diese Tölpel waren seiner Aufmerksamkeit nicht wert. Levin durchquerte den bevölkerten Bereich und schob sich zwischen Bänken und Stühlen hindurch, auf denen Schläger, Händler und Freudenmädchen saßen. Wahrscheinlich konnte er nicht völlig unauffällig vorgehen, aber er musste es wenigstens versuchen. Er hatte zwei Wochen gebraucht, um die gefürchtete und berüchtigte Faust des Tiefen Flusses ausfindig zu machen, oder wie auch immer sich der Kerl hier nannte. Wenn es Levin nicht gelang, dem Mann jetzt gleich die Hände um die Gurgel zu legen, musste er möglicherweise noch einmal einen ganzen Monat hier verbringen, um ihn wieder aufzutreiben.

Vor der Treppe stand ein Rausschmeißer, der eine riesige Hand hob und Levin kopfschüttelnd aufhielt. »Was willst du hier, Schwein?«

»Ich habe mit dem großen Bruder da oben etwas zu besprechen«, entgegnete Levin. Sein Com-Band übersetzte die Worte in den Han-Dialekt.

Der Rausschmeißer sah ihn von oben bis unten an und grunzte. »Ein Schwein wie du gehört hierher nach unten zu den anderen Schweinen. Geh weg, ehe ich dich so fest verprügle, dass es noch deine Mutter spüren kann.« Er versetzte Levin einen Stoß gegen die Brust.

Gelassen fing Levin den Hieb mit der linken Hand ab und verdrehte den Daumen des Rausschmeißers. Der Mann wollte sich ihm entziehen, doch Levins Exo hielt ihn wie ein Schraubstock fest. Er drückte zu, bis der Rausschmeißer in den Knien einknickte.

»Bist du sicher, dass du mir den Weg versperren willst, mein Freund?« Levin drückte noch fester zu. »Das Jiang Hu ist groß. Kennst du wirklich alle seine Herren?« Er verstärkte den Druck.

Der Rausschmeißer bebte und nickte mehrmals eifrig. »Ich … es tut mir leid, Sifu. Bitte verzeih mir.«